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Briefe aus dem Grand Hotel: Vom 04. November 1989 bis zum 18. März 1990
Briefe aus dem Grand Hotel: Vom 04. November 1989 bis zum 18. März 1990
Briefe aus dem Grand Hotel: Vom 04. November 1989 bis zum 18. März 1990
eBook263 Seiten3 Stunden

Briefe aus dem Grand Hotel: Vom 04. November 1989 bis zum 18. März 1990

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Über dieses E-Book

Ein westdeutscher Korrespondent schreibt aus einem Ostberliner Hotel seinem westdeutschen Verleger Briefe, die die Wendezeit beschreiben.
Helmut H. Schulz hat die Texte zeitnah verfasst. Sie dokumentieren und interpretieren subjektiv die Ereignisse zwischen Mauerfall und erster freier Wahl in der DDR. Zunächst fand sich kein Verleger. 1995 erschien das Buch, ergänzt um eine Chronik der Ereignisse, im Berliner Verlagshaus Gotthardt.
Heute, 25 Jahre nach den Ereignissen, legen wir das lebendige "Geschichtsbuch eines Zeitzeugen" erneut vor.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. März 2014
ISBN9783847680802
Briefe aus dem Grand Hotel: Vom 04. November 1989 bis zum 18. März 1990

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    Buchvorschau

    Briefe aus dem Grand Hotel - Helmut H. Schulz

    Prolog

    Seit den achtziger Jahren standen die Forderungen im politischen Raum nach Reisefreiheit und der Versorgung mit Unterhaltungselektronik und Mobilität, also Autos, kurz, nach den Standards westlicher Lebensweise. Die Montagsdemonstrationen zu Leipzig etwa enthielten keine nationalen politischen Forderungen, sonder zielten auf die oben aufgezählten Forderungen. Die Bevölkerung der DDR war kein Staatsvolk, das den Staat trug. Hier erhebt sich die Frage nach dem Einfluss der Persönlichkeit auf den Geschichtsgang. Massen denken nicht, Massen folgen einem spontanen, augenblicklichem Gefühl, aber sie folgen auch einem Instinkt, der sie ungefähr leitet. Im Nachhinein wird, was geschehen ist, als politisch gedeutet und es wurde letzten Endes auch politisch; nach Marx, …wird zur materiellen Gewalt, wenn sie (die Idee) die Massen ergreift. Die reale Lage 1989 ist rasch hereingeholt; die Führungsmacht hatte sich aus der Mitte Europas zurückgezogen, mit der Erklärung der Bukarester Tagung der Warschauer Vertragsstaaten, das Warschauer Bündnis höre auf als Militärbündnis zu existieren (1987), und der Rede Gorbatschows vor der UNO Versammlung, das Zeitalter der Revolutionen sei zu Ende und die Periode friedlicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit beginne, war das Ende der Nachkriegsära einberufen. Logischerweise zerfielen die Staatlichen Strukturen.

    Die Demonstranten hatten die Zeichen der Zersetzung gut und schneller verstanden als die Funktionsträger, die auf Befehle von oben warteten. Die befreundeten Staaten reagierten auf die Lage, indem sie die Grenzen zum Westen öffneten; die Führung der DDR kam mit der Deklaration von Reisefreiheit zu spät. Was folgte, war der stille oder friedliche Staatsstreich, die Besetzung der Ämter durch Zuruf. Die Kammer füllte sich auf diese Weise zu einem gesetzgeberischen Organ, die Minister ernannten sich selbst, indessen die Gruppe Modrow mit Bonn verhandelte, um den Staat in eine interimistische Konföderation zu überführen.

    Das Volk gründete Parteien und Klubs, von allen Aktionen sollte sich die der Sicherung des Aktenbestandes des MfS als die zukunftsträchtigste erweisen, als staatsstiftend und übertragbar, woraus schließlich eine Reihe von Gesetze wurden, die Existenz der Stasiunterlagenbehörde ist bis über 2022 hinaus gesichert, womit selbst noch auf Rechtsstaatlichkeit überprüft werden kann, wer nach 2000 geboren wurde, was einer Groteske gleichkommt.

