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Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1
Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1
Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1
eBook490 Seiten6 Stunden

Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1

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Über dieses E-Book

sie dachte, sie würde ihr leben schon meistern. irgendwie und irgendwann. so wie eben jeder denkt. und sie dachte, dass die liebe sie einmal für das entschädigen konnte, mit die anderen um sie herum sie immerzu bestraften. wie eben alle so dachten. sie hätte einfach nicht denken sollen.

als emma nach einer sonderbaren Begegnung zu entdecken beginnt, dass nichts um sie herum so ist, wie es scheint, sieht sie sich einer herausforderung gegenüber, die genauso überraschend wie wahnsinnig ist. denn wenn ausgerechnet der teufel mit dir tanzen will, solltest du wissen, auf welcher seite du stehst...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Sept. 2012
ISBN9783844231472
Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1

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    Buchvorschau

    Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 1 - Matthias Rathmer

    1

    Solange sie nicht sicher war, absolut gewiss, überzeugter als es eindeutiger nicht mehr ging, dachte sie, könnte sie genauso gut eine Bank überfallen, sich dank der Künste des besten Gesichtschirurgen seiner Zunft eine neue Identität zulegen und irgendwo auf der Welt ein neues Leben beginnen. Das Absurde war unwiderruflich zur Wahrheit und damit noch unfassbarer geworden. Sie wusste immer noch nicht, ob sie bleiben oder augenblicklich fliehen sollte. Ihr Leben war in Gefahr. Doch statt nach allgemein gängiger menschlicher Vernunft geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen, saß sie in einer Höllenbar im Jenseits, lauschte der wie frisch geölten Stimme von Elvis Presley und trank Cognac.

    Der Schmusebarde, zu dessen Lebzeiten ihre Großmutter vermutlich schon in Ekstase gefallen war, hielt alle in seinen Bann. Er hatte eindeutig abgenommen, wie Emma befand. Von alten Fotos kannte sie den King of Rock’n Roll als reichlich abgehalfterte Existenz mit Drogen-, Fress- und Alkoholproblemen. Im Hier und Jetzt machte er einen sehr glücklichen und gesunden Eindruck. Michael Jackson indes hockte allein ein paar Meter vor ihr wie ein Häufchen Elend am Tisch und nippte übertrieben lange an einem Glas Diätcola. Sie überlegte, ihn aufzuheitern, so deprimiert, wie er da saß. Ob er wohl wusste, wie sehr die Menschen ihn auf der Erde immer noch schätzten, und wie viele Millionen Papa mit seinem Tod gescheffelt hatte?

    Amy Winehouse, die mit ihrem bürgerlichen Namen gewiss weit weniger Aufmerksamkeit erreicht hätte, wie Emma vermutete, ohne dass sie über diesen Bescheid wusste aber doch annahm, dass kein Mädchen mit diesem Namen wirklich glücklich geworden wäre, schunkelte nur ein paar Meter von ihr entfernt vor der Bühne zur Musik des schmalzigen Schnullis aus den Fünfzigern. Dann und wann versuchte sie sich an einem seiner legendären Hüftschwünge. Dass sie dabei so wenig taktvoll den Inhalt ihres Whiskyglases auf die umsitzenden Gäste vergoss, quittierte sie permanent mit ihrem genauso typischen wie albernen britischen Popgehabe. Jedem Protest der anderen Gäste folgte das wilde Zungenspiel ihres beringten Mundlappens. Regelmäßig glitt sie mit dem gestreckten Zeigefinger ihrer Rechten ihren Schoss entlang. Sie sah abgehalftert aus. Sie war wieder einmal so voll wie die dauerhaft pubertierenden Jungs, die daheim regelmäßig das freie Wochenende begossen. Die arme Amy, dachte Emma. Sie gab sich so, wie sie die Sängerin aus dem Fernsehen kannte. Über jede Peinlichkeit war sie deshalb erhaben, weil der Ruhm ihr Talent gefressen und ihre Scham ertränkt hatte. Sie hatte sich zu Tode gelebt. Sie hatte sich, durfte sie der englischen Klatschpresse trauen, aus dem Leben geschluckt, gespritzt und geliebt. Und zwar geradewegs und unaufhaltsam hierher. In die Hölle. Wo sich augenscheinlich alle trafen, die sich auf der Erde einen einigermaßen tauglichen Starstatus erworben hatten. Wer immer diese Party organisiert hatte – er legte Wert auf eine exklusive Gesellschaft. Normalos mussten draußen bleiben.

    Einen Tisch weiter saß Romy Schneider. Püppchengleich starrte sie mit blassem Puderteint wie paralysiert auf den italienischen Welttenor Luciano Pavarotti und die Zwillingsbrüder Robin und Maurice Gibb, die abseits vor der Bühne standen. Die so unterschiedlichen Stimmgewalten bereiteten sich offensichtlich auf den gemeinsamen Vortrag des Songs „Staying Alive" vor, wenn sie die leisen Gesangsproben der drei richtig vernahm. Als der südländische Teddybär den Mastermind der Bee Gees und dessen kleinen Bruder ob ihrer unverwechselbaren Fähigkeiten der hohen Tonlagen temperamentvoll herzte, drohten beide an seiner breiten Brust zu ersticken. Wie zwei Jünglinge, die sich der Umarmung eines ungeliebten Onkels entziehen wollten, zappelten die schmächtigen Leiber in den Pranken und an den Flanken des wuchtigen Brummers.

