Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Alexander Schalck-Golodkowski: Pragmatiker zwischen den Fronten
Alexander Schalck-Golodkowski: Pragmatiker zwischen den Fronten
Alexander Schalck-Golodkowski: Pragmatiker zwischen den Fronten
eBook431 Seiten5 Stunden

Alexander Schalck-Golodkowski: Pragmatiker zwischen den Fronten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Alexander Schalck-Golodkowski war Genosse, Außenhändler, Staatssekretär und Offizier im besonderen Einsatz der DDR-Staatssicherheit. Seine Abteilung Kommerzielle Koordinierung im ehemaligen SED-Regime erwirtschaftete Milliarden, mit zweifelhaften Methoden und mäßigem Erfolg.

Als "Fanatiker der Verschwiegenheit" (DER SPIEGEL) machte er Schlagzeilen. Honeckers oberster Devisenbeschaffer geriet vom "Retter zum Sündenbock" (DIE ZEIT), und die "Schalck-Connection" (DER STERN) kannte zahlreiche ranghohe Politiker und Wirtschaftsbosse aus dem Westen. Was er tat, tat er heimlich. Legenden und Phänomene ranken sich so bis heute um einen Mann, der als aufrechter Sozialist jenseits der Mauer zum Kapitaljäger mutierte. Die, die ihm dabei halfen, schweigen gleichfalls. Aus guten Gründen.

Schalck war und bleibt eine der schillerndsten Figuren der deutschen Vereinigungsgeschichte. Vor allem aber ist Schalck "(...) das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz. In seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Roheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolgsanbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit." (Kurt Tucholsky)
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Feb. 2015
ISBN9783737529952
Alexander Schalck-Golodkowski: Pragmatiker zwischen den Fronten

Mehr von Matthias Rathmer lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Alexander Schalck-Golodkowski

Ähnliche E-Books

Biografien – Politik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Alexander Schalck-Golodkowski

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Alexander Schalck-Golodkowski - Matthias Rathmer

    Matthias Rathmer

    Dr. Alexander Schalck-Golodkowski

    Pragmatiker zwischen den Fronten

    Eine politische Biographie

    Alexander Schalck-Golokowski

    Matthias Rathmer

    Erstausgabe Münster 1995, DNB 948745975

    Copyright: © 2015 Matthias Rathmer

    Titelbild: nnb, alle Rechte gewährt

    Published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-7375-2995-2

    Der größte Feind der Wahrheit ist oft nicht die Lüge, die bewusst ausgeheckte Unredlichkeit, sondern eine Wirklichkeitsblindheit, zu der beharrlich überredet wird.

    John F. Kennedy

    Romane des Autors erhältlich unter

    www.epubli.de/shop/autor/Matthias-Rathmer/4671

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort 7

    Einleitung 11

    1. Der Sozialist – Aufstieg zum Parteifunktionär 18

    Entwicklung in Kindheit und Jugend 18

    Weichenstellungen und Freundschaften 25

    Herausforderung Außenhandel 29

    Genosse und Tschekist 39

    2. Der Außenhändler – Devisen um jeden Preis 44

    Vom Parteifunktionär zum KoKo-Manager 44

    Subsystem – KoKo als kapitalistische Keimzelle 56

    Sonderstatus – außerplanmäßige Devisengeschäfte 62

    Innerdeutscher Handel – Deutsche unter sich 71

    3. Der Staatsdiener – Macht und Ohnmacht 81

    Staatsauftrag und Staatsräson 81

    Systemgarant durch sozialistische Privilegienkultur 85

    Defizite – KoKos volkswirtschaftliche Bedeutung 92

    4. Der Offizier im besonderen Einsatz 103

    Geheime Ost-West-Geschäfte – der Embargohandel 103

    Waffen- und Geheimdienstgeschäfte 127

    5. Der Staatssekretär – Unterhändler auf informeller Ebene 138

    Mandat als Teil einer neuen Ostpolitik 139

    Der Milliardenkredit 150 Auf dem Weg zur Vereinigung 165

    6. Der Aussteiger – Legenden und Phänomene 174

    Flucht in den Westen 174

    Wendemanöver – Ausverkauf und Ermittlungen 190

    Dissens – politische Verantwortung und juristische Relevanz 199

    7. Der Pragmatiker – Rollenwahl und Persönlichkeit 211

    Der sozialistische Kapitalist 211 Persönlichkeitsmerkmale 216

    Anhang 227

    Zitate/Anmerkungen 228

    Abkürzungsverzeichnis 248

    Quellen und Literatur 251

    Vorwort

    Als mit dem Mai 1995 diese politische Biographie in den Bibliotheken und Seminaren deutscher Universitäten zu lesen war, erreichte mich nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung das Schreiben einer angesehenen Anwaltskanzlei aus Süddeutschland. Mir war eine Unterlassungsverpflichtungserklärung zugestellt worden. Mit der Auflage, im Falle der Nichtbeachtung eine Millionenzahlung als Entschädigung zahlen zu müssen, sollte ich fortan nicht mehr behaupten dürfen, dass ein bestimmter, in dieser Darstellung angeführter, japanischer Konzern im Handel mit der DDR willentlich Embargovorschriften gebrochen hatte. Arg verwundert tat ich, wie ich noch heute tue, wenn mich Frechheiten wie diese belästigen. Ich kritzelte „Empfänger unbekannt verzogen" auf den Umschlag und gab den Brief zurück in die Post.

