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Taubenblut. Die Siedler: Eine sächsisch-polnische Familiengeschichte (1697-1939)
Taubenblut. Die Siedler: Eine sächsisch-polnische Familiengeschichte (1697-1939)
Taubenblut. Die Siedler: Eine sächsisch-polnische Familiengeschichte (1697-1939)
eBook825 Seiten10 Stunden

Taubenblut. Die Siedler: Eine sächsisch-polnische Familiengeschichte (1697-1939)

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Über dieses E-Book

Über Jahrhunderte galten junge Tauben als Delikatesse. Aus ihnen gekochte Brühe ließ Kranke gesunden und Wöchnerinnen zu Kräften kommen. Anders in Kriegszeiten. Dann schlachteten die Bauern in Windeseile alle Tauben, damit ihr Flug den plündernden Truppen nicht den Weg zu den Höfen weist. Meist vergebens. Nun floss auch das Blut von Frauen und Mädchen, die die Soldaten scherzhaft ihre Täubchen nannten, bevor sie sich an ihnen vergingen. Und Kriege gab es im Verlauf der letzten Jahrhunderte reichlich. Auch auf dem Gebiet der damaligen polnischen Adelsrepublik.
1698, nach der Wahl Augusts des Starken zum polnischen König, wurden fünf sächsische Bauernfamilien lutherischen Glaubens nach Polen umgesiedelt. Sie sollten Tartufflis (Kartoffeln) anbauen. Ein riskantes Unternehmen, in dem erzkatholischen Land. Lutheraner galten hier immer noch als Ketzer. Nahe Petrikau (heute Piotrków Trybunalski) lebten sie fast 250 Jahre in mehr oder weniger guter polnischer und jüdischer Nachbarschaft. Und, je nach Herrscher, in Wohlstand oder Not. Hier war ihre Heimat. Bis zum Machtantritt Hitlers.
SpracheDeutsch
HerausgeberSax Verlag
Erscheinungsdatum29. Aug. 2019
ISBN9783867295741
Taubenblut. Die Siedler: Eine sächsisch-polnische Familiengeschichte (1697-1939)

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    Buchvorschau

    Taubenblut. Die Siedler - Maria Bosri

    141

    Vorwort

    Für die Buchautorin, 1951 in Sachsen geboren, beschränkten sich die familiären Wurzeln lange nur auf alte Geschichten vom Leben in Polen und einige verblichene Fotografien. Als Kind begeisterten sie zwar die Erzählungen ihrer 1898 in ­Wierzeje geborenen Tante, die u. a. drei Jahre im Haus einer adligen russischen Familie in Petersburg und Moskau lebte. Doch wurde das wie ein Geheimnis behandelt, wie es überhaupt in der Familie merkwürdig viele Geheimnisse gab. Wenn diese den Kindern nicht zu Ohren kommen sollten, sprachen Großmutter, Tante und Mutter miteinander Russisch oder Polnisch und erst später begriff die Autorin, dass das zu ihrem Schutz geschah, durfte doch zu DDR-Zeiten nicht öffentlich über Flucht und Vertreibung oder das dabei erlebte Grauen gesprochen werden.

    Im Juli 1996 übernahmen die Autorin und ihre Schwester die Pflege ihrer im Sterben liegenden Mutter. Erst jetzt, fünfzig Jahre nach den ersten Andeutungen, begann sie zu erzählen. Es waren Geschichten ihrer gemeinsamen sächsischen Vorfahren, deren abenteuerliches Auswandern vor vielen Generationen nach Polen und schließlich die Lebensgeschichte der Mutter selbst. Was auf dem Sterbebett nun zum ersten Mal ausgesprochen wurde, erschütterte aufs Tiefste. Die 1908 nahe Petrikau (heute Piotrków Trybunalski) geborene Mutter hatte die Unmenschlichkeit und Gewalt beider Weltkriege erlebt, und auch jene subtilere Gewalt, die sich im angeblichen Frieden der den Kriegen folgenden polnischen und ostdeutschen Republik fortsetzte.

    Die bruchstückhaften Erzählungen waren nicht chronologisch geordnet. Es gab Lücken und Ungenauigkeiten bei einzelnen Daten und genannten Personen. Doch niemand war mehr am Leben, der diese Details hätte richtigstellen oder bestätigen können. Stattdessen wuchs aus diesen späten Berichten der Mutter der vorliegende zeitgeschichtliche Familienroman, und er wurde ergänzt mit frei erfundenen Dialogen, Handlungen und Personen. Jede sich dabei erge­bende Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten und Personen ist nicht beabsichtigt, sondern allein Ausdruck der künstle­rischen Freiheit der Autorin.

    Schließlich möchte sich die Autorin bei Frau Dr. Heidrun Popp bedanken, die ihr in allen Belangen, nicht nur als Lektorin, selbstlos und geduldig über Jahre hinweg half, das Buch in eine für den Druck geeignete Form zu bringen.

    Die Gründer des Schlüterhofes und ihre Nachfahren

    Martin Schlüter (1669–1716) und seine Frau Uta (1670–1740) – Hofgründer

    Kinder:

    Martha (*1688) verheiratet mit Franz

    Emma (*1689) verheiratet mit Karl

    Johann (*1700) verheiratet mit Sofie – Hoferbe

    Anna (*1702) früh verstorben

    Johann Schlüter (1700–1766) und Sofie (1705–1776)

    Kinder:

    drei Töchter geboren 1721, 1721 und 1723

    Friedrich (*1724) verheiratet mit Charlotte (Lebedame) – Hoferbe, 1758 bei Duell tödlich verletzt, dessen Sohn Georg (*1750) – erbt den Hof

    Georg Schlüter (1750–1815) und Frieda (1752–1781)

    Kinder:

    Gertraud (*1772) verheiratet mit Dietrich –Hoferben, drei Töchter im frühen Kindesalter verstorben

    Luise (*1778) verheiratet mit Hermann (leben in Sachsen)

    Gertraud Schlüter (1772–1843) und Dietrich (1770–1813) (1. Ehemann)

    Kinder:

    Hagen (*1795) – hat mit der Polin

    Magda ein Kind (Johannes *1813)

    Katharina (*1801)

    Elisabeth (*1802) – Großmutter von Phillip, Hofbesitzer im 2. Kapitel

    Gertraud und Christian (2. Ehemann; Hochzeit 1816), Christians Neffe Ferdinand Höfer heiratet Magda

    In der Zeit von 1834–1893 wurde der Hof von Pächtern bewirtschaftet.

    Phillip Rohr (1868–1929) und Marie, geb. Bobke (1873–1955)

    Kinder:

    Olga (*1894) heiratet 1914 einen belgischen Fabrikanten

    Pauline (*1896) wird 1915 Kriegswitwe, zwei Kinder: Otto *1916 und Karl *1917

    Helene (*1898) bleibt unverheiratet

    Gerda (*1902) heiratet 1932 Walter, einen Deutschen, und zieht ins Reich, Tochter Ida *1932

    Gottfried (*1904) heiratet 1933 Rose – Hoferbe, vier Kinder: Adolf, Cäsar, Marianne und Klara

    Elisabeth (*1908) heiratet 1946 Richard, einen deutschen Kriegswitwer, zwei Kinder: Luise *1947 und Anna *1951

    Thomas (*1911) heiratet 1932 Alma, zwei Kinder: Klaus *1933 und Lilly *1937

    Arthur (*1915) heiratet 1946 in englischer Kriegsgefangenschaft die Britin Olivia und bleibt in Großbritannien – Sohn Harry

    Ins fremde Land

    Kartoffeln für den König

    Mit der Wahl zum polnischen König erkaufte sich Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen im Sommer 1697 seinen größten machtpolitischen Sieg.

    Das Warschauer Königsschloss wurde seine zweite Residenz und August II., so nannte er sich als König von Polen, feierte seinen Aufstieg zur Majestät mit glanzvollen Festen. Im Gegensatz zum kunstsinnigen Dresdner Hofleben endeten Warschauer Feste oft als zügellose Besäufnisse, was das Wohlbefinden des neuen Regenten ab und an trübte. So auch am Krönungstag. Ausgerechnet während des Glaubensbekenntnisses, des für das katholische Polen wichtigsten Punktes der pompösen Zeremonie in der Krakauer Wawelkathedrale, ereilte den eben gekrönten Herrscher eine mehrere Minuten anhaltende Ohnmacht.

