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Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990
Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990
Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990
eBook470 Seiten6 Stunden

Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

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Über dieses E-Book

Die Wiedervereinigung Deutschlands in den Erinnerungen eines Diplomaten!Das Jahr 1989 war ein wichtiges für Deutschland, denn es war das Jahr des Mauerfalls. Doch dieser Triumph stellte das Land vor eine neue Herausforderung: die DDR musste nun in die Bundesrepublik eingeordnet werden. Jedoch glückten diese Veränderungen im "deutschen Jahr", welches eigentlich den Zeitraum 1989 und 1990 umfasst, besser als erwartet. Duisberg, der die Politik in dieser Zeit durch seine Position im Bundeskanzleramt aus nächster Nähe miterlebt hat, beschreibt die Ereignisse der spannungsreichen Verhandlungen und den resultierenden Einigungsvertrag mit seinen Einblicken.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum5. Okt. 2020
ISBN9788726264821
Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

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    Buchvorschau

    Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 - Claus J. Duisberg

    Claus J Duisberg

    Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

    Saga

    Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 2006, 2020 Claus J Duisberg und SAGA Egmont

    All rights reserved

    ISBN: 9788726264821

    1. Ebook-Auflage, 2020

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

    SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

    – a part of Egmont www.egmont.com

    Meiner Frau Christiane,

    die mit mir das geteilte Deutschland und

    das Glück der Wiedervereinigung erfahren hat.

    VORBEMERKUNG DES VERFASSERS

    Die vorliegende Darstellung erhebt nicht den Anspruch, eine Geschichte der deutschen Wiedervereinigung zu sein. Auch wenn versucht wurde, den allgemeinen Gang der Ereignisse deutlich zu machen, sind es doch in erster Linie persönliche Erinnerungen, Eindrücke und Erfahrungen aus den Jahren um 1989 und 1990. Als Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt war ich damals an den innerdeutschen Verhandlungen und vielen internen Gesprächen unmittelbar beteiligt und ab Oktober 1990 als Leiter der Dienststelle des Auswärtigen Amtes in Berlin, dann außerdem als Beauftragter der Bundesregierung für den Aufenthalt und Abzug der russischen Truppen aus Deutschland auch mit den Folgen der Einheit befaßt. Meine Erinnerungen beziehen sich daher vor allem auf die innenpolitischen Aspekte des Geschehens, während die überaus wichtigen, in vieler Weise entscheidenden außenpolitischen Vorgänge, an denen ich selbst nicht unmittelbar oder nur am Rande teilgenommen habe, lediglich gestreift werden konnten. Meine amtlichen Aufzeichnungen und Vermerke sowie weitere Akten, die mir seinerzeit zugänglich waren, sind bereits in der 1998 unter dem Titel »Deutsche Einheit« erschienenen Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes veröffentlicht worden. Auf sie wurde jeweils Bezug genommen. Weitere Veröffentlichungen sind dagegen weitestgehend unberücksichtigt geblieben; eine umfassende wissenschaftliche Erörterung hätte den Rahmen persönlicher Erinnerungen gesprengt. Vielleicht aber kann dieses Buch als Beitrag zu anderen wissenschaftlichen Arbeiten über die Wiedervereinigung Deutschlands dienlich sein.

    1. KAPITEL

    VORABEND DER KRISE

    Zeichen an der Wand

    Am 19. August 1989 erklärte der Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR, Professor Otto Reinhold, in einem Beitrag für Radio DDR, daß die DDR nur als sozialistischer Staat lebensfähig sei. Anders als die übrigen sozialistischen Länder, deren Staatlichkeit nicht in erster Linie von ihrer gesellschaftlichen Ordnung abhänge, sei für die DDR die Bewahrung ihrer sozialistischen Identität lebenswichtig. »Sie«, so Reinhold, »ist nur als antifaschistischer, als sozialistischer Staat, als sozialistische Alternative zur BRD denkbar. Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich keine.« Angesichts der Wandlungen in der »Welt des Sozialismus« warnte Reinhold vor allen Tendenzen, die DDR in irgendeine Form bürgerlicher Ordnung zu drängen, und forderte stattdessen eine Stärkung der sozialistischen Ordnung im Innern bei gleichzeitig verschärfter Systemauseinandersetzung nach außen. An die westlichen Staaten appellierte Reinhold, im eigenen Interesse der sozialistischen Entwicklung der DDR zum Erfolg zu verhelfen, weil nur mit der fortdauernden Existenz beider deutscher Staaten der Status quo in Europa erhalten werden könne ¹ .

    Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften war die ideologische Denkschule der SED und Reinhold einer ihrer Vordenker. Zwei fahre zuvor hatte er mit Vertretern der Grundwertekommission der SPD ein gemeinsames Papier »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« ² ausgehandelt, in dem die SED von der SPD als gleichwertiger Partner anerkannt wurde, aber ihrerseits zugestehen mußte, daß über den Unterschied der Systeme eine offene Diskussion auf beiden Seiten geführt werden sollte. Als unter Berufung auf das Papier eine solche Diskussion in Intellektuellenkreisen der DDR tatsächlich auf breiter Front einsetzte, distanzierte sich die Parteiführung, und es oblag wieder Reinhold, diesen Rückzug öffentlich darzustellen und zu rechtfertigen.