    Ein paar Monate später meldete sich ein angeblicher Journalist aus Bonn bei mir. Gegen eine Schutzgebühr von fünftausend Mark wollte er mein Exemplar des alternativen Berichts der Fraktion Bündnis90/Die Grünen zum Schalck-Untersuchungsausschuss erwerben. Den hatten Mitglieder der Partei als Antwort auf den offiziellen Abschlussbericht verfasst. Weil sie in diesem Dokument vor allem Aktenmaterial verwendet hatten, dass von den zuständigen Behörden als „streng geheim" deklariert worden war, hatte Rita Süssmuth in ihrer Eigenschaft als Bundestagspräsidentin alle bis dato veröffentlichen Exemplare wieder einsammeln lassen.

    Dann und wann wurden in der Folge ein paar Wissenschaftler verschiedener Fakultäten vorstellig und drängten gleichfalls nach einer Kopie dieses Berichts. Andere Anfragen und Bemerkungen wurden mir, sie beinhalteten sowohl Lob wie auch Tadel für das Werk, über die zugestellt, die den Druck der Arbeit finanziert hatten. Zum Dank hatte ich eine kleine Widmung notiert. Mitunter gibt es bis zum heutigen Tag Rückmeldungen auf das Werk von einst, dann nämlich, wenn mein Name gegoogelt worden ist, und Wikipedia seine Darstellung über Alexander Schalck-Golodkowski öffnet, in der neben anderen Untersuchungen auch diese politische Biographie erwähnt wird. Als sei die Erwähnung eine Art Krönung für wissenschaftliche Arbeiten, wird von vielen wie selbstverständlich angenommen, dass auf dieser Plattform wie auch in den angeführten Werken unverrückbar Wahrheit geschrieben steht. Mit der Wahrheit und ihrer Findung über den Hauptakteur und seiner Begleiter aber ist es gerade in diesem Fall erst recht so eine Sache. Immer noch.

    Alexander Schalck-Golodkowski war in der DDR Genosse, Außenhändler, Staatssekretär und Offizier im besonderen Einsatz der Staatssicherheit. Seine Abteilung Kommerzielle Koordinierung im ehemaligen SED-Regime erwirtschaftete Milliarden, mit zweifelhaften Methoden und mäßigem Erfolg. Als „Fanatiker der Verschwiegenheit machte er Schlagzeilen. Honeckers oberster Devisenbeschaffer geriet vom „Retter zum Sündenbock, und die „Schalck-Connection" kannte zahlreiche ranghohe Politiker und Wirtschaftsbosse aus dem Westen. Was er tat, tat er heimlich. Legenden und Phänomene ranken sich so bis heute um einen Mann, der als aufrechter Sozialist jenseits der Mauer zum Kapitaljäger mutierte. Die, die ihm dabei halfen, schweigen gleichfalls beharrlich. Aus guten Gründen.

    Ross und Reiter zu nennen, die Verantwortlichen und deren Motive im Wirtschaftsgeflecht zwischen Ost- und Westdeutschland vor dem Hintergrund des einzigartigen Umfelds der deutschen Teilung zu demaskieren, war bereits damals ein zentrales Anliegen der Darstellung. Zwanzig Jahre nach ihrer Veröffentlichung bleiben zwingende Fragen immer noch unbeantwortet, sind wesentliche Kapitel deutscher Vereinigungsgeschichte immer noch nicht geschrieben, ist die Wahrheit immer noch nicht heraus.

    „Hallo, Herr Schäuble! drängt es mich mitunter, wenn ich verfolge, wie eifrig unser Finanzminister um eine europäische Einheit kämpft und dabei unaufhörlich eine Sparpolitik von allen Mitgliedsstaaten fordert, die einige, gerade im Süden des Kontinents, schon vor ihrem Beitritt zu leisten nicht in der Lage waren. „Wollen wir uns nicht doch noch einmal über Schalck und Ihre Beiträge im Filz und Sumpf um diesen Mann unterhalten? Über Ihre Vergesslichkeiten? Über Ihre Mitwirkung und Verantwortung als Kanzleramtsminister? Oder über den Ausverkauf der DDR? Nein. Wollen wir nicht, höre ich ihn harsch sagen und verstehe nur allzu gut, dass zu schweigen das Beste ist, was gerade er dazu sagen kann. Erinnern und erzählen sind seine Sache nicht.