    Jakob Heinrich von Flemming, des Kurfürsten wichtigster Helfer und Berater beim Griff nach der polnischen Krone, beunruhigte dieses Vorkommnis außerordentlich. Am Warschauer Hof umgaben den neuen König weit mehr Feinde als in Dresden. Für ein paar Silberlinge fänden diese schnell eine willfährige Kreatur, die den Augenblick der absoluten Wehrlosigkeit des ansonsten wehrhaften Herrschers für einen Dolchstoß nutzen könnte. Überlebte der König einen solchen Anschlag, zöge er ihn, Flemming, dafür zur Verantwortung. Er würde sein Amt verlieren und sein Leben in den Kerkern der Festung Königstein beenden. Auch seine Familie bliebe nicht verschont, man würde sie enteignen und mit Schimpf und Schande überschütten. Denn so großzügig August gute Dienste belohnte, so gnadenlos vernichtete er in Wut.

    Die königliche Schwäche beruhte zum Glück nur auf einer den Vorfeiern geschuldeten Erschöpfung. Etwas Schlaf und eine würzige Hühnersuppe brachten seine Majestät schnell wieder auf die Beine. Doch wehe, es wäre das von August über alle Maßen gefürchtete Darmgrimmen gewesen und er hätte nach diesen exotischen, von spanischen Seefahrern aus der Neuen Welt mitgebrachten Erdfrüchten verlangt! Dann hätte er, Flemming, seinem Herrn gestehen müssen, es versäumt zu haben, wenigstens eine kleine Kiste dieser so genannten Tartuffli in der Warschauer Hofküche deponieren zu lassen.

    Vor gut zehn Jahren, während seiner prinzlichen Kavalierstour, überkam Friedrich August auf dem Weg von Paris nach Madrid ein heftiger Durchfall. Des Prinzen Bedürfnis war so dringlich und unbeherrschbar, dass man im nächsten Gasthof Quartier nehmen musste. Trotz aller ärztlichen Bemühungen entkräftete der Prinz zusehends. Seine Begleitung befürchtete schon das Schlimmste, da ließ der überaus heftige Entleerungsdrang der hochwohlgeborenen Eingeweide etwas nach. Die wohltuende Wirkung beruhte darauf, dass Prinz August eine Schüssel mit einem Brei aus gekochten und zerstampften Tartuffli von einem spanischen Diener versehentlich serviert bekam. Dieser Brei war von einer Küchenmagd für ihr Kind zubereitet und kurz neben dem herrschaftlichen Tablett abgestellt worden, um noch eine kleine Verrichtung auszuführen. Ein Fingerzeig des Allmächtigen, denn die Dresdner Höflinge hätten es nie gewagt, dem Prinzen diese fahle und geschmacklose Pampe vorzusetzen. Nach zwei weiteren Mahlzeiten, bei denen Friedrich August ausschließlich diesen Brei zu sich nahm, besserte sich sein Befinden deutlich. Er hinterfragte überaus zornig, warum man ihm diese heilsame Speise so lange vorenthalten hätte. Bereits wenige Tage später war er wieder soweit bei Kräften, dass die Reise fortgesetzt werden konnte.

    Inzwischen sächsischer Kurfürst und zum Manne gereift, ereilte ihn im Mai des Jahres 1695 erneut ein schreckliches Darmgrimmen. Das war ein höchst unpassender Zeitpunkt, weilte er doch gerade in Begleitung seiner ersten Mätresse, der schönen Schwedin Aurora von Königsmark, in Karlsbad zur Kur. In dieser Not erinnerte er sich der spanischen Tartuffli, die ihm auf seiner Kavalierstour so gut geholfen hatten. Doch trotz Androhung lebenslanger Kerkerhaft war niemand imstande, die exotischen Erdfrüchte herbeizuschaffen. Ein Affront!

    Christian August von Haxthausen, des Kurfürsten Oberkämmerer, versprach seinem Landesherren, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Mangel für alle Zeit beseitigt würde. Er war auch der Einzige unter allen Höflingen, der wirklich wusste, wonach der Kurfürst in seiner Leibesnot verlangte, hatte er ihn als sein Hofmeister schon während dessen Kavalierstour begleitet. Haxthausens Jugendfreundin Liselotte von der Pfalz, die mit dem Bruder des französischen Sonnenkönigs verheiratet war und in Versailles lebte, schickte ihm alsbald ein Kistchen dieser noch weitgehend unbekannten Erdfrüchte samt einer ausführlichen Anleitung zu Anbau und Lagerung derselben. Haxthausens Landgut Putzkau lag in der Oberlausitz. Der Anleitung nach ein viel zu kalter und deshalb ungeeigneter Landstrich für den Anbau dieser Tartuffli.

    In seiner Bedrängnis wandte sich Haxthausen an den noch jungen, aber überaus gebildeten und ehrgeizigen Jakob Heinrich von Flemming, der seit 1693 im Range eines Generaladjutanten in sächsischen Diensten stand und dessen Aufstieg er mit beinah väterlichem Wohlwollen begleitete. So kam es, dass die Tartuffli auf Flemmings Betreiben nahe Meißen ausgepflanzt wurden. Im warmen Erdreich der sonnigen Hanglage gediehen die fremden Gewächse prächtig. Flemming überzeugte sich den Sommer über mehrmals vom guten Gedeihen der Pflanzen. Kurz nach der Weinlese wurden die Tartuffli ausgegraben, in flache Holzkisten geschichtet und in die hinterste Ecke eines Weinkellers gebracht, wo ihnen selbst stärkere Fröste nichts anhaben konnten. Im Folgejahr betrug die Ernte bereits neun Viertelkörbe. Auch bei mehrmaliger Anforderung durch die kurfürstliche Küche würde sich dieser Vorrat nicht erschöpfen. Damit besaß man genug Erdäpfel, um den Anbau abseits des warmen Elbtals zu wagen. Flemmings Verwalter beauftragte zwei Bauern in der Lommatzscher Flur, die Tartuffli, wie in der pfalzgräflichen Anleitung beschrieben, in den Boden zu bringen und zu pflegen. In der fruchtbaren Gegend übertraf die geerntete Menge sämtliche Erwartungen. Den Winter über sollten die Bäuerinnen ab und an ein paar dieser Tartuffli kochen und die Genießbarkeit prüfen.

    Anfangs kosteten die Frauen noch gehorsam die nach nichts schmeckenden, mehr oder weniger zu Brei zerkochten, erdig riechenden Rundlinge, bevor sie den großen Rest auf den Misthaufen warfen, wo ihn die Hühner restlos aufpickten.

    Die Bauern belustigte, dass ihr Herrscher so großen Wert auf dieses geschmacklose Zeug legte, wo er doch die feinsten Speisen haben konnte. Der Zufall wollte es, dass einer Bäuerin beim Kosten der eben vom Herd genommenen gegarten Erdäpfel ein größeres Stück in den Schmalztopf fiel. Ihr tat es leid, das mit köstlichem Schweinefett vollgesogene Stück wegzuwerfen. Wie vom Schmalzbrot gewohnt, streute sie ein paar Krümel Salz auf den fettig glänzenden Klumpen, bevor sie ihn, beinah widerwillig, in den Mund steckte. So aufgebessert, schmeckte ihr der kleine Happen unerwartet gut. Neugierig geworden, fischte sie weitere Stücke aus dem Topf und bestrich sie mit Butter, Leinöl oder Sauerrahm. Noch einige Körnchen Salz aufgestreut, und schon war alles aufgegessen. Von nun an landeten die gekochten Tartuffli nicht mehr auf dem Misthaufen. Die Bauersleute hüteten sich jedoch, ihre Entdeckung kundzutun. Sie befürchteten, dass die wertvollen Erdfrüchte dann gestohlen würden. Zudem hatten die neumodischen Rundlinge gegenüber Brot einen großen Vorteil: Sie mussten nur kurz auf dem Herd gekocht werden, und das war viel weniger Arbeit als das Brotbacken.

    Nach dem plötzlichen Tod des Oberkämmerers von Haxthausen stieg Flemming zum engsten und wichtigsten Berater des Kurfürsten auf. Als Sohn eines brandenburgischen Hofgerichtspräsidenten und als Absolvent der Universitäten Utrecht und Leiden besaß er ein hervorragendes politisches Gespür. Dazu war er mit dem polnischen Magnatengeschlecht Przebendowski verschwägert. Beim Gerangel der europäischen Herrscherhäuser um die polnische Königskrone eine überaus nützliche Verbindung. So war es bedeutend leichter, die Taschen etlicher Magnaten mit großen Summen an verpflichtenden Bestechungsgeldern zu füllen. Trotzdem stand das Unternehmen »Königskrone« bis zum letzten Wahlgang auf der Kippe, denn auch der französische Kandidat, Prinz Louis de Conti, bestach Wahlmänner. Doch die französischen Vermittler versprachen nur Schuldverschreibungen und die auch nur nach gewonnener Wahl. Dagegen warb Friedrich August I. von Sachsen mit echten Talern. Damit ihm diese nicht ausgingen, verkaufte und verpfändete er sogar Landesteile sowie die königlichen Juwelen. Den Gedanken, im Fall einer Niederlage sich und das Land ruiniert zu haben, verdrängte er in unzähligen nächtlichen Trinkgelagen. So war die Ohnmacht während der Krönungszeremonie nur eine Auswirkung dieses ungezügelten Zechens. Aber auch der Prunksucht Friedrich Augusts, die ihn veranlasste, an einem so heißen Tag seine schwere goldene Prunkrüstung zu tragen und das auch noch über etliche Stunden.

