Nach uns die Sintflut: Höfisches Leben im absolutistischen Zeitalter
Von Hans-Dieter Otto
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Buchvorschau
Nach uns die Sintflut - Hans-Dieter Otto
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Cover
Haupttitel
Inhalt
Quellen- und Literaturverzeichnis
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Hans-Dieter Otto
»Nach uns die Sintflut«
Höfisches Leben im absolutistischen Zeitalter
Jan Thorbecke Verlag
Anita,
meiner lieben Ehefrau,
gewidmet
»Doch es ist dahin, es ist verschwunden,
dieses hochbegünstigte Geschlecht.
Wir, wir leben!
Unser sind die Stunden,
und der Lebende hat recht.«
Friedrich von Schiller, Gedichte,
»An die Freunde«
INHALT
»Après nous le déluge!« – Ein Vorwort
Die Ausstrahlung des Versailler Hofs
Mode und Manieren, Vergnügen und Vorlieben
Der Sonnenkönig und seine Mätressen
Preußen im Profil: Von Pracht und Prunk zur Sparsamkeit
Im Liebesreigen des Rokoko: Ludwig XV.
Feste, Feiern, Tafelfreuden und andere höfische Lustbarkeiten
Sächsische Pikanterien
Am Hofe Augusts des Starken
Von Rheinsberg nach Sanssouci
Höfische Extravaganz: Alchemisten, Abenteurer, Hochstapler und andere Glücksritter
»La vie est un grand plaisir!« – Ein Nachwort
Quellen- und Literaturverzeichnis
»Après nous le déluge!« – Ein Vorwort
Die »Fete« ist in vollem Gange. Es ist eines dieser ausgelassenen, prächtigen Feste der adligen Hofgesellschaft Anfang November 1757 im Schloss von Versailles, denen wir auf den folgenden Seiten noch zuhauf begegnen werden. Da tanzen – wie wir heute zu sagen pflegen – die Puppen auf dem Tisch. Das kann ich Ihnen versprechen. Die Höflinge sind zumeist hoch verschuldet, wie der König auch. Doch sie sind fröhlich. An seinem Hof leben sie bedenkenlos in den Tag, von einer Feier zur anderen, und verprassen Unsummen. Was kostet die Welt? Und was schert uns das Morgen? Heute ist heut, Spaß wollen wir haben! Spaß, Spaß und noch mal Spaß, damit wir nicht zum Nachdenken darüber kommen, wie elend wir eigentlich dran sind. Ist das heute, unter veränderten Vorzeichen und in einem anderen Rahmen, nicht genauso? Leben wir nicht vollkommen über unsere Verhältnisse, ohne daran zu denken, was nach uns kommt? Die feinen Damen und Herren der »High Society«, die vor über 250 Jahren zum Fest der Marquise de Pompadour zusammen gekommen sind, tun genau das. Die Pompadour ist die Mätresse Ludwigs XV. Sie ist eine bezaubernde, lebenslustige, gebildete und intelligente Frau, die am Hof alle Fäden in der Hand hält. Wir werden uns in einem späteren Kapitel noch ausführlich mit ihr beschäftigen. Sie ist weltberühmt und zum Inbegriff der Mätresse geworden.
Es ist kalt im Schloss, die Höflinge frösteln. Der Winter 1757 scheint früh zu kommen. Das Schloss hat zwar ein paar Kamine, aber die meisten Räume sind ungeheizt. Da hilft nur eins: tanzen, lachen, springen und die Korken knallen lassen! Den Champagner gibt es schon, und davon trinken die Mesdames et Messieurs reichlich. Was schert es sie, dass Frankreich im Krieg mit Friedrich dem Großen liegt? Der berühmte Siebenjährige Krieg ist einer der blutigsten der Geschichte. Und die Pompadour ist nicht ganz unbeteiligt daran, dass er zustande kam. Darauf werde ich später noch zurückkommen. Mitten in die fröhliche Feststimmung hinein platzt eine Nachricht von der Front. Frankreich hat am 5. November 1757 in Sachsen die Schlacht von Roßbach verloren und über 10.000 tote Soldaten zu beklagen, während die Preußen nur wenige Hundert verloren haben. Eine eindeutige, schlimme Niederlage und gewiss Anlass genug zur Trauer und zum ernsten Nachdenken. Doch die abgekapselte Hofgesellschaft stört das wenig. »Après nous le déluge!« – »Nach uns die Sintflut!«, ruft Madame Pompadour fröhlich in die Runde und feiert weiter. Jedenfalls wird ihr dieser Ausspruch zugeschrieben. Er ist zum geflügelten Wort geworden, das eine Gleichgültigkeit gegenüber allem Kommenden zum Ausdruck bringen soll.