    Auch nicht, wenn es um Günther Krause geht, einem Wendehals aus der eigenen Partei, einem jener widerlichen Emporkömmlinge wirrer politischer Zeiten. Erinnern wir uns. Krause war parlamentarischer Staatssekretär des letzten Ministerpräsidenten der DDR. Zusammen mit Wolfgang Schäuble unterschrieb ausgerechnet er 1990 den deutsch-deutschen Einigungsvertrag, er, ein Mann, der zweifelhafter kaum sein konnte. Zweieinhalb Jahre später trat Krause als Verkehrsminister zurück. Die Affäre um den Verkauf der ostdeutschen Autobahnraststätten und die „Putzfrauenaffäre entzauberten ihn als eher einen um den eigenen Vorteil bemühten Ostdeutschen denn als integren Demokraten und machten ihn als Politiker unglaubwürdig. Wegen Untreue, Betrug und Steuerhinterziehung aufgrund von Bankrottdelikten und Insolvenzverschleppung wurde einer der beiden „Väter des Einheitsvertrages schließlich, als er sich, ohne alte Seilschaften bestens vernetzt, der Marktwirtschaft zu stellen versucht hatte, zusätzlich in den folgenden Jahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. „Ach, wie schade! Über Herrn Krause wollen Sie auch nicht mehr reden, Herr Schäuble! Wie wäre es dann mit Herrn Rohwedder oder Frau Breuel, den ehemaligen Präsidenten der Treuhandanstalt, Sie wissen schon, die, die den letzten Rest an Vermögen verschleudert haben, das, was von der DDR noch übrig war, als all die Schalcks und Krauses mit ihr fertig waren."

    Sicher. Am Ende, seit mehr als fünfundzwanzig Jahren, stand und steht das einmalige Geschenk der Einheit, mit allem, was sie wem auch immer wie gebracht hat. Die vielen Milliarden, die in einer Art Raubrittermanier verloren gingen, als dem politischen Untergang der DDR der totale Ausverkauf folgte, störten damals schon niemanden wirklich. Eine reiche Nation kann eben auch reichlich Verluste verkraften, und was Kriminologen White Collar Crime nennen, besitzt für viele Politiker die Qualität, das Machbare zu erreichen. Gehörig mehr wiegt da schon der Verlust von Glaubwürdigkeit. So stehen all die Schäubles, Schalcks und Krauses nach wie vor eben auch für eine Kultur bewusst unterlassener Vergangenheitsbewältigung.

    Zweifelsfrei. Schalck hat politischen Schutz genossen, und er genießt ihn noch heute. Wenn eines Tages die Archive des Bundesnachrichtendiensts und des Kanzleramts Einblick gewähren, nur dann können die fehlenden Kapitel einer genauso einzigartigen Vereinigungskriminalität geschrieben werden. Auslandsgeheimdienst und die Ämter für Verfassungsschutz wollen den Offizier der Staatssicherheit vor dem Zusammenbruch des Honecker-Regimes nicht begleitet haben. Wenn das zutreffen sollte, haben sie in einer Qualität versagt, die an Dilettantismus nie mehr zu überbieten wäre und postum jedem beteiligten Stasi-Offizier einen dicken Orden samt großzügiger Rente einbringen müsste.

    „Keine Sorge, Herr Schäuble! Wir kennen sie alle. Wir haben das alles im Griff. Sie machen nur Geschäfte. Krumme zwar. Aber denen steht das Wasser bis zum Hals. Müssen wir eben auch mal beide Augen zukneifen." Nur so oder ähnlich blind werden alle Kanzleramtsminister und Koordinatoren in gleichem Amt gewesen sein, eingestielt durch die Regierung Schmidt und schließlich vollendet durch die Regierung Kohl. Für die Einheit Deutschlands haben die Deutschen schon viel, viel früher kräftig bezahlt. Und zwar alle.

    Man mag anführen, dass mittlerweile offiziell alle rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahren gegen Schalck abgeschlossen sind. Fünf Wochen saß er nach seiner Flucht in den Westen in der Moabiter JVA ein, freiwillig. Zwei Verurteilungen brachten ihm Haftstrafen von insgesamt etwas mehr als zwei Jahren ein, die aber zur Bewährung ausgesetzt worden sind. In seinen Memoiren „Deutsch-deutsche Erinnerungen, die im Jahr 2000 veröffentlicht wurden, besticht der „Mann, der die DDR retten wollte, auf bewährte Weise. Zu wichtigen Ereignissen schweigt er nach wie vor beharrlich, zu vielen anderen Vorwürfen entwickelt er in Teilen Schutzbehauptungen, in wieder anderen Bewertungen wird er bekannt peinlich. Anlässlich seines 80. Geburtstags 2012 würdigten ihn zwei Autoren in einer Darstellung des Verlags „Edition Ost" gleichfalls in unverbesserlicher Art. Die Generation der alten Stasi- und Parteiseilschaften kann einfach nicht anders. Wer einst derart stramm stand und wie Schalck denen hinterher lief, die eine politische Überzeugung wesentlich mit Unrecht, Lug und Betrug zu realisieren versuchte, ist Zeit seines Lebens von seiner verzerrten Wahrnehmung der Realitäten unheilbar verblendet. Der große Bruder, der mit dem vielen Geld in der Tasche, hatte nichts anderes gewollt.

    Bis auf dieses Vorwort und kleinere Korrekturen, die der Formatierung und neuerer Software geschuldet waren, ist diese politische Biographie unverändert geblieben. Sie entstand 1995. Damals schon bestimmten die Erstellung wesentliche Fragen übergeordneter Art. Warum fehlt wieder einmal eine politische Kultur, wahrhaftig die eigene Geschichte erzählen zu können? Warum all dieses Schweigen, all die Verblendung und all die Lügen? „Wo soll das bloß alles enden?" fragte mich ein Begleiter dieser Darstellung nach der ersten Lektüre.