    Dieser Schwächeanfall gemahnte Flemming, schnellstens zwei Kisten Tartuffli nach Warschau bringen zu lassen. Doch die polnischen Köche hatten die wertvollen Früchte statt im Keller auf dem zugigen Kräuterboden gelagert. Als Ende November eine erste Kochprobe durchgeführt werden sollte, zerfielen die inzwischen steinhart gefrorenen Erdäpfel zu stinkendem Matsch. Die polnischen Hofköche wiesen alle Schuld von sich, war es doch versäumt worden, die den Kisten beigefügte Anleitung in ihre Sprache zu übersetzen. Im Notfall hätte man nun Tartuffli aus Sachsen holen müssen, wobei selbst ein guter Reiter viel zu lange unterwegs gewesen wäre.

    Eine für Flemming überaus kritische Situation, die einer dauerhaft befriedigenden Lösung bedurfte. Und die wäre, möglichst schnell einige der sächsischen Bauern, die sich mit den spanischen Erdfrüchten inzwischen auskannten, in der Nähe des polnischen Königshofes anzusiedeln. Für einen Mann in seiner Position keine besondere Herausforderung. Trotzdem beschloss er, das Vorhaben in aller Heimlichkeit in die Wege zu leiten. Er galt unter den Höflingen als Emporkömmling und hatte entsprechend viele Neider, die nur darauf warteten, ihn beim König in Misskredit zu bringen. Außerdem war zu befürchten, dass beim Bekanntwerden seines Vorhabens die Bodenpreise stiegen. Deshalb bat er seine polnische Verwandtschaft, ohne jegliches Aufsehen, nach einem geeigneten Stück Land Ausschau zu halten. Endlich, es ging schon auf Dreikönige zu, erreichte Flemming die Nachricht, dass die entsprechenden Aufkäufe getätigt seien. Leider nicht wie gewünscht vor den Toren der Warschauer Königsresidenz, sondern östlich von Piotrków Trybunalski.

    Im Mittelalter zählte die an der alten Handelsstraße von Pommern in das Reich der Kiewer Rus und nach Ungarn gelegene Stadt zu den wirtschaftlich und politisch bedeutenden Städten im Königreich Polen. Hier proklamierte König Kasimir III. der Große 1347 seine Statuten. Die darin festgeschriebenen Bürgerrechte für Jedermann bewirkten eine starke Zuwanderung deutscher Juden. Wirtschaftlich erstarkt, eroberte Kasimir die ruthenischen Fürstentümer Halytsch und Wolhynien, bis dahin ukrainische Gebiete des altrussischen Staatswesens. Pjotrków wird zu einem der zwei Sitze des Sejm, dem Parlament der Ständeversammlung und des Landadels. Für den König hatte der Sejm nicht nur beratende Funktion, er hatte dessen Beschlüsse zu berücksichtigen.

    Mit den »Petrikauer Privilegien« erweiterte König Johann I. Albrecht im Jahr 1496 die Rechte des Adels über dessen bereits bestehende Goldene Freiheit hinaus. Bürgerlichen wurde der Besitz von Landgütern verwehrt sowie die Freiheit der Bauern eingeschränkt. In dieser Zeit erhebt Litauen Anspruch auf Teile der ehemaligen Fürstentümer Halytsch und Wolhynien. Man einigt sich gütlich.

    Angesichts eines erstarkenden Russlands unter Iwan IV. kommt es 1569 zu einer Allianz zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen. Es entsteht eine Adelsrepublik unter einem Wahlkönig. Die Gerichtsbarkeit wird geteilt: Grodno für die litauischen sowie Lublin und Petrikau für die polnischen Gebiete. Die Stadt trägt seitdem den Zusatz Trybunalski. Das Königreich Polen gilt nun als Großmacht und reicht im Osten bis kurz vor Kiew. Im gleichen Jahr kommt es zur Vertreibung der Juden. Dieses Siedlungsverbot wird erst hundert Jahre später wieder aufgehoben.

    Im Sejm galt inzwischen das Liberum Veto, das Einspruchsrecht des Einzelnen ohne Ansehen seines Standes. Dieses »ich verbiete« verhinderte oft notwendige Reformen, und es ermöglichte den Nachbarstaaten, allen voran Russland, mittels Bestechung politische und wirtschaftliche Entscheidungen maßgeblich zu beeinflussen.

    Inzwischen hatte die Stadt Piotrków Trybunalski ihre große Bedeutung verloren, aber der Stolz ihrer Bewohner auf diese Vergangenheit war geblieben.

    Erst hier, in diesem dünn besiedelten Landstrich, fanden sich genug verkaufswillige Landadelige. Diese stolzen, aber meist hoch verschuldeten Schlachtschitzen besaßen oft nicht mehr als einen alten Klepper, der sie kaum noch tragen konnte, ein Schwert samt abgewetztem Harnisch, ein Wappen, ein verlottertes Gehöft und ein paar Katen samt Leibeigenen, deren Arbeit ihren Herren gerade so ernährte. Klimperten tatsächlich einmal ein paar Kupfermünzen oder gar Gulden im Beutel eines solchen Landbesitzers, waren diese meistens von durchziehenden Händlern abgepresster Wegzoll. Mit Freuden ergriffen sie die Gelegenheit, wenigstens einmal im Leben einen prall mit Silbergulden gefüllten Geldbeutel am Gürtel hängen zu haben. Mit diesem Geld konnten sie sich ordentlich herrichten und ein gutes Pferd anschaffen, denn so heruntergekommen, wie sie ansonsten aussahen, hätte man sie nicht einmal bis zum Tor des Warschauer Königshofes vorgelassen. Doch nur dort konnte es ihnen gelingen, mittels Bestechung einen gut besoldeten Posten zu ergattern. Was zählte da das Bewahren des väterlichen Landes, war doch aus den ausgemergelten Leibeigenen und den minderwertigen Böden nicht mehr herauszupressen.

    Die für den Landkauf notwendigen Mittel verbuchte Flemming unter der Rubrik »Zahlung kleiner Posten«. In der Gesamtheit der Ausgaben anlässlich der Königswahl, der Summe von vier Millionen Talern, waren die rund zwanzigtausend Taler kein Betrag, der unter den an die Magnaten gezahlten Bestechungsgeldern auffiel. Die Aufkäufer hätten sogar das Dreifache an Fläche erwerben können. Doch dann bestünde das Risiko, dass die Angelegenheit dem König zugetragen würde. August hatte seinem Minister in solchen Dingen zwar noch nie seine Zustimmung versagt, doch seine Majestät erwartete dann auch einen den Kosten entsprechenden Erfolg. Und der konnte bei diesem Unternehmen ausbleiben. Nicht nur der Anbau der fremdländischen Erdäpfel könnte misslingen. Es war durchaus möglich, dass die ganze Ansiedlung scheiterte, denn die sächsischen Familien, die hier des Königs Tartuffli anbauen sollten, waren Lutheraner, galten in diesem erzkatholischen Jesuitenland als allerschlimmste Ketzer, als Bundesgenossen Satans.

    Der größte Teil des erworbenen Landes war bewaldet. Hauptsächlich Kiefern und Birken, die einzigen Baumarten, denen der karge und trockene Sandboden genügte. Alles andere, wie auch das wenige Gras, verdorrte meist noch vor Johanni. Größere Blößen eines leicht hügeligen Gebietes wurden von dichten Teppichen struppigen Heidekrautes überzogen. Hier fanden höchstens Schafe ausreichend zu fressen. Das tiefer liegende, ebene Land war kaum fruchtbarer. Mit buschigem Sauergras und giftigem Wasserschierling bewachsene Wiesen wechselten mit Riedflächen, die in ein von Schwarzerlenhainen durchzogenes Moor übergingen. Dieses Moor umsäumte nicht nur einen riesigen langgezogenen See, es erstreckte sich auch entlang seiner Zu- und Abflüsse. Ein kaum überwindbares Hindernis, wollte jemand von hier aus, am Seeufer entlang und somit auf kürzestem Weg, in die Stadt Piotrków Trybunalski gelangen. Innerhalb dieses großen Sumpfes gab es aber auch Flecken, bestanden mit gut gewachsenen Eichen. Auf den ersten Blick war es unverständlich, warum die städtischen Holzhändler diese prächtigen Bäume noch nicht erworben und fällen lassen hatten. Doch unter dem Landvolk herrschte der Glaube, dass in dem schwarzen Wasser furchtbare Dämonen lauerten, die jeden rechtschaffenen Christenmenschen an den Füßen packen und in die Tiefen der Hölle zögen. Die Leibeigenen munkelten, der oberste Dämon sei ein Adliger, der eine junge Nonne entführt und geschändet hatte. Nun bringe er dem Höllenfürsten die Seelen all jener Menschen, die sich ins Moor wagen. Dieser Aberglaube verhinderte, dass sich auch nur ein Holzfäller fand, der sein Leben und Seelenheil wegen einiger Eichenstämme gefährdete. Selbst die in der Nähe lebenden Bauern mieden das weg- und bodenlose Gelände, näherten sich ihm nur in sehr trockenen Sommern, um die an den Rändern wachsenden Moosbeeren zu pflücken.

