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Augusta - Ihre Ehe mit Wilhelm I.: Eine Biografie
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eBook478 Seiten6 Stunden

Augusta - Ihre Ehe mit Wilhelm I.: Eine Biografie

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Über dieses E-Book

Die Nachwelt hat der ersten Kaiserin Preußen-Deutschlands keine Kränze geflochten. Was wir heute über sie wissen, stammt aus den zeitbedingten oder politisch bestimmten Urteilen ihrer Gegner. Bismarck hielt die Kaiserin Augusta für seine schlimmste Feindin, was zutrifft. Wilhelm I., ihr Herr Gemahl, misstraute ihrer Aktivität, nicht aber ihrem Urteil. Sie wollte den Gang der deutschen Geschichte gegen alle Widerstände in der ehrenwerten Familie in einem historischen Augenblick mitgestalten, als Preußen am Scheideweg stand. Anders als ihre Vorgängerin auf dem blauen Kornblumenthron Preußens, der Königin Luise, wurde sie in Berlin nicht geliebt, höchstens auf Grund ihrer Stellung respektiert. Zuletzt galt sie nur noch als gefährlich schrullig.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Jan. 2014
ISBN9783847668534
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    Buchvorschau

    Augusta - Ihre Ehe mit Wilhelm I. - Helmut H. Schulz

    VORREDE

    Die Biografien der Kaiser und Könige füllen Bibliotheken, und eine unermüdliche Forschung fügt dankenswerterweise schon Bekanntem immer neue Details hinzu. Von den Frauen dieser Herrscher erfährt man eher am Rande. Mythisch und gewaltig sind sie in vorgeschichtlicher Zeit; dann werden sie bloß drapierte Puppen. Bei Eintritt ins heiratsfähige Alter einer Majestätskandidatin fällt das Auge des Historikers auf die betreffende Dame; er bereichert unsere Kenntnisse über ihr geringfügiges Eigenleben um einige nota bene, und beendet ihre Vita mit der Liste ihrer Kinder. War sie hierin erfolgreich, hat sich ihr Lebenszweck immerhin erfüllt. Über die Mätressen der jeweiligen Potentaten wissen wir vergleichsweise mehr; vielleicht sind sie interessanter, verwegener, besitzen mehr Individualität und größeren Ehrgeiz, mag sein. Natürlich lassen sich auch die staunenswerten Ausnahmen finden, wie die Königin von Saba, wie Kleopatra, die englische Elisabeth und ihrer Gegnerin Maria Stuart. Bei genauerem Hinsehen halten sich möglicherweise Regenten und Regentinnen die Waage, nur dass diese mit Zungenfertigkeit erreichten, was Männer mit dem Schwert erwerben mussten. Nun, das sind bloße Hypothesen. In den Zeiten des Schwertadels und des Raubrittertums scheinen die Frauen in der Tat bedeutender, rücksichtloser und also androgyner gewesen zu sein, um dem kuriosen Vokabular neuer Gelehrsamkeit ein Modewort zu entlehnen. Das Leben und energische Wirken verschiedener Herzoginnen und Kurfürstinnen könnte leicht zum Beweis dieser Behauptung herangezogen werden. Dann verschlechtert sich die Lage für den Berichterstatter wieder. Von der Gemahlin des Soldatenkönigs wissen wir, dass sie immerhin versuchte, innerhalb ihrer Möglichkeiten, die Kinder vor diesem Vater zu schützen. Der Alte Fritz hielt gar nichts von Frauen, am allerwenigsten von Ehefrauen; er hatte ein Menge anderer, ihn stärker fesselnder und wichtig erscheinender Beschäftigungen als die der Unterwerfung unter das dynastische Zeugungsregime und den damit verbundenen Unsicherheiten der Erbfolgen; inzestische Schwachköpfe fand er unter seinesgleichen übergenug. Der Monarchenphilosoph beherzigte den Rat Diderots, lieber einen fertigen jungen Menschen als Sohn zu adoptieren, anstatt einen Kretin zu erzeugen. Friedrich II. wählte seinen Nachfolger selber aus, was freilich auch schief ging, weil ihm dieser verstarb, ein wahrhaft aufgeklärter Monarch zwar, aber in diesem Falle nicht eben sehr erfolgreich. Der Nachfolger des Nachfolgers, also des abgeschiedenen Kronprätendenten, hielt wiederum zu viel von Frauen, er zeugte auch zahlenmäßig ausreichend Kinder, denen ein König hätte entnommen werden können. Dieses Verfahren scheint also doch eher zum Ziele zu führen, als das der Wahlverwandtschaft. Bei einem Monarchen kommt es auf die persönlichen Gaben auch nicht an. Bis endlich mit der Königin Luise eine weibliche Persönlichkeit und eine Herrscherin an die preußische Öffentlichkeit trat, eine Märchenkönigin, ein Gemisch aus mecklenburgischer Seelenplatte, wie man kürzlich von einem Kabarettisten auf eine zeitgenössische Ministerin gemünzt, sagen hören konnte, und gemütvoller Wahlhessin; eine Königin, kindlich einfach, menschlich gütig, mit so vielen Fehlern wie nur möglich, und wie sie auch gewöhnliche Untertaninnen haben durften. Deshalb stiftete man ihr auch einen Bund. Allerdings erweckte Luise wegen ihrer persönlichen wie gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften das Mitgefühl wie den Argwohn der Nachwelt, die nicht unbedingt als königinnenhaft anzusehen sind. Dies ist ein historisches Dilemma; es entdeckt zu haben, oblag den Berliner Hofschranzen. Zu Berlin tragen allerlei Örter und Straßen Luises Namen, wie die ihrer späteren kaiserlichen Nachfolgerinnen. Letztere sind alle in Nähe des Berliner Kaiserdammes zu suchen, wenn man überhaupt nach ihnen sucht, und sich nicht bloß mit dem Namensschild am Straßenpfahl begnügt, aha, noch eine Kaiserin. Ihre Vorläuferinnen gaben der alten Friedrichstadt als Straßenort für ihre Namen den Vorzug. Woraus zu folgern ist, dass die Stadt Berlin zuvor hinter dem Brandenburger Tor endete.