    Schalck ist heute ein alter, kranker Mann, der noch immer in Rottach-Egern lebt. Auf dem Friedhof des Ortes liegt Franz Josef Strauß begraben, einer der Männer, der Schalck in den Wirren des Untergangs der Ostrepublik geschützt und geholfen hatte. So wird zumindest eine der Fragen beantwortet. Ein schwer gewichtiger Teil deutscher Vereinigungsgeschichte endet im Grab. Dort, wo alles endet.

    Kairo, im Februar 2015

    Matthias Rathmer

    Einleitung

    Der Auftritt ist gelungen, und das Gelächter im Sitzungssaal verhallt nur langsam. Gerade hat Dr. Alexander Schalck-Golodkowski im besten Berlinerisch einen Frontalangriff auf parlamentarischen Dilettantismus erfolgreich abgeschlossen. „Sie bestimmen die Fragen, und ich bestimme die Antworten. 1 Die Cleverness dieses Mannes ist beeindruckend. Während der Vorsitzende Mühe hat, die Ernsthaftigkeit dieser Veranstaltung aufrecht zu erhalten, sitzt Schalck mit seiner fast zwei Meter hohen Gestalt und großem, rundem Gesicht gelöst an einem Tisch. Er wirkt gepflegt. Der Anzug ist maßgeschneidert. Entgegen einiger Darstellungen scheint er körperlich gesund. Mehrere überregionale Zeitungen titelten zuvor, ihn plage die Gicht. Da präsentiert er sich also nun, einer der angeblich größten Wirtschaftsverbrecher deutscher Geschichte, der Oberbösewicht. Sein Anwalt begleitet ihn, obwohl Schalck gewandt genug ist und diesen nicht wirklich braucht. Die Rückkopplungsgeräusche der Mikrofonanlage pfeifen erneut durch den Raum, und der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses wartet auf eine Antwort Schalcks. Der nimmt die Brille ab und wendet sich zur Seite. Erneut in bestem Berlinerisch gibt er zurück: „Ihre Fragen klingen interessant. Gibt es auch Beweise? 2 Wieder lachen alle Anwesenden. Dr. Alexander Schalck-Golodkowski hat während seines ersten Auftritts vor den nach Aufklärung bemühten Bonner Parlamentariern im September 1991 alles fest im Griff. Gut beraten schweigt er über sein Wirken und über die, die einst mit ihm waren.

    Schalck-Golodkowski zählt sicher zu den schillerndsten Figuren der Zeitgeschichte. Nachdem im Dezember 1989 und in den darauf folgenden Monaten mehr und mehr von seiner Mission bekannt geworden war, wucherten beispiellos eine Fülle von Legenden und Halbwahrheiten über den ehemaligen Außenhändler der DDR. Für viele war er ein gerissener Gauner des ostdeutschen Regimes. Andere bezeugten ihm aufrichtiges Engagement in seinem Bemühen um eine effiziente Devisenerwirtschaftung außerhalb des Staatsplans. Für andere wiederum gehört er zu den Verantwortlichen sozialistischer Misswirtschaft wie z.B. Günter Mittag und Gerhard Schürer. Für jene, die mit ihm Geschäfte machten, war er ein ungewöhnlich dynamischer Pragmatiker, der das ökonomische Lenkungssystem des real existierenden Sozialismus mit kapitalistischen Methoden überwand. Als Unterhändler in deutsch-deutschen Verhandlungsgesprächen war er schließlich Ansprechpartner westdeutscher Politik. Fast immer aber wurden bislang sein Stellenwert und sein Einfluss innerhalb des politischen Machtapparates der DDR überschätzt. Allenfalls der Aufschub des Untergangs der DDR war ihm gelungen.

    Mit rechtsstaatlichen Mitteln scheint der ehemalige Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo), MfS-Offizier im besonderen Einsatz und Staatssekretär nicht zu fassen zu sein. Zwar muss sich der einstige Devisenbeschaffer der DDR im September 1995 vor dem Berliner Landgericht wegen der illegalen Einfuhr von Waffen und Militärgütern verantworten, doch eine Verurteilung ist fraglich. 3 Schalck soll, so die Ermittler, zwischen 1987 und 1989 insgesamt 102 Pistolen, Flinten und Gewehre für 330.000 US-Dollar sowie 246 Nachtsichtgeräte im Wert von 2,8 Millionen Mark aus der Bundesrepublik in die DDR eingeführt haben. Die rechtliche Konstruktion der Berliner Staatsanwaltschaft scheint jedoch grundsätzlich zweifelhaft, da selbst das diese Importe verbietende Militärregierungsgesetz Nr. 53 der Alliierten in seiner Gültigkeit vom Rechtsbeistand Schalcks angezweifelt wird. Gegen Alexander Schalck liegen bis heute drei weitere Anklagen vor, wegen der Sonderversorgung der SED-Prominentensiedlung Wandlitz, wegen Steuerhinterziehung und wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz.