    Eine gewisse Funktion übernahmen die sogenannten Runden Tische. Vorsitz führten schließlich kirchliche, also protestantische Beamte, die wenigstens in den formalen Regeln Bescheid wussten, eine Antragsflut aufriefen und formal erledigten. Die Bürgerrechtsgruppen konnten über den Protest hinaus keine politisch konstruktive Vorstellung des neuen Staates erzeugen. Nachdem die Modrow-Regierung den 18. März 1990 für die Volkskammerwahl vorverlegt hatte, endete die Bürgerrechtsbewegung; die berufenen Minister traten aus der Regierung aus, die ja immerhin gewählt war und somit rechtsstaatlich anerkannt, als die CDU die Mehrheit errungen hatte und eine Renaissance der PDS/SED ausgeblieben war. Nota bene, mit der Gesamtdeutschen Wahl war die Zustimmungserklärung zum Beitrittsakt verbunden; die Bonner Regierung übernahm die im März gewählten Mandatsträger mitsamt den Ministern in den neuen Staat, ohne dass einer gegen diese Prozedur öffentlich auftrat.

    09.10.1989

    Sehr geehrter, lieber Herr Z., geschätzter Verleger,

    Ihr Korrespondent ist nicht sicher, ob diese Zeilen noch das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben werden, nämlich auf dem Papier eines Ostberliner Nobelhotels, vor wenigen Jahren erbaut, in der, heute müsste ich sagen, Honecker-Ära. Grand Hotel ist ein hübsches Quartier für Valuta-Gäste, zumal für Ihren schwer arbeitenden Berichterstatter. Wohl möglich, dass ein hier beheimateter Bürger der Durchschnittsklasse den Prachtbau mit scheelen Augen ansieht; er wurde nicht für seinesgleichen errichtet. Der Eintritt ist ihm verwehrt. Jedenfalls aber hat Ihr Korrespondent einen vortrefflichen Blick auf die Mauer-Metro-pole mit ihren besonderen Lebensbedingungen. Verleger werfen ihr Geld nicht zum Fenster hinaus; kommen wir also zur Sache.

    Bis zur Stunde werden die Leute diesseits und jenseits der Grenze und wir mit ihnen durch Kurzfilme der westlichen Medien über die Lage unterrichtet. Es mag Leute geben, die an den geschnittenen Film glauben wie an geoffenbarte Religion; Ihr Korrespondent gehört nicht zu ihnen. Wir haben noch die empörte Feststellung des Staatschefs im Ohr, von einer beispiellosen Hetze, die gegen die DDR entfacht worden sei, eine Bemerkung aus der - vermutlich letzten - Rede anlässlich des obligatorischen Staatsaktes zum Gründungstag. Dieser Auffassung kann sich Ihr Korrespondent noch weniger anschließen. Wir müssen wohl zustimmen. Die mehr oder minder gewissenhaften Recherchen unserer Kollegen an den TV-Sendern spielen eine wichtige Rolle bei der Unterrichtung der Leute über das sie Angehende, angesichts der dauernden Abwesenheit ihrer eigenen Journaille. Enthüllungen mögen für den Apparat der DDR alles andere als angenehm sein, gleichwohl sind sie keine Hetze. Unser Herr Pleitgen ermahnte denn auch alle zu größter Sorgfalt, weil das Westfernsehen in der DDR die höchste Glaubwürdigkeit genieße. In der Tat steht der Klassenkämpfer hüben wie drüben vor einer neuen Situation; durch die Präsenz und den Einfallsreichtum nimmermüder Neuigkeitenjäger hat er so etwas wie einen Gegenspieler vor sich, dessen Waffen er nie genau einschätzen kann.