    Auch die Zarin Katharina, um einen Blick außer Landes zu werfen, fiel aus dem Rahmen des Gewöhnlichen; wegen eines skandalösen Liebeslebens, dessen Details uns heute ganz geläufig und beinahe Unterrichtsstoff in den Elementarklassen der Einheitsschulen geworden sind, wo kleine Mädchen und Jungen unter Anleitung eines Reformpädagogen lernen müssen, wie man ein Kondom über einen hölzernen Phallus bringt. Ob die Kleinen für solche Leistung Zensuren bekommen, war dem Fernsehbericht leider nicht zu entnehmen. Deutsche Gründlichkeit macht’s möglich. Der Liberalität sind eben keine Grenzen gesetzt. Victoria, aus englischem Urstoff gemacht, eine Königin, nach welcher ein ganzes Zeitalter benannt wurde, das Victorianische, analog zum Wilhelminischen, scheint im Gegensatz zu Katharina eine stillere Herrscherin gewesen zu sein. Übrigens kam auch auf sie eines Tages der Titel: Kaiserin, nämlich von Indien. Ihr Enkel Wilhelm zwo wurde von seinen britischen Verwandten als Mister Willy bezeichnet. Ob seine Großmutter mit Miß Victoria angesprochen wurde, ist hingegen nicht überliefert. Das Verhältnis der Völker zu ihren Königinnen und Kaiserinnen scheint indessen zufriedenstellend gewesen zu sein. Die deutschen Märchen benutzten ja auch die zutrauliche Anrede: Frau Königin oder Herr König, während sie den pommerschen Kossäten leicht schwärmerisch als: Bäuerlein bezeichnen. Dieser lebte ungefähr so oder nur etwas darüber wie sein Schwein im Koben, wovon sich heutzutage Jedermann in einem der zahlreichen Dorfmuseen überzeugen kann, und sich schaudernd fragen darf, was die am Abend ohne Fernseher gemacht haben mögen. Nun, ganz einfach, Kinder.

    Als der vorletzte Kaiser von Österreich-Ungarn, Franz Joseph II. zu Grabe getragen wurde, 1916, also mitten im Kriege, was ihm das demokratische Elend der Ersten Republik wie die Bedeutungslosigkeit des Exils erspart hat, befanden sich haufenweise schwarz verschleierte Damen im Trauerzug auf dem Wiener Ring; eine schier unübersehbare Menge wandelnder Figurinen, wie die Muselmaninnen von Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gehüllt. Anscheinend handelt es sich um ein bestimmtes Zeremoniell der Hoftrauer, eine sozusagen abgeschwächte Form der Witwenverbrennung. Der Film, der jüngst entdeckt worden war und sogleich zur Konservierung von solchen, sonst flüchtigen Bildern genutzt wurde, hat uns diese merkwürdige Art höfischen Trauerns überliefert. Wichtig genug, da die Tiefenforscher menschlicher Seelen allgemein beklagen, dass wir zu wenig trauern, uns zumindest ungenügend bewusst sind, welche Schuld wir etwa als Christen, mit den neronischen Verfolgungen auf uns geladen haben, ohne an eine Entschuldigung zu denken. Mohammedaner, Buddhisten und Anhänger verschiedener Naturkulte sind besser dran. Als der Kolporteur sich vorgenommen hat, den Lebenslauf der Kaiserin Augusta von Deutschland nachzuerzählen, und diese Filmsequenz sah, fiel ihm eine höchst persönliche Antwort auf die Frage ein, was es denn noch für einen Sinn hat, die Geschichte einer Fürstin aufzuschreiben, die lieber Kaiserin als Königin sein wollte, und die eigentlich nur Klatsch und Häme hinterließ. Einst, in nun schon ziemlich grauer Vorzeit, lud der Vater dieses Bücherschreibers zu einem so genanten Familientag. Dergleichen war recht beliebt. Aus allen Himmelsrichtungen eilten die lieben Verwandten herbei, Onkeln und Tanten, Vetter und Base soundso, mehr oder minder grobe Lümmel aus den entferntesten deutschen Provinzen, lymphatische junge Mädchen, städtischen Mittelschichten erwachsen, mit jugendlich schwellendem oder ganz flachem Busen, und vor Aufregung schwitzenden Händen. Die kritischen Einlassungen seines vorlauten Sohnes wies der Vater mit der Erklärung ab, man müsse alle seine Verwandten nicht nur lieben, sondern jede Familie konzeptionell und anschauungsweise nehmen. Die kleine Base soundso, zum Exempel, werde ihrer tatkräftigen und habsüchtigen Mama einst verzweifelt ähnlich sehen. Wir haben alle nur unser Stück Tradition, in der wir solange wurzeln, bis Abstammungen belanglos geworden sind. Alle historischen Familien erinnern am Ende an Museumspräsentationen.

    In der Tat aber hat am androgynen Wesen der Frauen nie auch nur der geringste Zweifel bestanden, wohl aber müssen die Männer, innerlich verzweifelt, weibliche Neigungen in sich bekämpfen, sobald sie welche aufspürten, bis sie einer Dame weinend an den energischen Busen sinken, und alles schwächliche, das Androgyne, in sich befreien dürfen. Womit sich die männlichen wie die weiblichen Bestimmungen vollendeten. Dies fiel dem Kolporteur als Ausrede ein, als er einen ersten Blick auf das Leben einer energischen, wiewohl in all ihrem Streben gescheiterten Frau geworfen hatte, und sich den Kaiser Wilhelm I. daneben dachte.

    Nun, die Formen des sozialen Daseins wie der Liebe haben sich ein wenig geändert. Die Vertreter des Hochadels wurden zum neuen Glauben an die Macht der Sinnlichkeit und des Geldes bekehrt. Auffallend viele von ihnen sind Unternehmer und Berater von Unternehmern, Volkswirte bis an die Grenze der Korruption und Korrumpierbarkeit, harte Manager und Geldverdiener geworden. Die weiblichen Abkömmlinge verdingen sich sonderbarerweise zu Hauf den freiheitlichen Medien oder der Journalistik. Diese Einrichtungen, welche die öffentliche Meinung auch dort erzeugen, wo es keine gibt, sind sozusagen in die Erbfolge des literarisch-klatschsüchtigen Salon des Biedermeier eingerückt.