    „Was ich gemacht habe, hätte auch ein anderer machen können. Ich hatte das Glück, dass ich ausgesucht wurde. 4 Mit Dr. Alexander Schalck-Golodkowski (nachfolgend der Einfachheit wegen Schalck genannt) trat in den Wirren der Wiedervereinigung eine Figur ins deutsch-deutsche Rampenlicht, die widersprüchlicher kaum sein konnte. Die von ihm immer wieder geäußerten Erklärungen, nicht ohne einen gewissen Hauch von schicksalhaftem Pathos vorgetragen, glauben viele nicht. Seit November 1989 sammelte Schalck Superlative wie andere seltene Briefmarken. Da war die Rede vom „obersten Devisenbeschaffer der DDR 5, vom „mächtigsten Mann Ost-Berlins 6 und „von einem der besten Spione der HVA 7. Andere wiederum nannten ihn den „Totengräber der DDR 8, und für wieder andere war er nach AI Capone der „größte Kriminelle des Jahrhunderts 9.

    Die Gründe, warum Schalck mit derlei ungleichen Titeln bedacht wurde, liegen vor allem in zwei seiner Tätigkeitsfelder begründet. Schalck war ein Offizier im besonderen Einsatz des Ministeriums der Staatssicherheit (MfS) der DDR, ihn umgab ein einzigartiges nachrichtendienstliches Fluidum. Schalck arbeitete hochgradig konspirativ, abgedeckt und geschützt durch das MfS-Schmuckstück, die Hauptabteilung Aufklärung (HVA). Arbeits- und Funktionsweisen der HVA zwangen zur eisernen Verschwiegenheit, zu einer eigenartigen Mischung aus sozialistischem Gehorsam und gewitzt geschäftlicher Agilität. Waren die deutsch- deutschen Beziehungen Zeit ihres Bestehens ohnehin schon von Zwielichtigkeit und Sensibilität geprägt, so zeigten die Enthüllungen um den „Meisterjongleur von Milliardenbeträgen 10 eine völlig neue politische Kultur der Ost-West-Beziehungen. Mit der Devisenerwirtschaftung Schalcks verbanden HVA und SED-Führung eine umfangreiche wirtschaftliche Kooperation mit dem „Klassenfeind im Westen, der seinerseits nichts unversucht ließ, das diktatorische System Honeckers zu schwächen. Hinter den Kulissen jahrzehntelang inszenierter deutschlandpolitischer Aufführungen der Regierungschefs standen die eigentlichen Hauptakteure: Staatssekretäre, Unterhändler, Agenten, Verfassungsschützer, die Creme bundesdeutscher Unternehmen und Politiker jeglicher Gesinnung. Ihre Ziele: das Machbare zu erreichen und dafür so wenig wie möglich zu zahlen. Genau in diesem Dunstkreis wirkte Schalck. Diskretion ist noch heute sein oberstes Gebot. „Ein kluger Mann hat mir geraten: Verkaufe nicht Dein Wissen gegen Geld, und haue die Politiker der BRD nicht in die Pfanne." 11

    1966 machte sich Schalck daran, zusammen mit dem MfS die Grundsteine für den Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) zu legen. Langsam, Schritt für Schritt, wurde die Abteilung aus allen politischen Zuständigkeiten herausgelöst und stattdessen in die Strukturen und Hierarchien des MfS eingebunden und abgesichert. Dabei war KoKo alles andere als ein kapitalistisches Wirtschaftssystem innerhalb der sozialistischen Planwirtschaft. Der Pragmatiker Schalck war in erster Linie ein typischer Parteisoldat und sein anfänglicher Auftrag bestand allein darin, Devisen für die SED zu erwirtschaften, außerplanmäßig. Erst später, von Jahr zu Jahr stärker, wurde KoKo auch damit beauftragt, Devisenlöcher der Volkswirtschaft zu stopfen, High-Tech-Produkte fernab jeglicher Embargobestimmungen zu beschaffen und zum Ende alles in begehrte Valuta umzusetzen, was der Staat noch hergab. „Die Delikatesse war, dass immer Geld fehlte. (...) Die Masse der Kredite scheiterte wegen fehlender Devisen. Also wich man auf uns aus. Da liegt das Geheimnisvolle unseres Bereiches."12

    Es ist, wie es ist und kaum zu glauben. Dr. Alexander Schalck-Golodkowski lebt heute, im Mai 1995, seit nunmehr über fünf Jahren mit Ehefrau Sigrid nahezu unbehelligt am bayerischen Tegernsee. Vorbei sind die Zeiten, als sich der Beschuldigte selbst in die Öffentlichkeit begab, vor Parlamentariern, Ermittlungsbeamten und einem Millionenpublikum stets seine Unschuld beteuerte, die ihm zwar so recht keiner abnehmen wollte, sich aber auch niemand fand, der diese zweifelsfrei zu widerlegen vermochte. Und erst recht vorbei sind jene Zeiten, als sich die bundesdeutschen Kommentargazetten buchstäblich von allein füllten, weil sein sagenumwobenes Wirken förmlich danach verlangte, ein deutsches Märchen in Serienform zu erzählen. Es ist, wie es ist und kaum zu glauben. Die Deutschen, getrennt wie vereint, entlasten sich wieder einmal gegenseitig. Schon wieder droht die Aufarbeitung ihrer jüngsten Geschichte in Archive verbannt zu werden. Die Politiker beruhigen die Öffentlichkeit mit einem Schalck-Untersuchungsausschuss, der schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt war, weil diesmal alle Parteiinteressen schonungslos hätten aufgedeckt werden müssen, politische Kultur aber darin bestand, den Widersacher in Ruhe zu lassen, um selbst nicht attackiert zu werden.