    In seinen Ausführungen am 19. August umriß Reinhold sehr präzise die grundlegende Problematik des zweiten deutschen Staates. Sie waren zugleich ein Notsignal. Inhalt und Art der Veröffentlichung ließen erkennen, daß es sich nicht nur um eine der üblichen Handreichungen zur Agitation handelte, sondern daß der Aufruf auch an die Führung selbst gerichtet war. Reinhold war viel zu klug und kannte die Verhältnisse auf beiden Seiten Deutschlands zu genau, um nicht zu wissen, daß die DDR im Wettbewerb der Systeme auf die Dauer nicht bestehen konnte. Vor dem Hintergrund der von dem neuen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, angestoßenen Reformdiskussion in allen Staaten des sogenannten »Sozialistischen Lagers« und einem wachsenden Druck auf Veränderungen auch in der DDR selbst sah er den zweiten deutschen Staat jetzt in einer existentiellen Krise, ohne freilich zu deren Überwindung anderes anbieten zu können als eine intensivere Fortsetzung des bisherigen Kurses. Letztlich war es das Eingeständnis des Scheiterns, das er vergeblich zu beschwören versuchte.

    Schon Ende Mai hatte mir ein enger Mitarbeiter von Reinhold, Professor Rolf Reissig, am Rande einer Tagung des Aspen-Instituts in Berlin erklärt, der Kern aller Probleme einschließlich des wirtschaftlichen Notstandes sei die fehlende Bereitschaft der Menschen in der DDR, sich mit ihrem Staat zu identifizieren; alle Reformen aber, die diesem Mangel abhelfen könnten, gefährdeten die Stabilität des Systems. Deutlicher konnte man kaum sagen, daß die Deutsche Demokratische Republik innerlich am Ende war und nur noch durch das Korsett der autoritären Staatsordnung zusammengehalten wurde.

    Innerdeutsche Beziehungen

    Knapp zwei Jahre zuvor war der »Generalsekretär der SED und Vorsitzende des Staatsrats der DDR«, wie Erich Honecker stets in ermüdender Ausführlichkeit tituliert wurde, zu einem offiziellen Besuch in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, war als Staatsoberhaupt vom Bundeskanzler mit militärischen Ehren empfangen worden, mit dem Bundespräsidenten und führenden Vertretern von Politik und Wirtschaft zusammengetroffen und von nicht wenigen umworben worden. Dieser Besuch war der äußerliche Höhepunkt der DDR gewesen. Die DDR-Führung hatte lange auf ihn hingearbeitet. Neben wirtschaftlicher Unterstützung versprach sie sich davon vor allem eine politische Aufwertung. Der protokollarische Rahmen spielte deshalb für sie eine entscheidende Rolle. Dafür war die DDR bereit, auch Zugeständnisse im Bereich der innerdeutschen Kontakte, vor allem im Reiseverkehr zu machen. Wolfgang Schäuble, damals Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts, war entschlossen, auf diesen Handel einzugehen.

    Entscheidungen in der Deutschlandpolitik und ihre Durchführung waren spätestens seit 1985 Sache des Bundeskanzleramtes. Das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen war zwar an sich federführend, tatsächlich lag die Zuständigkeit aber im Bundeskanzleramt ³ . Schäuble harte – bei aller Konzilianz und Behutsamkeit im Umgang mit seiner Ministerkollegin Dorothee Wilms – das Ruder in diesem Bereich fest in die Hand genommen, so daß dem Innerdeutschen Ministerium, abgesehen von der Zuständigkeit für die Lösung humanitärer Einzelfälle, nicht viel mehr blieb als die Verbreitung gesamtdeutscher Rhetorik und die Verteilung von Geld.

    Allein im Bundeskanzleramt und unter strengster Geheimhaltung wurde im Frühsommer 1987 auch der Honecker-Besuch vorbereitet. Schon Anfang April hatte der Bundeskanzler dem Termin in einem Gespräch mit dem Mitglied des SED-Politbüros Günter Mittag grundsätzlich zugestimmt, wollte allerdings den Besuch so sachlich und formlos wie möglich hinter sich bringen. Den protokollarischen Wünschen der DDR begegnete er mit großem innerem Widerstreben; und es kostete Schäuble nach seinen eigenen Worten viel Mühe, Helmut Kohl davon zu überzeugen, daß mit Halbheiten das politische Ziel einer weiteren Öffnung der DDR nicht zu erreichen sei und daß im übrigen der Besuch auf andere Weise Gelegenheit böte, den besonderen Charakter der innerdeutschen Beziehungen zu demonstrieren.

    Als Leiter des dem Chef des Bundeskanzleramts unmittelbar unterstellten Arbeitsstabes Deutschlandpolitik war ich für die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung des Besuches verantwortlich und begleitete Honecker auch, zusammen mit Staatssekretär Hans Otto Bräutigam, dem Leiter unserer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, während der fünf Tage, die er sich in Westdeutschland aufhielt. Bei der Ankunft am 7. September auf dem Flugplatz Köln-Wahn, wo ihn Schäuble begrüßte, und beim Abschreiten der Ehrenformation vor dem Bundeskanzleramt ließ er deutlich Anspannung und innere Erregung erkennen; im weiteren Verlauf lockerte er sich jedoch zusehends. Auch der Bundeskanzler und wohl jeder Anwesende waren innerlich stark berührt, als vor dem Bundeskanzleramt angesichts der verschiedenen und doch in ihrem Grunde gleichen Flaggen das Stabsmusikkorps die beiden Hymnen spielte ⁴ . In den nachfolgenden Gesprächen traf Kohl wie fast immer einen Ton, der Distanz wahrte, dem anderen aber dennoch das Gefühl gab, als Politiker ernstgenommen und trotz aller prinzipiellen Gegensätze bis zu einem gewissen Grade auch menschlich akzeptiert zu werden.

