Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Insektenpech: Ein junges Mädchen tauscht Erleuchtung gegen Leben
Insektenpech: Ein junges Mädchen tauscht Erleuchtung gegen Leben
Insektenpech: Ein junges Mädchen tauscht Erleuchtung gegen Leben
eBook348 Seiten10 Stunden

Insektenpech: Ein junges Mädchen tauscht Erleuchtung gegen Leben

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Pech gehabt: In der Fortsetzung von "Insektenglück" ist der Spaß endgültig vorbei. Zusammen mit allen anderen Sekten-Kindern der europäischen Kommunen um den "Sex-Guru" Bhagwan Shree Rajneesh wird die nun 11-Jährige Leela in das Sannyas-Internat nach England geschickt, um dort bestmöglich auf ein Leben als "New Man" vorbereitet zu werden. Um die bedrückende Mischung aus Chaos, Einsamkeit und spiritueller Erwartung irgendwie zu überstehen, sucht sich das Mädchen immer wieder neue Schlupflöcher im herrschenden System.

Als die Sannyas-Bewegung 1985 durch das amerikanische Sheela-Regime in die Kriminalität eskaliert und kollabiert, landet Leela zunächst in der Münchner Kommune - und nur wenige Jahre später in der schaurig unterentwickelten "Draußen-Welt". Doch während die äußere Isolation nun eigentlich behoben ist, wird die innere immer größer. Was nun? Ist dieses kalte Pflaster tatsächlich die Wirklichkeit?

Auf der Suche nach Antworten reist Leela als 19-Jährige in den Sannyas-Ashram nach Poona, wo vor vielen Jahren alles begann. Als sie dort den jungen, betörend schönen Inder Mahendra kennenlernt, ist sie sich schlagartig sicher: Ihre spirituelle und persönliche Zukunft liegt in Indien. Nach einem wilden dreijährigen Abenteuer ist Leela um viele Überraschungen reicher - und findet am Ende die Erleuchtung anderer Art.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum3. Mai 2021
ISBN9783753414546
Insektenpech: Ein junges Mädchen tauscht Erleuchtung gegen Leben
Autor

Leela Goldmund

Leela Goldmund wurde 1973 in der Schweiz geboren und verbrachte ihre spätere Kindheit in Amerika, England, Deutschland und Indien. Als Ausgleich zu ihrer unruhigen Außenwelt beschäftigte sie sich schon früh mit der strukturierenden Kraft von Geschichten in Büchern und Filmen, was schließlich auch ihren beruflichen Weg bestimmte. Sie studierte Theaterwissenschaft, Pädagogik und Psychologie und lebt heute als Texterin und Autorin in München. "Insektenpech" ist nach "Insektenglück" ihr zweites Buch.

Ähnlich wie Insektenpech

Ähnliche E-Books

Biografien / Autofiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Insektenpech

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Insektenpech - Leela Goldmund

    Das Buch

    Pech gehabt: In der Fortsetzung von Insektenglück ist der Spaß endgültig vorbei. Zusammen mit allen anderen Sekten-Kindern der europäischen Kommunen um den „Sex-Guru Bhagwan Shree Rajneesh wird die nun elfjährige Leela in das Sannyas-Internat nach England geschickt, um dort bestmöglich auf ein Leben als „New Man vorbereitet zu werden. Um die bedrückende Mischung aus Chaos, Einsamkeit und spiritueller Erwartung irgendwie zu überstehen, sucht sich das Mädchen immer wieder neue Schlupflöcher im herrschenden System.

    Als die Sannyas-Bewegung 1985 durch das amerikanische Sheela-Regime in die Kriminalität eskaliert und kollabiert, landet Leela zunächst in der Münchner Kommune – und nur wenige Jahre später in der schaurig unterentwickelten Draußen-Welt. Doch während die äußere Isolation nun eigentlich behoben ist, wird die innere immer größer. Was nun? Ist dieses kalte Pflaster tatsächlich die Wirklichkeit?

    Auf der Suche nach Antworten reist Leela als 19-Jährige in den Sannyas-Ashram nach Poona. Als sie dort den jungen, betörend schönen Inder Mahendra kennenlernt, ist sie sich schlagartig sicher: Ihre spirituelle und persönliche Zukunft liegt in Indien. Nach einem wilden dreijährigen Abenteuer ist Leela um viele Überraschungen reicher – und findet am Ende die Erleuchtung anderer Art.