    Es ist, wie es ist und kaum zu glauben. Selbst über fünf Jahre nach dem Mauerfall sind Regierung und staatliche Institutionen nicht bereit, ihr umfangreiches Wissen über die deutsch-deutsche Wirklichkeit preiszugeben, ihre Panzerschränke zu öffnen und ihre Computerdateien herauszugeben. Was man an wichtigen Dokumenten finden würde, wäre in erster Linie der Wahrheitsfindung dienlich, mit der sich alle ermittelnden Behörden bislang so schwer getan haben. Gewiss sind die „humanitären Bemühungen der Bonner Regierungen nicht pauschal zu verurteilen, immerhin lösten sie die drückenden Probleme vieler tausender Menschen. Andererseits aber entwickelten sich die „Pro-Kopf-Zahlungen der BRD für die Häftlinge und Familienzusammenführungen zu einträglichen Devisenquellen für die DDR. Dass die bundesrepublikanische Seite damit auch eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Ost-Berliner Regime zugunsten eines angenehmeren Verhandlungsklimas und innenpolitischen Prestigegewinns vernachlässigte, war mehr der westdeutschen Strategie gezollt, Ostdeutschland ökonomisch „aufzuweichen" und langfristig zu destabilisieren. Genau dazu bedurfte es einen Unterhändler wie Alexander Schalck, der den DDR-Führungspolitikern die wirtschaftliche West-Öffnung empfahl und sich selbst für höhere Aufgaben.

    Gerne wird dabei argumentiert, dass Rechtsvorschriften einer solchen Veröffentlichung westdeutscher Strategien in Bezug auf ihre ökonomische Ostpolitik zuwider stünden, etwa der Quellenschutz für Materialien des Bundesnachrichtendienstes oder des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Gerade diese Unterlagen, an Brisanz vermutlich kaum zu überbieten, würden aber die ganze Selbstherrlichkeit der Regierungen Kohl und Schmidt offenbaren und ihr gesamtes Wissen dokumentieren. Wer aber Dr. Alexander Schalck-Golodkowski auf ein nachrichtendienstliches Problem beschränkt, hat Angst vor diesen Enthüllungen und scheint mitnichten an einer sauberen Vergangenheitsbewältigung interessiert zu sein. Eine ehrliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bzw. des Wirkens Schalcks ist u.a. vor allem deshalb notwendig, um jene pauschale Vorverurteilungen zu differenzieren, mit denen der KoKo-Leiter in seiner Doppelrolle als MfS-Offizier und Außenhändler voreilig bedacht wurde. So zeichnete Schalck eben auch für eine Reihe von Geschäften verantwortlich, die nicht nur der Politbürokratie, sondern auch der ostdeutschen Bevölkerung zugute kamen, etwa bei der medizinischen Versorgung vieler Krankenhäuser mit Computertomographen, die über den offiziellen Außenhandel nur schwerlich zu beziehen gewesen wären. Und schließlich war Schalck ein Ansprechpartner des Westens, um die DDR ökonomisch zu stabilisieren, damit nach westdeutscher Strategie gleichfalls größeres Unheil von der DDR-Bevölkerung abgewendet werden konnte. Dass in diesem politischen und ökonomischen Klima auch Grauzonen entstanden, die von einigen Akteuren genutzt wurden, um mit illegalen und z.T. kriminellen Mitteln ihren Geschäften nachzugehen, darf weder vernachlässigt, aber auch nicht überbewertet werden.

    Als die ersten Manuskripte dieser Arbeit vorlagen, meldeten kritische Stimmen Bedenken ob des Sinns an. In der Tat. Rein volkswirtschaftlich betrachtet ist Schalck längst schon abgeschrieben, die Verluste der Vereinigungskriminalität, als es darum ging, sein Erbe aufzuteilen, schmerzen heute so recht keinen mehr. Vergessen wird dabei, dass Schalck einflussreiche Freunde in Ost und West hatte, dass es bundesdeutsche Politiker, mit Ausnahme der Grünen, und Manager gleich welcher parteipolitischen Couleur waren, die das Unrechtregime Honeckers, Mittags und Schalcks gewollt oder ungewollt unterstützten. Schalck ist heute mehr denn je auch Symbolfigur eines deutschlandpolitischen Sumpfes und wirtschaftspolitischen Filzes. Schalck wurde gebraucht und benutzt, von beiden Seiten. Auf bislang einzigartige Weise ist es den Bonner Politgrößen gelungen, sich und die Wirtschaftscliquen führender bundesdeutscher Unternehmen aus der öffentlichen Schalck-Diskussion weitgehend herauszuhalten. Genau dadurch aber wird fälschlicherweise die westdeutsche Strategie der Systemüberwindung durch wirtschaftliche Destabilisierung vielfach mit obskuren Gaunergeschäften gleichgesetzt.

