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Frank-Walter Steinmeier: Eine politische Biographie
Frank-Walter Steinmeier: Eine politische Biographie
Frank-Walter Steinmeier: Eine politische Biographie
eBook1.069 Seiten13 Stunden

Frank-Walter Steinmeier: Eine politische Biographie

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Über dieses E-Book

Diese Biographie analysiert erstmals umfassend die politische Karriere von Frank-Walter Steinmeier, dem 12. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland und einem der bedeutendsten Sozialdemokraten der letzten zwei Jahrzehnte.
Sebastian Kohlmann erzählt die Geschichte, wie Steinmeier - ein Vertreter der »Post-68er-Generation« - von einem politischen Akteur im Hintergrund zu einem Politiker im Vordergrund auf der großen Bühne der Bundespolitik wurde. Er widerspricht dabei den bis heute geläufigen Klischees eines visions- und leidenschaftslosen Verwaltungsbeamten und zeigt Frank-Walter Steinmeier vielmehr als einen seit Studientagen eminent politischen Geist mit klarem Wertekanon und Gestaltungsanspruch.
Die Biographie lotet die Wirkung Steinmeiers in seinen verschiedenen Ämtern und bei der Neupositionierung der SPD in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus. Aus dieser präzisen Analyse des politischen Lebenswegs von Frank-Walter Steinmeier ergibt sich schließlich das Profil eines hochpolitischen Bundespräsidenten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. März 2017
ISBN9783732839513
Frank-Walter Steinmeier: Eine politische Biographie
Autor

Sebastian Kohlmann

Sebastian Kohlmann, geb. 1982, arbeitet im Politiksektor in Berlin. Zuvor war er unter anderem Referent bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und mehrere Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung tätig. Er hat unter anderem zu Franz Müntefering, Gerhard Schröder und Richard von Weizsäcker publiziert.

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    Buchvorschau

    Frank-Walter Steinmeier - Sebastian Kohlmann

    I. Einleitung

    1.

    Warum eine Steinmeier-Biographie?

    Einleitung und Fragestellung

    Es war der Wendepunkt einer Karriere, die bisher im Hintergrund verlaufen war. 14 Jahre hatte Frank-Walter Steinmeier als enger Mitarbeiter an der Seite von Gerhard Schröder gearbeitet, zunächst in Niedersachsen, dann im Bund. Nach dem politischen Ende seines Ziehvaters trat er 2005 selbst in den Vordergrund: erst als Außenminister, dann als Kanzlerkandidat, danach als Oppositionsführer und noch einmal als Außenminister - und schließlich, nach Abschluss der Arbeiten an dieser Biographie, als 12. Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

    Zwischen diesen beiden Polen, der Politik im Hintergrund und der Politik im Vordergrund, ist Steinmeier nunmehr seit über 25 Jahren politisch aktiv - einen Großteil davon in der Exekutive und, mit Ausnahme der ersten zwei Jahre, im strategischen Zentrum seiner Partei.¹ Mit seinem Wirken in den unterschiedlichen Positionen ist er damit, so die These dieses Buches, einer der einflussreichsten Sozialdemokraten der letzten zwei Jahrzehnte.

    Die vorliegende Biographie will den Werdegang dieses Politikers nachzeichnen und seinen Einfluss auf die Exekutive und damit auf die Gestaltung des Landes auf der einen Seite und auf der anderen Seite seinen Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie untersuchen. Wie konnte Steinmeier überhaupt so weit aufsteigen? Welche (bleibende) Wirkung hat Steinmeier in seinen jeweiligen Ämtern erzielt? Und: Wie groß ist Steinmeiers Rolle bei der Neupositionierung der SPD in den vergangenen zwei Jahrzehnten?

    Frank-Walter Steinmeier ist bei Beginn und Abschluss dieser Biographie noch im Amt, insofern gilt umso mehr: Es kann sich nur um eine Momentaufnahme handeln. Doch zeigt eben die Erfahrung, »daß sich in unserer unter dem Gesetz der Beschleunigung stehenden Epoche schon in zehn Jahren soviel verändert, daß sich aus dem entsprechenden Abstand das Profil und die Leistung eines Staatsmanns deutlicher erkennen lassen.«² Steinmeiers politischer Werdegang begann vor 25 Jahren, Steinmeiers Arbeit im Bund vor 18 Jahren, seine erste Amtszeit in der Politik im Vordergrund liegt bereits über zehn Jahre zurück - für einen wissenschaftlichen »Zwischenbericht« dürfte es also genügen.³

