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Täter und Opfer: Funktionärsschicksale aus den Kindertagen der DDR
Täter und Opfer: Funktionärsschicksale aus den Kindertagen der DDR
Täter und Opfer: Funktionärsschicksale aus den Kindertagen der DDR
eBook456 Seiten8 Stunden

Täter und Opfer: Funktionärsschicksale aus den Kindertagen der DDR

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Über dieses E-Book

Helmut H. Schulz erzählt Lebenswege, Aufstieg und Fall, am Beispiel von
Paul Merker, Mitglied des Parteivorstandes, des Zentralsekretariats und des Politbüros der SED außerdem Staatssekretär im DDR-Landwirtschaftsministerium,
Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des Neuen Deutschland, Mitglied des ZK der SED und Kandidat des Politbüros sowie
Ernst Wollweber, Leiter im Range eines Staatssekretärs das Ministerium für Staatssicherheit, war darüber hinaus Mitglied der Volkskammer und des ZK der SED.
So unterschiedlich diese Charaktere waren, sie hatten doch eines gemein: Sie lehnten sich in der ersten Hälfte der 1950er Jahre gegen Walter Ulbricht – vergeblich und mit der Konsequenz ihres eigenen Sturzes – auf.
Dies wird beschrieben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Dez. 2013
ISBN9783847668428
Täter und Opfer: Funktionärsschicksale aus den Kindertagen der DDR

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    Buchvorschau

    Täter und Opfer - Helmut H. Schulz

    PAUL MERKER

    Zwischen den Zeiten

    Ein Angriff auf die Revolution durch einen Intellektuellen, der selbst revolutionär war, bedeutet immer die Infragestellung der revolutionären Politik durch seine Ethik. André Malraux. Die Hoffnung. Roman. Volk und Welt Berlin. 1986 Seite 383

    In einigen Jahrzehnten werden nur noch wenige Namen von Persönlichkeiten im Gedächtnis geblieben sein, die einmal zu Beginn eines revolutionären Jahrhunderts in den Gang der Geschichte eingreifen wollten oder auch wirklich für eine historisch kurze Periode eingegriffen haben; es wird dem Nachgeborenen erst mit dem Blick auf größere ruhigere Zeitabschnitte bewußt, wie tief und barbarisch der jeweilige revolutionäre Abschnitt auch empfunden wurde. Einer davon war der heute fast unbekannte Paul Merker, den Heinrich Mann immerhin einmal für politisch und sittlich befähigt genug gehalten hat, einen Reichskanzler im künftigen »freien, antifaschistischen und demokratischen« Deutschland zu stellen. Siehe Wolfgang Kießling »Partner im Narrenparadies« Wolfgang Kießling Dietz Verlag Berlin 1994 Seite 207. Heinrich Mann schrieb: »Wahrhaftig, Deutschland wäre gut daran mit Paul Merker als Reichskanzler...« usf. Hier äußerte sich ein berühmter Emigrant vor dem herbeigesehnten Ende des »Dritten Reiches« und der dringlich erwarteten Rückkehr mit aller Zuversicht in eine fragwürdige Geschichtskontinuität; er geht davon aus, daß sich nach zwölf Jahren, seit seinem Exil 1933 in Deutschland nicht viel verändert haben dürfte, daß die alten sittlichen Normen noch gelten und daß Menschen dieselben geblieben seien, von der Handvoll »Nazis« abgesehen, sodass ein Neuanfang dort möglich werden würde, wo man einmal hatte aufhören müssen, unterbrochen durch ein »kriminelles blutiges« Zwischenspiel.

    In der Tat hatten offenbar nur wenige politische Emigranten, gleich welcher Couleur, eine real fundierte Vorstellung von dem, was sie nach der Rückkehr in Deutschland erwartete. Zwar waren ihnen, anders als den Heimatdeutschen, die politischen Konferenzziele von Casablanca und Jalta in vollem Umfange zugänglich und geläufig; sie stimmten in ihrer Mehrzahl auch den Konzepten der »Großen Drei«, später nach Hinzuziehung Frankreichs der »Großen Vier«, zu, insoweit es die »Reinigung« der Deutschen vom Nationalsozialismus betraf. Aber hier konnte es sich nur um eine erste Phase der Nachkriegszeit handeln, um ein aktuelles Bedürfnis aus Wiedergutmachung, Rache, Neuordnung. Wie lange diese Phase dauern würde, hing allerdings von vielen unvorhersehbaren Umständen ab. Und dahinter lauerte die größere Frage der Gestaltung des politischen Erdballes durch eine »Vereinigung der Nationen«, einer Welt, ein Europa mit oder ohne Rußland, also dem Bündnispartner Sowjetunion, oder umgekehrt, ein sowjetisch dominiertes Europa ohne Westeinfluss. 1945 war die kriegführende Welt noch nicht in Ideologiebezirke und Glaubensrichtungen so weit gespalten, daß Vorhersagen möglich waren. Die später zu datierende Gegenüberstellung: Freiheit oder Diktatur eignete sich aber ganz gut für den Propagandagebrauch und hat sich praktisch als nicht verschleißbar erwiesen.