    Bei der Erstellung dieser Arbeit war ein Umstand ganz besonders zu beachten. Ist bei der Untersuchung von Materialien und Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit ohnehin schon grundsätzlich Vorsicht geboten, so gipfelt die Verwendung der Schalck-Unterlagen in ein inszeniertes Chaos. Nicht in jeder MfS-Akte, die als „geheim" eingestuft wurde, steckt auch automatisch Wahrheit; dies gilt übrigens für die Quellen des Bundesnachrichtendienstes und anderer Behörden gleichermaßen. So manch angebotenes Dokument stellte sich schon bei einer ersten Durchsicht als Fälschung heraus, als zweifelhafte Angabe dubioser Zeitzeugen und Mittäter. Enttäuschend war zudem, was sich in den Archiven der einstigen SED-Diktatur fand, im Gauck-Archiv genauso wie im Parteiarchiv. Die wichtigsten zeitgeschichtlichen Dokumente sind ohnehin in den Wirren der Wende 1989 vernichtet worden. Andere bedeutsame Unterlagen lagern noch immer bei ermittelnden Staatsanwaltschaften. Da sie schwebende Verfahren gegen Schalck und andere ehemalige KoKo-Verantwortliche betreffen, konnten sie nur sehr bedingt in dieser Arbeit berücksichtigt werden.

    Eine politische Biographie befasst sich grundsätzlich mit dem politischen und sozialen Verhalten eines Hauptakteurs und analysiert seine Interaktionen mit anderen Akteuren in wechselnden Umfeldern. Gerade für Schalck gilt hierbei, neben der Untersuchung seiner Rollenwahl und deren verschiedenen Gestaltungen vor allem die unterschiedlich motivierten Legenden um ihn herum zu entzerren bzw. abzubauen. Dabei konnte sich die Recherche und Ausarbeitung auf einige bislang unveröffentlichter Dokumente stützen, die dem Autor von ehemaligen Protagonisten zur Verfügung gestellt wurden. Dazu kommen alle zur Verfügung stehenden und bereits vorliegenden Darstellungen und Quellen, wie etwa die Anlagenbände des Abschlußberichts des Untersuchungsausschusses. Außerordentlich ergiebig waren zahlreiche Gespräche mit Weggefährten Schalcks. Viele der Befragten waren erstaunlich auskunftsfreudig, gleichwohl sie nicht genannt werden wollen, um juristischen Auseinandersetzungen vorzubeugen. Ihre Erkenntnisse und Einschätzungen sind sowohl in der Darstellung selbst als auch im Archiv des Autors unter Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte berücksichtigt worden. Auf diese Sammlung wird an entsprechenden Stellen verwiesen.

    Abgesehen von zahlreichen öffentlichen Auftritten vor dem Bonner Untersuchungsausschuss hat der Verfasser dieser Arbeit Alexander Schalck-Golodkowski nie persönlich erlebt. Er selbst ließ durch seinen Rechtsbeistand verlauten, keinerlei Interesse an dieser Arbeit zu haben, weil er schließlich noch lebe und Biographien gemeinhin dann geschrieben würden, wenn der betreffende Hauptakteur verstorben sei. Diese Haltung akzeptiert der Autor, mehr nicht.

    Mein Dank gilt allen, die mich bei dieser Arbeit unterstützt haben. Herrn Prof. Dr. Jürgen Bellers möchte ich für die stets ermunternde und geduldige Begleitung danken. Seine Ratschläge halfen, so manches Hindernis zu überwinden. Herrn Prof. Dr Ulrich Thamer danke ich für seine spontane Bereitschaft, diesem Werk ein prüfendes Urteil zu verleihen. Ohne Herrn Harald Woynar und insbesondere Herrn Martin Steinhoff, die sich dieses Vorhabens mit moralischem Engagement, historischer Sachkunde und Korrekturfleiß angenommen haben, wäre dieses Werk so manches Mal zwischen Witz und Wahnsinn versackt. In der Danksagung darf letztlich einer nicht fehlen, der nämlich, der mich, und das ist durchweg ehrlich gemeint, auch wenn auf seine Namensnennung aus möglichen zukünftigen atmosphärischen Spannungen verzichtet wird, mit überzeugender Entsch(l)usskraft im März 1994 förmlich dazu nötigte, mit den Vorbereitungen und der Fertigstellung dieser Arbeit zu beginnen.

    Hamburg, im September 1995

    Matthias Rathmer

    1. Der Sozialist – Aufstieg zum Parteifunktionär

    Aus welchen familiären und sozialen Verhältnissen entstammte Schalck? Wer förderte und begleitete den zielstrebigen Aufsteiger in den Zeiten allgemeiner Nachkriegswirren? Und wie vollzog sich seine Eingliederung in die gesellschaftlichen Strukturen des ersten deutschen Staates sozialistischer Prägung? Die in diesem Kapitel dargestellte Sozialisationsgeschichte Schalcks bis hin zu seinem Studienabschluss darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er es selber immer wieder vermieden hat, gerade über diese Stationen seines Lebens zu berichten. Schon früh umhüllt den späteren KoKo-Leiter so ein nachrichtendienstliches Fluidum, dessen Ursprung nur noch wenigen Zeitzeugen bekannt ist. Die Lebensabschnitte des jungen Schalck, seine spätere Ausbildung zum Außenhändler und die frühe Anbindung an das Ministerium für Staatssicherheit aber werden zum pars pro toto, gewissermaßen zum Spiegelbild des sich herausbildenden sozialistischen Staates.