    Dass es dabei nun gerade in Bezug auf die »Spitzenchargen« der Politik »naturgemäß« und auch zu Recht ein beachtliches Interesse gibt,⁴ ist nur richtig - und so ist eine wissenschaftliche Biographie beispielsweise über Gerhard Schröder, aber auch über Angela Merkel längst veröffentlicht.⁵ Dass es jedoch bisher über den einflussreichen Hintergrundmann der rot-grünen Jahre und wichtigen Politiker unter Bundeskanzlerin Merkel und schließlich der Oppositionsjahre der SPD keine vollumfängliche wissenschaftliche Untersuchung über seine Karriere, seinen Einfluss und seine Arbeit gibt, stellt allein ein Forschungsinteresse dar. Dass Steinmeier seit seiner Inthronisierung zum Außenminister 2005 in den Beliebtheitsskalen der Umfrageinstitute ein Abonnement auf einen der vorderen drei Plätze zu haben scheint, unterstreicht dies nur. Denn wenn es richtig ist, dass »[i]m deutschen Parteiensystem der Gegenwart […] ein besonderer Typus der politischen Elite« dominiere, nämlich »der Büroleiter«,⁶ und eben dieser vom Bürger so wohlwollend eingeschätzt wird, dann ist es nur konsequent, Steinmeier auch als Beispiel für diesen Typus zu biographieren, der wahlweise als visionslos und ideologiefrei,⁷ oder, wie es Medienvertreter taten, als »Mann ohne Geschichte«⁸ (Zeit) beschrieben wird, dem »jede politische Leidenschaft«⁹ (Spiegel) fehle. Ob diese Beschreibungen zutreffen, bleibt abzuwarten. Jedenfalls: All das macht Steinmeier »biographiewürdig«.¹⁰

    Spätestens seit den 1980er Jahren hat die Biographie als Forschungsdisziplin wieder an Akzeptanz gewonnen, auch die Strukturalisten, denen die Personen anders als die »Strukturen, Prozesse und gesellschaftliche[n] Entwicklungsimperative« lange Zeit »fast nichts« waren,¹¹ haben ihr Dogma weitestgehend aufgegeben. Die »leidenschaftliche[n] Debatten in den Sozial- und Geisteswissenschaften« sind geführt.¹² Deshalb müssen sie an dieser Stelle auch nicht noch einmal wiedergegeben werden. Wichtiger ist, wie dieser Widerspruch zwischen Strukturalisten und Intentionalisten aufgelöst worden ist. Denn statt dem »›Great Man‹ ein Forum zu bieten«, wird nunmehr tunlichst und zu Recht darauf geachtet, »das Individuum in soziale, kulturelle und politische Kontexte einzubetten«,¹³ eben: zu kontextualisieren. Und so erlebt die Biographie, dieser einstige »blind[e] Fleck«,¹⁴ denn auch, in Zeiten, in denen das Interesse an Personen immer mehr zunimmt,¹⁵ eine neue Blütephase. Ob über Klemens von Metternich,¹⁶ Helmut Kohl¹⁷ oder Karl Schiller;¹⁸ ob Abhandlungen, in denen die Geschichte der Bundesrepublik in Politiker-Porträts erzählt wird¹⁹ - zahlreiche wissenschaftliche Werke sind in jüngster Zeit erschienen, die anhand von Biographien Zeitgeschichte darstellen. Schließlich bestimmen Personen das politische Handeln.²⁰ Sie sind dabei zwar nur ein Teil im politischen System, aber ein wesentlicher.²¹ Neben den Ereignissen selbst »prägen sie das Regierungshandeln«.²² Auch ein anderer als Steinmeier hätte so womöglich die Agenda 2010 entwickelt, weil einfach die Strukturen es verlangten, doch wie sie entwickelt worden ist, oblag Steinmeier. Biographien werden so mittlerweile als »Teil einer lebendigen kulturellen Praxis«²³ angesehen - und damit auch als eine »Personalisierung von Zeitgeschichte«.²⁴

    So soll auch im vorliegenden Buch das Wirken und die persönliche Entwicklung des Politikers Frank-Walter Steinmeier analysiert und die Person dabei immer in den Kontext der sozialen, kulturellen und der politischen Geschichte eingebettet werden. Es ist die Geschichte eines Protagonisten der »Post-68er-Generation«²⁵ und der Rückkehr der Sozialdemokraten in die Regierung, zuerst in den 1970er Jahren und schließlich in Niedersachsen und im Bund seit Anfang der 1990er Jahre. Es ist die Geschichte des erodierenden Sozialstaates seit den 1970er Jahren mit dem Ende des Wirtschaftswunders und der Vollbeschäftigung. Auch ist es die Geschichte des »rot-grünen Projekts«²⁶ und der Erzählung von den größten Sozialreformen in der Bundesrepublik. Es ist aber auch die Geschichte eines großen Abstiegs einer der beiden Volksparteien und einer Regenerierung in der Opposition. Und schließlich: die einer globalisierten Welt mit neuen Herausforderungen in der Innen- und Außenpolitik.