    Was und wen sie sah, hatte jedes menschliche Maß an Verwunderung und der schleichenden Ohnmacht darüber längst schon überstiegen. Emma war es noch immer nicht möglich, eine Bezeichnung für ihre Verfassung zu finden. In der Hölle war die Seele verloren. Wenigstens darauf konnte sie sich mit ihrem Gemüt verständigen. Mehr und mehr wurde ihr klar, dass es etwas gab, das sich die meisten Menschen zwar erhofften, doch darauf zu setzen nach irdischer Intelligenz reichlich dumm und lächerlich war. Es gab ein Leben nach dem Tod. Ein Teil der ehemals so weltlichen Stars und Sternchen tummelte sich putzmunter und unbesorgt an diesem Ort. Wo wohl all die anderen waren, die sie dazu gemacht hatten, fragte sie sich und wünschte sogleich aus tiefsten Herzen allen Promis der vierten und fünften Kategorie, die seit geraumer Zeit mit ihrem Stumpfsinn nicht unwesentlich für die allgemeine Volksverdummung weiter Teile der Republik verantwortlich zeichneten, ein schönes und vor allem langes Leben. Das fehlte noch, wenn jetzt der Schweiger und die Katzenberger in ihrem Rücken um die Wette quakten.

    Sie war tatsächlich in der Hölle. Sie war ohne jeden Zweifel in einem Teil der jenseitigen Welt, die es nach artgerechter Vernunft nicht geben durfte. Ein Agent des Teufels saß an ihrer Seite. Er hatte sie an diesen so außergewöhnlichen Ort geführt. Sie stand auf der Todesliste Luzifers, seines obersten Herrn. Nur, wenn sie durch das ewige Licht flog, in das die Himmlischen einen schickten, wenn man die Abschlussprüfung im Garten Eden bestanden hatte, war sie gerettet. Emmas Sinne und ihre Auffassungsgabe schrien seit zwei Tagen dauergereizt nach einer Ordnung. Ruhe bewahren. Nachdenken. Sehen, sorgfältig darüber urteilen und dann erst handeln. Die eindringlichen Appelle an ihr Bewusstsein bedurften übermenschliche Kräfte.

    Jeder, der einigermaßen bei Verstand war, würde in dieser höchst bedrohlichen Situation die Beine in die Hand nehmen und, so schnell er noch konnte, zur nächsten Polizeistation laufen. Die Beamten aber würden sie unverzüglich aus jedem Revier jagen. Um bestenfalls annähernd auch nur den Hauch einer Chance zu bekommen, sich einigermaßen glaubhaft erklären zu können, müsste sie einem der Ordnungshüter ins Gesicht springen, ihn überwältigen, seine Waffe entsichern, wild herumballern und ihn als Geisel halten. Eine Eliteeinheit würde gerufen, ein Mitarbeiter des polizeipsychologischen Dienstes angefordert. Der wäre in der Pflicht, ihr zuzuhören. Danach würde sie sich ergeben, mit dem Ergebnis, für Jahre im Gefängnis oder gleich in einer geschlossenen Anstalt zu landen. Ihre Lage war hoffnungslos, ausweglos wie ein Missstand aussichtloser nicht sein konnte. Abgesehen davon kannte sie nicht einmal den Weg zurück auf die Erde.

    Es gab Stunden, die zu erleben so schräg war, dass die, die von ihr darüber hörten, nur müde lächelten und sie für hoffnungslos durchgeknallt hielten. Es gab Momente, die zu erleben so verrückt war, dass einem keiner auch nur ein Wort glaubte, obgleich sie wahr gewesen waren. Und es gab Augenblicke, die zu erleben so unvorstellbar war, dass sie darüber eisern schwieg. Alle diese Erlebnisse kannte sie. Was jedoch gerade geschah, machte es ihr unmöglich, eine Bezeichnung dafür zu finden geschweige denn eine Erklärung. Trotzdem. Sie musste glauben, was ihre Augen sahen.

    John Wayne hatte Adolf Hitler soeben ein weiteres Mal ein Bein gestellt. Der Schlächter von einst war zur Sicherheit an einen Windhund angeleint. Das Tier zog ihn quer durch den Saal. Mehrere Gäste beschwerten sich über den Störfall. Zwei Kellner eilten herbei und sperrten den Barbaren vorsorglich zur allgemeinen Sicherheit in den Vorratsraum der Bar, worauf unverzüglich zackige und wütende Proteste aus der Butze dröhnten.

    Am Nebentisch hatte Lady Di Platz genommen. Auch sie war real. Leibhaftig saß sie keine drei Meter von ihr entfernt. Auch daran gab es nichts zu zweifeln. Ihre feine Würde in ihrem Gesicht versprühte einen besonderen Glanz. Ihre Schönheit strahlte einem jeden, der an ihr vorbeikam und sie freundlich grüßte, entgegen. Ein englischer Offizier in Paradeuniform begleitete sie. Während die Prinzessin der Herzen einen Manhattan trank, spielte er, smart lächelnd, mit einem Whiskyglas in seinen Händen. Seine Schleimspur war gelegt, dachte Emma und fragte sich, wie sich eine Frau dieses Formats nur von einem solch stocksteifen Feuerkopf ausführen lassen konnte.

    Mutter Theresa hatte es sich direkt hinter Diana am Tresen der Bar bequem gemacht. Die Wohltäterin aus Kalkutta hatte lange gebraucht, bevor sie ihre alten Glieder auf einen der Barhocker geschoben hatte. Sie bestellte einen Kamillentee und nahm ihre Hände zu einer Gebetshaltung zusammen, die ihrer Erscheinung etwas Erhabenes verlieh. Patrick Swayze schritt vergnügt an Emmas Tisch vorbei und zwinkerte ihr wie selbstverständlich ein Auge zu, als waren sie gute Bekannte. Ihm folgten eine Hand voll amerikanischer Präsidenten, die sich sogleich beim Oberkellner lautstark darüber beklagten, dass für sie kein Tisch mehr frei war, während Elvis auf der Bühne stand und einen Auftritt hinlegte, für den ihm die halbe Welt zu Füßen liegen würde.