    Entwicklung in Kindheit und Jugend

    In Polen herrschten 1932 bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Minderheiten im Staat, vornehmlich Litauer, Deutsche, orthodoxe Weißruthenen und Ukrainer, kämpften gegen die Minoritätenpolitik des Staatspräsidenten Jozef Pilsudski. Die außerparlamentarischen Oppositionellen organisierten immer wieder Streiks und Protestveranstaltungen, die vielerorts in blutigen Straßenschlachten endeten. Das polnische Bürgertum, nationale Kräfte, aber auch der Adel widersetzten sich den Parolen der für ihre nationale Unabhängigkeit kämpfenden Volksgruppen. Die erbitternsten Gegner, die „Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN), führten seit 1930 einen wahren Guerillakrieg. Anschläge und Kampfhandlungen gehörten in zahlreichen Städten Polens zum Alltag. Die nationalistisch gesinnte Regierung unter Pilsudski bekämpfte ihrerseits die radikale Untergrundorganisation mit zunehmender Härte. Es war die Zeit des politischen Extremismus in Polen, in der die Revolutionäre zwar geschwächt, aber nicht minder brutal den polnischen Staat und seine Gutsherren attackierten. 1 Die Weltwirtschaftskrise, ohnehin schon globaler Auslöser von Unzufriedenheit und Verarmung, schürte diese Konflikte weiter.

    Als Polen und die Sowjetunion am 25. Juli 1932 einen Nichtangriffspakt unterzeichneten, verschärfte sich gleichfalls die politische Auseinandersetzung mit der Regierung Brüning. Die deutsche Außenpolitik war mehr denn je auf Grenzrevision zum Ost-Nachbarn und militärische Aufrüstung ausgerichtet. Pilsudski setzte auf die Politik der Abschreckung, um Deutschland zur Einhaltung der Grenz- und Rüstungsbestimmungen aus dem Versailler Vertrag zu zwingen. Er ließ im März 1932 verstärkt Truppen in Ostpreußen stationieren und im Juni den Zerstörer „Wicher" in den Danziger Hafen einfahren. 2 Beide Ereignisse wurden in Deutschland als Teil der außenpolitischen Schwächen der ohnehin instabilen Präsidialkabinette Brünings und Papens bewertet.

    Die Weimarer Republik ging ihrem Ende entgegen, als Alexander Schalck vor dem Hintergrund dieses geschichtlichen Kontexts am 3. Juli 1932 in Berlin geboren wurde, wohin seine Eltern aus dem krisengeschüttelten Polen geflüchtet waren. Der Vater Schalcks, Peter Golodkowski, wurde am 25. Januar 1895 in Surasch geboren, die Mutter, Agnes Eue, am 25. August 1889 in Hamburg. Beide hatten sich gegen Ende der 20er Jahre in Danzig kennen gelernt und geheiratet. Schalcks Mutter kam aus bürgerlich-kaufmännischen Verhältnissen und wuchs in St. Petersburg auf, wo ihr Vater die Filiale des Stinnes-Konzerns leitete. Ihr Lebenslauf ist lückenhaft. Aus einer ersten Ehe entstammte Sohn Slawa, der noch heute in Berlin unter dem Nachnamen Kostareff lebt. Zum Zeitpunkt der Geburt war Schalcks Mutter 43 Jahre alt. In einem Dokument der Staatssicherheit aus dem Jahr 1966, Schalck wurde hier zur Einstellung eines „Offiziers im besonderen Einsatz" vorgeschlagen, gibt es jedoch keine weiteren Hinweise auf die elterlichen Lebensverhältnisse. 3 Lediglich das Geburtsdatum des Halbbruders, der 19. April 1919 in Jekaterinoslaw, erlaubt vorsichtige Einschätzungen zur mütterlichen Vergangenheit.

    Schalck selbst jedenfalls wertete die biographischen Daten seiner Mutter als weniger beachtenswert. „(...) Mein Vater war Kraftfahrer und hat diesen Beruf bis kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges ununterbrochen ausgeübt (...). 4 Alle seit dem Umsturz des SED-Regimes gefundenen Lebensläufe Schalcks begannen stets mit der sozialen Herkunft seines Vaters. Denn wer in den Gründungsjahren der DDR erfolgreiche Bewerbungen schreiben wollte, der musste, wenn irgendwie möglich, aus der Arbeiterklasse stammen und als „faschistisch unauffällig gelten. Schalcks Mutter führte ein „von" in ihrem Namen. Ein solcher Namenszug wies auf ihre adelige Herkunft hin, ein Umstand, der so gar nicht zum späteren Selbstverständnis Schalcks passte. Ein Kraftfahrer zum Vater, der zudem 1948 für tot erklärt wurde, versprach da schon eher, gleich zu Beginn des Lebenslaufes einer der wichtigsten Prämissen der Diktatur des Proletariats zu entsprechen. Wie und wann

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1