Wie konnte es so weit kommen, zu einer derartigen Teilnahmslosigkeit und Ungerührtheit, zu solcher Dekadenz? Ich denke, die hauptsächlichen Ursachen für diese Entwicklung liegen mehr als 100 Jahre vor diesem Fest. Ich meine die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Das grauenhafte Gemetzel dieses Krieges hat halb Europa in eine Katastrophe gestürzt sowie Zerstörung, Plünderung, Mord, Hunger und Seuchen über die Menschen gebracht. Über die Hälfte der Bevölkerung fiel dem zum Opfer. Als am 24. Oktober 1648 im katholischen Münster und im protestantischen Osnabrück der »Westfälische Frieden« unterzeichnet wird, läuten überall dort, wo die Kunde eintrifft, die Glocken. Der erbitterte Kampf der Konfessionen endet mit einem Unentschieden, und der übrig gebliebene Rest der Protestanten und der Katholiken bedankt sich bei Gott. Die Menschen, die überlebt haben, sind schwer traumatisiert. Mühsam bauen sie wieder auf, was zerstört ist, und tatkräftig erneuern sie, was wirtschaftlich und kulturell verfallen ist. Aus den Ruinen des Großen Krieges erwächst eine neue Epoche, die Zeit des Absolutismus und des Spätbarocks sowie die rauschhafte, verspielte Welt des Rokoko. Sie beendet das Zeitalter der Reformation und Gegenreformation und der spanischen Vorherrschaft. Wie wir gleich sehen werden, wird das Konzert der Mächte politisch und kulturell fortan von Frankreich beherrscht. Das »Heilige Römische Reich deutscher Nation«, von dem Voltaire gesagt hat, es sei weder heilig noch römisch noch überhaupt ein Reich, spielt in den folgenden 100 bis 150 Jahren, die uns in diesem Buch beschäftigen werden, nur noch eine zweitrangige Rolle. Von der Machtfülle des Habsburger Kaisers in Wien bleibt kaum mehr als ein Schatten. Im Wettlauf der Nationen ist Deutschland ausgeschieden. Die staatliche und kulturelle Entwicklung wird sich künftig in den großen deutschen Territorien vollziehen, in Sachsen-Gotha und Hannover zum Beispiel und in Brandenburg und Preußen. Aus den Territorien werden souveräne Staaten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wird eine Unzahl zersplitterter Klein- und Kleinstterritorien bestehen bleiben, ein kolossaler »Flickenteppich«. Der deutsche Dramatiker Georg Büchner lässt 1835 in seinem Theaterstück »Leonce und Lena« den Valerio ausrufen, er sei nun schon »durch ein Dutzend Fürstentümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogtümer und ein paar Königreiche gelaufen, und das in der größten Übereilung in einem halben Tag«.
Österreich dagegen, das im Krieg neben Bayern die hauptsächliche Machtbasis der katholischen Liga gewesen ist, bleibt neben Frankreich und Schweden als Großmacht erhalten. Schritt für Schritt geht es nun seinen Weg in Richtung Absolutismus. Und die deutschen Staaten tun das auch. Sie haben nur ein Problem: Sie haben kein Geld. Das Einkommen einiger Kurfürsten ist so gering, dass der Magistrat »angepumpt« werden muss, um den Unterhalt der Hofküche aufzubringen. Das Finanzwesen ist allerorten völlig ungeordnet, und bei Hofe hat man noch nicht gelernt zu sparen. So müssen zum Beispiel am Hofe des preußischen Herzogs zu Königsberg, Friedrich Wilhelm I., der zugleich Kurfürst von Brandenburg ist und ab 1675 den Beinamen der »Große Kurfürst« erhält, etwa 400 Personen bezahlt, ernährt und gekleidet werden. In der Hofküche arbeiten 50 Leute und allein zehn im Weinkeller. Köche und Konditoren, Leibschneider und Bettmeister, Ärzte, Hofmaler und Trompeter sowie zahlreiche Gesellen und Hilfskräfte müssen Tag und Nacht die Wünsche des Herrschers erfüllen. Zudem werden Luxusgüter nach Königsberg importiert: Safran, Ingwer, Pfeffer, Muskat und Zimt. Und der Herzog selbst leistet sich einen Brillantring für 27.000 Taler. In den Verwaltungen der Territorien ist alles altmodisch und rückständig. Es gibt noch keine Spezialisten für Finanzen, Bildung oder Landwirtschaft. Als Graf Waldeck, der Berater Friedrich Wilhelms I., 1651 konkrete Vorschläge macht, wie die Verwaltung grundlegend reformiert werden kann, kommt dies einer kleinen Revolution gleich. Vereinzelt gibt es nach dem Krieg auch anderswo an deutschen Höfen bahnbrechende Erfolge. So nimmt sich Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg, ab 1692 Kurfürst von Hannover, besonders des Schulwesens an und reformiert es beispielhaft. In fast allen deutschen Staaten werden auch immer mehr Juristen an den Hof berufen, die sich speziell im römischen Recht gut auskennen. Denn anders als die überlieferten germanischen Rechtsformen geht es von einer zentralen, unanfechtbaren Machtstellung des Landesherrn aus.