    Während der Schneeschmelze oder nach ergiebigen Regenfällen wagten sie sich nicht mal von ihren Katen weg. Dann führte die Wierzejka, ein Flüsschen, das in der Ebene nördlich der Stadt entsprang und in den Sümpfen oberhalb des Sees endete, gewaltige Wassermassen herbei, die das Moor, die Riedwiesen und ab und an die ganze Gegend überschwemmten. Auch die Straße nach Sulejów wurde dann unpassierbar. Manchmal dauerte es Wochen, ehe das Hochwasser wieder abfloss, denn das Flüsschen Rakowka, das am südlichen Ende des großen Sees austrat, mündete alsbald in die Strawa, und die führte ebenfalls Hochwasser. Dann verfaulte selbst das Staunässe gewohnte Sauergras. Aus all diesen Gründen standen die armseligen Katen der polnischen Bauern weitab vom Moor, hoch oben auf den trockenen Hügeln. Und dort oben, direkt neben ihren Behausungen, lagen auch die wenigen armseligen Felder, von denen sie ihre Abgaben erbringen und sich selbst und ihr Vieh ernähren mussten. Ihre Angst vor dem Moor war so groß, dass sie lieber darbten, als sich dem schwankenden Grund zu nähern. Dann hätten sie wenigstens den fruchtbaren Saum bewirtschaften können, der sich zwischen den Moorwiesen und den trockensandigen Flanken der flachen, mehr oder minder mit Kiefern und Heide bewachsenen Hügeln befand.

    Die sächsischen Umsiedlerfamilien

    Während des Winters 1697/98 bereiteten sich zwei Familien aus Meißen und drei Familien aus dem Lommatzscher Umland auf ihre Umsiedlung nach Polen vor. Die Ehemänner waren durchweg Zweitgeborene, denen kein väterliches Erbteil zustand. Mittels eines stattlichen Handgeldes und der Aussicht auf einen guten Flecken Land hatte man sie nicht lange zum Verlassen ihrer Heimat überreden müssen. Alle Familien waren außerdem strenggläubige Lutheraner, geübt in Demut, Bescheidenheit und Gehorsam.

    Noch bevor der nahende Frühling des Jahres 1698 die Wege aufweichte, begab sich der kleine Treck auf die Reise. Neben Hausrat, Werkzeug, Pflanzen, Saatgut und landwirtschaftlichen Geräten hatte man auch Käfige mit verschiedenen Kleintieren, wie Hühnern, Hasen und Gänsen, auf den Fuhrwerken verstaut. Die besondere Fürsorge der Reisenden galt dabei den Körben mit Tauben, die Botschaften in die Heimat bringen sollten. Zwei Wagen pro Familie, bepackt mit alter Heimat und allem Notwendigen für ein neues Leben in der Fremde.

    Damit die Fuhrwerke gut vorankämen und auch nicht Wegelagerern oder katholischen Eiferern zum Opfer fielen, wurden die Umsiedler auf Flemmings Geheiß von einem kleinen Trupp sächsischer Infanteristen begleitet, die man ohnehin nach Warschau verlegen wollte. Nach der Ankunft in der neuen Domäne sollten die zwölf Infanteristen samt ihrem Sergeanten noch einige Zeit vor Ort bleiben und den Umsiedlern beim Hausbau zur Hand gehen. Doch nicht nur der reformierte Glaube der Umsiedler gefährdete das Unternehmen. Im polnischen Königreich galt immer noch eine mittelalterlich geprägte Leibeigenschaft. Das bedeutete, im Gegensatz zum kursächsischen Recht, in dem niemand ohne gerichtliches Urteil zu Tode gebracht werden durfte, entschied ein polnischer Adeliger in absoluter Eigenständigkeit über das Leben seiner Leibeigenen. Dabei pochten sogar die niedrigsten und ärmsten dieser adeligen Grundeigner auf dieses Recht, selbst wenn sie nicht mehr als eine Hand voll Leibeigene besaßen und höchstselbst Seite an Seite mit ihnen um des täglich Brotes wegen auf dem Acker schufteten.

    Obwohl diese kleinen polnischen Krautjunker auf dem von ihnen verkauften Gebiet nichts mehr zu suchen und erst recht nichts mehr zu bestimmen hatten, führten sie sich auf, als ob Land und Leute immer noch ihr Eigentum seien. So kam es, dass ein Meißner beinah von zwei betrunkenen Schlachtschitzen zu Tode gehetzt wurde. Allein dessen kräftige Natur und dem Eingreifen der Infanteristen war es zu verdanken, dass die polnischen Junker abgewehrt werden konnten. Meist schlichen sie sich jedoch im Verborgenen heran, um über die auf den Feldern arbeitenden Frauen herzufallen. Vom ersten Tag an hatten die Soldaten deshalb große Mühe, die fünf Sächsinnen und ihre halbwüchsigen Töchter vor begehrlichen Übergriffen zu schützen.

    Eine äußerst schwierige Situation, die einer grundsätzlichen Regelung bedurfte, sollte nicht das ganze Unternehmen nach dem Abzug der Infanteristen scheitern. Die einfachste Lösung war, die Sachsen rechtlich aufzuwerten, und dazu genügte es, sie in den Rang von Freibauern zu erheben. Im Zuge dieser Ernennung wurde jeder Familie, gemessen nach sächsischen Königsruten, ein Erblehen von 90 Morgen an Ackerland und Wiesen zugesprochen. Dazu noch Riedwiesen, Moore und ein Stück Wald fürs Gemeinwesen. Ein unerwarteter Reichtum für die fünf Familien, besaßen sie damit bedeutend mehr Land als ihre Väter in der sächsischen Heimat. Das erteilte Erblehen schützte fortan nicht nur Leben und Eigentum der fünf Familien, es band sie auch an diesen Ort. Und das gab Flemming die Sicherheit, dass die Sachsen ob unerwarteter Schwierigkeiten nicht das Weite suchten, sondern die ihnen als Scharwerk aufgetragene Pflicht, Tartuffli für die Hofküche anzubauen, verlässlich erfüllten. Die neuen Freibauern erhielten außerdem mehrere Gerechtsamkeiten, die ihnen das Dasein erleichterten. Neben der Holzgerechtsamen für den Domänenwald und dem Braurecht erlaubte man ihnen, in den Domänengewässern zu fischen und sämtliche Flächen zu beweiden. Ein von Flemming wohl überlegtes Kalkül. Er war sicher, dass diese grundehrlichen Lutheraner aus dem herrschaftlichen Besitz nie mehr an Wild, Fisch und Holz entnehmen würden, als sie für ihre Bedürfnisse benötigten.

    Der Eifer, mit dem die Sachsen ihre neue Heimat einrichteten, kam jedoch nicht nur aus der Freude am übereigneten Land und dem neuen Stand. Sie waren zutiefst davon überzeugt, von Gott hierher geführt worden zu sein, um die Polen zu Luthers rechter Glaubenslehre zurückzuführen, die sie unter dem Einfluss der Jesuiten und deren Gegenreformation verlassen hatten. Ohne diese Überzeugung wäre ihnen der Umzug in das fremde Land sicher schwerer gefallen, denn laut Vertrag schloss bereits die Annahme des Handgeldes eine Rückkehr nach Sachsen aus – unter der Ausnahme einer Rückzahlung der gesamten Summe. Und die war schier unmöglich.

    Dieser Umstand hatte die Aussiedler veranlasst, etwas Erde von den Gräbern ihrer Familien mitzunehmen, um in der Fremde nicht die Verbundenheit mit den Ahnen zu verlieren. Nachdem sie sich auf einen Standort für das provisorische Zeltlager geeinigt hatten, verstreuten sie während einer kleinen Andacht die mitgebrachte Heimaterde auf einem mit frischem Tannengrün umkränzten Flecken. So es Gott gefällt und er ihnen weiterhin seine Gnade schenkt, würden sie über dieser Stelle den Altar ihres Gebetshauses errichten.