    Wohin Emma auch schaute, überall sah sie auf unzählige große und kleine Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die allesamt irgendwann einmal das Zeitliche gesegnet hatten und nun in einem Lokal in der Hölle ihrem Vergnügen nachgingen. Lady Di erhob sich plötzlich ungeduldig. Das Servicepersonal kam wegen der zahlreichen Gäste mit den Bestellungen einfach nicht nach. Entnervt trat die ehemalige Prinzessin an die Theke und orderte zwei neue Drinks. Das war sie, dachte Emma. Das war die Gelegenheit, auf die sie so geduldig gewartet hatte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und gesellte sich zu ihr.

    „Kein schöner Abend, was? Wissen Sie! Bei Elvis werde ich immer so melancholisch. Mit Blick auf den Offizier schob sie leiser nach. „Er langweilt Sie, nicht wahr? Es macht jedenfalls den Eindruck.

    „What?" patzte Lady Di sogleich reichlich unzart zurück.

    „Ich habe nur gesagt, dass Ihr Begleiter Sie bestimmt langweilt. Es geht mich nichts an, ich weiß. Aber Sie sehen so aus, als wurden Sie zu diesem Date verpflichtet." Emma hatte sich ihr bestes Schulenglisch aus den Lippen gequetscht.

    „I did’nt ask you anything! Let me live my life!" gab sie ihr noch schroffer zurück und gestikulierte ein weiteres Mal ungehalten nach dem Barkeeper.

    Ihre flegelhafte Art überraschte Emma. Was für ein eingebildetes Luxusweibchen, dachte sie. Nur, weil nicht sofort alle nach ihrer Nase tanzten, musste sie hier die Oberzicke geben. Die amerikanischen Präsidenten kehrten im Gänsemarsch empört von ihrer gescheiterten Platzsuche im hinteren Teil des Lokals zurück. Van Gogh lief wie angestochen vorbei und fragte jeden nach seinem Ohr, während Rex Gildo freudetrunken in die Arme Max Schmelings fiel.  

    Im üblichen Gedränge riss Emma plötzlich affektähnlich die Prinzessin mit sich. Noch während beide zu Boden stürzten, hatte sie Lady Di in die linke Brust gekniffen. Auf ihr liegend griff Emma in die hochgesteckten Haare der einst so unbeschwerten Queen in spe und zog kräftig an ihrer frisch gemachten Frisurenpracht. Sie drückte sich mit beiden Händen auf dem königlichen Hintern ab, erhob sich wieder, half auch der Lady auf und bat um Entschuldigung. Im Gegensatz zu vielen anderen wusste Emma um die grundsätzliche Qualität ihrer Reue. Man konnte allenfalls um Entschuldigung bitten. Ob sie erhört wurde, war eine ganz andere Frage. Ron, ihr Begleiter, war aufgesprungen, um zu helfen. Der Offizier eilte zu Diana, die hysterisch herumzukeifen begonnen hatte. Noch einmal entschuldigte sich Emma mit tiefer Verbeugung, bevor der kleine Tumult beendet war.

    „Was war das denn?" wollte Ron wissen, der den giftigen Blick des Offiziers nur schwerlich besänftigen konnte.

    „Was soll schon gewesen sein? Nichts war. Bin nur gestolpert. Hab mich auch brav entschuldigt, aber Prinzesschen macht gleich ein Attentatsversuch daraus."

    „Lass sie einfach! Sie strahlt zwar unentwegt in die Unterwelt, aber es heißt, dass sie immer noch unter ihrer Depression leidet, ob es je ein Mann ernst mit ihr gemeint hat. Aber pst!" flüsterte Ron ihr zu und führte Emma zurück an ihren Platz.

    „Und ich hab nie verstanden, warum sie ihren Charles an diese Camilla verloren hat. Prüfenden Blickes legte sie nach. „Was die wohl besser konnte, hä?

    „Das willst Du nicht wirklich wissen, glaube ich."

    „Oh doch, Ron Gallagher! Das will ich sehr wohl. Die Zeit ist reif. Für alle Wahrheiten, meine ich. Für restlos alle, um genau zu sein."

    „Böse Zungen, hauchte er ihr ins Ohr. „Böse Zungen behaupten, dass er... Na ja! Was meinst Du? Woher hat er wohl so große Ohren bekommen? Ron riss die Augen auf, um seinen Ulk betonen zu wollen.

    Emma entließ ihn mit abfälligem Blick. Sie würde lange brauchen, um aus ihm einen einigermaßen tauglichen Lebenspartner zu machen. Sehr lange, und das sollte er auch wissen. Als sie sich wieder gesetzt hatten, schob sie ihren Kopf dicht an sein Ohr. „Versuch es doch mal mit Liebe! Mit tiefer und aufrichtiger Liebe. Das hat sie von ihm gekriegt. Das braucht es, wenn Frauen glänzen können." Es war weder die Zeit noch die Stätte, wie Emma befand, ihrem Auserwählten ein paar weitere tiefere Einsichten in Sachen wahrhaftiger Emotionen für die dauerhafte Zukunft einer gelungenen Zweisamkeit zukommen zu lassen. Also schwieg sie fortan.

    Alle Gemüter hatten sich auch dank Elvis wieder beruhigt. Emma saß auf ihrem Stuhl und blickte eine Nuance gelassener durch den Saal. Wenigstens eine Zufriedenheit hatte sich in ihr eingestellt, resümierte sie ihre kleine Attacke auf die Echtheit all der Existenzen um sie herum. Der Beweisdrang in ihr hatte über jede Lähmung gesiegt. Es wäre völlig gleichgültig gewesen, wen es aus dieser so einmaligen Prominentendichte an diesem Ort erwischt hätte. Sie hätte jeden zu Boden gerissen. Sie hatte wissen wollen, ob sie nicht doch träumte. Sie hatte wissen wollen, ob all die Persönlichkeiten, ob nun wirklich wichtig oder nicht, tatsächlich echt waren. Sie waren es. Sie waren weder aus Wachs, noch irgendwelche Doppelgänger, noch sonst wie geklont. Lady Di hatte sich angefühlt, wie sich menschliche Wesen mit Haut und Haaren nun mal anfühlten. Und wie zur letzten Beweisinstanz gerufen stieß Mutter Theresa sie an die Schulter und reichte ihr ein weiteres Glas Cognac, auf das sie Emma einlud. Auch die berühmte Nonne aus den indischen Elendsvierteln war unbestreitbar wahrhaftig, sah Emma von dem nicht unwesentlichen Umstand ab, dass die tattrige Ordensschwester, wie alle Anwesenden hier, ein munteres Leben nach dem Tod führte.