Unmittelbar nach Ende des Großen Krieges heißt das Gebot der Stunde, alle Energien für den Wiederaufbau zu mobilisieren. Insbesondere das Militär befindet sich in einer beklagenswerten Verfassung. Disziplin sowie Zucht und Ordnung sind auf einem Nullpunkt angelangt. Die einzelnen Fürsten gehen deshalb nach und nach daran, ihre Heere wieder neu zu organisieren und zu stärken. Das gelingt in den größeren Territorien eher und besser als in den kleinen. Brandenburg-Preußen bringt es fertig, die Heeresstärke von nur 8000 Soldaten im Jahre 1660 auf rund 30.000 Mann im Jahr 1688 aufzustocken. 1740, beim Regierungsantritt Friedrichs II., sind es schon 83.000 Mann und 1786 gar 188.000. Der Krieg hat auch viele Gewerbe und Produktionsstätten zerschlagen. In besonders betroffenen Gebieten dauert die Beseitigung der Schäden mehr als 50 Jahre. 1683 gibt es im schwer zerstörten Magdeburg neben 1030 bewohnten Häusern noch 443 Ruinen. Und in Berlin leben von den ehemals 20.000 Einwohnern nur noch 6000. Von den 20 Millionen Einwohnern, die Deutschland bei Kriegsausbruch hatte, überleben nur etwa 8 Millionen. Ein schrecklicher Aderlass. Nach dem Friedensschluss steigen die Geburtenzahlen zwar zunächst stark an, aber nach wenigen Jahren sinken sie schnell wieder. In den meisten deutschen Gebieten ist die Bevölkerungszahl erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder so groß wie vor dem Krieg.
Die Landesfürsten versuchen, den nach dem Krieg einsetzenden Strukturwandel zunehmend in ihrem Sinne zu steuern. Und das heißt: Stärkung ihrer Macht und ihres Ansehens durch Zentralisierung, vor allem durch Vereinheitlichung der Wirtschaft. Dazu dienen Maß-, Münz- und Gewichtsreformen und ins Leben gerufene Landzünfte, die darauf achten sollen, dass die Handwerker in den Dörfern gute Arbeit leisten. Manufakturen entstehen, und die Technik macht zum Teil erstaunliche Sprünge. Das hat zur Folge, dass an nicht wenigen absolutistischen Fürstenhöfen Abenteurer, Scharlatane und zwielichtige Gestalten auftauchen, die sich als Erfinder, Wahrsager oder Wunderheiler ausgeben. Wir werden sie noch hautnah erleben. Während das Reich zerfällt, festigen sich die Staaten der vielen deutschen Fürsten. In ihren Landeshauptstädten schaffen sie zentrale Behörden, von denen aus das Land verwaltet wird. Im Mittelalter zog der Fürst noch umher, um die Probleme vor Ort zu lösen. Jetzt nimmt ihm das die neue Residenzstadt ab. In ihrem Mittelpunkt stehen das barocke Schloss und drum herum die neuen zentralen Behörden. Das ist in Celle und Mainz nicht anders als in Herrenhausen bei Hannover oder beim Bau des Poppelsdorfer Schlosses in Bonn. In diesen neu entstehenden Zentren und Garnisonsstädten mit Kasernen, Zeughäusern und Rüstungsbetrieben schließt sich der Adel eng an die Fürsten an und tritt in die Beamtenschaft oder das Offizierskorps ein. Diesen neuen Residenzzentren verdanken wir bis heute den großen kulturellen Reichtum unseres Landes. Um 1700 herum wird ihr Bild geprägt von dem großen Aufwand, der für Heer, Verwaltung, Hofhaltung entsteht, und vor allem durch das besondere höfische Leben. Es hat sich nach einem speziellen Vorbild entwickelt. Dieses Vorbild ist Versailles, wo Frankreichs König Ludwig XIV. in unübertroffener Pracht und absolutistischer Machtfülle residiert und wohin sich bewundernd alle Augen richten, vornehmlich die deutschen. Und auch unsere im folgenden Kapitel. Es soll uns Ludwig XIV. und seinen prunkvollen Hofstaat etwas näherbringen.