    Die Autorin

    Leela Goldmund wurde 1973 in der Schweiz geboren und verbrachte ihre spätere Kindheit in Amerika, England, Deutschland und Indien. Als Ausgleich zu ihrer unruhigen Außenwelt beschäftigte sie sich schon früh mit der strukturierenden Kraft von Geschichten in Büchern und Filmen, was schließlich auch ihren beruflichen Weg bestimmte. Sie studierte Theaterwissenschaft, Pädagogik und Psychologie und lebt heute als Texterin und Autorin in München. Insektenpech ist nach Insektenglück ihr zweites Buch.

    To those of us who already left

    Fly, fly high,

    from the earth,

    touch the sky!

    Sannyas-Lied

    Inhalt

    Was bisher geschahInsektenglück – Ein kleines Mädchen...

    Von Anfang an auf dem richtigen Weg1985, Rajneesh School, Großbritannien

    Prepare for landing1985 – 1988, Münchner Kommune

    Zurück in der Gesellschaft1988 – 1993, München

    Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies1993 – 1996, Osho Ashram Poona, Indien

    Epilog2008, München

    Nachwort

    Danksagung

    Bhagwan Shree Rajneesh/Osho & seine Bewegung1985 – 1990, geschichtlicher Überblick

    Glossar

    Weiterführende Medien

    Formale Hinweise:

    Für einen ungestörten Lesefluss wurden nur die schwierigeren schweizerdeutschen und englischen Passagen in Fußnoten übersetzt. Typische Sannyas-Begriffe stehen bei der ersten Nennung in einfachen Anführungszeichen, typische Sannyas-Redewendungen sind kursiv gehalten. Allgemeine englische Passagen sind optisch nicht hervorgehoben. Englische Substantive im deutschen Text wurden zugunsten der besseren Lesbarkeit groß geschrieben.

    Was bisher geschah

    Insektenglück – Ein kleines Mädchen tauscht Zuhause gegen Erleuchtung

    Frische Luft direkt aus den Bergen, ein tannengrünes Richtbäumchen auf dem eigenen Haus am Dorfrand, geregelte Verhältnisse und die beste Schokolade der Welt: Leela ist sieben, als über das 1970er-Jahre-Idyll ihrer Schweizer Bilderbuchfamilie ein Kulturschock sondergleichen hereinbricht. Durch einen Zufall gerät die bis dahin wohlsortierte Familie in den Dunstkreis des berüchtigten indischen „Sex-Gurus" Bhagwan Shree Rajneesh – und nichts bleibt, wie es war.

    Während ihre Eltern nacheinander in den Bhagwan-Ashram nach Poona reisen und jeweils mit roten Klamotten, Mala, wildem Haar und kernverändertem Glaubenssystem wieder auftauchen, hofft Leela noch immer auf eine Rückkehr zur Normalität. Doch da kann sie lange warten. Meditations-Experimente im heimischen Hobbykeller, sexuelle Befreiung und die stetige Abwendung von den bisher gelebten Gesellschaftsnormen: Die Welt von Leela und ihrer kleinen Schwester Toshi wird ohne Rücksicht auf Verluste auf den Kopf gestellt. Dass auch sie schließlich der Sannyas-Bewegung beitreten, ist nur noch eine Formsache.

    Als die Ehe der Eltern auseinandergeht, beschließt die Mutter, mit den beiden Kindern in die Sannyas-Kommune nach Zürich zu ziehen. Das „Gyandip ist die landesweit größte Kommune und das Zuhause von ca. 300 erwachsenen Sannyasins und 15 Kindern. Wie vorgeschrieben verkauft die Familie ihr ganzes Hab und Gut und kappt alle Verbindungen zur Außenwelt. Leela und Toshi leben nun von ihrer Mutter getrennt in der Kindergemeinschaft der ‚Kids Flat‘ und werden in der kommuneninternen Schule unterrichtet. Die Kinder lernen, dass die ‚Draußen-Welt‘ und ihre unbewussten Zombie-Bewohner minderwertig und gesellschaftlich fremdbestimmt sind und keine Ahnung haben vom „echten Leben.