    Emma musterte Ron eindringlich. Er hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Nichts mehr als die reine Wahrheit. Ihr Leben stand auf dem Spiel. Sie würde tun müssen, was er vorgeschlagen hatte. Sie musste einmal durchs Jenseits laufen, die Hölle hinab, am Inferno vorbei, dem Amtssitz Luzifers, den Berg des Fegefeuers hinauflaufen, bis sie das ewige Licht erreicht hatte. Dann erst war sie den Höllenfürst samt seiner Bande von Riesenschnauzern los. Emma erinnerte sich. Sie war ihm gefolgt. Eine Untergrundbahn hätte sie zermalmt, wenn er nicht gewesen wäre. Mit diesem Tag hatte alles angefangen. In diesen Stunden hatte sie eine Entscheidung getroffen, über deren Konsequenzen sie nicht die geringste Ahnung besessen hatte. Ihre Reise durchs Jenseits, das es entgegen vieler Bekundungen und Lehren also doch gab, sollte eine dramatische Enthüllung werden, die nie zuvor ein Mensch gemacht hatte. Und hätte Emma zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, wer im Hintergrund tatsächlich an den Fäden ihres Schicksals zog, hätte sie sich freiwillig für den Rest ihres Lebens in eine kleine, gemütliche Irrenanstalt eingewiesen.

    2

    Seit der Zeit, in der sie denken zu können in der Lage war, hatte sich Emma nie rundum wohl gefühlt. Irgendetwas war immer. Noch schlimmer als diese Gewissheit war der Umstand, dass sie, dachte sie über sich und die Welt um sie herum nach, für ihre ständigen Zweifel und seelischen Verkrümmungen nur bedingt selbst verantwortlich war. Emma war es gewohnt, mit ihren vielen Fragen allein und ohne Antworten zu bleiben. Was sie allerdings an diesem Tag im Spätsommer erlebt hatte, überstieg ihre Zweifel und Zerrissenheit um ein überirdisches Maß. Ihr Unterbewusstsein hatte seinen Dienst gleich schon mit Beginn der Ereignisse völlig versagt. Menschliche Vernunft und Phantasie, die Säulen jeder schlüssigen Erklärung, waren erstmals tatsächlich unmöglich geworden. Dabei war der Grund für diesen niemals zuvor so empfundenen Ausnahmezustand ihres aktuellen Ungleichgewichts durch und durch real. Er besaß zwei Beine, zwei Arme, zwei Hände, einen Kopf und zwei herrlich glänzende Mokkaaugen. Dazwischen lagen die verlockenden Merkmale eines Mannes, die, genauso simpel, ihre Hormone in Wallung gebracht hatten. Ein Unbekannter hatte es fürwahr geschafft, ihre Sinne zu reizen und mit seinem Auftreten für die genauso ungewohnten wie prickelnden Schwankungen in ihrem chemischen Haushalt gesorgt.

    „Emma! Da bist Du ganz alleine selbst Schuld!" Sie griff eines der Kissen vom Kopfende ihres Bettes und vergrub genauso ratlos wie enttäuscht ihr Haupt. Am Morgen dieses Tages, der ihre Erlösung bringen sollte, hätte sie wie gewöhnlich die Hälfte von sich in ihrer Matratzengruft liegen lassen sollen. Das Leben war einfach nicht fair mit ihr. Wieder einmal.

    Der Sommer ihres Lebens, wie sie den Abschnitt von Einsicht und Umkehr bezeichnet hatte, lag in den letzten Zügen. Die Ferien waren vorbei, das letzte Schuljahr hatte begonnen. Der Ernst des Daseins hatte sie wieder voll im Würgegriff. Alles war so, wie sie es kannte, wenn sie von der Befürchtung absah, dass sich ihr Hamsterrad fortan noch ein kleines bisschen schneller zu drehen drohte. Es ging aufs Abitur zu. Für die Zeit, die ihr bevorstand und die andere Leben nannten, hatte sie deshalb für sich selbst ein neues Konzept verfügt, das konsequent allen bisher gemachten Erfahrungen folgte.

    „Ich habe mich entschieden. Weil es ganz offensichtlich nichts bringt, nach einem Sinn des Lebens zu suchen, werde ich mir fortan alle Mühe geben, ein Gefühl des Lebens zu entwickeln."

    Oskar hatte an einem der so sehnlich erwarteten leeranstaltsfreien Tage, an dem Emma ihm bei Bier und portugiesischen Tapas im Schanzenpark ihren neuen Kurs offenbart hatte, zunächst verwirrt wie nie drein geschaut, sich dann verschluckt und danach laut gerülpst. Später erst meinte er, dass es zwischen den Menschen immer schon hätte mehr geben müssen als Sex und eine gemeinsame Sprache.

    Emma schlug ihre Fäuste in die Kissen. Dieser Tag, der zur Kür in der Zeit ihres Erwachens hatte werden sollen, war gründlich verlebt. Sie griff nach einem von Kaffeesatz verdreckten Handzettel, der an der Pinnwand hing und auf den sie zu schielen begonnen hatte, weil ihrer Lunge nach mehr Luft war. Ihr Urteil war gefällt. Er kam zu kitschig daher, dieser Engel. Er saß auf einer Wolke und lächelte einem so freundlich entgegen, wie es sich wohl die meisten Himmelsfahrer wünschten, wenn sie gestorben und von Gottes Personal in Empfang genommen worden waren.