    Kommen wir zum Schluss dieser Vorrede. Zwei der drei Kaiserinnen des Deutschen Reiches von 1871 haben in der victorianischen oder wilhelminischen Ära eine besondere und eigentümliche Rolle gespielt, wiewohl ihrer nie ausreichend gedacht worden ist. Gemeint sind Augusta und die jüngere Victoria, eine Tochter der englischen Victoria. Der Gemahlin des Kaiser Friedrich wird hier noch nicht gedacht, ihr Name sei immerhin schon eingeführt. Aber die Vita Augustas, deutscher Kaiserin, legt der Kolporteur allen auf das wärmste ans Herz, und das im vollen Ernst, die auf der Suche nach Kaiserinnen sind. Es lohnt. Eigentlich müsste hier noch von der letzten Zarin Alexandra Feodorowna die Rede sein, die Deutsche, wie sie von den Russen verächtlich genannt wurde. Die beiden erstgenannten Kaiserinnen hätten sich, davon haben wir uns an den reinen Quellen der Wissenschaft überzeugt, auch heute im gesellschaftlichen Leben behauptet; die eine hätte vielleicht ein weltweit Geld einsammelndes Hilfswerk aufgerichtet, um streunende Hunde aus einem fernen Kontinent in das Asylland Bundesrepublik zu überführen, und ihnen einen schönen Lebensabend gesichert, wie es jüngst geschehen ist. Die andere, härteren und britischeren Schlages, wäre unter Umständen als Auslandskorrespondentin bei einer Fernsehanstalt tätig geworden. Energisch und verführerisch, wären sie aus der Kühle oder Schwüle dynastischer Salons in den warmen demokratischen Mief des Television erfolgreich hinübergewechselt, hätten gelernt, im richtigen Augenblick den Wimpernschlag in die Kamera zu richten, und regelmäßig die falsche Wortsilbe zu betonen. Irgendwo muss jemand sitzen, der diese Frauen lehrt, auf dem Kunstkopf zu stehen und auf Händen zu laufen. Wie zu hören und zu lesen, sollen sich Fernsehsprecherinnen kaum der Heiratsanträge erwehren können, die ihnen von männlichen Zuschauern dringlich gemacht werden. Männlich zu sein, kann heute nur als ein tragisches Geschick bezeichnet werden. Die Urteilsfähigkeit hat in den letzten Jahrzehnten allerdings sehr gelitten, und ehe jemand einer plappernden und lächelnden Einrichtung einen Antrag machte, sollte er das Bild ein- und den Ton seiner Glotze abstellen, um das Objekt seiner Begierden aus einer größeren Distanz zu studieren. Noch besser ist es, einen zweiten Apparat zuzuschalten, und einen der Werbesender hereinzuholen; hier findet er Antwort auf alle seine Fragen an das Schicksal und auf den eigentlichen Zweck des Mediums. Endlich wird ihm aufgehen, dass Waschmittel und Politik mit ein und demselben Gestus verkauft werden. Die Analogie ist dermaßen umwerfend, dass sich alle Liebes- und Ehefantasien erübrigen. Im Nachfolgenden ist von Augusta die Rede, der ersten Vertreterin eines neuen deutschen Kaisertums, das insgesamt ganze siebenundvierzig Jahre währte.

    DER 9. MÄRZ 1888

    Der Schwächezustand Sr. Majestät des Kaisers dauert fort. Se. Majestät nehmen ab und zu etwas Wein und flüssige Nahrung zu sich. Im Ganzen ist der Zustand ruhiger. So steht es im ärztlichen Bulletin über den Gesundheitszustand des Kaiser Wilhelm I. Der 90jährige Greis liegt auf dem Feldbett seines Schlafzimmers, eines engen, spartanisch einfach ausgestattetem Raum, im Palais Unter den Linden No. 9 und ringt mit dem Tode. Bei ihm sind seine Frau Augusta; sie, um elf Jahre jünger als der Kaiser, kann sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen. Bei dem sterbenden deutschen Kaiser ist die Lieblingstochter Luise, deren Mann, ein Großherzog von Baden, die Kinder Prinz und Prinzessin Wilhelm. Es fehlen: Der Sohn, Friedrich Wilhelm und die Schwiegertochter Victoria; beide sind durch den alten Kanzler darüber unterrichtet, dass ihr Vater und Schwiegervater im Sterben liegt, die sofortige Rückkehr sei notwendig, aber der Erbe und Nachfolger Wilhelms ist leidend, seine Tage sind möglicherweise gezählt. Jedermann weiß, dass er an Kehlkopfkrebs unheilbar erkrankt ist.

    Der Sterbende auf dem Feldbett beginnt zu sprechen. Augusta, schwerhörig, beugt sich vor, um die Worte zu verstehen, aber ihr Mann, jetzt wirklich bloß ein Mensch, der gehen will, erzählt etwas aus weit zurückliegenden Tagen, unzusammenhängende Ermahnungen, in denen von einem drohenden Krieg die Rede, von deutsch-russischer Waffenbruderschaft, Dinge, die weit in das ausgehende Jahrhundert hinabreichen, bis in das Jahr 1805. Tochter Luise ist besorgt, dass sich der Greis zu stark erschöpfe, sie bittet leise, er möge ausruhen. Indessen sieht Augusta, dass es nicht mehr um Tage, sondern um Stunden und Minuten geht. Der Abend geht in die Nacht über, sie bleiben, die gekommen sind, um dem Sterbenden in dieser Stunde nahe zu sein. Dann kommt die letzte Krisis; der Atem geht gegen Morgen in jenes Rasseln über, das die Nähe des Todes ankündigt. Noch einmal schlummert der Sterbende ein, ist das noch Schlaf, oder schon der Übergang, denkt Augusta, die ausharrt. Hofprediger Kögel betet leise, und Tochter Luise fragt den Alten, ob er das Gebet verstanden habe. Endlich, gegen acht Uhr morgens des 9. März, entschläft Wilhelm, kurz vor seinem 91. Geburtstag; den hätten sie am 22. März feiern wollen.