    Was toll ist: Leela, Toshi und die anderen Kommunen-kinder haben die einzigartige Gelegenheit, unter der schützenden Hand des Jahrhunderterleuchteten heranzuwachsen und so dem ganzen Gesellschaftskrampf mit den kranken Glaubenssätzen und angstgesteuerten Konditionierungskonzepten von vornherein zu entgehen. Anstatt später den ganzen Klumpatsch mühsam wieder loswerden zu müssen, starten sie von Anfang an als ‚New Man‘!

    Bhagwans „neuer Mensch" verbindet fernöstliche Spiritualität mit modernem Wohlstand und ist damit ein echtes Erfolgskonzept. Am Ende winkt, wenn alles gut läuft, die Erleuchtung. Der Weg dorthin führt über sexuelle Befreiung, regelmäßiges Meditieren sowie besonders bewusstes und intensives Leben im Hier und Jetzt. Zu diesem Lebensziel und -stil werden auch die Kinder animiert. You are not your body, you are not your mind, you are not your emotions¹ – sondern stets die Essenz hinter all dem. Normale kindliche Mechanismen wie Anhänglichkeit, emotionale Bedürfnisse, Wunsch nach Sicherheit oder Heimweh haben da wenig Platz, sondern gelten als unreifer ‚Mind Fuck‘, der schleunigst transformiert werden muss.

    Da Kinder in den Kommunen als reine Kostenverursacher eigentlich unerwünscht sind und Mohani, Leelas Mutter, gleich zwei dieser Trolle mit ins Gyandip gebracht hat, beschließt Leela, wenigstens ein besonders vorbildliches Sannyas-Kind zu sein. Also schluckt sie ihr Heimweh nach dem alten Leben hinunter, macht jeden Experimentalzauber der jeweiligen ‚Kids Mama‘ mit und fügt sich auch sonst dem kommunalen Wahnsinn – der allen Widrigkeiten zum Trotz mehr und mehr zu ihrem Zuhause wird.

    Als sich 1981 der Mittelpunkt der Sannyas-Bewegung in die USA verlagert, reist Leela mit ihrer Mutter und Schwester für ein halbes Jahr nach „Rajneeshpuram, die neu entstehende Sannyas-Stadt in der Wüste Oregons. Da sich Bhagwan gerade in eine mehrjährige Schweigephase zurückgezogen hat, übernimmt zunehmend Sheela, Bhagwans Privatsekretärin, die Regentschaft jener Zeit. Damit ist der Grundstein des grundlegenden Zeitenwandels gelegt, doch noch beherrschen Aufbruchstimmung und Euphorie das Sannyas-Universum. Zusammen mit 10.000 rotgekleideten Besuchern aus aller Welt feiert Leela beim „Annual World Festival das unvergleichlich tolle Leben als Sannyasin, streunt alleine über das 25.000 Hektar große Gelände und sieht zum ersten Mal ihren erleuchteten Meister in persona.

    Doch obwohl sie die roten Menschenmassen, die Musik und das wilde Tanzen liebt, kann sie in Wahrheit eher wenig anfangen mit all dem Erleuchtungsgedöns und dem alten Mann mit weißem Rauschebart. Um die lästigen Sannyas-Strukturen vor Ort zu umgehen, schafft sie sich immer mehr ihre eigene Welt. Nach zwei Wochen ist das Festival vorbei und in Rajneeshpuram stellt sich unter den ca. 5.000 Residents der Alltag ein. Während Mohani mit einer therapeutischen Ausbildung beschäftigt und Toshi im kommuneninternen Kindergarten versorgt ist, verlässt Leela auf eigene Faust die Schule und schafft sich eine eigene innere Heimat auf der rancheigenen Farm. Dort findet sie in den Farmtieren eine neue Familie und verlebt die glücklichste Zeit ihrer Kindheit.

    Zurück in der Zürcher Kommune fällt ihr die Re-Integration zunächst schwer. Nur 1 Jahr später wartet zudem schon das nächste Abenteuer: Um die weltweiten Sannyas-Kommunen von den Kindern zu entlasten, sollen alle europäischen ‚Commune Kids‘ in die neu gegründete Internatsschule „Rajneesh School" nach England verschifft werden. Wer nicht mitmacht, fliegt raus.

    Wieder weg aus der neugewonnenen Heimat Schweiz, ohne Eltern, ganz alleine?! Die zunehmend introvertierte Elfjährige ist verzweifelt.