    Der Abend scheint heute ruhig, nach dem Fackelzug vorgestern und einigen Straßenfesten unter stiller Teilhaberschaft der Polizei. Über die sicherlich abgehörten Telefone, solche Finessen sind heute weltweit üblich und dem Korrespondenten gewohnt wie die tägliche Rasur, hörten wir, dass zu Leipzig die bisher größte Demonstration ablaufe, bei der sich die Streitkräfte überdies maßvoller verhalten sollen, als an den Vortagen. Genaueres wissen wir nicht. Korrespondenten dürfen nicht nach Leipzig hinein. Sie sehen, dass wir so etwas wie den kleinen Belagerungszustand haben, einen, den niemand mehr ausruft, der dennoch besteht. Die Filme aus der Stadt Leipzig sind Videos; fragt sich, wie lange diese Verbindungen noch ungestört bleiben. Im Grand Hotel leben wir also wie in einer belagerten Festung, weniger in Wirklichkeit, als in unserer Einbildung. Die Stimmung ist panisch-gedrückt, man ist bereit zur Flucht, als könnte das Haus jederzeit gesprengt werden, und ist andererseits begierig, Augenzeuge einer Katastrophe zu sein, die sich auch noch über Druckpressen und Schneidetische trefflich zu Geld machen lässt. Die älteren Herrschaften unter uns entsinnen sich noch der Tage des 17. Juni 1953 und halten es nicht für ausgeschlossen, von ihren Fenstern aus einen guten Schnappschuss zu machen, wenn ein russischer Panzer zum Beispiel einen jugendlichen Steinewerfer zu Brei zermalmt, was ein hoch bezahltes Fotodokument ergeben könnte. Nur dürfen Sie dabei nichts Schlechtes denken, denn es geht natürlich um die Menschenwürde, nicht um die des Zermalmten, sondern um die Abstraktion dieser Würde. Nicht zum ersten Mal beobachte ich, wie schwer man sich als Miterlebender dem Ereignis, über das nüchtern reflektiert werden soll, auf Dauer entziehen kann. Bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten an den Vortagen, als sich der greise Führer, Generalsekretär, Staatsratsvorsitzende und Chef aller Sicherheitsorgane des kleinen Landes vor einem Dutzend geladener Partei- und Landesfürsten als erfolgreichen Staatsmann feiern ließ. Unter der Hand ist hier ein anachronistischer Personalkult am Leben erhalten worden, nicht weit entfernt vom Pomp des rumänischen Theokraten. Deshalb versagten wir es uns auch, dem Fackelzug aus Anlass des Jahrestages der DDR beizuwohnen. Es handelt sich um ein bei uns in Deutschland höchst beliebtes Ritual, mit einem Beigeschmack von düsterer Verschwörung, von reinigendem Feuer. Ihr Korrespondent hat sich umgesehen in der Welt, und er müsste lange suchen, um ein ähnliches Szenarium beschreiben zu können. Einer unserer Chauffeure, die für Leute wie uns beschäftigt werden, um uns herumzufahren und unter Kontrolle zu halten, erklärte am Tag nach der heroischen Fackelei diplomatisch: Da ham Se watt vasäumt! Leider ist beim Berliner nie auszumachen, wann er seine Empfindung ausdrückt und wann er die Clownsgrimasse zieht; wer das Temperament der Leute kennt, der stellt sich darauf ein. Es handelt sich um eine tief sitzende Skepsis, die sich von Generation zu Generation vererbt und an der keine Ideologie bislang etwas zu ändern vermocht hat. Fontane nennt den sprachlichen Ausdruck dieser Haltung gelegentlich: Berlinismen.

    Als Gast des Hauses Grand Hotel kann man sich nicht beklagen; die Küche blieb gut, der Service auch, aber es ist das alte Lied, und es klingt überall gleich: Solange kein Kanonendonner gehört wird, ist alles im Lot. Dennoch zogen wir uns lieber auf unsere Zimmer zurück, belauerten die Bildschirme und Telefone, hoffend, dass die Nacht für eine Überraschung gut war. Bei unserem Whisky oder Cognac verspürten wir ein aufgeregtes Unbehagen, aber es fielen in der Nacht vom 9. zum 10. Oktober keine Schüsse, nicht in Nähe des Grand Hotel, und übrigens hätte man uns wohl im Ernstfall gebeten, das Haus zu räumen, und uns in sicheren Fahrzeugen bis an die nahe Grenze, als der Peripherie der ganzen Aufführung, expediert. So wird es bei einigermaßen diszipliniert veranstalteten Revolutionen und Konterrevolutionen in der Regel gehalten. Die Mehrzahl der Theater spielen, die Cafés sind durchgehend geöffnet, und früher kam sogar noch der Milchmann ins Haus, brachte der Lehrjunge des Bäckers den Beutel mit Brötchen, während draußen eine Epoche zu Ende ging, für die gerade Herrschenden immer eine Bel-Epoque. Immerhin schätzen Augenzeugen, dass zu Leipzig mehrere Hunderttausend Menschen auf den Beinen waren; kein Zweifel, es ist kurz vor zwölf für das neue Tausendjährige Reich Honeckers, oder es ist sogar schon später. Ich halte Sie auf dem Laufenden; die Sache ist spannend genug.