Die Ausstrahlung des Versailler Hofs
Frankreich ist von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges weit weniger betroffen als Deutschland. Von Invasionen und einer verheerenden Entvölkerung bleibt es verschont. Während Mitteleuropa menschenleer geworden ist, entwickelt sich in Frankreich zwischen 1660 und 1680 eine kulturelle Blütezeit. Das Land erringt aufsehenerregende Erfolge und erbringt große Leistungen auf den verschiedensten Gebieten. In mancherlei Hinsicht können wir sogar von einem goldenen Zeitalter sprechen. Verantwortlich für diese Entwicklung sind in erster Linie zwei Männer: König Ludwig XIV., den die Franzosen seit 1680 »Louis le Grand« nennen, und während dessen Minderjährigkeit der regierende Kardinal Jules Mazarin, die »graue Eminenz«. Dass der große König überhaupt das Licht der Welt erblickt, ist mehr oder weniger dem Wetter zu verdanken und erscheint vielen als glückliche Fügung und als Zeichen für eine bessere Zukunft. Denn 23 Jahre lang ist die Ehe seiner Eltern Ludwig XIII. und Anna von Österreich, der ältesten Tochter des spanischen Königs Philipp III., ohne Nachkommen geblieben. Man rechnet nicht mehr damit, dass sich das noch einmal ändert. Beide haben sich entfremdet, und Anna ist mit ihren 37 Jahren für die damalige Zeit bereits in einem Alter, in dem man keine Kinder mehr bekommt.
Am 5. Dezember 1637 wird Ludwig XIII. auf dem Weg in sein Versailler Jagdschloss von einem heftigen Unwetter überrascht. Er muss im Pariser Louvre übernachten, wo die Königin den Winter über wohnt. Ihr Schlafzimmer ist als Einziges beheizt. Als Ergebnis dieser stürmischen Liebesnacht liegt neun Monate später, am Sonntag, dem 5. September 1638, exakt um 11.22 Uhr im Schloss Saint-Germain-en-Laye schreiend und strampelnd ein kleiner Sohn in den Windeln. Aus Dankbarkeit erhält Ludwig den Beinamen »Dieudonné«, der »Gottgegebene«. Nur seine Ammen sind weniger erfreut über seine Geburt, weil er bereits zwei Zähne hat. Er wird einer der größten Könige und einer der wirkungsreichsten Männer des Abendlandes. Voltaire sagt von ihm, man könne seinen Namen nicht ohne Ehrfurcht aussprechen. Er stellt das Zeitalter Ludwigs XIV. gleichberechtigt neben drei andere große Kulturepochen: das Athen des Perikles, das Rom des Kaisers Augustus und das Florenz der Medici. Leopold von Ranke, der Gründervater der modernen deutschen Geschichtswissenschaft, meint allerdings, »großen, unvergänglichen Ruhm« habe Ludwig XIV. nie gesucht und an Eroberungen habe ihm weniger gelegen als an der »triumphierenden Pracht der Rückkehr« aus einem Kriege und der »Bewunderung des Hofes«. Johann Gottlieb Fichte nennt Ludwig XIV. 1812/13 in seinen philosophischen Vorträgen sogar »die schlimmste Ausgeburt des französischen Nationalcharakters«. Und der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt schreibt 1905, »dies mehr mongolische als abendländische Ungetüm« wäre im Mittelalter zweifellos exkommuniziert worden. Wie kein anderer seiner Vorgänger vergrößert Ludwig XIV. das französische Territorium und macht Frankreich zum mächtigsten Staat und kulturellen Zentrum Europas. In der Mitte des 17. Jahrhunderts ist Frankreich das am dichtesten besiedelte Land Europas. 19 Millionen Menschen leben hier, überwiegend Bauern. Die Franzosen zählen Ludwig XIV. noch heute zu den bedeutendsten Persönlichkeiten ihrer Geschichte. Mit seinen 77 Jahren wird er im Durchschnitt dreimal so alt wie seine Zeitgenossen. Er herrscht so lange wie kaum ein anderer, und allenfalls Königin Victoria von Großbritannien oder Kaiser Franz Joseph I. von Österreich können sich darin mit ihm messen.
Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, wenn ich angesichts seines umfangreichen und vielfältigen Wirkens auf seine Biografie nur insoweit eingehen kann, als sie im Zusammenhang mit unserem Thema steht, dem höfischen Leben. Ich kann Ihnen versichern: Bühne und Dramaturgie dieser Hofkultur, ihr barocker Stil und ihr außergewöhnliches Zeremoniell, das zum Vorbild für ganz Europa wird, liefern genug interessanten Stoff. Ich verspreche Ihnen auch, die altbekannten Histörchen und Pikanterien des Versailler Hofs, die ja auch ein Teil des höfischen Lebens sind, ohne erhobenen Zeigefinger zu schildern und ohne voyeuristische Blicke.
Versailles! Das ist ganz anders als Madrid, wo der Hof des frommen Königs Philipp II. von Spanien jahrzehntelang ein reines Verwaltungszentrum gewesen ist und kein gesellschaftlicher Mittelpunkt. Im Palast El Escorial leben um den König herum professionelle Bürokraten, und der Staatsrat besteht überwiegend aus Klerikern. Anders als in Frankreich gibt es am Madrider Hof keine Adelsfamilien, keine Höflingsgruppen und keine Favoritengruppen. Nach den Eliten dieses Riesenreichs halten wir im Palast El Escorial vergeblich Ausschau. In Versailles dagegen sind sie präsent. Es ist in erster Linie Schauplatz königlicher Selbstdarstellung und ein Ort, an dem die Unvergleichlichkeit des französischen Königs demonstriert wird. Dieses Versailles wird Ende des 17. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast überall in Europa kopiert, insbesondere in den kleinflächigen Staaten Deutschlands. Das ist, wie wir noch sehen werden, am Hof von Berlin oder Dresden nicht anders als am Hof von Karlsruhe oder München. Fast der gesamte europäische Adel wird französisiert. Französische Eleganz, französischer Schliff und Witz, aristokratische Finesse und das Savoir-vivre, die Kunst zu leben, werden überall zum neuen Schrittmacher. Am Hofe des russischen Zaren spricht man ebenso französisch wie später in Preußen am Hofe Friedrichs des Großen. Nur am Habsburger Kaiserhof in Wien verbreitet sich das Evangelium der französischen Kultur weniger, hier überwiegt eine Zeit lang noch der spanische Einfluss. Zwar sind auch in Wien, vor allem beim Neubau der Sommerresidenz Schloss Schönbrunn, die Einflüsse von Versailles spürbar. In der langen Hofgeschichte der österreichischen Habsburger gibt es in Wien aber auch viele eigene Traditionen. Zu keiner Zeit wird dieser Hof, anders als der Königshof in Frankreich, ein Zentrum nationaler deutscher Kultur. Mit dem Reich hängt er nur noch äußerlich zusammen. Den Kurfürsten und ihren Hofständen steht der Kaiser in Wien weniger nah als der französische König in Versailles. Über die Briefe des Kaisers Leopold I., die die geistreiche und gebildete Herzogin Sophie von Hannover in ihrem Herrenhausener Schloss 1678 erhält, äußert sie sich recht drastisch: »Da kack ich een op!«
Ludwig XIV. wird zwar schon als Vierjähriger, am 14. Mai 1643, als König inthronisiert, steht aber bis zu seinem 13. Lebensjahr unter der Regentschaft seiner Mutter Anna von Österreich und des Kardinals Mazarin, der ihn zielgerichtet auf die Kunst der Staatsführung vorbereitet. Der junge König erhält eine umfassende Ausbildung in Geschichte, Recht und Militärstrategie, aber auch in mehreren Sprachen und Wissenschaften. Er besitzt eine enorme Willenskraft, einen scharfen Verstand, ein hervorragendes Gedächtnis sowie eine gute Menschenkenntnis. Später während seiner Regierungszeit sind