    Am Nachmittag des Todestages erscheint das amtliche Bulletin: Es hat Gott gefallen, steht da, Se. Majestät den Kaiser und König, unseren Allergnädigsten Herren, nach kurzem Krankenlager heute 8:30 morgens im achtundzwanzigsten Jahre Seiner reich gesegneten Regierung aus dieser Zeitlichkeit abzuberufen.

    Die Stadt Berlin ist verregnet, schlaff hängen die auf Halbstock gesetzten Fahnen an den Masten, aber in der Straße Unter den Linden stehen die Leute dicht an dicht und starren hinüber zu dem berühmten Eckzimmer, wo der Kaiser zu Lebzeiten gelegentlich von der Straße aus gesehen werden konnte. Aufgebahrt liegt er in seinem Sterbezimmer. Erst nach Mitternacht wird die Leiche zur Aufbahrung in den Berliner Dom übergeführt, nachdem Augusta in ihrem Rollstuhl alle Verrichtungen beobachtete, die notwendig vorgenommen wurden. Im Arbeitszimmer Wilhelms nehmen Ärzte eine Balsamierung des Leichnams vor, am offenen Sarg, im so genanten Vortragszimmer aufgestellt, nehmen sie Abschied, im Adjutantenzimmer wird der Sarg geschlossen. Augusta bleibt bis zur Auffahrtsrampe dabei. Gardes-du-Corps trägt den Sarg durch ein Spalier bei Schneetreiben und Wind bis zum Dom. In den Tagen zwischen dem 12. und den 16. März ziehen 200 Tsd. Menschen an dem Sarg vorbei; dann wird der tote Kaiser der Deutschen und König der Preußen im Mausoleum des Schlossparkes Charlottenburg beigesetzt in Nähe seiner Eltern, der Königin Luise und Friedrich Wilhelm III.

    Es war das, was man in Österreich eine schöne Leich’ nennt, und dennoch fehlte manch einem Repräsentanten etwas an Glanz. Augusta, die bis zuletzt bei ihrem sterbenden Gatten blieb, konnte den Bestattungsfeierlichkeiten nicht folgen, sie war zu krank, konnte kaum laufen, aber auch der alte Kanzler fühlte sich nicht gesund genug, seinem Kaiser und König, der ja sein eigenes Werk gewesen, bis zur letzten Ruhestätte zu folgen. Dem Sarg folgten unmittelbar der Kronprinz Wilhelm zwo, immerhin schon 29 Jahre alt, mit einem Trauerflor am Helm, aber es schien, als sei der Kaiser zu alt geworden, um seinen Nachfahren das ungeteilte Glück der Regentschaft zu hinterlassen. Augusta wird ihrem Gatten alsbald nachfolgen, der neue Kaiser kein Jahr regieren und sterben, der Kanzler schon 1890 von dem jungen Mann, einem Enkel des toten Kaisers, davongejagt werden, immerhin noch neun Jahre weiterleben. Zu langer Witwenschaft blieb Augusta nicht Zeit genug; sie war über fünfzig Jahre mit diesem Mann verheiratet. Es war eine seltsame Ehe, die sie führte, im Grunde war es die ihr einzig mögliche.

    DER FÜRSTENHOF ZU WEIMAR

    Weimar, am 17. Oktober 1828...

    Gestern Abend hat der Prinz von Preußen, um meine Hand angehalten. Ein junger Achill! Nun, kein ganz junger vielleicht, aber voller Jugendlichkeit, auf Suche nach einer Minerva? Vielleicht. Schüchtern beinahe, jedenfalls zurückhaltend und von vornehmem Wesen (das zu leiten und zu lenken meine Aufgabe sein wird), trat er herzu, fand keine Worte, und Mitleid überflutete mich. Sein Auftreten erinnert an Hamlet, den unglücklichen Dänenprinzen. Ich weiß wohl, was W. bedrückte und ihn zögern ließ, es ist da eine unerfüllbar gebliebene Liebe zu einer anderen. Sie soll sehr schön sein. Was bedeutet das? Nun, ab jetzt sind wir das vom Schicksal berufene Paar, und wollen den Hunger der Welt nach freier Entfaltung der Menschlichkeit eine Gasse schlagen. Was gilt Preußen, auf das meine Mutter verächtlich herabblickt, was gilt Weimar gegenüber unseren höheren Pflichten, unser Gemüt zu bilden, unseren Geist zu erziehen? Von den Fürstensöhnen Deutschlands ist er der berufene. Seit gestern nun bin ich ihm zur Seite gestellt, ich will, ich darf ihm helfen; eine Elisabeth von Valois, einen Carlos zu Füßen und eine Posa zugleich. So fordern wir unser Jahrhundert in die Schranken: Geben Sie Gedankenfreiheit, Sir. Ich fühle mich der Aufgabe gewachsen und will mich ihr ganz hingeben. Wilhelm ist älter, reifer, besonnener, wie er da stand und mich auf das Wort warten ließ, das auszusprechen er doch gekommen war. Wir hielten seinen schriftlichen Antrag in Händen, seine Brautwerbung. Aber mein künftiger Gatte schreibt Briefe in einem schönen, leider nicht ganz klarem Stil. Wie nun, kritisiere ich schon? Es ist wahr, dass mir für einen Augenblick der Gedanke kam, du weißt nichts von diesem linkischen und gehemmten Menschen, dessen Briefe eher Vexierspiele, als Wahrheiten sind.

    Mama sagte, dass diese Werbung etwas zu lange dauerte, um aus dem Herzen zu kommen, riet mir aber zugleich, mich eines solchen Gedankens lieber zu entschlagen. Gleichviel, ich habe ihm mein Jawort gegeben, meine Eltern haben ihm als Schwiegersohn die Arme geöffnet. Der Lebensbund ist beschlossen.