    Doch sie darf sich nichts anmerken lassen: Ein Austritt aus der Commune wäre für ihre Mutter der gefühlte Todesstoß, und auch sie selbst kann sich ein Leben in der unbewussten Draußen-Welt längst nicht mehr vorstellen. Also fügt sie sich einmal mehr dem Schicksal einer Auserwählten und stimmt ihrer Verschickung in die UK zu.


    ¹ Du bist nicht dein Körper, nicht dein Verstand und nicht deine Emotionen.

    Von Anfang an auf dem richtigen Weg

    1985, Rajneesh School, Großbritannien

    Manchmal dachte ich, ich hätte alles nur geträumt. Ich drückte die Augen ein paar Mal fest zusammen und erwartete, dass die vertraute Tapete meines früheren Kinderzimmers erschien. Oder das gemütliche Gästezimmer im Haus meiner Großeltern, mit blähenden Gardinen und Spatzengezwitscher. Oder unser heimeliges A-Frame-Hüttchen auf der Ranch, das meine Schwester und ich so liebten. Doch nichts davon. Ich lag auf meiner dünnen Matratze in der Zürcher Kommune und befand mich an Tag 13. Noch 13 Tage bis zu unserer drohenden Abreise. Dann würden wir Kinder verschickt werden. Nach England. Ganz alleine. Weil wir die Erwachsenen beim Meditieren störten, hatte Sheela erklärt. Ich hatte mich geschämt und war vor Angst fast erstickt. Die anderen Kinder waren später brüllend durch die Kids Flat gerannt vor Freude und hatten sich gebärdet, als würden wir auf eine Pfadfinderfreizeit fahren. Bis in alle Ewigkeit. Ich konnte es nicht glauben.

    Es war frappierend, wie schnell unser Umzug realisiert wurde, vor allem in Anbetracht dessen, wie lax man kindliche Angelegenheiten in der ‚Commune‘ normalerweise handhabte. Die notwendigen Umstrukturierungen des englischen Sannyas-Anwesens „Medina, das als Standort für die neue „Rajneesh School auserkoren war, begannen bereits im Januar, nur wenige Wochen nach Bekanntgabe. Die dort lebenden Erwachsenen wurden in andere englische oder auch kontinentaleuropäische Kommunen versetzt. Man hörte, dass die meisten von ihnen alles andere als glücklich darüber waren, Medina verlassen zu müssen, das sehr schön gelegen sein musste. Zur gleichen Zeit reisten aus den englischen Kommunen bereits die ersten Kinder an. Die Abreise aus Zürich war für uns Ältere am 14. Februar geplant. Die jüngeren Kids würden einige Wochen später nachkommen. Im gleichen Zeitraum würden diverse weitere Anreisegrüppchen eintreffen, aus verschiedenen deutschen Städten, aus Holland, Italien, Belgien, Frankreich und Portugal.

    Der 14. Februar, die Stunde 0 in meinem persönlichen Lebenskalender, rückte näher und näher. Am Vorabend unserer Übersetzung nach England würden wir nach Freiburg fahren, um zu unseren bereits bekannten Kollegen zu stoßen. Am nächsten Morgen würden wir mit dem Zug nach Ostende reisen, um uns dort auf der Fähre einzuschiffen. In der Freiburger Kommune gab es zwei Kinder, die schon vierzehn waren und die während der Überfahrt nach Großbritannien den Überblick bewahren sollten. Zudem, so hieß es, könne eines der ‚Kids‘, nämlich ich, sogar Englisch, was uns im Fall der Fälle in jedem Fall weiterbringen würde; ich hielt den Mund und hoffte, der Fall der Fälle werde niemals eintreten². Am Zielhafen der Fähre, in Dover, würde uns dann jemand in Empfang nehmen und nach Medina bringen.