    Es grüßt Sie, Ihr ***

    05.11.1989

    Lieber Herr Z.,

    heben Sie diese Briefe gut auf, sie könnten so etwas wie historische Dokumente werden, die Begleitmusik zur Götterdämmerung dieses Staates DDR, geliefert von einem Außenseiter, der an nichts glaubt, und den niemand mehr hinters Licht führen kann, ausgenommen ein Verleger. Ihr Korrespondent ist kein Prophet; er verfolgt lediglich bei wachem Verstand den beschleunigten Gang der Geschichte, das Spiel des Allmächtigen Chronos, wie die Griechen einsichtig sagten, denen das Zeitliche, die Begrenztheit aller Politik wie allen übrigen Strebens bewusst war. Wir beide, Sie und ich, hatten uns dahin verabredet, über die nahe Zukunft, über die Perspektiven Osteuropas zu orakeln, nachdem Gorbatschow von einem europäischen Haus gesprochen hat, in das er die Staaten seines Machtbereiches einzubringen gedenke. Er, und wir mit ihm, dachten uns die Lösung dieser Aufgabe vielleicht denkbar einfach, jedenfalls aber vollkommen reinlich, diplomatisch-logistisch, begleitet von Verbrüderungsküssen und Flötenklängen.

    Es hätten sich die Staatsmänner der Welt im Strahlenkranz des ewigen Friedens auf den schönsten Plätzen der Welt zu den schönsten Dinners der Welt treffen wollen, um, ordensgeschmückt zurückgekehrt, ihren Völkern zu verkünden, dass nunmehr wirklich alles zum Besten stehe. Zum Lohn für ihre Mühe wollten sie allesamt in die Geschichtsbücher eingehen. Nun ist der große Lümmel, wie Heine das Volk respektvoll und nicht ohne berechtigte Panik genannt hat, dazwischengekommen, und die Leute rufen: Wir sind das Volk! Ich bin beim Thema. Gorbatschow ist die eigentliche Leitfigur allen Geschehens hier wie in Osteuropa überhaupt. Seine wirkliche Rolle ist heute jedoch kaum schon zu erfassen. Und am Ende kennt er sie selber noch nicht. Er ist Emporkömmling und trotz allem liberalen Gestus ein Nachkomme der Stalin-Ära. Ohne ihn würde es allerdings das Zutrauen der Leute in die eigene Kraft vielleicht nicht geben. Die Dinge eskalierten seit dem April, über den Sommer, als die Warschauer Verbündeten dem Exodus der DDR nicht nur gleichmütig zusahen, sondern Kapital aus der dummen und kurzsichtigen Isolierung ihres deutschen Bruderstaates schlugen und sich bei ihren künftigen westlichen Koalitionären, den Verbündeten von morgen, einleckten. Der innere Zerfall der UdSSR war anscheinend überall spürbar und zeigte Folgen. Ich muss jetzt nicht hinzusetzen, dass es natürlich um die höchsten menschlichen Werte geht und um Geld; unter uns können wir wohl bei der nüchternen Betrachtung von Tatsachen verharren. Bei einem Kurzauftritt in der Straße Unter den Linden richtete Gorbatschow ein paar aufmunternde Worte an die verzweifelten Fragesteller wie: Verliert nicht den Mut! Dass bestraft werde, wer zu spät komme, und zwar vom Leben, war einer seiner anderen Geistesblitze; davon haben Sie, als einer Banalität sicher schon hundertfach gehört. Fragen Sie lieber nicht nach, wer da straft und wen, und weshalb dieser oder jener zu spät gekommen sein könnte. Jedenfalls sollte dem Gorbatschow das Bad in der Menge, das ihn zunehmend begeistert, von seinem Busenfreund, dem Landesvater Honecker, trotz feuchter Bruderküsse auf Mund und Wangen, meist allerdings auf die Wangen, eine Sitte, die sich in Europa durchzusetzen scheint, eigentlich verwehrt werden. So will es die Fama, und manches spricht dafür. Spontane Auftritte von Spitzenpolitikern waren hier nie Sitte und weckten eher das Misstrauen in die Bündnistreue dessen, der nach Massenbegeisterung gierte, die nicht vom Politbüro gemacht worden war.