    „Der Mensch ist nur ein Mensch. Weil er liebt. Weil er vergibt," las sie sich selbst zum wiederholten Male laut vor, als ginge es ihr darum, mit dem Klang dieser Buchstabenreihen ihre Bedeutung besser verinnerlichen zu können.

    „Wie soll ich jemandem vergeben, von dem ich gar nicht weiß, ob es sich effektiv lohnt, ihm derart große Geschenke zu machen. Das gehört sich einfach nicht."

    Emma blinzelte angestrengt zurück auf den Diener Gottes. Die Worte des Engels standen auf einem Flyer, den sie vor dem vernichtenden Zugriff der Mutter hatte bewahren können, weil er sonst, ohne ihr Interesse, auf dem Altpapierstapel neben den Bioabfällen gelandet wäre. Immerhin hatte jemand eine Meinung und traute sich ihren öffentlichen Vortrag. Das war selten genug. Der Botschaft dieser klerikalen Hauswurfsendung allerdings konnte sie nur sehr bedingt folgen. Eitel oder narzisstisch wie die meisten im Allgemeinen um sie herum waren, hatte Emma längst aufgehört, anderen vorzugaukeln, dass es bereichernd sein könnte, sie auf ihren Irrfahrten durchs Leben zu begleiten, um entweder zu zweit oder in Ansammlungen ihrer Art doch nur wieder allein zu sein. Emma wollte nicht ungerecht sein. Doch seit langem schon bemäkelte sie den allgegenwärtigen Unsinn menschlichen Handelns. Wider jede Einsicht lebte sich die Mehrzahl scham- und skrupellos aus. Sie taten so, als ginge sie Verantwortung höchstens dann etwas an, wenn sie bezahlt wurde. Dabei kam niemand lebend davon.

    „Wer sich für die Warums dieser Welt interessiert, wäre besser dumm geblieben." Es gab Tage, da reduzierte Emma, hatte sie über die bedeutendsten weltweiten Krisenherde gelesen oder gehört, die Funktion und Daseinsberechtigung der Menschheit allein auf die Umwandlung von Sauerstoff in Kohlenstoff. Über alle anderen Ungerechtigkeiten, über den massenhaften Lug und Betrug in den unzähligen anderen Winkeln dieses Planeten wurde, wie sie mittlerweile begriffen hatte, deswegen nichts gesagt, weil die Berichterstattung darüber entweder manipuliert war, oder Spalten wie Sendeminuten für verblödende Werbung vorgesehen war.

    Eine ganze Woche hatte sie in den letzten Frühjahrsferien damit verbracht, Kriege, Katastrophen, Korruption und andere Untaten aus zehn bedeutsamen Illustrierten zusammen zu tragen. Nicht weniger als einhundertzweiunddreißig Ereignisse von Belang hingen schließlich an ihrer Wand, von der einst Robbie Williams seinen Charme als lebensgroße Puzzlegestalt versprüht hatte. Das Leben machte einfach keinen Sinn. Die Menschen machten einfach keinen Sinn. Emma wusste, dass allgemeine Verurteilungen nicht wirklich etwas taugten. Sie veränderten nichts. Sie veränderte mit ihnen nichts. Weil die Defizite vieler einzelner aber in der Regel überwogen, und es keinen gab, zu dem sie hätte aufsehen können, stellte sie die Menschheit als Einheit immer häufiger in Frage. Gute Musik als Ausflug in eine kleine, heile Welt fegte diese Missstände schon lange nicht mehr aus ihrem Hirn.

    „Was denkst Du gerade?" hatte sie Oskar gefragt, als sie damals, im nasskalten April, eine ganze Weile schweigend, gelangweilt und genervt nebeneinander im Auto gesessen hatten, weil sich auf der Rückfahrt der Straßenverkehr gestaut hatte. Sie waren ein ganzes Wochenende über auf einem Raverfestival im Brandenburgischen gewesen. Emma hatte diesen Trip deswegen noch so genau im Kopf, weil sie nie zuvor heftigere Ohrenschmerzen und Herzrhythmusstörungen bekommen hatte als während und nach dieser zweitägigen Dauerbeleidigung für ihre Ohren.

    Beide hatten bereits in einem der ersten Gespräche, die sie geführt hatten, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, vereinbart, dass der jeweils andere zügig und ehrlich zu antworten hatte, wenn einer von beiden diese Frage gestellt hatte. Kein Mensch dachte tatsächlich an nichts.

    „Dass neunzig Prozent der Menschen dumm und blöd sind," war Oskars Antwort gewesen.

    „Mehr! hatte sie sofort ergänzt. „Wenn ich einen schlechten Tag habe, denke ich, dass es weit mehr sind.

    „Das darf man aber um Himmelswillen bloß nicht laut sagen, um nicht ans Kamener Kreuz genagelt und öffentlich mit Katzenkot beworfen zu werden."

    „Kamener Kreuz?"

    „Ist da, wo sich die erste und die zweite Autobahn unserer Republik kreuzen. Die, die Hitler einst bauen ließ. Mit all den Dummen und Blöden."

    „Es ist heute genau so, seufzte Emma auf. „Neunzig Prozent der Menschen sind wie Knete in den Klauen ein paar weniger. Zerquetscht von Macht und Ohnmacht. Sie sind dumm, ehrerbietig, namenlos, habgierig, zivilfeige und konsumsüchtig. Keine Revolution, kein Krieg, keine Regierung und kein Herrschaftssystem hat daran in den letzten dreitausend Jahren etwas ändern können, nicht einmal die Philosophen, die Künstler, die Denker oder die anderen Großen ihrer Zeit.