    Vom ersten Tage an versammelte sich die kleine Gemeinde jeden Abend zur Andacht. Sie dankte ihrem gütigen Gott, dass bisher niemand zu Schaden gekommen oder erkrankt war, dass der Hausbau gut voranging und sie keinen Hunger leiden mussten. Und sie bedankte sich, dass nicht nur die kostbaren Tartuffli die lange Reise ohne Verderb überstanden hatten, sondern auch die in Töpfen und Kübeln mitgebrachten Weinstöcke, Obstbäume und Reiser kräftig austrieben. Und auch, dass den Ankömmlingen von den umliegenden Gutsherren gesundes, kräftiges Vieh verkauft worden war. Alle fünf Muttersauen waren tatsächlich tragend und die zehn Kühe gaben so gute Milch, dass reichlich gebuttert werden konnte. Nach der Andacht aß man gemeinsam. Die Zubereitung oblag reihum jeweils zwei Frauen und den älteren Kindern. Viel Arbeit, schließlich wollten um die dreißig Menschen satt werden. Schon deshalb wurde gleich zu Anfang ein Backofen errichtet.

    Während die Männer Häuser und Stallungen bauten, versorgten die Frauen nicht nur das Vieh, sie bearbeiteten auch den Streifen fruchtbaren Bodens zwischen Heide und Riedwiesen. Nur zum Führen des Pfluges und zu ihrem Schutz wurden sie von einem ihrer Männer oder einem Soldaten begleitet.

    Uta Schlüter

    Das Wissen um die Feldarbeit war auf sächsischen Bauernhöfen eigentlich Sache des Ehemannes und Hofherren. Dass die Schlütersche Uta sich darin auskannte, lag an einem großen Unglück, welches ihrem Vater widerfahren war: Er hatte sein Augenlicht verloren. Von frühester Kindheit musste ihn Uta deshalb auf Schritt und Tritt begleiten. Sie beschrieb ihm den Zustand der Tiere, des Bodens, das Gedeihen der Pflanzen und auch, mit welchem Werkzeug die Knechte und Tagelöhner arbeiteten und womit sie das Vieh fütterten. Dabei lehrte sie der Vater alles, was ein guter Bauer wissen und beachten musste.

    Uta war erst siebzehn Jahre alt, als der Vater während der Ernte überfahren und dabei so schwer verletzt wurde, dass er starb. Ein in Stauchitz wohnender Vetter übernahm sofort die Vormundschaft über das Mädchen und die väterliche Gewalt über den Hof, während die Witwe für das Seelenheil des Verstorbenen betete. Außer dass ihr geliebter Vater nicht mehr da war, den Uta um Rat fragen konnte, blieb vorerst alles beim Alten. Knechte und Tagelöhner arbeiteten so, wie sie es ihnen schon zu Lebzeiten ihres blinden Vaters aufgetragen hatte. Und war sie sich in einer Entscheidung unsicher, beriet sie sich mit einem Knecht, der bereits von ihrem Vater sehr geschätzt wurde. Der Vormund ließ sich das ganze Jahr nicht auf dem Anwesen blicken. Er kam erstmals im Spätherbst, doch nur, um die Ernte und das Schlachtvieh wegzuholen. Selbst das Ende der Trauerzeit änderte nichts an der eigennützigen Vormundschaft des Vetters, denn Utas Mutter hielt dessen Gebaren für rechtens. Uta hätte sich dieser Vormundschaft gern entledigt und geheiratet, um die rechtmäßige Hofbäuerin zu werden. Doch der von ihr geliebte Martin, ein Zweitgeborener aus dem Nachbardorf, war der Mutter nicht gut genug. Sie sah in ihm einen Erbschleicher und verweigerte nicht nur ihre Zustimmung, sie beauftragte sogar Vermittler, einen Schwiegersohn zu suchen. Doch auch diese fanden keinen, an dem sie nichts auszusetzen hatte. Als sie sich im folgenden Winter eine Lungenentzündung zuzog und verstarb, ging der Hof in das Eigentum des Vetters über, der ihn wenige Monate später verkaufte.

    Als Uta und Martin nach dem Ende der Trauerzeit heirateten und den Vetter auf Herausgabe des Mündelteils verklagten, wären sie beinah wegen Verleumdung eingesperrt worden. Der Vetter behauptete, ihr das Mündelteil längst ausgezahlt zu haben. Er bewies dies mit einem Schriftstück, auf dem der Amtsvorsteher von Stauchitz die Auszahlung des Betrages an die Erbin mit seiner Unterschrift bestätigt hatte. Selbst Utas Argument, des Lesens und Schreibens kundig zu sein und somit den Auszahlungsbeleg auch in eigener Person hätte quittieren zu können, änderte nichts an der richterlichen Entscheidung zur Gültigkeit des Beleges. Der neue Besitzer gestattete dem jungen Paar, auf dem Hof wohnen zu bleiben und als Magd und Knecht bei ihm zu arbeiten. Um nicht ständig das ihnen zugefügte Unrecht vor Augen zu haben, hätten Martin und Uta dem Hof und der Gegend liebend gern den Rücken gekehrt, doch Uta erwartete ein Kind. Damit waren sie zum Bleiben verurteilt, um nicht auch noch ohne ein Dach über dem Kopf und ohne sicheres täglich Brot zu sein. Als ein gutes Jahr später eine zweite Tochter zur Welt kam, ergaben sie sich ihrem Schicksal. Flemmings Werber erschienen der jungen Familie wie ein Zeichen des Himmels. Das sofort ausgezahlte Handgeld war so reichlich, dass dem jungen Paar fast die Sinne schwanden. Eine solche Summe Geldes würden sie ihr ganzes Leben nicht verdienen, wenn sie als Magd und Knecht in Sachsen blieben. Dazu das Versprechen auf ein ordentliches Stück Pachtland, groß genug, um mit etwas Glück und Fleiß davon leben zu können. Insgeheim schreckte sie zwar der Umzug in das fremde Land ab, doch die Aussicht auf ein besseres Leben ließ sie keinen Moment zögern, gemeinsam mit den anderen vier Familien, ihre sächsische Heimat zu verlassen.

    Nach der Ankunft in der Fremde zahlten sich Utas Erfahrungen in der Feldarbeit rasch aus. Unter ihrer Anleitung wuchs und gedieh einfach alles, was man sich vorgenommen hatte. Ihr Mann Martin und die zwei anderen Lommatzscher, die Uta von Kindheit an kannten, überzeugten die Meißner davon, ihr in diesen Dingen volles Mitspracherecht zu gewähren. Das war völlig entgegen dem Althergebrachten und wäre in der alten Heimat nie gestattet worden. Doch hier war es von Vorteil, dass die Frauen nicht wegen jeder kleinsten Sache die Zustimmung der Familienoberhäupter einholen kamen. So konnten sich die Männer ungestört der Errichtung der Häuser widmen, und das war Arbeit genug. Es dauerte keine drei Wochen, und der Streifen fruchtbaren Bodens zwischen Riedwiesen und trockenem Heideland war fertig bestellt. Allem voran hatte man die kostbaren Tartuffli in die Erde gebracht. Die von den schmalen Feldern zu erwartende Ernte würde aber nie und nimmer Mensch und Vieh bis zum nächsten Frühjahr ernähren. Vom erhaltenen Handgeld hätte man sich zwar ausreichend Vorräte kaufen können, doch das widersprach ihrem Bauernstolz und auch dem beinah übermächtigen Bedürfnis, so wenig wie möglich von dem schönen Geld für solch niedere Bedürfnisse auszugeben. Es musste also schnellstens eine größere Fläche Ackerland gewonnen werden. Brandrodung kam nicht infrage, dabei würde man zu viel gutes Holz vernichten. Außerdem würde der vom See her wehende Wind das Feuer in die Wälder treiben. Es blieben also nur die nassen Wiesen.

    Unter Anleitung eines älteren Infanteristen, eines Bauernsohnes aus dem brandenburgischen Oderbruch, begannen die Lutheraner, zwei parallel verlaufende Entwässerungsgräben auszuheben. Der Mann hatte ihnen versichert, dass in seiner Heimat auf selbige Weise nasse Bruchwiesen in fruchtbares Land verwandelt werden, auf dem sogar Weizen gedeiht. Die Gräben auszuheben und den Aushub zu einer ebenen Fläche aufzustapeln war keine leichte und schnell zu erledigende Arbeit. So mancher zweifelte mehr oder weniger laut am Erfolg. Doch die Familien hatten keine Wahl, wollten sie im Winter ihr Geld nicht für völlig überteuertes Korn ausgeben. Dabei war es nicht einmal sicher, ob man ihnen, den lutherischen Ketzern, überhaupt etwas verkaufte. Auch die Heuernte war viel aufwändiger als in der alten Heimat. Trotz Sonne, reichlichem Wind und regelmäßigem Wenden trocknete das Schnittgut nur langsam. Damit das Heu auf dem feuchten Wiesenboden nicht noch zu modern begann, brachten es die Bauern auf höher liegende trockene Flächen. Eine ungemeine Plackerei, aber die einzige Möglichkeit, das Winterfutter vor dem sicheren Verderb zu retten.