    Dicht neben dem Grand Hotel steht eines der berühmtesten Opernhäuser des Kontinentes. Man braucht nur wenige Schritte zu gehen, um die Deutsche Staatsoper Unter den Linden, kaum weniger berühmt als die Komische Oper, zu erreichen, und am Schiffbauerdamm hat das Berliner Ensemble noch immer seinen Sitz, Brechts Stammhaus. Für alle diese Bühnen können wir Karten beim Empfang des Hotels erhalten, aber wir Korrespondenten haben keine Zeit fürs Sprechtheater oder für noch so vorzügliche Opernaufführungen; denn vor unserer Tür hat ein Jahrhundertschauspiel Weltpremiere. Wir erleben gerade den zweiten Akt und haben soeben erfahren, was der liebenswürdige Regent, von dem einer unserer bekannteren Publizisten, bei Gelegenheit Leiter der Bundesvertretung in Ost-Berlin, behauptete, jener gewinne viel bei näherer Bekanntschaft (und er muss ihn Wohl sehr gut gekannt haben, wenn ihm solche Bemerkung leicht und wie selbstverständlich von den Lippen fließt und in einem gedruckten Text verewigt wird), seinen Untertanen zugedacht hatte. Das Medienpersonal wird indessen immer mehr zu einer geschlossenen Gesellschaft aus alternden Damen und Herren, die sich die Bälle freundlich zuspielen und einander in seriösen Sendungen wie auf einer amerikanischen Party mit Sie und beim Vornamen anreden. Gleichwohl hatte dieser liebenswürdige Herr Honecker keine sehr gute Stunde, als er die Parole Konterrevolution ausgab.

    Hier und heute dreht sich nun aber wirklich alles um die Frage, was die Sicherheitskräfte, Polizei, Armee und vor allem die Besatzungsarmee tun werden. Der Kurzbegriff dafür heißt: Schießbefehl. Ein solcher Befehl könnte uns sowohl einer Katastrophe wie einer Befreiung rasch näher bringen; uns, das sind die Ostdeutschen, die sich blutig aus eigener Kraft zwar nicht befreien könnten, aber doch eine Wende erzwingen würden, die den Namen verdient, Wende wohin auch immer. Ob die NATO eingreifen würde, ist kaum einer Erörterung wert. Einem Blutbad im Osten würde sie mit größter Gelassenheit und ungeheurem Moralgeschrei beiwohnen und nach langem Palaver einige halbe Maßnahmen ergreifen, etwa ein Embargo zunächst androhen, dann beschließen und es in Kraft setzen, wenn die Zeichen schon wieder ganz anders stehen. Will sagen, dass die Interessengegensätze in Europa eher größer werden dürften, sollte sich in der Tat eine deutsche Einheit am Geschichtshimmel abzeichnen. Die deutsche Teilung ist den Europäern ein viel zu kostbarer Kriegsgewinn, als dass sie sie preisgeben wollten. Außer Durchhalteparolen und einigen Care-Ladungen hätte das westliche Bündnis den Ostdeutschen also nichts zu bieten.

    Ich schrieb Ihnen schon meinen Eindruck. Bei längerem Aufenthalt hier und zur Objektivität angehalten, entwickelt Ihr Korrespondent Sympathie für die spezielle Mentalität dieser seiner Landsleute. Ihm wird plötzlich wieder bewusst, aus welchem Verbund er wie alle anderen herausgerissen wurde, und er ist heimlich versucht, diesen ethnischen Zusammenhang wiederzugewinnen. Hier aber stockt ihm bereits der Atem, er sieht die mannigfachsten Vorwürfe und Verdächtigungen seiner treuen Freunde und Verbündeten auf sich zukommen. Was bisher nur Aufgeregtheit ist, das könnte noch immer zum nationalen Aufbruch werden. Gemach, es wird ein langer Marsch werden, bei dem unsere Nachbarn - und wir haben Nachbarn bis an den Pazifischen Ozean - ein kräftiges Wörtchen mitreden dürften.

    Also zur Sache, vieles deutet darauf hin, dass der Staatsratsvorsitzende für einen Schießbefehl haften muss, den eine Gruppe einflussreicher Leipziger Bürger verhindert haben will. Ganz klar ist der Ablauf jener Tage vor einigen Wochen bis heute nicht. Dass eine halbe Million Menschen mit Sicherheit etwas anderes sind als Konterrevolutionäre, ist gewiss.