    Auf einmal raste die Zeit. Ein letztes Mal Papa besuchen. Ein letztes Mal in den Wald gehen. Ein letztes Mal Schweizer Schokolade essen. Dann war der Tag da. Am Vortag der Abreise hatte ich aus dem vielfältigen Gepäckbestand der Kommune einen riesigen Koffer gewählt, den ich sogar leer kaum vom Boden heben konnte, doch da es sich um eine Fahrt ohne Wiederkehr handelte, betrachtete ich das erst einmal als nebensächlich. Existentiell war, alles, was ich für meinen weiteren Lebensweg benötigte, irgendwie unterzubringen. Die Auflage an unser Gepäck lautete, dass jedes Kind maximal einen Koffer mitbringen durfte, den es alleine tragen konnte und der maximal ein Spielzeug oder ein Kuscheltier enthielt. Allein das stellte mich vor einen ernsten Konflikt: Ich besaß zwei Kuscheltiere, die unbedingt mitmussten, und zwar einen Hasen aus Echtfell von meiner Mutter sowie einen überdimensionalen Teddybären von meinem Vater. Ebenso unverzichtbar war mein bereits etwas betagter Ghettoblaster, der, nachdem mir der perlmuttbesetzte Wecker von meinem ‚Space‘ weg geklaut worden war, das meiner Meinung nach Wertvollste meines persönlichen Besitzes darstellte.

    Leider sollte ich später feststellen, dass der Stecker der „Anlage" gar nicht in die englischen Anschlüsse passte, doch damit rechnete ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht. Ich bettete also den scheppernden Ghettoblaster, der dummerweise bereits den Großteil des Koffervolumens für sich beanspruchte, zwischen Unterwäsche, Hosen und Pullover sowie den Fellhasen. Dazwischen steckte ich Zahnbürste, Asthmaspray und die Haarbürste mit echten Schweinsborsten, die mir meine Oma damals zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte, denn das Haar ist der Schmuck der Frau und verlangt nach täglich hundert Qualitätsbürstenstrichen. Zudem hatte mir meine Mutter ein kleines Fotoalbum in Postkartenformat besorgt, das nun jeweils Bilder meiner Eltern, meiner Großeltern, ein Bild von einer verschneiten Berghütte, ein Strand-foto unserer Familie von früher, eines von meinem Ranch-Lieblingspferd Topper und mir, eines meiner heimgekehrten Katze Mischa sowie eines meiner Lärche in unserem alten Garten enthielt. Den überdimensionalen Bären plante ich notgedrungen während der Reise im Arm zu tragen.

    „Nur eis Spielzüg, Leela", wiesen mich die anderen packenden Kids zurecht, doch ich vertraute darauf, dass sich die amtsinhabende Kids Mama die Mühe ersparen würde, die Koffer zu filzen. Und so war es auch.

    „Säg Leela, chasch nit än chlinere Teddy mitnä?",³ sagte sie nur. Sie blickte auf meinen Riesenkoffer und muffelte etwas, doch konnte sie nicht abstreiten, dass ich mit nur einem Gepäckstück und einem Teddy der Auflage entsprach. Und alles andere war ja letzten Endes nicht ihr Bier.

    An einen Abschied von meiner Mutter erinnere ich mich nicht, doch muss es wohl einen gegeben haben. Meine Schwester blieb vorläufig zurück, sie würde als eines der jüngeren Kinder erst in der nächsten Etappe anreisen. Unsere Kids Mama begleitete uns im Kommunen-Bus zum Zürcher Bahnhof und umarmte uns der Reihe nach. Es war kalt, wir bildeten Atemwolken, und es roch nach der vertrauten Bahnhofsmischung aus Backwaren für die Reisenden und Bremsschmiere. Schon trat der Schaffner mit seiner Kelle an die Lok.

    Er pfiff und rief: „Iistiige!"

    Die Eisenbahn puffte und quietschte. Aus ihrer Tasche zog die Kids Mama ein Bündel Reisepässe, die sie hastig verteilte. Danach schob sie die Letzten von uns durch die Zugtüre, die schon kurz vor dem Schließen war. „Ganz vil Spaß zäme! Das wird sicher total lässig."

    In unserem Abteil drückten wir die Fenster herunter und winkten ihr zu, bis sie nicht mehr zu sehen war. Sobald der Zug aus dem Bahnhof rollte, machten sich die anderen über den Proviant her und belustigten sich an den ungewohnten spießbürgerlichen Namen und Fotos in ihren Ausweisen. Ich selbst verkroch mich in den Sitz und heulte hemmungslos.

    „Jetzt chum, Leela, trösteten mich die anderen und wiederholten: „Das wird doch lässig.

    Später holte ich meinen Walkman heraus, um mich von meinem Kummer etwas abzulenken.