    „Stimmt! Mit ihren Büchern und Schriften könnte man im Mittelmeer eine ganze Insel aufschütten lassen, die aber niemand besuchen würde, weil sich dort auszuruhen hart und unbequem wäre."

    „Ja! Es ist zum Beispiel total sinnlos, in dieser Blechlawine nach Hause zu schleichen. Alle wissen es, aber alle tun es trotzdem. Wir gehören ganz eindeutig auch zu den neunzig Prozent. Ich hab es vorher gesagt. Und was war? Nichts war. Wir sind trotzdem gefahren."

    „Schatz! Das nächste Mal hast Du Recht. Ganz gleich, was es ist, ok?" Oskar konnte so herrlich einfach sein. Von allen Sinnlosigkeiten des Lebens, erinnerte sich Emma an dieses Ereignis zurück, war die damalige Schleichfahrt mit ihm noch einigermaßen erträglich gewesen. Sie waren wenigstens vorangekommen, im Straßenverkehr und in ihrer Freundschaft.

    Seit Jahren hatte sich Emma stets ein bisschen mehr zurückgezogen. Sie war da. Sie war präsent. Sie atmete. Sie aß. Sie trank. Aber sie war dabei, nicht mehr mit den Menschen zu sein. Solange sie allein war, wurde sie nicht enttäuscht und enttäuschte andere nicht.

    „Manchmal ist mir danach, alle meine Habseligkeiten samt Ausweise und Schulbücher öffentlich zu verbrennen, um im Amazonas nach den letzten verbliebenen Exemplaren der Spix-Aras zu suchen."

    „Spix-Aras? Amazonas? Mach lieber erst mal Dein Abitur! Dann sehen wir weiter." Die Mutter war in existenziellen Angelegenheiten wie dieser ein Totalausfall.

    „Spix-Aras, mein liebes Mütterchen, sind die seltenste Papageienart, die es hoffentlich außerhalb der Zivilisation noch gibt. Die Menschen haben sie in ihrem Wahn aber vermutlich schon längst vernichtet, weil sie früher oder später auf alles Schöne erbarmungslos einschlagen."

    Gerne hätte Emma etwas erlebt, was ihrem Wagemut und ihrer Neugierde entsprach, statt sich ständig einer Wirklichkeit stellen zu müssen, die, da war sie sich sicher, oft nicht mehr war als eine Maskerade aus Ängsten und Gewohnheit. Jeder Tag brachte neue Probleme, von denen sie drei bis fünf dieser Unstimmigkeiten mitunter bereits vor dem Aufstehen ereilten. Das Leben war einfach zu kompliziert. Die Welt, in der sie lebte und vermutlich auch die, in der sie leben wollen würde, gab sich jeden Tag mehr Mühe, Realitäten zu verdrängen. Im Verkennen von Wahrheiten waren die Menschen wahrhaft meisterlich.

    Auf ihrem schier endlosen Leidensweg musste sie immer wieder an den Rat denken, den ihr Oskar, der mittlerweile zum einzigen wahren Vertrauten in ihrem Leben aufgestiegen war, gegeben hatte. „Tu einfach so, als wärest Du glücklich. Das machen alle so."

    Doch Emma konnte, wenn es um eine gesunde Selbstreflexion ging, weder heucheln noch lügen. Ihr fehlten ganz eindeutig ein paar nützliche Eigenschaften, die ein Mensch scheinbar entwickeln musste, um nicht als sozialer Unrat der Gesellschaft verstoßen zu werden. Wenn Oskar so auf sie einredete, hatte er vorher meistens gekifft. Emma mochte es nicht, wenn er seine Sinne deswegen benebelte, weil er sich selbst für das entschädigen wollte, womit ihn sonst das Leben bestrafte. Abgesehen davon hatte er Recht.

    Tagaus, tagein umgab sie eine Wolke der Unzufriedenheit. Sie kannte sich selbst so wenig. Ihre Bedürfnisse blieben ihr meistens ein Rätsel. Deswegen, so mutmaßte sie, war sie auch so leicht zu kränken. Sie war einfach noch nicht bei sich angekommen. „Aber Pst! Das ist ein heiliges Geheimnis. Im Grunde habe ich keine Ahnung, was wir wollen."

    „Wir?" hatte Oskar während einer ihrer unzähligen Unterredungen über Emmas Zustand wissen wollen.

    „Na! Ich, so wie Du mich siehst und erlebst, und ich, so wie ich wirklich bin."

    Emma war ehrlich. Vor allem zu sich selbst. Sie besaß mitunter das Selbstwertgefühl eines kleinen Mädchens, aber das durfte niemand wissen. Sie gehörte zur Generation der Verlorenen und Beschwiegenen und war ein Opfer der Revolution, mit der die Frau, die sie geboren hatte, zwar einst die eigene Befreiung gefeiert hatte, als sie sich entschloss, Emmas Erzeuger den Laufpass zu geben. Doch in Wahrheit beklagte die Mutter fortan, so wie sie selbst, den permanenten Verlust von Sicherheit. Mamas ständige Lover schafften auch bei Emma so wenig Vertrauen.

    Immer häufiger prägte Müdigkeit Emmas Dasein, ähnlich dem Gefühl, das sie kannte, wenn sie vom Schwimmen kam, alle Glieder schwer wie Blei wogen, weil sie zu lange durchs Wasser geglitten war, um leichter zu sein, als sie tatsächlich war. Die ganze Welt wartete auf den nächsten Hüftschwung. Alle wollten in ihren Spaß- und Spießgesellschaften gleichzeitig ständig etwas erleben und verdrängen. Emma aber hatte lieber ihre Ruhe. Konnte sie träumen, war sie bei sich angekommen. Sie erkundete fremde Landschaften und erlebte aufregende Geschichten, von denen einzig zu beklagen war, dass sie Verlauf und Ausgang stets viel zu schnell wieder vergaß. Hatte sie derart phantasiert, fühlte sie sich anschließend meistens als Heldin, der etwas anzuhaben unmöglich gewesen war. Sie erlebte Momente der Angst, der Qualen aber auch des Glücks und der Stärke.