    Wie die Vierzonenwirklichkeit im Lichte der Umerziehung und der Zukunftsgestaltung aussah, hätten nicht einmal die in Deutschland verbliebenen geschlagenen und verletzten deutschen Landsleute der Heimkehrer vorhersagen können, wären ihnen die Vereinbarungen der Sieger greifbar gewesen. Noch im Bunker der Reichskanzlei wurde der plötzliche Tod des amerikanischen Präsidenten Roosevelt von den Hitlervasallen wie ein Wendepunkt in der Deutschlandpolitik der USA gefeiert, allein der Krieg ging weiter getreu den Abmachungen der Antihitlerkoalition. Die Konferenz von Jalta, das letzte Treffen der Antihitlerkoalition vor Potsdam, hatte sich stärker mit globalen Fragen beschäftigt, als unmittelbar mit den speziellen Problemen der Deutschen im Nachkriegseuropa. (Die Jaltakonferenz begann am 04. Februar 1945, also kurz vor der Beendigung aller Kampfhandlungen, als die deutsche Niederlage nichts mehr abzuwenden gewesen ist.)

    Diese Konferenz spiegelt noch im Großen und Ganzen Einigkeit und Geschlossenheit, namentlich im Bezug auf die gerade gegründeten »Vereinten Nationen«, der UNO, womit sich ein alter amerikanischer Traum aus der Völkerbundzeit von einer moralisch-politischen Instanz und Weltpolizei unter Dominanz der USA erfüllen sollte. Soweit war man in Jalta noch nicht, schon gar nicht bei der Gretchenfrage nach der Besetzung des sogenannten Sicherheitsrates. Stalin, der seine Gäste in Jalta gern die Einnahme der Stadt Berlin durch die Rote Armee präsentiert hätte, worauf er allerdings verzichten mußte, äußerte einige Bedenken zu dieser oder jener offenen Frage, hatte aber schließlich der Konferenz ihren Lauf gelassen. (Über eine allgemeine Friedensordnung hatte bereits in Dumbarton Oaks bei Washington vom 22. August bis 28. September 1944 eine große Konferenz unter der Leitung des US-Außenministers getagt. Wichtige Punkte für eine Organisation der künftigen Vereinten Nationen waren aber noch offen geblieben. Insgesamt ging es in Jalta um den Zwiespalt im US-amerikanischen Denkansatz: Einerseits sollten die drei Westmächte einen machtpolitischen Vorrang haben - sie waren die »Weltpolizisten«, welche arbeitsteilig, aber im Einvernehmen untereinander in den jeweiligen Weltregionen für Ordnung sorgen sollten. Andererseits war jeder Staat jedoch völkerrechtlich souverän. Jost Dülffer. Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt. dtv München 1998, Seite 18)

    Daß Deutschland in Zonen aufgeteilt werden würde, war allerdings schon vor Jalta klar, und daß keiner der Bündnisgenossen mit Deutschland einen Teilwaffenstillstand abschließen sollte, ebenfalls. Diese »Casablanca-Formel« enthielt also keine Alternative für ein vorzeitiges Ende der Kampfhandlungen. Sie sah nur die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands vor. Zum deutschen Widerstand, der zumindest 1944 ein gewisses Kräftepotential darstellte, bestanden allgemein keine offiziellen Kontakte; sie hätten auch nicht in das politische Nachkriegskonzept gepaßt. Hinzu kamen entschiedene Vorbehalte der einen wie der anderen Seite gegen die politischen Standorte der Widerstandszentren. Moskau besaß allerdings in den kommunistischen Emigranten einen lenkbaren Stoßtrupp, sofort einsetzbar, mit einem Konzept über die erste Phase des Nachkriegs hinausgehend. Daß die Praxis im jeweiligem Zonenregime schließlich an den Beschlüssen überall Korrekturen anbrachte, die sich in den Grunddokumenten nicht ausgedrückt hatten, steht auf einem anderen Blatt, mag aber bei den Überlegungen in Jalta durchaus mitgespielt haben. Die Koalition hielt bekanntlich bis zur Kapitulation; und länger sollte sie auch nicht dauern. Noch rauchten die Trümmer, als die ersten Moskauemigranten eintrafen. (Es waren drei Gruppen, deren Mitglieder bis spätestens in der ersten Maiwoche in die sowjetisch besetzte Zone eintrafen. »Die Gruppe Ulbricht residierte zunächst in Bruchmühle bei Berlin, wo der politische Stab der Armee Marschall Schukows stationiert ist, und danach in Berlin-Lichtenberg: Walter Ulbricht, Fritz Erpenbeck, Otto Fischer, Gustav Gundelach, Richard Gyptner, Walter Köppe, Wolfgang Leonhard, Hans Mahle, Karl Maron, Otto Winzer.

    Die Gruppe Sobotka siedelt in Schwerin und arbeitete in Mecklenburg und Vorpommern: Willi Bredel, Gottfried Grünberg, Herbert Hentschke, Rudolf Herrnstadt, Georg Kahmann, Karl Raab, Bruno Schramm, Oskar Stefan, Stanislaw Switalla.

    Die Gruppe Ackermann residiert zunächst in Radebeul bei Dresden, um in der Metropole Sachsens zu arbeiten: Anton Ackermann, Egon Drager, Kurt Fischer, Peter Florin, Heinz Greif, Franz Greiner, Arthur Hoffmann, Hermann Matern, Fred Oelßner, Georg Wolf.« Ende des Zitats.