    Honecker wirkte bei öffentlichen Auftritten hölzern; seine langatmigen Ansprachen in dem gestelzten, phrasenhaften Parteistil waren schwer erträglich. Beim Gespräch in kleinerem Kreis zeigte er sich jedoch meistens wohlinformiert und verstand es, seine Position zu vertreten. Er besaß eine gewisse steife Würde, die seinem Alter, einem guten Schneider und nicht zuletzt der Aura zuzuschreiben war, die ihn als unangefochtene »Nummer 1« der DDR umgab. Seinem inneren Habitus nach war er – darin seinem Staat durchaus ähnlich – kleinbürgerlich, ohne Bildung und Verständnis für Kultur, gleichwohl mit dem Anspruch, auch insoweit maßgeblich zu sein. Wenn er sich leutselig gab, verzog er seinen schmallippigen Mund zu einem gekünstelten Lächeln; seine Augen aber blieben kalt und ließen etwas von der Härte und Erbarmungslosigkeit ahnen, mit der er seinen Weg gegangen war. Manche meinten, aufgrund seiner saarländischen Herkunft und der Jugend im alten Deutschland bei Honecker noch ein gesamtdeutsches Empfinden voraussetzen zu können. Gewiß waren ihm deutsche Gemeinsamkeiten stärker bewußt als der nachwachsenden Generation von SED-Politikern; aber er war nicht der Mann, sentimentalen Anwandlungen Raum zu geben, wenn es um das ging, was er als sein politisches Lebenswerk ansah. Die Sicherung der Existenz der DDR als eines kommunistischen deutschen Staates hatte für ihn absolute Priorität. Wo er sie auch nur indirekt bedroht sah, kannte er keine Rücksicht.

    Die Aufmerksamkeit, die Honecker bei seinem Besuch in Westdeutschland zuteil wurde, nahm er mit Befriedigung als Ausdruck der Anerkennung seines Staates entgegen. Er genoß sie darüber hinaus auch persönlich. Die westdeutsche Bevölkerung verfolgte den Besuch zwar interessiert, aber ohne stärkere Emotion. Dagegen zeigten sich größere Teile des Establishments durchaus beeindruckt. Auf der Einladungsliste für das Essen, das der Bundeskanzler am ersten Abend zu Ehren von Honecker in der Redoute in Bad Godesberg gab, standen die Namen der Spitzenvertreter aller politischen und gesellschaftlichen Institutionen; und dem Drängen einflußreicher Persönlichkeiten, ebenfalls zugelassen zu werden, konnte nur mit dem Hinweis auf die begrenzte Zahl der Plätze begegnet werden. Ich war erstaunt, wie viele bedeutende Leute aus Politik und Wirtschaft sich in meinem Büro um eine Einladung bemühten. Auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer, die Honecker anschließend besuchte, gaben sich alle Mühe, dem Gast gebührende Ehre zu erweisen. Bayerns Franz Josef Strauß wollte dabei nicht hinter Johannes Rau von Nordrhein-Westfalen zurückstehen. Am meisten Distanz wahrte noch Bernhard Vogel in Rheinland-Pfalz, der in einer sehr feinsinnigen Tischrede beim Mittagessen im Landesmuseum von Trier unter Hinweis auf die offene Grenze zu Luxemburg Vergleichbares für die innerdeutsche Grenze anmahnte. Im benachbarten Saarland dagegen, das als Honeckers Heimat einen besonderen Platz im Besuchsprogramm beanspruchte, zeigte sich die Landesregierung unter Oskar Lafontaine in geradezu peinlicher Weise um Intimität und ostentative politische Nähe bemüht.

    Den stärksten Eindruck auf Honecker selbst machte der Empfang, den ihm am 9. September Vertreter von Wirtschaft und Industrie bei einer von Otto Wolff von Amerongen geleiteten Veranstaltung des DIHT in Köln und am Nachmittag desselben Tages, auf Einladung von Berthold Beitz, in der Villa Hügel bereiteten. Er kam im Gespräch später immer wieder darauf zurück und bezeichnete dies als den Höhepunkt seiner Reise. Es war allerdings auch zum Erstaunen, wie im Palast des früheren Krupp-Imperiums, Symbol des Kapitalismus in Deutschland, der erste Mann eines kommunistischen deutschen Staates hofiert wurde und der westdeutsche Wirtschaftsadel, darunter Vorstandsmitglieder von Weltunternehmen, sich drängte, um zur Audienz vorgelassen zu werden.