    Schlafforscher hatten keine Erklärung dafür, wenn ihre Hirnzellen im Traum derart verwirrend Informationen austauschten, neue Verknüpfungen eingingen und Reize umwandelten. Ihr Körper entspannte zwar, und ihre Muskeln erschlafften. Ihr Gehirn aber fuhr alle seine Windungen entlang Achterbahn. Schlief Emma, war dieser Zustand allemal erträglicher als die Sinnlosigkeiten um sie herum. Was auch immer elektrische Impulse in ihrem Kopf anstellten, Emma konnte der Welt, wie sie wirklich war, beruhigt den Rücken kehren. Nichts ging sie dann mehr etwas an.

    „Möchtest Du vielleicht lieber beten?" hatte Oskar sie einmal gefragt, als sie ihm ihre ständigen Zweifel über das Leben und die Menschen offenbart hatte.

    „Beten? Ich habe nicht einmal leidenschaftlich geliebt!"

    Mittlerweile war Einsamkeit für Emma ein normales Gefühl geworden. Einzig ihr unerwartetes Eintreten war eine Klage wert. Sie hatte aufgehört, jammrig in ihrem Selbstmitleid zu zergehen. Ihr leichtes Übergewicht hatte Emma in den Griff bekommen. Jede Frau wog zu schwer, hatte Conny ihr, der Erzeuger, wiederholt mit auf dem Weg gegeben. Dafür, dass er sie zusammen mit der Mutter, die nicht wirklich eine war, in die Welt gesetzt hatte, zahlte er Schmerzensgeld. Wenigstens stellte er keine dummen Fragen, die, gleich von wem der beiden Akteure ihrer Zellteilung geäußert, zu beantworten Emma grundsätzlich seit Jahren schon verweigert hatte. Die meiste Zeit verbrachte Emma auf dem Bett und las. Oder sie schlief und träumte in den Tag. Oft döste sie auch nur so vor sich hin und dachte darüber nach, was die Welt brauchte, damit es sich lohnen könnte, ein anständiger Mensch zu sein. Dann hegte Emma einen Verdacht. In ihren Träumen schrie das um Hilfe, was sie im Leben verdrängte.

    Emma hätte vermutlich ihr ganzes Leben so langweilig und unerfüllt verbringen können, bis zu jenem Tag im Sommer, der verrückter kaum geraten konnte. Eine Leidenschaft namens Begierde machte gerade das Leben noch komplizierter. Ein außergewöhnlicher Mann war in ihr Leben getreten. Reichlich verwirrt, was ein männlicher Schwellkörper mit ihr anstellen konnte, starrte sie immer noch auf das Antlitz dieses Engels, der auf dem Gemeindebrief in ihre Wohnung geflattert war und zwischen den dicken, weißen Kumuluswolken einer billigen Fotomontage auf sie herunterschaute. Im Himmel war seit geraumer Zeit die Hölle los, schien er ihr sagen zu wollen, je intensiver Emma visionierte, wie es so weit weg von allen Ungereimtheiten auf der Welt bei ihm auf seinem puscheligen Ruhekissen wohl wäre.

    Hals über Kopf hatte sie sich in einen Jüngling verknallt, von dem sie wenig bis gar nichts wusste. Sie fühlte sich verflucht. Selbst wenn sie sich eine solche Begegnung immer gewünscht hatte, die sie aus ihrem Muff herausziehen konnte, waren die Ereignisse des Tages so wenig geeignet, sich vertrauensvoll in seine Hände zu begeben. Die Liebe durfte sie einfach nicht blind machen. Nicht, weil etwas schwierig war, wagten viele Menschen es nicht. Weil sie es nicht wagten, geriet es schwierig. Deswegen war sie ihm gefolgt, deshalb hatte sie an diesem Tag die Initiative ergriffen. Wer sich nicht bewegte, bewegte nichts. Und doch waren die vergangenen Stunden völlig ganz anders verlaufen, als sie es sich in ihren Wünschen ersehnt und in ihrem Engagement vorgenommen hatte. So waren sie eben. Die Menschen. Uneinsichtig und unberechenbar.

    „Na, was denn? Komm jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken! Weil sie eine für sie unvorteilhafte Reaktion in Betracht ziehen musste, schob Emma mit vorgespielter Souveränität rasch nach. „Ich kratze, beiße und spucke. Außerdem. Ich bin bereits vergeben. Sie schätzte ihr Gegenüber kritisch ab.

    Ron stand regungslos, das rechte Ohr an das Türblatt gedrückt, ein paar Schritte entfernt. Nur kurz hatte er ihre Worte mit abstrafendem Blick als unangebrachtes Geplapper gewürdigt. Etwas anderes interessierte ihn weitaus mehr.

    Emmas Irritation wuchs. Sie wusste weder genau, was geschehen war, noch besaß sie eine Vorstellung, wo sie war. Sie hatte zwar keine Angst, dafür hatte sie Ron in den letzten Wochen zu lange beobachtet, als dass zu befürchten war, ein wie auch immer geartetes Unheil fiel nun mit angehend mannhafter Statur über sie her. Die größten Zweifel an der Behaglichkeit ihrer augenblicklichen Situation hegte Emma eigentlich nur, weil sie sich an einem durch und durch ungemütlichen Ort befand, in einem echten Drecksloch nämlich, das Ekel in ihr aufkommen ließ, je länger sie sich mit kurzen Blicken umschaute.