seine präzisen Kenntnisse in Geschichte und Politik ebenso gefürchtet wie sein kolossaler Arbeitseifer. Sein Charme und insbesondere seine Anziehungskraft auf Frauen sind legendär. Ein paar Kostproben davon werde ich Ihnen später servieren. Ludwig ist wirklich ein schöner, kraftvoller Mann mit ausgezeichneten, sehr komplexen Anlagen, als er in Frankreich die Macht übernimmt. Offiziell geschieht das am 9. März 1661 mit dem Tode des Kardinals Mazarin. Da erklärt er zur Überraschung Vieler, er werde nun selbst die Leitung der Regierungsgeschäfte übernehmen und fortan keinen Premierminister mehr benötigen. Er will keinem Menschen die Möglichkeit geben, ein zweiter Richelieu zu werden. In seinen leider unvollständig gebliebenen Memoiren formuliert er es so: »Nichts ist unwürdiger, als wenn auf der einen Seite ein Mann die ganzen Herrscherfunktionen ausübt, auf der anderen Seite ein König steht, dem nur der Titel übrig geblieben ist.«
Fast der ganze Staatsrat, der hauptsächlich außenpolitisch tätige »conseil du roi«, wird entlassen. Künftig dürfen nur noch drei Minister seines Vertrauens an den Sitzungen teilnehmen, darunter der neue, ihm treu ergebene Finanzminister Jean-Baptiste Colbert. Die Gelehrten und Juristen versichern unentwegt, die Macht des Königs sei unbeschränkt und von Gott gegeben. Er ist die höchste Autorität im Staate, sein Wille und seine Entscheidungen sind Gesetz. In den Sitzungen des »Conseil d’en haut«, des Staatsrates, lässt Ludwig sich fortan Bericht erstatten, berät sich mit seinen Vertrauten und behält sich selbst die Entscheidungen vor, bis er alles in Ruhe überlegt hat. »Je verrai« ist eine seiner Lieblingsäußerungen – »Ich werde sehen«. Der hohe Adel wird auf diese Weise endgültig von der Macht ferngehalten. Ludwig XIV. erkennt keinen Lehnsherrn an, weder den Kaiser noch den Papst. Und auf die Frage, was oder wer der Staat denn eigentlich sei, antwortet er kurz und bündig: »L’État, c’est moi!« – »Der Staat bin ich!« Jedenfalls ist ihm dieser Leitsatz des Absolutismus so in den Mund gelegt worden. Ich denke, mit diesen Worten ist nun auch ausreichend erklärt, was in der zweiten Hälfte des Buchtitels mit »absolutistischem Zeitalter« gemeint ist, das die Franzosen – auf ihr Land bezogen – auch gern »Ancien régime« nennen, die »lange bestehende Regierung«. Ludwig XIV. findet an den Königs- und Fürstenhöfen Europas fleißige Nachahmer. Die neue Regierungsform, in der der Herrscher die unbeschränkte gesetzgebende und vollziehende Gewalt innehat, bleibt nicht auf Frankreich beschränkt.
Genau genommen findet der Auftakt der Regierungszeit Ludwigs XIV. schon ein paar Monate vor Mazarins Tod statt, am Donnerstag, dem 26. August 1660. An diesem Tag zieht Ludwig feierlich und festlich in Paris ein, zusammen mit der neuen Königin Maria Theresia von Spanien, die er im gleichen Jahr geheiratet hat und die von den Franzosen Marie Thérèse genannt wird. Bitte verwechseln Sie diese Frau nicht mit Maria Theresia von Österreich. Sie wird erst einige Jahrzehnte später die politische Weltbühne betreten. Dieser 26. August 1660 ist ein Tag, auf den ich näher eingehen möchte. Denn er gibt uns Gelegenheit, einen ersten genaueren Blick auf das höfische Leben zu werfen. Paris erlebt eine großartige Festlichkeit, der Hofstaat des jungen Königs entfaltet seine ganze Pracht. Es ist an den Königshöfen Europas auch schon früher üblich gewesen, solche Anlässe wie Regierungsantritt, Heirat, Geburt eines Erben oder die