    Wendepunkte - die Chronik der Republik. Der Weg der Deutschen in Ost und West. Hartwig Bögeholz. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH Hamburg 1999)

    Was brachten sie mit und was trafen sie an? Als geschulte alte Doktrinäre brachten sie eine visionäre Vorstellung von der kommunistischen Zukunft mit; einen sozialistischen, sich zumindest eng an die Sowjetunion anlehnenden deutschen Staat hatten sie vor Augen, eine voll sozialisierte Industrie und Landwirtschaft, die Unterdrückung der Gegnerklassen, Ausmerzung eines allgemeinen deutschen »Ungeistes«, also nicht etwa nur des »Nazismus«, kurz, die völlige Umgestaltung der Gesellschaft und am Ende die strahlende, gleichmachende kommunistische Zukunft, ein gigantisches Konzept, und nur mit einem neuen Menschen zu machen. Aber: Keinen Sowjetstaat, wie die Heimatdeutschen mißtrauisch mutmaßten. Und: Diese politisch ideologische Folie trat hinter den aktuellen Problemen weit zurück. Es mag heute schwierig sein, sich in die Psychologie dieser Leute einzudenken; sie hatten einmal - 1919 - ihr Ziel verfehlt, sie konnten bei der Wende 1932/1933 die in Agonie liegende Weimarer Republik nicht erobern und waren für zwölf Jahre in die Emigration getrieben worden, einer Emigration voller Gefahren. Neben einem sicherlich subjektiv ehrlichen Willen, alles besser zu machen hatten sie eine Menge ungelöster Komplexe im geistigen Gepäck. Bei ihren Auftritten vor dem »verführtem Volk« lag ihre überlegene Rolle fest; alles wußten sie besser. Von Beginn an sahen die unterlegenen Deutschen in ihnen den verlängerten Arm der Besatzungsmacht, die Kombattanten der Sieger.

    Eine andere zahlenmäßig nicht kleine Gruppe erschien nur deshalb verspätet, weil sie größere Entfernungen und Behinderungen zu überwinden hatten; die Westemigranten. Sie brachten, als sie schließlich zu ihren alten Mitstreitern aus der Zeit von Weimar stießen, wie sich zeigen sollte, ganz andere Erfahrungen aus der westlichen Emigration mit. Die Berührung mit den Formen und den Spielformen westlicher Parteienherrschaft, die Rücksicht auf eine politisch differenziertere Gesellschaft erzwang Kompromisse, die im Osten als Kompromisslertum galten, die Zeit und die Region hatte bei diesen Leuten ihre Spuren hinterlassen. Solch Anschauungsunterricht sollte sich alsbald in der Kritik an der sowjetisch orientierten Mutterpartei und deren Getreuen äußern. Obschon die einen wie die anderen Kommunisten identische politische Biographien aufzuweisen hatten, waren zwölf oder in manchen Fällen noch mehr Jahre eine zu lange Frist, als dass sich keine Veränderungen im Denken und Fühlen eingestellt hätten. Sie waren eines Jahrgangs, durch Weltkrieg und Revolution, über SPD zur USPD und schließlich zur KP gekommen, sie hatten in der Sowjetunion das einzige große Vorbild verehrt, trotz aller Nachrichten aus ihrem Sehnsuchtsland, die ihrem Traum nicht entsprachen. Aus Spitzenfunktionären waren in den zwanziger und dreißiger Jahre Kominternleute mit Aufträgen und Auslandskontakten geworden, die an Spionage und Konspiration grenzten. Das Jahrhundert war immer noch revolutionär, es war revolutionärer denn je; der Endzweck setze alles Recht außer Kraft, heilige alle Mittel. Individuell unterschieden sie sich natürlich nach Bildung und Temperament.

    Was trafen sie unmittelbar nach 1945 an? Zuerst einmal die große Gruppe der Angepaßten, als »Mitläufer« bezeichnet, Angepaßte in allen Lagern, unter allen Gesellschaftsklassen. In den Jahren zwischen 1933 und spätestens 1936 waren nicht nur die Oppositionellen des linken Spektrums verhaftet oder vertrieben und ihre Organisationen zerschlagen worden, auch und vor allem ideologische Abwanderungen von Sympathisanten aller Lager, Kommunisten wie Sozialdemokraten, waren angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Erfolge des Dritten Reiches unausweichlich gewesen. Die Bedingungslosigkeit der Emigranten führte nun im Nachhinein zu einer verspäteten politisch-ideologischen Abrechnung mit den Heimatdeutschen. Diese behaupteten, niemals Nazis gewesen zu sein, jene hielten ihnen vor, nichts gegen den Ungeist unternommen zu haben und damit Nutznießer des Systems geworden zu sein. Bei den »echten«, den in verfolgbaren Kategorien erfaßten Nazis war die Sache klar, sie wurden mehr oder minder rasch und gründlich entnazifiziert, enteignet, dienstverpflichtet, in KZ-Lager verschleppt oder vor Militärgerichte gestellt und abgeurteilt. Aber sie waren eine Minderheit. Es ging den Moskauemigranten um eine ihnen nahestehende proletarische Klasse, den Arbeitern. Sie sollten den künftigen sozialistischen Staat schaffen und tragen. Daß die gleichen oder wenigstens ähnliche Rückwanderungen aus dem Lager der Nazisympathiesanten ins Gegenteil zum Ende des Krieges und dem vorhersehbarem Untergang des Reiches eingesetzt hatten, bedeutete kein einfaches Zurückdrehen der Uhr auf das Jahr 1919; die Revolution ließ sich nicht mehr nachholen, sie hat immer nur einen Wurf. Es sind nicht mehr die gleichen Menschen gewesen, die sich allmählich wieder in den zugelassenen linken Parteien sammelten, von der Masse Indifferenter ganz abgesehen. Und die Gefangenenlager in Ost wie in West hielten überdies noch Jahre lang die Männer der geschlagenen Wehrmacht zurück. Hinzu kamen neue antirussische, antisowjetische Gefühle der Heimatdeutschen.