    Maria Pawlowna: Wir wären am Ziel. Was halten Sie von dieser Ehe, mein Freund, einer zwischen Ihrer klugen, etwas kühler temperierten Tochter, und diesem Herren aus dem Kostümfond des Militärs?

    Karl Friedrich: (lachend) Was haben wir zu befürchten, was Sie nicht vorausgesehen haben, Madame?

    Maria Pawlowna: Nun, diese Art Werbung, mitsamt den Nebenumständen war nicht vorauszusehen, wenigstens war sie so nicht gedacht. Als ich Wilhelm umarmte, war mir, als wäre ich an einen Holzklotz geraten. Wäre ich eine Bourgeois würde ich alles für Augusta fürchten.

    Karl Friedrich: Lösen Sie die Verlobung, wir leben nicht mehr im Mittelalter.

    Maria Pawlowna: Unsinn, dazu ist es zu spät. Vielleicht sind diese Sorgen auch unberechtigt und die üblichen, wenn ein junges Mädchen aus dem Hause geht. Ich will Ihnen sagen, worauf sich meine Ängste für die Zukunft Augustas begründen. Sie ist ein Kind dieses Weimar. Hier ist zu viel Gleichnis, zu viel Allegorie, zu viel Wert legen Sie und wir alle mehr oder minder, auf den Gedanken; die höchste Instanz ist der das irdische Missgeschick mildernde und mäßigende Geist. Ist es nicht so? Was hier möglich war - ob es das noch ist, will ich nicht beantworten -, gilt woanders nicht viel.

    Karl Friedrich: Jetzt haben Sie mir auf Ihre Weise beigebracht, wie lächerlich Sie unsere pädagogische Republik der Ideen in einer Welt der Taten finden.

    Maria Pawlowna: Tatsächlich? Das war nicht meine Absicht, aber vielleicht irren auch wir nur, die wir meinen, zu treiben, wo wir bloß getrieben werden. Brechen wir das Gespräch ab, es führt zu nichts, wie ich sehe.

    Es ist heute kaum noch zu beurteilen, wie viel einem breiteren Publikum in Deutschland über dieses kleine thüringische Zentrum zur Zeit Karl Augusts, des Großvaters der Augusta, überhaupt bekannt gewesen ist. Noch fünfzig Jahre nach dem Tode Karl Augusts wird Goethe in den meisten Lexika zuerst als Minister aufgeführt, und an zweiter Stelle, wenn überhaupt, als Dichter. Das literarische Deutschland, zumal die Berliner Salons nach 1820, wussten natürlich Bescheid, aber das klassische Zeitalter war bereits ein für alle Mal abgeschlossen, auch wenn sein strahlendster Vertreter noch hochbetagt in Weimar lebte. Wieland, der erste in der Reihe der Weimarer, starb 1813, gerade er hatte doch eigentlich alle literarischen Moden bis zur Klassik mitbestimmt. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts begann sich Weimar zu einem so eigentümlichen wie überragenden Zentrum der deutschen Kultur zu entwickeln. Was der heutige Besucher und Spurensucher, kommt er nach Weimar, den kleinen Häusern, an denen alles mehr als bescheiden wirkt, nicht ansieht. Gewiss auch steht der Heutige, mehr oder minder ehrfürchtig oder verstört, weil sich ihm der Genius loci nicht erschließt, vor dem Deutschen Nationaltheater, da die Deutschen gar keine Nation mehr sein wollen, nachdem sie zwei Jahrhunderte lang dafür kämpften, eine zu werden, oder er hält Andacht vor den Fürstengräbern mit den letzten Ruhestätten Goethes und Schillers, um zu bemerken, dass sich bei ihm zumindest kein Gefühl höherer Menschlichkeit regt. Erst auf dem Ettersberg stellt er die verwunderte Frage an das Schicksal, wie war das alles nur möglich? Das Interesse an Weimar ist heute rein antiquarisch. Notwendigerweise sieht der Tourist das Denkmal Herders auf dem nach ihm benanntem Platz, und muss im Baedeker nachschlagen, was Herder erfunden hat, die Dampfmaschine oder den Mikrowellenherd. Ferner würde der Wanderer in der Hofkirche die Grabstätten des Dichter Musäus, der Christiane Vulpius, verehelichte Goethe, und das erste Grab Schillers im ehemaligem Kassengewölbe entdecken können. Durchwandelt er den Friedhof, begegnete ihm ein gut Teil deutscher Geistesgrößen und anderer Größen, zu schweigen von den Denkmälern der Frau von Stein, Wildenbruchs, Eckermanns und weiß Gott, wem noch. Auf diese Weise, nämlich per Pedes, kommt er zum Stadtschloss, kurz, er durchwandelt ein ganzes Zeitalter. Den Weimarern mag der Rummel hin und wieder auf die Nerven gehen, weil es lästig ist, in einem Museum zu wohnen. Allein, Noblesse oblige, und auch eine Stadt oder Landschaft kann verpflichtenden Adel besitzen, oder ihn nicht loswerden.