    Gewiß waren es nur zum geringen Teil die – eher bescheidenen – wirtschaftlichen Perspektiven der DDR, die eine solche Anziehungskraft entfalteten. Das Faszinosum war anderer Art: Auf viele übte der andere Teil Deutschlands, gerade weil sie ihn wenig kannten, einen fast exotischen Reiz aus; wem es gelang, auf diesem schwierigen Feld einen Schritt zu unternehmen, hielt sich darauf Besonderes zugute. So wurde eine persönliche Begegnung mit Honecker nachgerade für westdeutsche Politiker aller Schattierungen ebenso wie für Größen der Wirtschaft zu einem wichtigen Element der Selbstdarstellung. Man mag hinzufügen, daß überdies mancher leicht dem Reiz des Totalitären erliegt, zumal wenn es äußerlich Ordnung und Stabilität zu gewährleisten scheint. Die Staatsgläubigkeit der Wirtschaft, verbunden mit einem gering entwickelten politischen Gespür bei manchen ihrer Vertreter, hat eine gewisse Tradition in Deutschland; und insofern war die Villa Hügel wohl in der Tat der geeignete Platz für ein solches Schauspiel.

    In der offiziellen Bewertung der DDR war der Besuch ein bedeutender politischer Erfolg, der vor aller Welt die Souveränität und Gleichberechtigung beider deutschen Staaten zu dokumentieren und der DDR endgültig zu internationalem Ansehen zu verhelfen schien. Mit derselben Begründung wurde er in Westdeutschland auch kritisiert: Die DDR sei ohne Not und Gegenleistung aufgewertet und unter Mißachtung des Wiedervereinigungsgebots völkerrechtlich anerkannt worden, hieß es in konservativen Kreisen.

    Wolfgang Schäuble und ich als sein Mitarbeiter im Bundeskanzleramt sahen das anders: Was die Aufwertung anlangte, so schien uns das ein flüchtiger Vorteil zu sein, den die DDR bei mangelndem Wohlverhalten – wie tatsächlich wenig später geschehen – wieder zu verlieren drohte; insofern hätte der Besuch eher eine disziplinierende Wirkung haben können. Zur Frage einer völkerrechtlichen Anerkennung ließ sich sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland die DDR bereits mit Abschluß des Grundlagenvertrages ⁵ als nach innen und außen selbständigen Staat anerkannt und lediglich für das bilaterale Verhältnis mit dem Festhalten an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit und dem Ziel der Wiedervereinigung einen Sondercharakter reklamiert hatte. Durch den Besuch änderte sich daran nichts.

    Freilich ist nicht zu leugnen, daß Bilder wie die vom zeremoniellen Empfang im Hof des Bundeskanzleramts die Vorstellung der Menschen stärker prägen als Vertragsbestimmungen. Insofern kam politisch schon etwas hinzu. Andererseits machten gerade diese Bilder und der gesamte Ablauf deutlich, daß der Besuch nicht eines der üblichen zwischenstaatlichen Protokollereignisse war, sondern daß hier mehr mitschwang. Jedermann konnte sehen, daß es sich bei den innerdeutschen Beziehungen nicht um ein normales zwischenstaatliches Verhältnis handelte, sondern daß die beiden deutschen Staaten in einer besonderen Weise miteinander verbunden waren. Der Bundeskanzler nutzte seine – zu bester Fernsehzeit in alle deutschen Haushalte in Ost wie West direkt übertragene – Tischrede am Abend des 7. September ⁶ , um das eindringlich herauszustellen und zugleich unmißverständlich zu erklären, daß die Teilung Deutschlands zwar gegenwärtig und in überschaubarer Zukunft unser politisches Handeln bestimmte, daß wir diese Teilung aber nicht als endgültig betrachteten und ihre Überwindung langfristig für notwendig und möglich hielten. Honecker, der sich das mit unbewegtem Gesicht anhörte, erwiderte mit dem Bild von Feuer und Wasser, die sich ebensowenig mischen könnten wie Sozialismus und Kapitalismus. Er sollte schließlich recht behalten, wenngleich in ganz anderem Sinn, als er – ebenso wie wir damals – es sich vorstellen konnte.

    Aus unserer Sicht war der Honecker-Besuch ein notwendiger und wichtiger Schritt auf dem Wege der allmählichen Öffnung der DDR. Diese Politik war zwanzig Jahre vorher nach dem von Egon Bahr unter dem Motto »Wandel durch Annäherung« ⁷ entwickelten Konzept von Willy Brandt begonnen und – ungeachtet der erbitterten Kritik der CDU in den Jahren ihrer Opposition – nach dem Regierungswechsel im Herbst 1982 von Helmut Kohl fortgesetzt worden. Ausgangspunkt war die Einsicht, daß man den Realitäten Rechnung tragen müsse, wenn man auf sie einwirken und sie langfristig ändern wollte, und daß es nichts nützte, an der Rechtsfigur der staatlichen Einheit festzuhalten, wenn unterdessen ihr Substrat, das Gefühl nationaler Verbundenheit, mangels Kommunikation verfiel.

    Außerdem durfte man nicht ganz aus dem Blick verlieren, daß nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Grenzsoldaten, die auf Flüchtlinge schössen, die Mitarbeiter der Staatssicherheit, die ihren Mitmenschen auf vielfältige Weise nachstellten, und die Funktionäre, die für dieses Unrechtsregime die Verantwortung trugen, daß auch sie alle Deutsche waren. Zu den Realitäten gehörten Honecker und seine Genossen, und man kam nicht umhin, sich trotz der ihnen fehlenden Legitimität mit ihnen ins Benehmen zu setzen, wenn man die Verbindung zwischen den Menschen beiderseits von Mauer und Stacheldraht für die Zukunft erhalten wollte.