    Die Reichshauptstadt war in einem mehrwöchigen Kampf von der »Roten Armee« erobert worden; in Berlin wurde die entscheidende deutsche Kapitulation erzwungen und im Karlshorster Hauptquartier paraphiert und unterzeichnet. Hier, in der von Sowjettruppen besetzten Stadt, regten sich auch erste Zeichen eines neuen politischen und gesellschaftlichen Lebens, einem Gemisch aus Hoffnung, Enttäuschung und Resignation und sicherlich auch einem Gefühl der Befreiung. Befreit, vom Faschismus durch die Sieger erlöst, hatten sich die Deutschen nach den Vorgaben der Antihitlerkoalition ursprünglich jedoch gar nicht fühlen sollen. Allerdings war es unvermeidlich, daß je nach Interessenlage die Kapitulation des Reiches als Befreiung oder als das Gegenteil interpretiert wurde. Über die strengste Behandlung von »Nazis« war man sich jedoch weithin einig. Auf der Jalta-Konferenz sagte Roosevelt:

    »...die deutschen Zerstörungen auf der Krim hätten ihn noch wesentlich blutrünstiger gemacht, als er es bereits zuvor gewesen sei. Stalin, so fuhr der Präsident fort, werde hoffentlich seinen bereits in Teheran ausgebrachten Trinkspruch auf die Hinrichtung von fünfzigtausend deutschen Offizieren wiederholen.« Jost Dülffer. Jalta, 4. Februar 1945. Der zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt. dtv 1998, Seite 13

    Diese launige Äußerung ist zwar für die angeregte Stimmung bezeichnend, in der sich die Konferenzteilnehmer befanden, gibt aber nicht die reale Tendenz aller geheimen Wünsche der einzelnen Führer des Lagers wieder. Stalin schlug unter anderem in Jalta auch vor, mit den Leuten des deutschten Widerstandes beim Aufbau zusammenzuarbeiten, setzte sich jedoch damit nicht durch. Mit der Zuteilung einer Zone, des halben Deutschland auf die Grenzen von 1939 hin betrachtet, konnte Moskau überdies zufrieden und sicher sein, in diesem Raum uneingeschränkt walten zu können. Um die Wurst ging es ohnehin bei den Fragen der Reparationen. Keine Geld-, sondern Sachleistungen wurden der UdSSR in Jalta zugestanden, eine für die Nachkriegsjahre ungemein wichtige Frage mit großen Folgen. Die geschätzten Forderungen der Sowjetunion beliefen sich auf rund 10 Milliarden Dollar, die allein aus ihrer »Zone« realisiert werden sollten, was sich bei der Inflationierung aller Währung heute nicht so viel anhört wie im Februar 1945. Nach langem Poker legte sich die Konferenz auf die Gesamtsumme von 20 Milliarden (für alle kriegführenden Länder) vorläufig fest. Für die »Zone« bedeutete diese Forderung den Abbau ganzer Gleisstrecken, der Demontage von Maschinen und Werkseinrichtungen, der Jahre langen Entnahme von Industriegütern und Rohstoffen mit einer am Ende drohenden Deindustriealisierung des ohnehin an Grundstoffen, an Leicht- und Schwerindustrie nicht gesegneten deutschen Teilstückes. In dem oben herangezogenem Werk vermutet Dülffer einen Hintergrund für die sowjetische Forderung nach Sachleistungen, da sie auch gewollte Struktureingriffe ermöglichten. Wenn das ursprünglich geplant gewesen ist, so genügten jedenfalls fünf Jahre zur Neuorientierung Moskaus; an einem völlig ausgeplünderten Land, das urplötzlich an der Grenze zum feindlichen Westen lag, konnte der östlichen Großmacht kaum mehr gelegen sein. Diese enormen Demontagen bestürzten die »Arbeiterklasse«, die doch in Kürze das neue Regime unterstützen sollte, und es gab schließlich keine andere gesellschaftliche bündnisfähige Kraft. In einem schwierigen Prozeß mußte erklärt werden, weshalb diese Reparationen moralisch gerechtfertigt seien; allein das glaubten zu wenige Heimatdeutsche.

    Die Kampfhandlungen im Berliner Großraum hatten nicht nur sichtbare Spuren in den Trümmerbergen, die Rote Armee, die »Russen« hatten bei der Bevölkerung auch ein verheerendes Abbild hinterlassen. Zwei unterschiedlich hoch entwickelte Kulturen schienen aufeinandergestoßen zu sein. Das Straßenbild wurde von der »Kommandantura« beherrscht. Das kleine Machtzentrum mit dem riesigen Sowjetstern am kleinbürgerlichen Balkon und dem kurzen, rot oder grün angepinseltem Lattenzaun machten den Berlinern bewußt, daß die Präsenz der Russen nicht so bald enden würde. Zwar richteten sich die ersten Befehle und Maßnahmen der Administration auf die Wiederherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung, der Organisierung von notwendigen Arbeiten, also den wichtigsten Lebensfunktionen, zwar lief die propagandistisch-aufklärerische Arbeit auf vollen Touren, den Zweiflern versichernd, daß nach einer Zeit bedrückenden Überganges Deutschland aufblühen werde, sogar das staatlich eigenständige Dasein, frei und gleichberechtigt in der Völkergemeinschaft, aber der Weg dahin schien beschwerlich und sehr lang. Aufsteller mit stalinschen Maximen und Vorhersagen erzählten den Berlinern etwas von Jalta und Teheranbeschlüssen Abweichendes. In seinem 1947 erschienenen und damals viel gelesenen Werk »Der Irrweg einer Nation«, hat Alexander Abusch die Haltung der »besseren« Deutschen zutreffend beschrieben:

    »Die Deutschen müssen wiedergutmachen, was deutsche Hände verbrachen. Ohne diesen ersten und ehernen Grundsatz kann es keine moralische Erneuerung des deutschen Volkes geben. Es handelt sich nicht um Rache, nicht um biblische Schuld und Sühne, sondern - neben der materiellen Hilfe für die ausgeplünderten Völker Europas - um die Hinführung der Deutschen zu ihrem besonderen Selbst, um die Voraussetzung aller Umerziehung. Denn die Vernichtung der Naziverbrecher ist nur ein Teil der deutschen Selbstreinigung.« Alexander Abusch. Der Irrweg einer Nation. Aufbau-Verlag Berlin. 1947, Seite 268

    Mit dem Einzug der westlichen Besatzer in Berlin, mit der Einrichtung einer kollektiven Verwaltung der Stadt durch die vier Mächte änderte sich alles von Grund auf, bekam die Entwicklung neue politische gegenläufige Anstöße. Die Antihitlerkoalition begann sichtlich immer schneller zu zerfallen, da sie ihren Dienst geleistet hatte. Die Russen, wie das Volk hartnäckig sagte, die Freunde, wie die Moskauemigranten nicht minder stupide herausstellten, schleppten auf Grund des ihnen zugestandenen Rechtes, sich Reparationen in Sachmitteln zu holen, an Maschinen und Gerät hinaus, was funktionierte; sie kontrollierten Betriebe und entnahmen der Produktion, was ihnen vereinbarungsgemäß zustand. All das zusammengenommen ließ im Volk das Gefühl der Ohnmacht wachsen und den Abzug der Russen herbeiwünschen. Die Amerikaner hingegen brachten schlechthin alles mit, Zigaretten und Bedarfswaren, sie grasten in Jeeps die Schwarzmärkte ab, gründeten Klubs, trotz aller Fraternisierungsverbote vergewaltigten sie die Fräuleins nicht, wie die Russen, sondern bezahlten sie wie Huren. Dieses neue Regime und Element traf auf das damalige Lebensgefühl der demoralisierten Deutschen ohne Zukunftsverheißung. Es war völlig klar, daß sich diese Berliner Verhältnisse in Politik umformen würden und zwar innerhalb kurzer Fristen.

    Die Abneigung, der »Antibolschewismus«, genau gesagt, äußerte sich explosiv anläßlich der Wahlen für die Berliner Stadtverordnetenversammlung am 20. Oktober 1946. Seit dem Frühjahr existierte im Ostteil der Stadt die aus der Vereinigung von KPD und SPD entstandene »Sozialistische Einheitspartei Deutschlands«, ein Zusammenschluß, der das einstige Feuer und Wasser miteinander aussöhnen sollte. Die Argumente dafür und dagegen sind zu bekannt, als dass sie hier aufgezählt werden müßten. Für die Einheitspartei gedieh diese halbwegs kontrollierte Wahl zur Katastrophe: Die SED bekam 19,8 Prozent, während die SPD einen beispiellosen Wahlsieg von 48,7 Prozent nach Hause brachte. Dieser Wahlausgang mußte nicht nur als antikommunistisch, er mußte als antisowjetisch, als eine empfindliche Abfuhr der Besatzungsmacht gewertet werden. (Die Zeitung »Neues Deutschland« brachte unter dem Titel: Differenzierte Sicht, auch beim Rückblick den Leserbrief von Norbert Podewin (ND vom 04. Mai 1999, Seite 15) zu einem vorangegangenen Gedenkartikel. Die SED-Veranstalter rechneten überraschenderweise mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SED und SPD in allen Sektoren, was entweder ihre Unkenntnis der Stimmung unter den Berlinern belegt, oder als Schutzbehauptung gegenüber Moskau zu werten ist. Zitat: »So war es doch wohl ein Schock für die SED am Abend des 20. Oktober als ausgezählt wurde. Bei hoher Wahlbeteiligung (92,3 % / 63 % Frauen) entschied sich nahezu jeder zweite Wähler (48,7 %) für die SPD und nur jeder fünfte (19,8 %) für die SED, die noch immer hinter der CDU (22,1 %) landete. 19 von damals 20 Berliner Stadtbezirken besaßen SPD-Mehrheiten; nur Zehlendorf fiel in CDU-Hand. Es fehlte auch ein gravierendes Gefälle Ost/Westsektoren, zumindest was SPD und SED betraf: Erstere erreichten in den 8 Ostbezirken 43,0 % gegenüber 50,8 % im Westen; angesichts der etwa 30 % der SED im östlichen Teil fiel der französische Sektor mit ca. 28 % kaum ab.« Zitat Ende.)

    Paul Merker hat das Fiasko schon miterlebt, da er seit etwa Jahresmitte wieder in Deutschland war. Bei diesem Ergebnis aus Wahlniederlage und Stimmungsbild hat die Goebbels-Propaganda einen späten Erfolg feiern können. Seit den Differenzen in der Antihitlerkoalition, seit dem Eintreffen der westlichen Besatzungstruppen in Berlin und dem Beginn des vierfachen Besatzungsregimes war geflüstert worden, was mehr Wunschglaube als Überzeugung sein konnte, daß die Russen alsbald aus Berlin abzögen, um die Stadt dem Westen zu überlassen, gegen irgendeinen Bagatellpreis von X-Millionen Dollar.