    Das Zimmer besaß die Größe einer Hundehütte, wie sie die beklemmende Enge empfand. Alle Wände waren mehrfach laienhaft mit schwarzer Farbe gestrichen. Statt eines Fensters war ein Ventilator in einer der Wände eingelassen worden, der aber schon seit längerem den Betrieb versagte, wie ein gebrochenes Rotorblatt verriet. Eine Glühbirne hing an ihrem Stromkabel von der Decke. Mottenmuff drang widerlich miefend in ihre Nasenlöcher. Staubwolken glitten an den Stuhlbeinen bei jeder Bewegung tänzelnd auf dem Boden hin und her. Auf dem Bett lag nur eine Decke, und die Matratze wies ekelige Flecken unbekannter Art und Herkunft auf. Dazu war es ungenehm heiß. Emma kannte diese gestaute Wärme von der alten Frau Winkler, die in ihrem Haus wohnte. Öffnete sie ihre Wohnungstür, gleichgültig, zu welcher Jahres- oder Tageszeit, wurde man, ging man gerade daran vorbei, von jenen Hitzewallungen förmlich erschlagen. Emma blickte auf ein paar Zeichnungen und das einzige Regalbrett an der Wand gegenüber. Neben ein paar arg verschlissen, uralten Schulheften standen genau drei Bücher standen nebeneinander: das Satanische Manifest, eine Biographie über Karl Marx und ein Lehrbuch der großen Philosophen aus der Antike.

    Als sie Ron an diesem Tag gefolgt war, bestand ihre größte Sorge darin, dass er möglicherweise aus dem Osten der Republik stammen könnte, so wie er gesächselt hatte, als sie ihm und einem seiner eigenartigen Kameraden einmal heimlich gefolgt war. Hatte Oskar Recht, drohte genau jetzt dieses Unheil, befürchtete Emma.

    Oskar nämlich maß seine Beurteilung über Menschen an dem Besitz ihrer Bücher. „Zeig mir Deine Bücher, und ich sage Dir, wer Du bist."

    Emma wollte sich ihre Bedenken nicht anmerken lassen, und so tat sie, was sie in Situationen wie dieser immer tat, wenn sich Dinge für sie nachteilig gestalten konnten. Sie ging in die Offensive. Immer noch wartete sie auf eine Reaktion, die sie beruhigen konnte.

    „Ich habe lediglich bemerkt, dass Du in einem Alter sein dürftest, in dem Du alles für möglich halten solltest," bemerkte Ron, schloss die Tür und zog sein Shirt aus. Während ihrer Beobachtungen hatte er mehrfach links wie rechts auf den Flur gelinst, zu seiner Beruhigung aber nichts Auffälliges feststellen können. Noch blieben sie unter sich.

    „Was ist? Damenbesuche sind hier verboten, wie?"

    Ron ignorierte ihre Provokation abermals.

    Emma nahm ihn weiter argwöhnisch in den Blick. „Wenn Du glaubst, dass ich auf Entführung, Höhle und Urmensch stehe, muss ich Dich enttäuschen. Außerdem. Ich sagte doch. Ich bin bereits vergeben!"

    „Vorsicht! Je höher der Affe klettert, desto mehr sieht man von seinem Hintern!" Ron ging zum Schrank und griff ein neues Shirt. Der eigentlich einfache Vorgang kam einem Jonglier- und Kraftakt gleich, denn der klapprige Holzspint kippte zunächst sowohl nach vorne wie auch zu beiden Seiten bedrohlich zunächst von links nach rechts, dann auf und ab und obendrein noch ein weiteres Mal zurück von der rechten auf die linke Seite.

    Emma war abermals verblüfft, aber nicht etwa, weil sich ein Junge vor ihr entblößte. Da hatte sie schon ganz anderes gesehen. Peinlich sorgfältig und geglättet lagen dutzende identische Shirts übereinander gelegt. Alle waren noch neu verpackt. Genauso viele Jeans stapelten in gleichem Zustand daneben. Unzählige Paare schwarzer Socken lagen auf dem Schrankboden griffbereit.

    „Jeden Tag trägst Du diese Klamotten. Immer die gleichen. Aber hip ist ganz eindeutig etwas anderes."

    Ron ließ sich nicht stören. „Hip?"

    „Ja! Hip!"

    „Was bitte meint hip?"

    „Wie, was meint hip?"

    „Wie, wie, was hip meint?"

    Eine neue Irritation machte sich in ihr breit. Wollte er sie allen Ernstes mit seiner vorgeschobenen Unwissenheit necken? Jeder Mensch jenseits des Kindergartens wusste, was dieser Ausdruck bedeutete. Ron aber schaute sie derart glaubhaft tief fragend an, dass zumindest der begründete Verdacht bestand, ihm zuzugestehen, tatsächlich nicht zu wissen, was hip meinte. Außerdem war es weise und vorausschauend, etwaigen Handgreiflichkeiten gegen Leib und Seele dialogreich zuvorzukommen. „Angesagt. In. Hip eben."

    Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Mit diesen Klamotten, wie Du sie nennst, bin ich in der Lage, mich zu entmaterialisieren. Mich aufzulösen."

    „Sicher! Geht klar. Das verstehe ich! Was sonst?" Emma inspizierte noch einmal das Zimmer mit seiner kargen Einrichtung, ohne dabei Ron auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ihr Blick fiel auf die Graphiken, die alte Damen im englischen Ambiente zeigten und wenigstens einen Hauch Wertschätzung für persönlichen Besitz vermittelten, auch wenn geschmackvoll etwas anderes war.

    Ron hatte ihr Interesse an der Kreidezeichnung vernommen. „Das einzige, was mir geblieben ist. Von meiner Mutter. England, achtzehntes Jahrhundert. Siebzehnhundertneunundfünfzig, um genau zu sein."

    Emma pflichtete ihm bei, so, als war seine Erklärung das Selbstverständlichste auf der Welt.

    Immer mal wieder beobachtete auch Ron sie aus den Augenwinkeln heraus, was Emma ihrerseits

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