    Mit ihnen zu verhandeln bedeutete notwendigerweise Anerkennung, jedenfalls pro tempore. Jeder innerdeutsche Vertragsschluß wertete das Regime ein wenig auf und befestigte damit scheinbar die Teilung; andererseits eröffnete er zugleich Möglichkeiten, durch Zusammenarbeit Kommunikation zu schaffen und damit der Teilung entgegenzuwirken. So kaufte die Bundesrepublik innerdeutsche Kommunikation für den Preis von Aufwertung und wirtschaftlicher Unterstützung. Die DDR brauchte beides – wirtschaftliche Hilfe, um den Ansprüchen ihrer Bürger notdürftig gerecht werden zu können, und äußere Anerkennung, um das innere Legitimationsdefizit auszugleichen.

    Der Preis, den sie dafür erbrachte, war eine vorsichtige, kontrollierte Westöffnung mit dem Risiko, dadurch das eigene System zu destabilisieren. An einer ernsthaften Gefährdung der inneren Stabilität der DDR konnte andererseits auch die Bundesrepublik kein Interesse haben; denn solange die Sowjetunion, deren Geschöpf und Satellit die DDR war, einer grundlegenden Änderung der Verhältnisse dort nicht zustimmte, hätte das nur zu einer neuerlichen Abschließung geführt und damit alle Bemühungen um innerdeutsche Kontakte zunichte gemacht. Die Bundesrepublik konnte nicht auf Destabilisierung, sondern nur auf langsame Erosion des Systems der DDR setzen, auf Evolution, nicht auf Revolution.

    So waren die innerdeutschen Beziehungen für beide Seiten eine Gratwanderung, allerdings mit dem Unterschied, daß die DDR immer absturzgefährdet war und die Bundesregierung darauf Rücksicht nehmen mußte. Kritiker sprachen von einem »Management der deutschen Teilung« und beklagten das Fehlen eines Konzepts für eine zielstrebige Wiedervereinigungspolitik. Die Wahrheit war, daß es ein solches Konzept nicht geben konnte, solange die sowjetische Politik eine Neuordnung in Mitteleuropa ausschloß. Es galt vielmehr, bereit zu bleiben für Veränderungen, wenn sie denn einmal kommen sollten, und einstweilen alles zu tun, um die Bindungen zwischen den Menschen im östlichen und westlichen Deutschland lebendig und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit wachzuhalten im Hinblick auf das Ziel, die deutsche Einheit in einer wenngleich ungewissen Zukunft wiederherzustellen.

    Allerdings hatten manche dieses Ziel zeitweilig aus dem Auge verloren oder auch ganz aufgegeben; aus dem proklamierten Wandel durch Annäherung war unversehens eine Annäherung durch eigenen Wandel geworden. In der SPD war schon während ihrer Regierungszeit und mehr noch nach 1982 in der Opposition eine Neigung festzustellen, die deutsche Zweistaatlichkeit als Element der Stabilität und damit des Friedens in Europa anzusehen mit der Folge, daß die Erhaltung der DDR geradezu als staatsmännische Pflicht erschien. In dem zwischen SPD und SED 1987 ausgearbeiteten Grundsatzpapier ⁸ hieß es ausdrücklich, daß keine Seite der anderen die Existenzberechtigung absprechen dürfe und die Hoffnung sich nicht darauf richten könne, daß eine Seite die andere abschafft.

    Manche – dazu gehörten viele Intellektuelle, auch Kreise der evangelischen Kirche – glaubten zudem, in der DDR zumindest Ansätze für eine sozialistische Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung des Westens zu erkennen, und meinten, über die Mängel in der Realität hinwegsehen oder sie wenigstens um des vermeintlich guten Zieles willen ertragen zu können. Linke Schwärmer und die meisten Grünen suchten überdies die Teilung der deutschen Nation mit dem Gedanken zu rechtfertigen, daß sie eine Art Sühne für begangenes Unrecht und für das Unglück darstellte, das der deutsche Nationalstaat in der Vergangenheit über die Welt gebracht hatte – eine Sühne, die allerdings fast ausschließlich andere, nämlich die Deutschen in der DDR, zu leisten hatten.

    In der Öffentlichkeit wurde die deutsche Einheit oft schon als unrealistisch abgeschrieben; und die Neigung wuchs, den zweiten deutschen Staat auf Dauer zu akzeptieren und den Vorbehalt der nationalen Einheit, wie er besonders in der Präambel zum Grundgesetz und konkret in dem Festhalten an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit sowie dem Sondercharakter der innerdeutschen Beziehungen zum Ausdruck kam, als lästigen Ballast aufzugeben. Selbst Willy Brandt sprach noch im September 1988 davon, daß die Hoffnung auf Wiedervereinigung die »Lebenslüge der zweiten deutschen Republik« sei ⁹ . Die Bundesregierung unter Helmut Kohl betonte demgegenüber gerade diese Grundsatzpositionen, ohne sich freilich dadurch an einer pragmatischen Tagespolitik hindern zu lassen. Mit begrenzten Zugeständnissen und dem Hebel wirtschaftlichen Entgegenkommens versuchte sie, die Türen der DDR zum Westen weiter zu öffnen, in der Zuversicht, daß der Westen bei diesem Handel langfristig nur gewinnen könnte.