    Angesichts dieser Lage sahen die Vertreter der realen Macht in der »Zone«, die Sowjets und die kommunistischen Aktivisten, in die Moskau einiges an Vertrauen investiert hatte, ein, daß etwas am Verhältnis zwischen Russen und Deutschen verbessert werden mußte. Immerhin floß noch viel Wasser die Spree hinunter, ehe sich die Propaganda der Sache annahm. Worauf die Parteiführung gehofft hat, ist ein vollständiges Mirakel, wenn nicht ausschließlich auf die im Ernstfall rettenden sowjetischen Bajonette und in der felsenfesten Überzeugung, Moskau könne die »Zone« aus hunderterlei Gründen nicht fallen und sich selbst, das heißt, dem Westen überlassen. Im »Haus der Kultur der Sowjetunion« in der Straße Unter den Linden, der alten Singakademie, damals ein wichtiges Begegnungszentrum zwischen Russen und Deutschen, wo in der Regel mit größerer Offenheit geredet wurde, kam es erst an zwei Abenden im Dezember 1948 als sich die Situation für Moskau und SED sogar noch verschlechtert hatte, zur Aussprache über den katastrophalen Stand der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Prof. Steiniger sagte in einem Diskussionsbeitrag Folgendes:

    »Ich höre als das landläufigste Argument in diesem Zusammenhang immer wieder den Satz: Wären die Russen anders zu uns gekommen, in einem anderen gesellschaftlichen Zustand, dann wäre alles ganz anders geworden! Wir wären alle Bolschewisten geworden. Wir waren alle bereit, Kommunisten zu werden, ganz Deutschland war bereit, die Rote Armee als Erlöser zu empfangen. Wir werden über die Verlogenheit dieses Argumentes noch reden müssen.« Peter Alfons Steiniger, Prof., Dr. Dr., jüdischer Herkunft. Ab 1946 Professor für Völkerrecht an der Berliner Universität. Gestorben 1980

    Dieser Beitrag enthielt einige Ungereimtheiten, wie leicht hätte einsehen können, wer den Dingen auf den Grund kommen wollte. Erstens hatten die Russen selbst erklärtermaßen nie die Absicht gehabt, aus ihrer Zone eine sowjetische Provinz mit lauter deutschen Bolschewisten zu machen, nicht in völkerrechtlichem Sinne jedenfalls. Dazu hätte es nicht nur einer größeren Abstimmung unter den zerstrittenen alten Koalitionären bedurft, es hätte die Sowjetunion vor eine kaum lösbare Zukunftsaufgabe gestellt, den Ostdeutschen die Zustimmung zur förmlichen Eingliederung immer neu abzugewinnen. Überhaupt war Deutschland nicht die einzige Frage, mit der die UdSSR, eine Weltmacht, zu tun hatte, und von Erlösung konnte ebenfalls keine Rede sein. Die Vorbehalte der Deutschen gegen Russen und Bolschewismus reichten viel tiefer in Geschichte und Kultur hinein, als es der Beitrag Steinigers ahnen läßt. An dem Debakel hatte Merker keinen erkennbaren Anteil; daß die Nachkriegsentwicklung ihn traf, sollte sich indirekt jedoch erweisen.

    Das Exil.

    Mexiko, wo der Emigrant Merker Fuß gefaßt hatte, war eines der großen Zentren für zahlreiche deutsche Exilanten. Der mittelamerikanische Staat hatte seine europäischen Geschäftsträger beim Erteilen von Einreisevisa ungewöhnlich freie Hand gelassen. Das kleine Land hatte mehr Flüchtlingen Zuflucht geboten, als die großen Staaten der westlichen Hemisphäre. Die ersten Etappen des fluchtartigen Exils in Richtung Westen hießen im Frühjahr 1933 Frankreich, die Niederlande und die Tschechoslowakei. Dort sammelten sich kurz nach dem 30. Januar 1933 flüchtige Politiker und Funktionäre, gründeten Komitees, Verlage, Zeitungen und Zirkel, klärten die Gastländer und die Welt über die Verhältnisse in »Nazideutschland« auf, und schufen die Strukturen für den illegalen Vertrieb ihrer Druckerzeugnisse nach Deutschland. Sie prägten tatsächlich weithin das Bild Hitlerdeutschlands im Ausland und waren also höchst erfolgreich. Infolge des österreichischen Anschlusses, der Auflösung der Tschechoslowakei, während der Besetzung Frankreichs und der Niederlande durch die Wehrmacht wurde der Menschenstrom in Bewegung gehalten oder noch verstärkt, zuerst in das noch unbesetzte Frankreich. Die Hafenstadt Marseille wurde zum Sprungbrett in die »Neue Welt«. Von einer Hafenstadt aus scheint das Entkommen per Schiff immer denkbar leicht. Solange die Abreise mit den normalen Paßprocedere verbunden ist, die kompliziert genug sein können, stimmt das auch. Hier aber lagen die Verhältnisse ganz anders.