    In diesem Weimar wurde ich, Augusta am 30. September 1811 geboren, hätte die Prinzessin geschrieben, würde sie es der Mühe wert gehalten haben. Ich bin die Tochter eines Karl Friedrich, Großherzog von Sachsen Weimar und die Enkelin Karl Augusts. Rechnen wir die für die Erziehung einer Fürstin unbedingt notwendigen achtzehn Jahre hinzu, dann befinden wir uns unversehens im Jahr 1829, historisch keinem besonderen Jahr eigentlich, aber immerhin das Jahr ihrer Heirat mit Wilhelm I., damals noch ein Heerführer ohne Krieg, und ein General ohne Fortune, und nicht einmal Kronprinz, sondern bloß Prinz von Preußen. Infolge der Verbindung eines sächsisch-protestantischen Hofes mit dem russischen Kaisertum einerseits (und einer Verbindung zum europäischen Westen andererseits, von St.-Petersburg aus betrachtet), entstand eine eigentümliche Traditionsmischung. So legte Augusta beispielsweise in einer Art zweiten Trauung in der Berliner Oper russische Hoftracht an, um dem Zarenpaar zu schmeicheln, aber das wird zu gegebener Zeit ausführlicher erzählt werden. Der Maler Tischbein hat Karl August um 1795 gemalt; der Maler Tischbein hat überhaupt alle bedeutenden Leute seiner Epoche gemalt. Er war so etwas wie der Pressefotograf seiner Zeit. Daher wissen wir ungefähr, wie der Großherzog ausgesehen hat. Tischbein hat ihn nicht heroisch aufgefasst, hat uns also kein reitendes, schon gar kein heroisches Blech überliefert. Am ehesten könnte dieses Gesicht einem grübelnden Gelehrten angehört haben. Im Jahre 1795 zählte der Großherzog 38 Jahre. Bei Anna Amalie, seiner Mutter, müssten wir uns etwas länger aufhalten, ebenso bei seinem Vater, Ernst August Konstantin, wollen aber die genealogische Tiefenkunde nicht weiter als nötig treiben. Diese Anna Amalie, die Großmutter Augustas, hatte die Vormundschaft über Sohn Karl August inne. Von 1772 bis 1775, also bis zur Übernahme der Regentschaft durch den 18jährigen Fürsten, war Wieland sein Erzieher. Zufälliger- wie natürlicherweise gibt es von Wieland ebenfalls ein Bild aus jenen Tagen, und zwar aus dem Jahre 1775; Heinsius hat es gemalt, und es hängt oder es hing zu Halberstadt im Freundschaftstempel des Gleimhauses. Gleim, den freundlichen Alten, hielten alle jungen Dichter für ihren wahren Vater, und er tat ihnen auch nie etwas zu Leide, anders als der kritische und jüngere Goethe. Wieland wurde 1733 geboren, zu oder bei Biberach, und er war ein Predigerssohn, was sonst? Als solcher lernte er in einem Kloster zu Magdeburg einiges über den lieben Gott und ein bisschen ausländische Aufklärungsliteratur kennen, und er wurde, Nolens volens, Klopstockianer. Dieser hatte sich mit seinem Epos, dem Messias , 1748 in den Bremer Beiträgen teilweise abgedruckt, einen strahlenden Namen gemacht. Wieso die junge Generation diesen Klopstock schwärmerisch verehrte, ist eine zu verzweigte Angelegenheit, als dass wir uns hier damit befassen dürften. Eigentümlich bleibt jedoch, dass ein Werk dieses zeitgenössischen Aufsehens heute kein Mensch mehr liest oder bloß kennt. Der Schweizer Bodmer, Gelehrter, Herausgeber, Schriftsteller, feierte Klopstock sogar als den deutschen Milton, dessen Buch Das Verlorene Paradies Bodmer hoch schätzte. Von Magdeburg kam Wieland nach Erfurt und später nach Tübingen. Nun aber tat Wielands Talent das, was jedes Talent gemeinhin einmal tun muss, will es überhaupt entdeckt werden; es brach aus, und zwar in Form von allerlei Dichtung. Natur der Dinge, einen Anti-Ovid, ein Heldengedicht, Hermann , verfasste der junge Mann, auch Klopstock hatte sich um die Hermann-Figur bemüht, alles dies geschah bis 1752, also ganz beachtlich für einen jungen theologischen Gelehrten. Andererseits begann es in diesem Zeitalter von jungen Genies beängstigend zu wimmeln; jung sein war sogar eines ihrer Hauptmerkmale; das anbrechende klassische Zeitalter ließ einen seiner Hauptvertreter mit 17 Jahren ein Drama verfassen. Wer von Schiller gar nichts mehr weiß, von diesem Werk hat er zumindest gerüchteweise gehört. Wieland geriet auf Umwegen in die Arme Bodmers, wie sie alle irgendwann einmal mit Bodmer in Berührung kamen. Wie wir sehen, wandelte Wieland durchaus weiter auf Klopstocks Spuren, denn auch der hatte bei seinem Siegeszug in Zürich den Flug unterbrochen, sich aber mit dem gelehrten, aber pädagogisch beschränkten Mann, der alle nach seinem Bilde formen wollte, dauerhaft nicht verstanden, und war nach Norden weitergezogen. Dem Rat des Sprach- und Kulturerzieher der Deutschsprachigen, auf den wenig später alle mit Fingern zeigten, als einen Pedanten und Mucker, nicht ganz zu Recht, folgte Wieland gerne und ziemlich geschmeidig; er verfasste eine Menge anhimmelnde Dichtkunst auf Bodmer, kämpfte scharfsinnig, ohne sich ganz zu binden, an seiner Seite gegen diesen verfluchten Gottsched, dem die Jungen alle Krätze der Welt an den Hals wünschten, und verließ schließlich Bodmer in Eile, ganz wie Klopstock, um als Hofmeister und Hauslehrer in Züricher Bürgerfamilien Söhnen und Töchtern Bildung und höhere Lebensart zu vermitteln.

    Wieland war ausnehmend produktiv; die deutsche Literatur verdankt ihm auch das erste Drama in Blankversen und einiges mehr, heute alles vergessen und Makulatur, bedenkt man, dass eine Gesamtausgabe von Wielands Werken beiläufig mehrere Dutzend Bände ergeben müsste. In Bern, wo Wieland Hauslehrer war, lernte er Julie von Bondeli kennen und verlobte sich mit ihr, 1760 wird er auf einmal Senator in seiner Vaterstadt und ist als ein Kanzleiverwalter ein gemachter Mann. Ab jetzt entwickelt sich Wieland zu dem Wieland, obschon niemand sagen kann, wie der wirkliche Wieland ausgesehen und was er angestrebt hat. Auf Schloss Warthausen, im Kreise des ehemaligen Kurmainzischen Ministers Friedrich von Stadion und eines Ehepaares La Roche, fällt Wieland dem leichtfertigen französischen Rokoko zu, seine Dichtung wird leicht und bisweilen schlüpfrig, so wie das Zeitalter. Anakreon, der 500 Jahre vor Anbeginn des Christentums lebte, ein Lyriker, der Wein und Liebe besang, geisterte noch überall herum. Seine Nach- und Anbeter erweiterten das Dasein regierender Fürsten und Hofschranzen ins Bukolische; man zog nur allzu gern das prunkvolle Staatskleid aus, und den Rock des Schäfers oder der Schäferin an, und pflegte freudig und ausgelassen das Ländliche in Neckerei und Schäferei. Dieses Rokokopaar, Schäferin und Schäfer, ist heute in Gestalt von kostbarem Meißner Porzellan gegenwärtig.