    Gegen Abend kamen wir in Freiburg an. Die dortige Kids Mama erwartete uns bereits am Perron. In einem Kleinbus wurden wir „nachhause" gebracht. Die Freiburger Kids freuten sich und bauten gerade ein Matratzenlager für uns in ihren Zimmern. Danach fuhren wir alle ins Freiburger ‚Center‘ zum Abendessen, wo an diesem Abend zufällig ein großes Fest mit Disco stattfand. Es liefen viele meiner Lieblingslieder, doch ich fühlte mich wie betäubt. Ich war todmüde und wünschte, wir könnten endlich ins Bett gehen.

    Später in der Nacht wiederum schlief kaum jemand, die einen, weil sie vor Aufregung die ganze Nacht herumkasperten, die anderen, zu denen ich gehörte, weil der Lärm der ersteren bei aller Erschöpfung keinen Schlaf zuließ. In der Früh wurden wir wieder zum Bahnhof geschafft, die Freiburger Kids Mama winkte freudig. Nun tuckerten wir in Richtung Belgien. Ich war zum Sterben müde und nickte immer wieder ein. Wenn ich aufwachte, dachte ich einen Moment, wir führen nach Bern zu unserem Vater und ich hätte vielleicht die Station verpasst, doch dann fiel mir alles wieder ein.

    Irgendwann stiegen wir um in einen Bus, der uns zum Hafen brachte. Die ganze Reise über keuchte ich als Letzte der Meute hinterher, ächzend unter der Last meines Koffers, den ich die meiste Zeit den Boden entlang schleifte, hoffend, er würde der unsachgemäßen Belastung zumindest so lange standhalten, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Ich bereute, mein Asthma-Spray nicht genommen zu haben, doch mangels Privatsphäre und aus Sorge, den Koffer nicht mehr schließen zu können, hatte ich es ausfallen lassen.

    „He, wartet doch ämal uf mich!" rief ich ein paarmal, doch auch für die anderen war es wichtig, möglichst weit vorne mit dabei zu sein.

    „Mach halt ämal schnäller, Leela", scholl es zurück, bis gar keine Antwort mehr kam.

    In Ostende mobilisierte ich in aufkeimender Panik davor, das Schiff zu verpassen, meine letzten Kräfte. Kaum war ich an Bord, legten wir auch schon ab. Während der Überfahrt wurde es stürmisch. Himmel und Wasser gingen in dräuendem Grau ineinander über, der Regen peitschte gegen die Fenster, es schaukelte wild. Da die Fähre sehr voll war, ergatterten nur einige von uns Sitzplätze auf einer abgewetzten, ehemals wohl weiß gestrichenen Holzbank unter Deck. Wir anderen legten uns mit unseren Koffern auf den harten Boden unter die Bänke, wo man sich zumindest ausstrecken konnte.

    Auch in dieser Nacht sollte ich kaum Schlaf finden. Der Kahn pflügte durch die Wellen und hob einem alle paar Sekunden den Magen an. Innerhalb kürzester Zeit war mir speiübel. Ich konzentrierte mich darauf, möglichst nicht zu kotzen, um meinen Platz nicht verlassen zu müssen, da ich fürchtete, hinterher nicht mehr zurückzufinden. Trotzdem stand ich irgendwann auf, weil ich aufs Klo musste. Auf dem Rückweg kaufte ich mir von dem Taschengeld, das mir Papi bei unserem letzten Besuch gegeben hatte, eine kleine Cola. Eigentlich hatte ich nie Probleme gehabt, zu teilen, doch mit allem, was von meinem Vater kam, war ich geizig; ich hob das Fläschchen daher noch am Kiosk an die Lippen und spuckte zu aller Sicherheit auch noch hinein, damit es auch wirklich ‚contaminated‘⁴ genug war, um selbst noch den laxesten Kids den Wunsch nach einem Schluck daraus zu vergällen.

    Nun war es Nacht. Salzige Gischt hing in der Luft, ein eisiger Wind zog durch die Ritzen. Selbst unter Deck war es kalt. Ich fror wie ein Schneider. Immerhin hatte sich dank der Cola mein Magen etwas beruhigt. Ich kroch wieder auf mein Lager unter der Bank, das wie durch ein Wunder noch frei war. Zwischendurch dämmerte ich etwas weg, doch geisterte die ganze Zeit das heulende Brummen des Motors durch meine Träume. Irgendwann im Morgengrauen erreichten wir die Küste Großbritanniens. Hier war es genauso grau wie in Belgien, nur dass sich die See inzwischen beruhigt hatte. Im Strom der anderen Passagiere ließen wir uns durch den Zoll schwemmen. Meinen Riesenteddy im Arm und den Pass in der Hand schleifte ich meinen Koffer am Schalter vorbei, immer darauf bedacht, nur ja den Anschluss nicht zu verpassen. Wie ich mir verbissen eingestehen musste, hatten die anderen mit ihren Umhängereisetaschen offensichtlich die klügere Wahl getroffen.