    Nichts scheint mir übrigens bezeichnender für den sklerotischen Zustand dieser Oligarchen, als ihr Umgang mit der Sprache. Sie nahmen das Verfallsdatum ihrer Heilslehre gar nicht wahr, wie sie das Gefühl für die reale Lage eingebüßt haben. Ob nun allerdings ein Hofkapellmeister und ein Laufjunge des Politbüros den Waffeneinsatz der Russen, und nur auf die Kontingente der Roten Armee kommt es an!, in Leipzig und anderswo verhindern konnten, scheint Ihrem Korrespondenten mehr eine Glaubensangelegenheit, als eine historische Gewissheit. Eigenartigerweise aber beginnen die Deutschen ihre Liebe zu den Russen hervorzuholen; lesen Sie wiederum bei Fontane nach: Die Russen haben kein Ehrgefühl und kein Mitgefühl. Aber wir haben ein Datum, einen Hinweis auf das, was hier mit dem Begriff Wende auf den Weg gebracht worden ist. In jener Nacht von dem 9. auf den 10. Oktober stand es auf der Kippe, der Befehl zu scharfem Schuss und Panzereinsatz überhaupt, vielmehr dessen strikte Befolgung hätte eine andere Welt geschaffen.

    In unserer albern friedenstaumeligen und ruhesüchtigen Zeit ist es kaum vorstellbar, dass Waffen in größerem Stile noch eingesetzt werden. Sie sollen auch nur hochgehalten bleiben, damit sie jeder sehen kann und fürchten lernt. Begrenztere Kriege werden wir allerdings alsbald wieder kennenlernen. Das Politbüro jedenfalls, diese allmächtige Instanz, vor der Recht und Gesetz aufhören zu bestehen, hatte aus seiner Begeisterung für die chinesische Lösung im Sommer, dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, nie einen Hehl gemacht und sogar seinen Laufjungen, eben jenen, der sich rühmt, aus Einsicht den Panzeraufmarsch nach dem Muster des 17.Juni 1953 abgeblasen zu haben, mit der Mission betraut, die Glückwünsche des Politbüros in das abgelegene China zu tragen.

    Ihr Korrespondent ist kein Politiker, aber er ist ein alter Fuchs, und Sie sollten es sich gut überlegen, ob Sie noch einmal einen Skeptiker mit der Mission betrauen, einen Schluss- und Siegesbericht abzufassen. Kein Politiker zu sein, das enthebt Ihren Korrespondenten der Pflicht, irgend jemandem zu Munde reden zu müssen, heißen sie nun Bürger oder Staatsbürger oder gar mündige Bürger, wie es hier gestern aus Anlass einer Massenkundgebung aus berufenem Munde tönte; man glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Es handelt sich um eine der denkwürdigsten Veranstaltungen der Volksbewegung und zugleich eine der harmlosesten, sehr verschieden von den Aufführungen zu Leipzig und Dresden. Gerade wegen dieser Harmlosigkeit aber werden den Protagonisten der Veranstaltung Plätze in den vordersten Reihen der Revolution zugeschrieben werden.

    Berlin war immer das Zentrum dieses Kunst- und Kleinstaates, der als Frucht hegemonialen Denkens und eschatologischer Erlösungshoffnung wie die berühmte Brotkrume vom Verhandlungstisch der Siegermächte abgefallen war, und genau solange wird die DDR existieren, wie die Bündnislagen der zu Ende gehenden Nachkriegszeit andauern. Dieser Staat DDR hielt die europäische Politik in Balance, und das hatten alle Deutschenfresser gut begriffen.

    Es sei denen verziehen, die des Guten ein bisschen zu viel taten, als sie in großzügigster Weise Prädikate wie dieses vergaben: Heldenstadt Leipzig; obschon die Volksbewegung zu Leipzig in der Tat durch die Nähe der Gefahr die höheren Weihen ihrer Sendung empfing. Weshalb Leipzig, das hat seine besonderen Ursachen, und dass zu Schwerin in Mecklenburg ein schlauer Kopf an die Wand schrieb: Norden, erwache!, zählt ebenfalls zu den untergeordneten Denkwürdigkeiten dieser Volksbewegung. Bei der Berliner Veranstaltung am 4. November, und ich habe

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