    Ausgerechnet in dieser arbeitsreichen Zeit gelang es dem aus der Heimat mitgebrachten Ziegenbock, aus dem Gatter zu entkommen. Die Frauen hofften, den Ausreißer schnell und ohne Hilfe der Männer einzufangen. Sie suchten das Seeufer, die Riedwiesen und die Felder ab, doch nirgends war auch nur ein einziger Hufabdruck zu entdecken. Das Tier konnte folglich nur in den Wald gelaufen sein. Und tatsächlich, auf einer sandigen Blöße entdeckten die Frauen frische Ziegentritte. Jetzt tat Eile Not, denn der Bock musste gefunden werden, bevor er in den Tiefen des Waldes verschwand. Die Frauen trennten sich. Uta suchte im mittleren Stück, einer mit Gestrüpp, Erlen und Birken bestandenen breiten Senke, die anderen auf und hinter den mit lichtem Kiefernwald bestandenen Hügeln. Anfangs hörten die Frauen noch gegenseitig das Rufen nach dem Tier. Doch bald schon verschluckte der Wald die Stimmen. Mit der Zeit ängstigte Uta die tiefe Stille, hatte sie doch in der Eile des Aufbruchs versäumt, ihre Heugabel mitzunehmen, die jede Frau neben sich zu stehen hatte, wenn sie auf dem Feld arbeitete. Mit den spitzen Zinken einer solchen Gabel konnte man Ratten und zur Not sogar Wildschweine vertreiben, aber auch zudringliches Gesindel auf Abstand halten. Sie brauchte wenigstens einen guten Knüppel. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihr, einen stärkeren Birkenast abzubrechen. So ausgerüstet, suchte sie weiter. Die Angst wollte trotzdem nicht weichen, zumal sie auf dem feuchten Boden keinen einzigen Hufabdruck entdecken konnte. Als nach wiederholtem Rufen niemand antwortete, kehrte sie um.

    Sie war schon ein Stück gegangen, als sie Ziegenmeckern zu hören glaubte. Und tatsächlich, nach mehreren Lockrufen antwortete das Tier. Kurz darauf entdeckte Uta den Ziegenbock inmitten eines Gestrüpps, sein Halsstrick hatte sich in den Ästen verfangen. Zu spät bemerkte sie, dass sich der Halsstrick des Böckchens nicht verheddert hatte, sondern verknotet war. Doch da wurde sie auch schon ergriffen und zu Boden geworfen. Die beiden Polen, der Kleidung und dem Aussehen nach keine Bauern, waren viel zu stark, als dass Uta ihnen hätte entkommen können. Der Zweite war bereits über ihr, als der andere ihm Einhalt gebot. In das reglose Verharren hinein hörte nun auch Uta das Rufen der Frauen. Sie wollte schon schreien, als ihr der Mund zugehalten wurde. Ihr wurde still zu sein bedeutet. Sie presste ihren Mund zusammen und nickte heftig. Die zwei Männer verschwanden daraufhin im Gesträuch. Als nichts mehr von ihnen zu hören war, begann Uta zu schreien und gleichzeitig ihre Sachen zu richten, denn niemand durfte von der ihr angetanen Schande erfahren. Die aus festem Leinen gewebte Bluse war heil geblieben. Der ältere der Polen hatte sich daran ergötzt, die gekreuzten Blusenschnüre langsam und ohne sie zu zerreißen, zu lösen. Umso derber und gieriger griff er nach ihren entblößten Brüsten. Während der Jüngere Uta festhielt, riss der andere deren Rock bis zum Bund auf und verging sich an ihr in brutaler Lust.

    Aber wie sollte sie den Frauen ihren zerrissenen Rock und die blutverschmierten Schenkel erklären! In ihrer Angst stieß sie sich mit einem spitzen Ast mehrmals in den Oberschenkel, bis es ordentlich blutete. Vor Schmerz wären ihr beinah die Sinne geschwunden. Mit zitternden Händen riss sie einen Streifen Stoff aus dem Rock und umwickelte damit die Wunde. Sie war gerade fertig, als die Frauen sie fanden. Sie rissen noch zwei Streifen Rockstoff ab, um damit ein Verrutschen des Verbandes zu verhindern. Es wunderte keine, dass Uta vor Schmerzen kaum laufen konnte. Uta bat die Frauen, sie ohne großes Aufsehen nach Hause zu bringen, damit sie sich waschen, saubere Sachen anziehen und die Wunde behandeln und verbinden konnte. Erst dann sollte ihr Mann Martin benachrichtigt werden, denn er würde sicher sofort herbeieilen und sich, wenn er sie so zerzaust und blutverschmiert vorfände, unnötig sorgen. Nur wenige Schritte vor dem Haus wuchs der für die Wundauflage benötigte Breitwegerich, den die Frauen pflücken gingen, während sich Uta gründlich wusch.

    Obwohl die Wunde noch gehörig schmerzte und ihr das Laufen sichtbar schwer fiel, verrichtete Uta bereits am nächsten Tag sämtliche Hausarbeit. Am vierten Morgen ging sie wieder mit den Frauen aufs Feld. Die Männer hatten inzwischen die Umfriedung des Gatters so hergerichtet, dass der Ziegenbock kein zweites Mal entwischen konnte. Einzig Martin ahnte, dass die schlimme Wunde am Schenkel seiner Frau nicht das ganze, ihr zugestoßene Unglück war, denn seitdem bäumte sie sich im Schlaf des Öfteren laut stöhnend auf und schlug wild um sich. Außerdem hatte er längst die vielen blauen Flecken und Kratzer auf ihrer Brust, dem Hals, sowie Armen und Beinen bemerkt, die sie vor ihm zu verbergen suchte. Zuerst wollte er sie zur Rede stellen. Doch bereits am nächsten Tag sah er davon ab. Das Geschehene ließ sich nicht rückgängig machen, und statt Erleichterung würde sein Fragen Verderben bringen. Die Mutter seiner beiden Töchter müsste dann zugeben, gesündigt und Schande auf sich geladen zu haben. Nach einem solchen Geständnis müsste er die Ehebrecherin aus dem Haus jagen. Was sollte dann aus ihm und den beiden Mädchen werden, hier in der Fremde? All ihre Hoffnung auf ein besseres Leben wären zunichte. Es heißt, eine Ehebrecherin folgt ihrer Fleischeslust. Die vielen blauen Flecken und Kratzer an Utas Leib bezeugten das Gegenteil, seiner Frau wurde Gewalt angetan und sie hatte sich gewehrt.

    Später, wenn sie nachts nicht mehr so furchtbar schreit, wird er ihr sagen, dass sie in seinen Augen keine Schuld treffe. Das Geschehene müsse aber auf ewig ihr beider Geheimnis bleiben, denn die Menschen rechnen nur allzu gern fremde Sünde auf, um sich selbst zu erhöhen. Martin erinnerte sich an eine Geschichte in der Heiligen Schrift. Da heißt es, dass Jesus einer Ehebrecherin, die man vor ihn brachte und die dem Gesetz nach gesteinigt werden sollte, einzig das Versprechen abverlangte, nicht erneut zu sündigen. Und zu den Umstehenden, die schon Steine in den Händen hielten, sagte er, nur derjenige von ihnen, der ohne Sünde sei, habe das Recht, den ersten Stein zu werfen.