    In der Menge der Wartenden hielten wir Ausschau nach einem Rotgekleideten mit Mala. Wir entdeckten ihn im gleichen Moment wie er uns – als Gruppe roter Kinder waren wir kaum zu übersehen. Er winkte und lachte. Dieser Typ war offensichtlich unser Mann. Mit irgendwelchen unverständlichen Worten kam er auf uns zu und nahm mir den Koffer ab, wofür ich ihm um den Hals hätte fallen können. Der Swami wirkte sehr entspannt und hatte freundliche braune Augen. Gemessenen Schrittes geleitete er uns zu dem üblichen Kleinbus. Auf der Fahrt erklärte er uns irgendetwas, das jedoch keiner von uns verstand, außer London. Offenbar fuhren wir nach London, das war die Hauptstadt von England, wo die Queen wohnt. Aber nach London? Warum? Für was? Wieso fuhren wir nicht nach Medina? London jetzt, für immer? Jedenfalls kurvte der Mann stundenlang mit uns durch die Gegend. Irgendwann kamen wir in eine Stadt, in der es überall gleich aussah. Ich erwartete, dass wir, da wir nun offensichtlich in London waren, bald unser Ziel erreicht hätten, doch der Swami fuhr noch eine ganze Stunde immer weiter und weiter. Mir knurrte der Magen und ich hoffte, dass wir an unserem Ziel endlich etwas zwischen die Kiemen bekämen.

    Irgendwo in den Häuserfluchten – ich dachte schon, wir kämen nie an – hielten wir. Der Swami stieg aus und stapelte gemächlich unser Gepäck vor einem unscheinbaren Häuserblock. Dann drückte er auf eine Klingel und begann, sich in aller Seelenruhe eine Zigarette zu drehen. Wie er da an der Wand lehnte, einen Fuß hinter den anderen gesetzt, den Blick im Tabak, erinnerte er stark an Lucky Luke. Ein Schatten wie von einer Hutkrempe lag auf seinem Gesicht. Rauch stieg neben seinem Kopf auf und erinnerte mich an etwas aus längst vergangener Zeit. Nach einer Weile murmelte er zu sich selbst und drückte ein weiteres Mal auf den Klingelknopf, dieses Mal lang anhaltend. Das Haus wirkte schwer, verschlossen und unbelebt. Doch tatsächlich wurde bald darauf im Fenster über der massiven Haustür ein Licht entzündet. Einen Augenblick später öffnete sich die dunkle Tür und eine lachende Ma erschien im nun freundlich erleuchteten Rahmen. Sie winkte uns herein und umarmte alle. Fröhlich plappernd schien sie sich über unseren Besuch richtiggehend zu freuen. Dann half uns die Ma, das Gepäck nach oben zu schleppen. Dort sah es vertraut aus: Ein paar zusammengewürfelte, bodennahe Sitzgelegenheiten, warme Beleuchtung und an jeder zweiten Wand ein Bhagwan-Bild. Aus einem Nebenraum drang sanfte Musik, irgendwo brannten Räucherstäbchen. Offenbar befanden wir uns in der Londoner Kommune. Dieser Raum war wohl der ‚Living Room‘, jedenfalls zeugten ein wackeliges Bücherregal, eine herumstehende Gitarre und mehrere improvisierte Sofas davon. Darauf lümmelten ein paar Sannyasins, die uns neugierig begrüßten, sofort auf uns einplauderten und dem Ton nach viele Fragen stellten. Als ich das Wort hungry vernahm, nickte ich heftig.

    „Öb mir öppis wänd ässe"⁵, erklärte ich, die vermeintlich Englischsprechende, den anderen, die ermattet in den Sofas hingen. Alle nickten heftig.