    Im Zusammenhang mit dem Besuch Honeckers – und das war für uns der politisch entscheidende Punkt – gelang es, die DDR zu einer bis dahin nicht möglichen Ausweitung des innerdeutschen Reiseverkehrs zu bewegen. Um den offiziellen Empfang Honeckers in der Bundesrepublik zu erreichen, fand sich die DDR nicht nur bereit, touristische Reisen aus Westdeutschland in größerem Umfang zuzulassen, sondern lockerte auch – erst tatsächlich, dann auch rechtlich – die Reisebeschränkungen für ihre eigenen Bürger in einem Maße, das weitreichende Konsequenzen hatte.

    Während Rentner aus der DDR schon seit längerem relativ frei in den Westen reisen durften und davon – sofern dort Verwandte oder Freunde für ihren Unterhalt sorgten – auch mit jährlich etwa 1,5 Mio. Besuchen reichlich Gebrauch machten, blieb die Zahl der Besuche von Personen unterhalb des Rentenalters, die nur in sogenannten dringenden Familienangelegenheiten reisen durften, ziemlich konstant auf 40 000 bis höchstens 60 000 im Jahr beschränkt. Auf Drängen der Bundesregierung stieg die Zahl dann jedoch 1986 zunächst auf 244 000, 1987 auf 622 000 und 1988 auf 790 000 Besuche. Zusammengenommen waren in diesen drei Jahren demnach schätzungsweise rund sechs Millionen Menschen aus der DDR, davon etwa ein Drittel unterhalb des Rentenalters, ein- oder mehrmals zu Besuch in Westdeutschland oder West-Berlin.

    Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf das Bewußtsein bleiben. Die unmittelbaren Erfahrungen im Westen, nicht zuletzt auch im Umgang mit Behörden, ließen die Systemunterschiede nur allzu deutlich hervortreten; sie stärkten die Bereitschaft zu Kritik und Widerspruch nach Rückkehr in die Heimat. Zugleich wurde das Gefühl für die Zusammengehörigkeit der Menschen in beiden Teilen Deutschlands neu belebt. Insofern trug gerade der Honecker-Besuch letztlich nicht wenig zu den sich anbahnenden Veränderungen in der DDR bei und bestätigte damit die Richtigkeit der zuweilen als allzu pragmatisch gescholtenen Deutschlandpolitik der Bundesregierung.

    Stimmungen

    Kaum etwas anderes stand so sehr im Mittelpunkt der Wünsche der Menschen in der DDR wie die Reisefreiheit. Die Kritik an den Verhältnissen entzündete sich fast immer an dem Verbot von Reisen in den Westen; und vielfach, auch bei uns, entstand der Eindruck, das Leben in der DDR könnte erträglich werden, wenn wenigstens auf diesem Gebiet etwas mehr Freiheit gegeben würde.

    Über die Jahre war die Stimmung in der Bevölkerung kontinuierlich gesunken, ohne daß sich dafür immer konkrete Gründe ausmachen ließen. Objektiv hatte sich die Lage nicht einmal verschlechtert, war in einzelnen Bereichen sogar besser geworden. Das System war zwar unverändert totalitär und auf Unterdrückung individueller Freiheiten gegründet, auch war das Netz der Überwachung und Bespitzelung durch die allgegenwärtige Staatssicherheit mit den Jahren immer dichter geworden; rein äußerlich ging das Regime aber vielfach behutsamer vor, seine Machtäußerungen waren geregelter und setzten etwas mehr auf indirekten Zwang als auf offene Unterdrückung.

    Wenngleich an der Grenze weiterhin auf Flüchtlinge scharf geschossen wurde, Regimekritiker unnachsichtig verfolgt und alle, die in das Räderwerk gerieten, mit rücksichtsloser Brutalität zermahlen wurden, waren im Alltag reine Willkürakte seltener, zumindest weniger offensichtlich geworden; die staatlichen Organe zeigten sich vielmehr im allgemeinen um eine barsche Korrektheit im Umgang mit den Bürgern bemüht. Die Versorgung mit Konsumgütern war zwar nach wie vor durch ständigen Mangel gekennzeichnet, insgesamt war das Niveau jedoch besser und das Angebot – wenn man es zu finden wußte – vielfältiger geworden. Mit den erweiterten Reisemöglichkeiten wurde schließlich auch der Bewegungsraum für den einzelnen etwas größer. Dennoch wuchs die Unzufriedenheit. Soweit es reale Verbesserungen gab, genügten sie doch nie den ihnen immer vorauseilenden Erwartungen.

    Andererseits war es auch nicht so, daß die Menschen ständig die Faust in der Tasche ballten. Wer – und das war die große Mehrzahl – sich in den Bedingungen, wie sie nun einmal waren, eingerichtet hatte, sich anzupassen verstand und vermied aufzufallen, konnte in der DDR erträglich und sogar mit manchen Annehmlichkeiten leben. Selbst Dissidenten wurden – wenn sie nicht offen aufbegehrten oder besonders prominent waren – in ihrem privaten Rückzugsbereich zwar überwacht, doch im übrigen weitgehend unbehelligt gelassen. Das Auskommen war bescheiden, aber sicher. Initiative war nicht gefragt, und Anstrengungen konnte man mit etwas Geschick ausweichen. Das Leben verlief insgesamt ohne große Höhen, dafür war es vorhersehbar; es war – wie man sagte – gekennzeichnet durch ein dreifaches »L«: es war langsamer, leichter und langweiliger als andernorts.