    Wehrhafte Frauen

    Kurz nach der Heuernte ergab sich die Notwendigkeit, die Felder nachts vor Wildschweinen und zweibeinigen Dieben zu schützen. Wachen wurden aufgestellt. Um den Soldaten im Ernstfall beim Nachladen der Musketen zu helfen, wurden die neuen Freibauern von den Infanteristen im Gebrauch der Feuerwaffen unterwiesen. Nach anfänglichem Zögern, schließlich dienen Waffen zum Töten und das verbietet das fünfte Gebot, gefiel den Männern ihre neue Wehrhaftigkeit. Im Ernstfall würden sie ja nicht vorsätzlich töten, sondern nur ihr eigenes Leben verteidigen. Und da die Infanteristen spätestens Ende Juli in ihr Warschauer Regiment zurückkehren müssen, hätten sie dann nur noch ihre Fäuste, Messer, Heugabeln und Sensen, um sich diebisches Gesindel vom Leib zu halten. Als auch Uta im Laden des Schießeisens unterwiesen werden wollte, führte das unter den Männern zu einer heftigen Auseinandersetzung. Die beiden Meißner bezweifelten die Gottgefälligkeit dieses Verlangens. Es könne nicht sein, dass eine Frau eine Waffe benutzt und gar einen Mann tötet, wo sie ihm doch nach den Gesetzen untertan sein soll. Uta ließ sich jedoch nicht abwimmeln. Sie entgegnete, dass Luthers Frau Katharina nie ohne einen kleinen Dolch im Gewand aus dem Haus ging. Der Reformator habe seine Frau sogar aufgefordert, sich bei tätlichen Übergriffen zu wehren. In der Heiligen Schrift heißt es, der Herr steht dem Schwachen bei. Aber nirgends stehe geschrieben, dass der Schwache ihm zugefügte Gewalt ohne Gegenwehr hinnehmen müsse. Der einzige, der sich ohne Gegenwehr sogar ans Kreuz nageln ließ, war Christus, und der tat das aus Gehorsam und zur Vergebung unserer Sünden. Dem hatten die Männer nichts entgegenzusetzen, denn keiner von ihnen hatte je die gesamte Heilige Schrift gelesen. Einen Pfarrer, den sie bezüglich dieser Sache fragen konnten, gab es höchstens in Warschau oder in der alten Heimat. Letztlich siegte die Erkenntnis, dass die Frauen dann bei der Feldarbeit nicht mehr von Männern begleitet werden müssten, sich sogar gegenüber berittenen Angreifern verteidigen könnten. Selbst wenn sie nicht träfen, das Abfeuern einer Muskete würde reichen, um solches Gesindel in die Flucht zu schlagen. Außerdem wäre der Schuss weithin zu vernehmen, und man könnte sofort zu Hilfe eilen. Die Musketen waren schon recht alt, umständlich zu laden und auch nicht besonders treffsicher. Trotzdem standen die Frauen bereits nach kurzer Zeit den Männern im Laden der Musketen und der Anzahl der Treffer nicht nach. Nur manchmal brachte sie die Wucht des Rückstoßes aus dem Gleichgewicht. Das weithin zu hörende Gedröhn der Schüsse ließen diebisches Gesindel einen großen Bogen um die kleine Siedlung machen. Besonders abschreckend wirkten sich jedoch die Geschichten aus, die polnische Fronbauern in den umliegenden Schenken über die bewaffneten Frauen erzählten. Die Frauen würden den Gewehrlauf zwischen die Zinken einer mit dem Stiel in den Boden gerammten Mistgabel legen und träfen dadurch so gut, dass sie sogar einen heranstürmenden Reiter vom Pferd holen könnten. Eine Geschichte, über die im Dorf lauthals gelacht wurde. Beim Abzug der Soldaten erhielt jede Familie zwei Musketen und dazu eine größere Menge Pulver sowie Kugeln. Die Infanteristen hätten ihnen gern sämtliche Musketen überlassen, um die alten Waffen nicht noch bis Warschau schleppen zu müssen. Dort sollten sie mit neuen Suhler Gewehren ausgestattet werden.

    Vom Säen und Ernten

    Anfangs hatte es Minister Flemming nicht gefallen, dass das erworbene Land weitab des königlichen Hofes lag. Doch nur in einer so dünn besiedelten Gegend gab es ausreichend Platz für eine neue Siedlung. Es war sogar so viel Platz, dass Flemming den miterworbenen Leibeigenen und Fronbauern gestattete, auf ihren ärmlichen Anwesen wohnen zu bleiben und diese weiterhin zu bewirtschaften. Die üblichen Frondienste sowie Hand- und Spanndienste leisteten sie nun unter Aufsicht und zum Nutzen der nach polnischem Recht neu ernannten sächsischen Freibauern. Das Herbeischaffen von Feldsteinen für die Fundamente der zu errichtenden Häuser gehörte zu ihren ersten großen Aufgaben. Durch die gemeinsame Arbeit gewöhnte man sich schnell aneinander. Die in ihrem protestantischen Glauben verankerte Milde gegenüber Bedürftigen wirkte zudem als Friedensstifter, verbot diese doch, die an der Gemeinschaftsküche der Lutheraner um Essen bettelnden Kinder, wie auf polnischen Höfen üblich, mit Stockschlägen zu vertreiben. So entstanden innerhalb kürzester Zeit unter den Kindern erste Freundschaften. Vor allem die größeren Mädchen machten sich nützlich, wo immer sie konnten. Schließlich bekamen sie dafür auch gutes Essen. Und ganz nebenbei lernte jeder ein wenig die Sprache der anderen.

    Bereits während des Sommers offenbarte sich die Fruchtbarkeit der urbar gemachten Bruchwiesen. Die eigentlich viel zu spät gesäten Rüben waren inzwischen ebenso groß, wie die schon Anfang Mai auf sandigem Trockenboden ausgebrachten Samen. Das war genug Ansporn, noch einen weiteren Streifen Riedwiesen herzurichten. Dieses Tun wurde von den polnischen Bauern und Tagelöhnern misstrauisch betrachtet, grenzten die Wiesen doch ans Moor, und in dem hausten böse Geister. Letztlich besiegte die Aussicht auf einen guten Verdienst ihre Angst vor dem dunklen Wasser, das sich in den die kleinen Felder umgebenden Gräben sammelte und in dem Hunderte Blutegel darauf lauerten, sich an nackten Beinen festzusaugen. Diese Quälgeister waren nicht die einzige Plage, die das Wasser beherbergte. Immer mehr Mücken entstiegen der von der glühenden Sommersonne aufgeheizten Feuchte, bildeten bei Sonnenuntergang bis in den Himmel ragende, silbergrau schwirrende Säulen. Auch diesmal keimten auf den hergerichteten Flächen die Saaten innerhalb weniger Tage, wuchsen die kleinen Pflänzchen mit solcher Schnelle, dass man beinah zusehen konnte. Wenn der Winter nicht allzu früh hereinbräche, könnten selbst die erst Ende August ausgesäten Steckrüben noch eine gute Ernte bringen.

    Gottes Wohlgefallen schien auf all ihrem Tun zu liegen, denn jedes in den Boden gebrachte Korn trug schwer an reicher Frucht. Buchweizen, Linsen, Ackerbohnen, Kohl, Kürbisse, Erdbirnen, Hafer, Gerste und auch die Tartuffli, die man besonders sorgsam hegte und pflegte. Einzig ein kleiner Flecken Weizen, den man auf die entwässerte Fläche gesät hatte, kümmerte und musste im Spätherbst unreif geschnitten werden. Es war Aufgabe der Kinder, die halbreifen Körner aus den Ähren zu rubbeln. Damit die feuchten Körner nicht verdarben, wurden sie im Backofen getrocknet. Geschrotet und in der Pfanne angeröstet, bereicherten sie die tägliche Buchweizengrütze aufs Köstlichste. Die Sachsen fühlten sich schon bald wie im biblischen Gleichnis vom reichen Kornbauern, der größere Scheunen errichten musste, um die Ernte sicher zu lagern. Sie wussten aber auch, dass die Winter in der neuen Heimat länger, kälter und schneereicher waren als im Elbtal. Und sie konnten nicht einschätzen, ob es während des Winters bezahlbares Mehl zu kaufen gab. Wegen dieser Ungewissheit wurden die Vorräte sorgsam gehütet und die Portionen zu den Mahlzeiten klein gehalten. Kurz vor Weihnachten fielen Wildschweine über die letzten im Boden verbliebenen Erdbirnen her. Der Hunger der Tiere war so groß, dass sie sogar wiederkamen, obwohl die Bauern auf sie geschossen und ein ausgewachsenes Schwein und einen Läufer erlegt hatten. Das war genug Fleisch, um sich ordentlich satt zu essen.

    Im Verlauf des Winters kam es in den Familien der polnischen Tagelöhner, die in den umliegenden Wäldern hausten, zu einer großen Hungersnot. Die Angst um ihre Kinder und der Schmerz des eigenen Hungers trieb sie bettelnd vor die Häuser der sächsischen Ketzer. Die Gewissheit, andernfalls zu verhungern, war größer als ihre Furcht, sich an den Brosamen dieser Gottlosen zu versündigen. Aus der ihnen von Kindesbeinen an gepredigten Nächstenliebe gegenüber Bedürftigen überließen die Lutheraner den Hungernden nicht nur ihre Abfälle, sie teilten sogar ihr eigenes Essen.