    Die Vichy-Regierung hatte sich in dem Abkommen mit Deutschland zur Auslieferung gesuchter Deutscher wie zur Einrichtung von Internierungslagern in dem von ihr verwalteten Teil Frankreichs verpflichtet. Zwar oblag den französischen Dienststellen die Aufsicht, aber in der Praxis war die Hoheit auch im unbesetzten Teil Frankreichs wesentlich eingeschränkt durch Gestapo und Wehrmacht. Wem die Flucht aus dem unter deutscher Besetzung stehenden Teil Frankreichs in die freie französische Zone gelungen war, aber zuletzt doch aufgefischt wurde, der kam in eines der Internierungs- und Abschiebelager. Allerdings, und darauf fußte vielfach das Überleben der Flüchtlinge, ließ sich nicht alles aus dem paraphierten Vertrag auf den unteren Verwaltungsebenen auch wirklich durchsetzen. Dort saß neben den gewöhnlichen Diensttuern auch der französische Widerstand. Alle Dienststellen waren überdies durchsetzt von den Mitarbeitern verschiedener Nachrichtendienste. Vorsicht war auf allen Ebenen dringend geboten. Von Marseille aus versuchten sich also Leute, die gefährdet waren und ihre Auslieferung an Deutschland oder eine dauernde Internierung in Frankreich befürchten mußten, möglichst rasch die nötigen Einreisevisa für irgendeines der Aufnahmeländer zu verschaffen, die Aufenthaltsgenehmigung eines freien Staates, sowie die bezahlte Schiffskarte für die Überfahrt zu ergattern. Es war regelmäßig ein langer Weg, bis der Emigrant den Dampfer besteigen konnte, der ihn in der neuen Welt an Land setzte, wo dann freilich die Sorgen anderer Art begannen, die ums einfache Überleben, die Tatenlosigkeit, das Warten auf die mögliche Heimkehr, falls sich wie erhofft die Verhältnisse in Deutschland änderten. In die nahe Schweiz gelangte nur, wer gute, wer sehr gute Beziehungen besaß, weil die ordentlichen Eidgenossen ihre Grenzen gut bewachen, aus verständlicher Notwehr, wollten sie nicht von europäischen Emigranten und Flüchtlingen überflutet und zu einem riesigen Aufnahmelager werden. Es blieb also die Hoffnung auf eine Schiffskarte in einen Teil der neuen Welt.

    Diese Szenerie reizte zur künstlerischen Darstellung, sie ist gleich mehrfach literarisiert worden, das heißt, die Welt wußte eigentlich immer ziemlich gut Bescheid, was im nichtbesetzten Frankreich und in Nordafrika, dem französischen Hoheitsgebiet am Rande der Sahara, vor sich ging. Jedermann kennt den Klavierspieler und den selbstlosen Mann des Kultfilmes »Casablanca«, der sich von Ingrid Bergmann in die Augen sehen läßt. Wer sich ohne melodramatisches Drumherum literarischer informieren will, der kann in Seghers »Transit« nachblättern. Dort erfährt er, was ein Transit ist, was ein Visum bedeutet, ein Visa de Sortie, ein Danger-Visa und ein Sauf-Conduit. Ganz ohne Melodramatik, Liebe und verschmähter Liebe geht es auch hier nicht. Aber wie normal-verwickelt die Verhältnisse werden können, wenn sich Tausende von einem Land ins andere aufmachen, wenn der Einzelne nicht die erforderlichen Papiere besitzt, das erfuhr Paul Merker am eigenen Leibe. Er war 1933 keineswegs ein heuriger Hase, der das Einmaleins illegaler Existenz erst noch zu erlernen hatte, ganz im Gegenteil.

    Bis zur Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht arbeitete eine Außenstelle der Kommunistischen Partei, ein sogenanntes Zentralbüro der KPD, in Paris. Es wurde von einem Gremium geleitet, dem Merker in der fraglichen Zeit angehörte. In das auswärtige Büro kam man durch die allerhöchste Zentrale der exilierten Partei, die sich in Moskau niedergelassen hatte, von Wilhelm Pieck geführt. Der Funktionär wurde nach Paris delegiert, wieder abgezogen, zur Berichterstattung gerufen, alles, was bis zum Kriegsbeginn 1939 zwar mit Erschwernissen verbunden, was nicht ungefährlich, aber auch noch nicht völlig unmöglich gewesen ist. Es gab eine spezielle Schleuserschiene, einen Weg mit guten Lotsen, der sich »NKWD Schleuse« nannte.

    Um etwas Übersicht in den Lebenslauf Paul Merkers zu bringen; er wurde 1894 im sächsischen Oberlößnitz geboren, besuchte die Volksschule, absolvierte eine Kellnerlehre und zog 1914 in den Ersten Weltkrieg, wie alle seines Jahrgangs. 1918 wird er Mitglied der USPD, der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei«, wechselt 1920 zur KPD, und wird Sekretär einer Gewerkschaft der Hotel- und Restaurationsangestellten. Die nächste Station auf der politischen Leiter ist die Funktion eines KPD-Sekretärs für den Bezirk Westsachsen. In den Jahren zwischen 1926 und 1930 ist Merker bereits Mitglied des ZK der KPD und des Politbüros, ist also schon bis in die Führungsspitze aufgerückt. Er wird Kursant an der »Internationalen Leninschule« in Moskau und Sekretär der »Roten Gewerkschaftsinternationale«, einige Jahre Aufenthalt in Amerika folgen. Zwischen 1934 und 1935 arbeitet Merker illegal in Deutschland. Schließlich wird er wie erwähnt in das Büro der KPD-Leitung nach Paris geschickt, 1940 in Frankreich interniert, aber er entkommt in letzter Stunde, 1942, nach Mexiko.