    Nichtsdestoweniger gab es einen sich allmählich anstauenden Unmut, der oft aus trivialen Anlässen des Alltagslebens gespeist wurde und sich mit der wachsenden Überzeugung verband, daß in der DDR im kleinen wie im großen nichts wirklich funktionieren könne. Fand man in den siebziger Jahren noch überall Menschen, die sich ehrlich für den Erfolg des Systems einsetzten und sich betrübten, daß dieses ihnen dabei so viele Hindernisse in den Weg legte, so überwogen zum Ende der achtziger Jahre Resignation und Gleichgültigkeit, nicht selten gepaart mit zynischem Opportunismus.

    Zugleich ging auch in der DDR die Saat der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) auf. Der mit der Schlußakte von Helsinki 1975 begonnene Prozeß führte in allen Staaten des Warschauer Paktes, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, zu einer systemkritischen Diskussion, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. In der DDR standen dabei die Zusicherungen zur Reisefreiheit und Familienzusammenführung im Vordergrund, später aber zunehmend auch Forderungen nach Meinungs- und Informationsfreiheit, schließlich ganz generell nach politischer Freiheit. Daneben und teilweise damit verbunden bildeten sich vornehmlich unter dem Dach der Evangelischen Kirche Friedensgruppen, die mit der Losung »Schwerter zu Pflugscharen« für allgemeine Abrüstung im Osten wie – wohlgemerkt – auch im Westen eintraten.

    Auf diese Stimmung traf die von einigen Staaten des Warschauer Paktes ausgehende und von der Sowjetunion unter Gorbatschow aufgenommene Reformdiskussion, verbunden mit eigener Anschauung und neuartigen Erfahrungen aus Besuchen im Westen. Das Gefühl, daß politisch und wirtschaftlich durchgreifende Reformen auch in der DDR erforderlich seien, wurde zunächst von einigen am Rande der evangelischen Kirche angesiedelten Friedens- und Menschenrechtsgruppen artikuliert, verbreitete sich dann aber und reichte bis in Parteikreise hinein, ohne daß freilich über Inhalt und Richtung solcher Reformen mehr als diffuse Vorstellungen bestanden. Es wuchs jedoch – und das war das Entscheidende für die weitere Entwicklung – die Bereitschaft, sich auch öffentlich zu einer kritischen Haltung und zu Reformforderungen zu bekennen.

    Das zeigte sich zum ersten Mal eindrucksvoll am 17. Januar 1988 bei der jährlichen Demonstration zum Todestag von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Mit Spruchbändern, auf denen das Wort von Rosa Luxemburg »Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden« stand, forderten Mitglieder regimekritischer Gruppen in subtiler Weise eine Reform des Systems. Dieses reagierte zunächst mit der herkömmlichen Methode: Die Staatssicherheit griff ein und verhaftete zahlreiche Demonstranten, gegen die massive strafrechtliche Anklagen erhoben wurden. Das Aufsehen, das die Vorgänge in der westlichen Öffentlichkeit erregten, und die dort ausgelösten Proteste bewogen die DDR-Führung dann jedoch zum Einlenken. Dabei half die evangelische Kirche durch eine in der Sache feste, in der Form behutsame Vermittlung, Brücken zu bauen, über die dem Staat ein Zurückweichen ermöglicht wurde.

    Die Krise endete schließlich damit, daß alle Festgenommenen aus der Haft entlassen und außer Verfolgung gesetzt und einige oppositionelle Leitfiguren – zum Teil gegen ihren Willen – nach Westdeutschland oder vorübergehend ins Ausland abgeschoben wurden. Maßgeblich dürfte der Wunsch gewesen sein, das mühsam und nicht zuletzt mit dem Honecker-Besuch erworbene internationale Ansehen der DDR nicht weiter zu beschädigen, aber wohl auch die Sorge, allein mit repressiven Maßnahmen der Entwicklung nicht mehr beikommen zu können.

    Insgesamt vermittelte die Partei- und Staatsführung bereits damals den Eindruck von Unsicherheit. Im Apparat löste die mangelnde Konsequenz des Vorgehens Verwirrung aus, im Verhältnis zur Bevölkerung wurden die Probleme nicht gelöst, die latenten Spannungen eher verstärkt.

    Das andere herausragende Ereignis für die Entwicklung der Opposition in der DDR war die Kommunalwahl am 7. Mai 1989. Weniger wegen der Tatsache, daß mehr als sonst Wahlberechtigte der Wahl fernblieben, ungültige Stimmzettel abgaben oder ausdrücklich gegen die Einheitsliste stimmten, sondern vor allem weil oppositionelle Gruppen es mit Erfolg unternahmen, das Regime der Wahlfälschung zu überführen. Mitglieder dieser Gruppen gingen als Beobachter in die Wahllokale – was nach dem Wahlgesetz der DDR möglich, aber bis dahin kaum praktiziert worden war – und registrierten das nach Auszählung der Stimmen von dem Wahlleiter verkündete örtliche Ergebnis. Durch Addition ermittelten sie dann die Gesamtzahlen für einzelne Wahlkreise, um dabei festzustellen, daß die realen Zahlen nicht unerheblich von dem jeweiligen amtlichen Endergebnis abwichen. Denn obwohl immer noch über 90% ihre Stimme für die Einheitsliste abgegeben hatten, hielten Vertreter des Regimes es für notwendig, das Ergebnis zu korrigieren und den Prozentsatz der Dissidenten kleiner erscheinen zu lassen.