    Eines muss der Neid dem Wieland indessen lassen; er war erstaunlich anpassungsfähig. Aus jeder seiner veränderten Lebenssituationen holte er das Äußerste an Erfolg und an Genuss. Wieland beugte sich immer stärker dem Zeitgeschmack, und beherrschte das Handwerk des Schreibens immer besser, er sitzt in allen Sätteln gerecht, schafft nach, dichtet um, lässt sich anregen. Sein Bildungsroman: Geschichte des Agathon, ein auf zwei Bände angewachsenes Buch, verschaffte ihm neues Ansehen. Er heiratete gelegentlich und wurde 1769 Professor der Philosophie in Erfurt, rückt also unserem Weimar geografisch ein Stück näher. Hier reicht der Platz nicht, um in aufzuzählen, was der Wieland noch alles schrieb, aufschrieb, abschrieb und übersetzte, tatsächlich ein imponierende Menge, bis die Herzogin Anna Amalie auf diesen genial Schreibfleißigen aufmerksam wurde, und ihn als Erzieher für ihre beiden Söhne, darunter den Karl August, nach Weimar holte. Er blieb nur drei Jahre in diesem Amt, und es ist bloß zu vermuten, dass der Professor, ein Philologe, Alt- und Neusprachler, von ungewöhnlichen Kenntnissen, einen recht guten Pädagogen abgegeben hat. Wir dürfen diesen Schluss umso sicherer ziehen, als wir wissen, dass Wieland ein Mann war, der mit Leichtigkeit alles Neue in seine Welt einzufügen verstand, durchaus auch kritisch. Charakterlich dürfte er schwach und nachgiebig, nicht aber intrigant oder hämisch gewesen sein, und er hätte doch manch einem der jungen Genies, die ihn verlästerten, in die Suppe spucken können. Als er sich von den jungen Deutschen, die immer klassischer wurden, wegen seiner Antikenrezeption rüffeln lassen musste, wehrte er sich öffentlich nicht, nicht einmal in seinem eigenen Blatt. Immerhin reichen wir zu unserem Kurz-Baedeker weiter oben nach, dass auch Wielands Denkmal, von Gasser gemacht, 1863 in Weimar aufgestellt wurde. In fortgeschrittenem Alter befasste sich Wieland mit der Herausgabe seines ungeheuer großen eigenen Werkes, sowie mit der Übersetzung Ciceros. Wie kommt es, dass aus der räumlichen Enge deutscher Duodezstaaten heraus, so viele Schulmeister Bleibendes aus der Antike übersetzt haben, wozu ein fundiertes Sprachwissen gehörte? Die Antwort darauf könnte simpler sein, als sich die Schulweisheit träumen lässt; sie hatten einfach Zeit genug, und brachten ihrem Gegenstand eine natürliche Begeisterung entgegen, die sie auf Reisen nicht befriedigen konnten. Sehnsucht hat sie alle getrieben, nach Schönheit, nach Kunstmaß und bloß nach fernen Ländern.

    Dass sich in den engen Grenzen dessen, was damals Deutschland hieß, derartig hohe Leistungen entwickeln konnten, mag noch andere Ursachen gehabt haben. Ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts beginnt im übrigen Europa der Kapitalismus, der sprunghafte Übergang von der Manufakturwirtschaft zu industrieller Produktion. Dieses neue Zeitalter bündelt alle geistigen Kräfte auf die Naturwissenschaften, der Ingenieur ist gefragt, nicht der Philologe. Der junge draufgängerische Kapitalismus erfindet, was wir heute Nationalökonomie nennen; das tat er nur nicht in Deutschland. Dieser neue Typus erzeugte technische Visionen, wollte die Welt verändern. Der Übergang von der einen auf die neue Produktionsweise zog eine Revolution nicht nur in den Volkswirtschaften nach sich; während sich anderswo die Leute mit der Erfindung von Dampfmaschinen beschäftigten, und Homer in ihrem realistischen bis brutalen Weltbild keinen Platz mehr hatte, befassten sich die Deutschen mit der physikalischen Unmöglichkeit eines Daseinsbeweises Gottes. Damit wird man Ehrenbürger im revolutionären Konvent. Zurück zu Karl August.

    Das Jahr 1775 brachte eine andere Veränderung in das Dasein des jungen Herzogs, nicht bloß die Regentschaft; er heiratete am 3. Oktober Luise von Hessen-Darmstadt, womit der geschichtskundige Leser weiß, dass sich der Kreis, einmal geöffnet, mit einer Reihe anderer Allianzen schließen wird. Also, Karl August ist mit 18 Jahren ein verheirateter und regierender Großherzog, seine Erziehung ist abgeschlossen. Wir stecken nicht mehr tief im Rokoko, der Denk- und Lebensweise des Zeitalters Wielands, einem Gemisch von religiöser Skepsis, Aufklärung und diesseitiger Genussfreude. Der 18jährige Herrscher hat sich in Friedrich II. ein Vorbild erkoren. Preußens König steht auf der Höhe seines Erfolges; der Sieger in den Schlesischen Kriegen, entwickelt seinen Staat ökonomisch und politisch soweit es unter den gegebenen Umständen möglich. Unter Verwandten, Freunden und Feinden ist er als Philosoph bekannt, korrespondiert mit den berühmten Gelehrten seiner Zeit. Da uns einige Namen aus dieser Periode und dem Weimarer Kreis noch eine Weile begleiten werden, bis 1829, der Heirat Augustas, wird es angebracht sein, sie im Zusammenhang mit der Erziehung der Prinzessin aufzuzählen.