    Trotz ihres Hungers aßen die Polen jedoch nur wenige Löffel des gelblichen Breies, den die Sachsen aus fast faustgroßen bräunlichen Knollen kochten. Die Furcht vor der unbekannten Speise schwand erst, als sie sahen, dass ihre Kinder, die den Brei gierig verschlangen, diesen gut vertrugen und alsbald wieder zu Kräften kamen. Zum Glück verhinderten die unzureichenden Sprachkenntnisse sämtliche Missionierungsversuche seitens der Lutheraner, war ihnen doch das Erlernen dieser unaussprechlichen Zischlaute, die eine Sprache sein wollten, mehr Gräuel als Notwendigkeit. Dagegen verstanden und sprachen die Kinder bereits nach wenigen Monaten die jeweils fremde Sprache. Vor allem die polnischen Kinder, die schnell herausfanden, dass eine auf Deutsch vorgetragene Bitte höchst selten abgeschlagen wurde.

    Die eingelagerten Vorräte waren so reichlich, dass die Bauern im Verlauf des Winters etliches an Wurzelgemüse und Hülsenfrüchten auf dem nahen städtischen Markt verkaufen konnten. Eine unerwartete Einnahme, die sie ihrer Sparsamkeit und den hier unbekannten Tartuffli zu verdanken hatten. Die Sachsen hatten sich inzwischen an diese Erdfrüchte gewöhnt, die sich nicht nur schnell zubereiten ließen. Ernte und Lagerung waren einfacher als beim Getreide, das Schimmel und Kornkäfer schnell vernichteten. Zur Lagerung der Tartuffli genügte der Kriechkeller. Und besaß man keinen Keller, genügte eine Miete wie für Rüben. Nur den Mäusen musste der Zugang zu den nahrhaften Früchten verwehrt werden. Die wegzufangen war Aufgabe der Katzen. Nahmen die Nager trotzdem überhand, stellten die Bauern besonders wirksame Fallen auf. Flache, bis handbreit unter dem Rand mit Wasser gefüllte Tröge, in denen ein mit einem dünnen Speckstreifen umwickeltes Rundholz schwamm. Hatte die Maus den Sprung auf die schwimmende Speckinsel gewagt, dauerte es nicht allzu lange, bis das Tierchen entkräftet von dem sich ständig drehenden Holz glitt und ertrank.

    In den ersten Frühlingstagen überfiel eine mit Messern und Äxten bewaffnete Meute ausgehungerter Landstreicher das Dorf. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass die Bauern Schusswaffen besaßen und treffsicher damit umgehen konnten. Der für die Angreifer mit bösen Verletzungen und Verlusten endende Überfall sprach sich schnell herum. In der Folge wurde die Siedlung von umherziehendem Gesindel weiträumig umgangen. Zum Glück für die Siedler, denn die beschlossen, nie wieder auf Menschen zu schießen, verstießen sie doch damit gegen Gottes fünftes Gebot. Ihren Seelenfrieden rettete, dass die tödlichen Kugeln keinem der fünf Schützen eindeutig zugeordnet werden konnten.

    Das Gemeindehaus

    Seit ihrer Ankunft feierten die Bauern den sonntäglichen Gottesdienst reihum in ihren Häusern. Eine Notlösung, die auf Dauer nicht hinnehmbar war, denn in der Enge der Stuben stellte sich nur selten die zu Andacht und Gebet gebotene Stille ein. Noch während des Winters schlugen die Männer deshalb etwa sechzig große, gut gewachsene Kiefern, um daraus die zum Bau eines Bet- und Gemeindehauses erforderlichen Balken zu zimmern. Auch wenn sie aus Dankbarkeit und zum Lobpreis ihres Gottes gern eine richtige Kirche mit Turm und Geläut gebaut hätten, verspürten sie Stolz und Genugtuung, als zu Christi Himmelfahrt des Jahres 1699 die erste Andacht im neuen Gemeindehaus gefeiert werden konnte.

    Noch schöner wäre es gewesen, hätten sie den mit Blumen umkränzten Altartisch mit einem edlen Kreuz schmücken und aus einem geweihten Abendmahlskelch trinken können. Diese für die kleine Gemeinde so außerordentlich wichtigen Preziosen zu stiften hatte Christiane Eberhardine zugesagt, damals noch als protestantische Kurfürstin. Inzwischen polnische Königin, wollte sie ihren Lutheranern sogar einen Kantor schicken, damit die Kinder der kleinen Gemeinde im Lesen und Schreiben unterrichtet und im rechten Glauben erzogen würden. Die Kurfürstin hielt ihr Wort. Kurz vor Pfingsten brachte ein Kurier ein silbernes Altarkreuz, dazu Leuchter und den Abendmahlkelch. Eine wunderschön bebilderte Hauspostille mit den Predigten des Reformators vervollständigte die wirklich fürstliche Gabe. Nur der Kantor kam nicht mit, er sollte erst zum Spätherbst eintreffen.

    Ein Spinett gehörte nicht zu dieser Spende, die sächsischen Umsiedler bestellten es bei einem Händler. Es war kein großes Ärgernis, dass man dieses Instrument mit vier Monaten Verspätung lieferte. Sie nutzten die Verzögerung, um den Preis um etliche Taler herunterzuhandeln. Den Kindern war das Ausbleiben des Kantors recht. Obwohl sie überall mit zupacken mussten, blieb ohne ihn immer noch reichlich Zeit zum Spielen und Toben. Der Kurfürstin von Sachsen und Polnischen Königin fehlte das Geld, um dem Mann die Reisekosten und wenigstens einen Teil seines Jahresgehaltes zu zahlen. Ihr Gatte, der Kurfürst von Sachsen und König von Polen, hatte ihr die Apanage gekürzt, da sich Christiane-Eberhardine ihres Seelenheils wegen weigerte, ihren Gatten an den katholischen Warschauer Königshof zu begleiten.

    Der König ärgerte sich nur kurz über die Widerborstigkeit seiner Gattin und ihren anmaßenden Wunsch, in Warschau öffentlich protestantische Gottesdienste abhalten zu dürfen. Außer der Gelegenheit zur Kürzung ihrer Gelder nutzte er ihre politische Unvernunft, um sich die schöne Ursula Katharina Lubomirska, eine aus dem polnischen Hochadel stammende Katholikin, zur Mätresse zu nehmen. Die junge Frau verstand es, den König so zu umgarnen, dass August ihr gänzlich erlag und sie mit Schmuck und Geschenken überhäufte. Als die Kosten dieser Aufmerksamkeiten den königlichen Geldbeutel überforderten, bediente er sich überaus großzügig aus der Schatulle seiner Gattin, sodass diese kaum noch genug Geld besaß, um wenigstens die allernotwendigsten Ausgaben ihrer Dresdner Hofhaltung zu bezahlen.

    Königlicher Besuch

    Im Herbst des Jahres 1699 überredete Flemming seinen König während einer Truppeninspektion zu einem kleinen Abstecher, er versprach ihm eine Überraschung. Nachdem August in Piotrków Trybunalski gut geschlafen und gefrühstückt hatte, erreichte die Reisegesellschaft am frühen Nachmittag die in violetter Pracht blühende Heide. Flemmings Versicherung, ihm etwas ganz Besonderes zeigen zu wollen, versetzte den König in gute Laune. Er liebte Überraschungen, vor allem die der amourösen Art. Doch das, was ihm sein Minister wenig später in einer mit Blumen und Girlanden geschmückten Scheune präsentierte, war etwas ganz anderes als ein Schäferstündchen mit einer in Liebesdingen unerfahrenen ländlichen Jungfer. Auf einem Teppich frisch geschnittenen Grases standen fünf große Tragekörbe, randvoll gefüllt mit kinderfaustgroßen Erdäpfeln. Zwischen den Körben wohlgerundete gelbe Kürbisse, flankiert von Krügen mit Blumen und Säckchen voller Erbsen, Linsen und Weizen. Hinter dem Grasteppich standen im Sonntagsstaat die fünf Familien. Zuvorderst die Kinder, dahinter in tiefster Verbeugung deren Eltern. Während die Kinder nicht an sich halten konnten und trotz strengstem Verbot von unten her wenigstens einen kurzen Blick auf die herrschaftliche Gesellschaft wagten, standen die Alten wie versteinert in ehrfürchtiger Untergebenheit. Sie sahen nur die von Spitzenborten umspielte Hand, an deren fleischigen Fingern mit Edelsteinen besetzte Ringe glänzten. Die Hand griff nach einem Erdapfel, wägte ihn prüfend und legte ihn zurück in den Korb. In einem Anfall von Großzügigkeit entnahm August seiner Börse einige Silbermünzen und reichte sie der kleinen Martha, Utas ältester Tochter, mit dem Auftrag, sie unter allen Kindern gerecht zu verteilen. Seiner Majestät schmeichelte die Treue und Ergebenheit seiner sächsischen Bauern, die für ihn ihre Heimat verlassen hatten. Er wies Flemming an, jeder Familie einen sächsischen Goldgulden mit seinem Antlitz zukommen zu lassen.

    Bereits zwei Tage vor dem hohen Besuch war einer der Hofköche samt drei

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