    Das eigentlich Bemerkenswerte aber war, daß es bei dieser Gelegenheit erstmals zu einem organisierten überörtlichen Zusammenwirken oppositioneller Kräfte kam. Opposition war nicht mehr bloß eine individuelle Haltung, die sich im geschlossenen Kreis Gleichgesinnter manifestierte, sondern man suchte nun miteinander Verbindung aufzunehmen und Fäden der Kommunikation durch das ganze Land zu ziehen. Mit de m Austritt aus der Isolierung begann die Opposition zu einem politischen Faktor zu werden.

    Realitätsverlust

    Die Stimmungslage der Bevölkerung wurde von der allgegenwärtigen Staatssicherheit insgesamt recht gut erfaßt, von der politischen Führung aber in ihrer wirklichen Dimension nicht begriffen. Man war sich hier zwar eines inneren Drucks bewußt und versuchte, ihm in gewissem Umfang Rechnung zu tragen. Schritte wie der Erlaß einer Reiseverordnung, mit der die Reisemöglichkeiten erweitert und formelle Grundlagen auch für eine Übersiedlung ins westliche Ausland geschaffen wurden, sowie die Einführung von Ansätzen für eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ließen ein solches Bemühen erkennen, waren jedoch – auch wegen der systembedingten Einschränkungen – zu halbherzig und blieben jedenfalls hinter den Erwartungen der Bevölkerung zurück. Für sie galt, was fast immer das Entgegenkommen der Herrschenden in einer vorrevolutionären Situation kennzeichnet: zu wenig und zu spät.

    Honecker selbst ließ eine befremdliche Realitätsferne erkennen. Er schien sich weder der politischen noch gar der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR bewußt zu sein, sah sich vielmehr in der Rolle eines Landesvaters, der über ein zwar nicht problemfreies, aber doch geordnetes Staatswesen mit einer insgesamt zufriedenen Bevölkerung herrschte. Ich hatte oft den Eindruck, daß er sich wenn nicht geliebt, so doch geachtet fühlte und damit vielleicht sogar nicht einmal ganz unrecht hatte, diese Achtung aber als Zustimmung zu seinem System mißverstand.

    Er gefiel sich in patriarchalischen Attitüden und bewilligte aus einem Fonds zu seiner persönlichen Verfügung, der stets mit 200 Mio. DM gefüllt sein mußte, gelegentlich Sondereinfuhren von Konsumgütern – Apfelsinen zu Weihnachten, auch einmal Westautos; und nicht selten nahm er sich persönlich einzelner Probleme an, auf die er zufällig stieß, so daß an ihn gerichtete Eingaben manchmal überraschende Wirkung hatten. Gerne zog er Vergleiche zu seiner Jugend und zur Lage nach dem Krieg, um dann den sozialistischen Fortschritt zu preisen. Er war zum Beispiel besonders stolz darauf und gab es als Zeichen wirtschaftlicher Stabilität aus, daß der Preis für ein Brötchen seit fast vierzig Jahren gleich geblieben war; daß Brötchen aber inzwischen billiger als Viehfutter waren und von den Menschen wo immer möglich in großen Mengen an Kaninchen und Schweine verfüttert wurden, nahm er dagegen nicht wahr. Ebensowenig sah er wohl die Zurüstungen, die speziell für ihn gemacht wurden und die Wirklichkeit verbargen, etwa daß die Fassaden der Häuser in der Prenzlauer Allee, durch die er gewöhnlich von seiner Wohnung in Wandlitz ins Stadtzentrum fuhr, gerade nur bis zu der Höhe gestrichen waren, die man beim Blick aus dem Auto erkennen konnte. Ein Funktionär sagte mir einmal selbstironisch: »Wenn der Honecker kommt, wird auch der Wald gefegt.«

    Zuletzt und wohl altersbedingt nahm der Abstand zur Realität immer mehr zu. Bei einem Gespräch mit Schäuble am 9. November 1988 redete er fast nur noch langatmig und nicht immer ganz konsistent darüber, wie doch alles in den letzten vierzig Jahren soviel besser geworden sei und wie gut es den Menschen gehe, um dann nach Art alter Leute zu klagen, daß die jüngere Generation dies leider nicht genügend anerkenne. Als im April 1989, wo die Zeichen des Unmuts in der Bevölkerung kaum noch zu übersehen waren, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, Honecker bei einem Besuch vorsichtig auf die angespannte innere Lage ansprach, wies dieser die Annahme, es gebe innere Probleme, weit von sich und erklärte, er lade ihn, den Ministerpräsidenten, ein, an der Parade zum 1. Mai teilzunehmen, dann werde er sehen, wie groß die Übereinstimmung zwischen Führung

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