    Da ist vor allem Karl Ludwig von Knebel zu nennen. Offizier, Hofmeister des Prinzen Konstantin, den er auf einer Europareise begleitete, wobei das Paar den jungen Goethe in Frankfurt aufsuchte. Das war eine folgenreiche Begegnung, denn über Knebel kam die Berufung des Verfassers der Leiden des jungen Werther, seit 1774 in den Buchläden, mit einigen Umwegen nach Weimar zustande. Knebel ist zeitlebens ein Bewunderer Goethes geblieben; er förderte die Verbindung zwischen dem Dichter und dem etwas jüngeren Karl August, ließ sich zuletzt, mit einer Apanage verabschiedet, in Jena nieder und dichtete für den Rest seines Lebens allerlei, so wie sie alle heute Vergessenes dichteten.

    Als Augusta zur Welt kam, hatte Goethe allerdings den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreicht oder sogar schon überschritten. In den Adelsstand ließ er sich 1782 erheben und übernahm die Präsidialschaft über die Finanzkammer, also einem wichtigen Ressort des damaligen Duodezstaates.

    Hält man sich vergleichend vor Augen, wer zu Weimar den Ton angab und was dort unter Kultur und Literatur verstanden wurde, bedenkt man das Klima, in das die junge Augusta verpflanzt werden soll, so können die Verhältnisse nicht widersprüchlicher gedacht werden. Und Augusta wird sicherlich von Goethe, den sie gut kannte, mehr als einmal ein abfälliges Urteil über das Berliner Hundezeug gehört haben. Daran hatte sich zwar zur Zeit ihrer Eheschließung manches geändert, aber Sitz der Häupter der Romantischen Schule war nun einmal vorwiegend Berlin, und das offizielle Berlin hatte Schiller und Jean Paul die Anerkennung versagt. Es blickte möglicherweise mit einem tiefen Misstrauen, zumindest aber ohne Verständnis für das Klassische nach Weimar und seinem liberalen Kulturhof. Dieser Riss ging tiefer und lag länger zurück; er reichte bis in die Zeit lebhafter Aufklärerei zurück und datiert nicht erst seit der Romantik, die wiederum von den Weimarern verdammt wurde. Der Fall lag folgendermaßen:

    Der Berliner Buchhändler Nicolai brachte 1774 einen Anti-Werther heraus, Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Vorne und zuletzt ein Gespräch. Berlin, bey Friedrich Nicolai 1775. So unglücklich der bandwurmlange Titel, so albern fiel das ganze Projekt aus. Heine beschreibt diesen Unsinn: Freund Nicolai hat nun wirklich einen veränderten Werther herausgegeben. Nach dieser Version hat sich der Held nicht totgeschossen, sondern nur mit Hühnerblut besudelt; denn statt Blei war die Pistole nur mit letzterem geladen. Werther wird lächerlich, bleibt leben, heiratet Charlotte, kurz endet noch tragischer als im Goethe’schen Original.

    Auch Lessing, damals die unumstrittene moralische wie literarische Autorität, hatte seinerzeit Zweifel ob der vorgeschlagenen Lösung gehabt, sich aber gehütet, öffentlich darüber negativ zu urteilen. Alle gescheiten Leute schwiegen vorerst, betroffen von dem Realproblem eines Selbstmordes aus Liebeskummer. Konnte ein Buch eine solche Wirkung in der Öffentlichkeit auslösen, musste mehr dahinter stecken. Nickel, wie der Berliner Buchhändler scherzweise hieß, nutzte die Ratlosigkeit, drehte den Spieß in seinem Anti-Werther um, und lässt Albert auf Charlotte verzichten. Leider zeigt es sich, dass Werther zur Ehe untauglich ist. Das ersehnte Glück wird im Alltag zu einer Kette von Misshelligkeiten. Albert-Nickel greift ein und söhnt die beiden nach den Vorstellungen des Berliner Philisters miteinander aus. Das Buch war eine Infamie und eine handfeste Denunziation dazu. Da es nie wieder erscheinen dürfte, seien deshalb einige Passagen hergesetzt.

    Gespräch. Personen. Ein Jüngling. Martin. Ein Mann. >s, der Henker hol’n Buch, die Leiden des jungen Werthers, sagte Hannes, ‘s dringt dir durch Mark und Bein, jede Ader schwillt dir, und ‘s Gehirn funkelt dir, dass du gleich aufmöchtest. - Ja, freilich,’s so ein Buch, sagte Martin, wer’s geschrieben hat, kann sich ruhig auf’s Haupt legen, und fürchte nicht, dass über hundert Jahr’n belesener Tölpel davon schwatzet. ‘s ist euch ein rar Buch, ihr Leute, seit neunundzwanzig Jahren, hat kein Mensch davon was gehört und gesehen.<

    Nicolai benutzt hier die Sprache der Kraftgenies, des Sturm und Drang. Apokopierungen, fehlende Artikel und Pronomina verwandelten die deutsche Schriftsprache in einen abscheulichen Sud. Es geht weiter. >Martin: So? hast niemanden spitze Reden gegeben, wenn dir der Kopf warm war? Hatt’ Werther nicht auch ‘n Kopf? Und gab’s ihm’s schwarze Blut nicht gar ein, dass er Alberten ermorden wollte und Lotte dazu? Darf Werther alles und Albert nichts?, das wollt Werther selbst nicht. Ne, Hanns! Dein Held mag Werther sein, mein Held ist der Autor. Hannes: Da sieht man’s, bist ‘n alter, kalter weiser Kerl, der mit Werthern und mit seinen Leiden nicht sympathisieren kann. Liebst nit ‘n jungen braven Buben, voll Feu’r und Leben, und willst ‘s steifen, trockenen Aktenkrämer leben, wie Albert.<

    Was nun folgt, ist eine Glanzleistung an Philiströsität; Martin Nickel Nicolai liefert sie. >Euch Kerlchen ist nichts recht, all’s wißt ihr besser, was der Welt nützt mögt ihr nicht lernen, denn ‘s wäre Brotwissenschaft, eingeführter guter Ordnung wollt ihr euch nicht

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