    Nun dauerte es nur noch eine halbe Ewigkeit, während derer zwei der Mas in die Küche der Wohnung entschwunden waren. Zurück kamen sie mit einer riesigen Thermoskanne undefinierbaren Kräutertees und einer Platte ungetoasteter Toastbrote, die dick mit Peanutbutter und Orangenmarmelade bestrichen sowie aus unerfindlichen Gründen in dreieckige Stücke geschnitten worden waren. In den folgenden Monaten überlegte ich immer wieder, warum man in diesem Land wohl derart viel Wert darauf legte, die Brote extra in diese Form zu schneiden, während man auf die Qualität von Brot und Belag keinen Fliegenschiss gab. Ich fand es nie heraus. Egal. Hungrig griff ich zu.

    Auf den ersten Bissen schmeckte es nicht schlecht, auch wenn ich Orangenmarmelade wegen ihres bitteren Geschmacks grundsätzlich nicht mochte, die Konsistenz des Brotes stark an aufgeweichte Pappe erinnerte und der Erdnussaufstrich derart hartnäckig am Gaumen klebte, dass man bei dem Versuch, ihn zu entfernen, fast einen Zungenkrampf bekam. Noch wussten wir nicht, dass solcherlei präparierte Brote einen großen Bestandteil unserer Grundverpflegung des kommenden Jahres ausmachen würden. Ausgehungert schaufelten wir das karge Mahl bis an die Grenze des Brechreizes in uns hinein. Vorausschauend klebte ich zum Schluss zudem zwei der durchweichten Brote aneinander und steckte sie, in eine dünne Papierserviette gewickelt, in meine Jackentasche. Wer wusste schon, wann es das nächste Mal etwas geben würde.

    Plaudernd und vor sich hin summend hatten die Mas unterdessen begonnen, Matratzen und Kissen ins Wohnzimmer zu schleppen. Offenbar sollten wir hier schlafen, schloss ich mit wachsender Unruhe aus dem Geschehen. Ich fühlte mich in dieser städtischen, engen Wohnung alles andere als wohl. Dies würde doch wohl hoffentlich nicht unsere Endstation sein? Oder war hier etwa schon Medina?!

    „Bliibed mir jetzt da?", fragte ich die anderen, doch die wussten es natürlich auch nicht.

    Irgendwann später am Abend kamen immer mehr Leute an unsere Lagerstatt und begutachteten uns, freundlich lächelnd, als wären wir fremdartige Tiere. Einer der Freiburger kam schließlich ins Gespräch mit einer Deutschen, die uns erschien wie der Messias: Hier gab es jemanden, der Deutsch sprach! Endlich würde sich aufklären, wie der Hase lief. Nein, hier war nicht Medina, natürlich nicht, ha ha ha! Medina lag doch auf dem Land. Wir würden nur heute hier übernachten, erfuhren wir, und morgen weiterreisen. Heute Abend nämlich fand eine große ‚Celebration‘ im Center statt, die unser Busfahrer dringend besuchen wollte. Ach so, folgerte ich erleichtert, er hatte uns hier quasi nur geparkt. Nein, hier sei nicht das Center, ha ha ha, nur ein Wohnbereich von vielen, das Center liege in einem anderen Stadtteil. Ob wir auch mit zu der Celebration wollten?

    Einige der anderen Kinder wollten tatsächlich. Ich nicht. Nein danke. Ich verkroch mich mit Teddy und Walkman in einen herumliegenden Daunenschlafsack, der neben ein, zwei weiteren seiner Art den Hauptgewinn im herangeschafften Haufen alter, muffiger Wolldecken ausmachte. Keinesfalls wollte ich riskieren, dass mir den einer streitig machte und dachte daher gar nicht daran, ihn vor Tagesanbruch wieder zu verlassen. Wenigstens kalt war mir in dieser Nacht nicht. Ich fiel in einen traumlosen Schlaf.

    Im Laufe des nächsten Vormittags, während des Frühstücks, das dem Abendessen eins zu eins entsprach, tauchte unser Busfahrer wieder auf. Sein seliges Lächeln ließ darauf schließen, dass die Celebration seinen Erwartungen voll entsprochen und er Gelegenheit zu reichlich ‚Energy-Austausch‘ erhalten hatte.

    „Good morning, you guys!" begrüßte er uns bester Laune, den einen oder anderen freundschaftlich knuffend. Er setzte sich und verleibte sich beherzt ein paar der selbst für Brot bemerkenswert leblosen Dreiecke

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1