    Dort findet er eine ganze Reihe berühmter deutscher Linker und Kommunisten vor, und gründet mit einigen die Bewegung »Freies Deutschland«. Nach Deutschland kehrt Merker 1946 zurück, und nimmt als ehemals hoher Funktionär einen Platz im Parteivorstand, später dem Zentralkomitee der SED ein. Wieder ist er Mitglied des Politbüros. Nach Gründung der DDR wird Merker Staatssekretär im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft. Um am 24. August 1950 aus der Partei ausgeschlossen zu werden und aller seiner Ämter verlustig zu gehen. Er ist sechsundfünfzig Jahre alt. Seit gut dreißig Jahren hat er nichts anderes gemacht, als politische Arbeit, illegal und legal, er ist ein Berufsrevolutionär gewesen, und er hat nach der Leninschen Norm gelebt. Seine Arbeit bestand darin, anderen zu erklären, was sie zu tun oder zu lassen haben, wenn sie vor der Parteilinie bestehen wollen, Schriften zu verfassen und drucken zu lassen, Versammlungen einzuberufen und zu leiten, zu taktieren und den Glauben an eine Zukunft wachzuhalten oder zu erwecken, von der er am Ende seines Weges nur noch eine vage Vorstellung gehabt haben mag. Nach seinem Fall hat Merker noch neunzehn Jahre bis zum Tode sehr zurückgezogen gelebt, bis zum Vergessen.

    In die zweite Hälfte der Zwanziger Jahre, als Merker dem kommunistischen Machtzentrum sehr nahe gekommen war, fielen eine ganze Reihe von Vorentscheidungen, die das künftige innere Gefüge des Sowjetstaates bestimmen sollten. Paul Merker wurde 1930 wie oben gesagt mit immerhin schon 36 Jahren an der »Internationalen Leninschule« in Moskau auf eine Rolle in der Komintern vorbereitet. Wie kam es dazu? Auf eine für damalige Verhältnisse nicht ungewöhnliche Art und Weise. Merker hatte als Volksschüler eines sächsischen Nestes nur eine geringe Allgemeinbildung erwerben können, besaß aber Wissensdrang und genug Neugier, um sich einen eigenen Weg in die Welt voller Widersprüche zu bahnen. Als Hausdiener eines sächsischen Barons, der eine umfangreiche Bibliothek sein eigen nannte, verschaffte sich der junge Merker Einblick in die Bücher, die er auf anderem Wege nicht zu lesen bekommen hätte. So jedenfalls liest man es in den biographischen Notizen zu seinem Lebensweg. Und das hieße, jener Sachsenbaron verfügte über genügend heitere Gelassenheit, um seinem Hausdiener den Gebrauch seiner wertvollen Bibliothek zu gestatten. Vielleicht aber genügte es dem jungen Merker auch, sich mit der Titelliste jener Buchausgaben zu versorgen, die er lesen wollte und von denen er sich eine Bereicherung des Wissens versprach.

    Max Hoelz, mit dessen frühem Lebenslauf Merkers Biographie einige Ähnlichkeit aufweist, arbeitete auch einmal als Haussklave sächsischer Thronen und Herrschaften. Immerhin war es für diese Zeit nicht ungewöhnlich, daß gerade junge Linke aus den unteren Klassen Bildung - in jedem Sinne - für ebenso wichtig hielten wie Brot. Sie sollten und wollten das Erbe der bürgerlichen Kultur antreten, pflegten mit mehr Verehrung Umgang mit den deutschen Klassikern als manch ein Bürger. Der sich durchhungernde Proletarier gehört zum klassischen Bild des Aufsteigers. Daran haben Lasalle und die marxistischen Lehrer an den Abendschulen ihren Anteil gehabt. Es gab sie überall im kapitalistischen Europa, diese Wissenschaftsproletarier, die Goethe und Haeckel lasen, die aus »Faust« zitieren konnten und mitreden wollten. Sie förderten viel zutage, aber sie behinderten auch manch eine Entwicklung etwa in der Literatur, als sie gereift waren und handhabbare Regeln für die Kulturgestaltung aufstellten; an ihrem Dogmatismus sollten noch Generationen zu kauen haben. Wer heute Gelegenheit hat, in eine erhaltene Sammlung privater Proletarierbibliotheken zu schauen, der ist verblüfft, wieviel Geld diese Mittel- und Arbeitslosen für Bücher ausgaben. Sie erwarben die billigsten, gewiß, aber sie verschafften sich, wessen sie bedurften. Viele begannen auch selber zu schreiben, diese »Menschenfreunde in zerlumpten Hosen«, wie der programmatische Titel einer der ersten Proletenbiographien überhaupt lautete. Dem Heutigen werden Zweifel kommen, ob die fortschreitende Verblödung und Verödung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und die Glücksprojektion auf sozialen Wohlstand und Mobilität wirklich im Anbeginn der angestrebten Zeiten lag. Aber zurück zu Merker.

    Kellner und Hotelarbeiter kommen weit herum. Merker arbeitete in Dresden und am anderen Ende Deutschlands in Amrum und in Hamburg, erwarb sich also Lebenskenntnis, neben Büchersinn und Bildungslust eine nicht zu vernachlässigende Größe der Selbsterziehung. Was er an der Front im Ersten Weltkrieg getan und unterlassen hat, ist dies: In Mannheim waren in jener Zeit die Luftschiffer stationiert, unter anderem; dort wurde die neue Kampftruppe der Lüfte ausgebildet. Fesselballons bevölkerten alsbald die Himmel über allen Fronten und dienten als Beobachter. Solange bis ihre leichte Verwundbarkeit erkannt wurde. Wegen ihrer Unbeweglichkeit konnte man sich leicht auf sie einschießen; denn allzu hoch durften sie nicht schweben, um als Guckposten nützlich zu sein. Wurden sie nicht rasch genug auf den Boden heruntergeholt, gingen sie in Flammen auf. Zudem hatte sich aus einer technischen Spielerei eine gefährliche neue Waffe anderer

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