    Die Fülle der Themen zeigt ein Problem bereits auf. Bei aller Kontextualisierung soll eben auch nicht überkontextualisiert werden. Hans-Peter Schwarz schreibt in Bezug auf seine biographierten Politiker Konrad Adenauer und Helmut Kohl, dass man sich »über die Doppelbödigkeit oder noch besser die Vieldeutigkeit der politischen Manöver dieser hohen Akteure im klaren« sei, »und man […] ständig mit der Versuchung« ringe, »alle die feinen und unfeinen Schachzüge des Gewerbes allzu detailliert zu schildern mit der Folge, daß die Biographie nie fertig wird oder zu einem elefantösen Achtbänder degeneriert«.²⁷ Das möchte auch diese Biographie nicht. Sie will, vergleichbar mit einer Dokumentation oder einer Prosa, dort, wo es nötig ist, die Nahaufnahme anwenden, dort, wo es nicht nötig erscheint, die Totale benutzen oder eben die Erzählzeit und die erzählte Zeit je nach Sachverhalt variieren. Am Ende soll eine politische Biographie entstehen, die zudem das Private nur da, wo unbedingt nötig, mit einbezieht und das Politische in den Mittelpunkt rückt.

    Dabei wird bewusst die »Erzählform einer klassischen Biographie« gewählt²⁸ und »traditionell-chronologisch verfahren«.²⁹ Anders als in der darstellenden Geschichtsschreibung stehen, wie Schwarz das Wesen einer Biographie beschreibt, »Lebensweg und Lebensleistung« im Mittelpunkt.³⁰ Sie möchte dabei »verstehend-kritisch[] sein.«³¹ Es soll also nachvollzogen werden, warum wann wie Steinmeier im Kontext der Geschichte gehandelt hat. So wird ein möglichst facettenreiches und genaues Bild von Steinmeiers Karriere und seinem Wirken gezeichnet, wie es mit Herausgriff beispielsweise eines einzelnen Ereignisses, bei dem dann wieder das Ereignis im Mittelpunkt gestanden hätte, nicht möglich wäre. Dies soll, das versteht sich von selbst, nicht apologetisch passieren, sondern es soll, wie in der Beschreibung des Ansatzes herauszulesen ist, gleichberechtigt verstanden, aber eben auch kritisch betrachtet werden.

    Gleiches gilt für die Jahre vor der Politik, jene Jahre in der Wissenschaft und Steinmeiers Jugend. Denn »bei aller gebotenen Vorsicht vor konstruierten Lebenskontinuitäten bleibt die offensichtliche Tatsache, dass die Handlungen der Menschen zu einem überwiegenden Teil aus den Erfahrungen erklärt werden müssen, die sie zuvor gemacht haben.«³² Dennoch wird auch in dieser Biographie nicht nach der großen Leitlinie, dem Fluchtpunkt gesucht. »Das wirkt auf den ersten Blick faszinierend«, urteilt etwa Schwarz, gleichzeitig könne aber ein großes Thema »schnell durchkonstruier[t]« werden, sodass »vieles Wichtige dabei unterbelichtet bliebe oder aber schief dargestellt werden müsse.«³³ Und so wäre es bei Steinmeier in der Tat reichlich konstruiert, würde man der Annahme verfallen, dass er über fast fünfzig Jahre hinweg auf eine Rolle als Politiker im Vordergrund hingearbeitet habe. Und so bleibt der chronologische Blick auf diese facettenreiche Karriere.

    Eine wissenschaftliche Biographie, die Steinmeiers Werdegang hinsichtlich Karriere und Inhalt von der Jugend an vollumfänglich analysiert, gibt es bisher nicht. Erstmals wissenschaftlich genähert wurde sich Steinmeier im Zuge einer Studie über die Kanzleramtschefs in Deutschland.³⁴ Eine erste Biographie ist 2009, im Jahr der Kanzlerkandidatur Steinmeiers, erschienen, die jedoch in nur »kurzer Zeit« entstanden ist,³⁵ dennoch einen ersten klugen Überblick über Steinmeiers Wirken bietet. Der Vollständigkeit halber seien zwei weitere Analysen, eine vergleichende über die Kanzleramtschefs seit der Wiedervereinigung³⁶ und ein Politikervergleich zwischen den Karrieren von Frank-Walter Steinmeier und Klaus Wowereit erwähnt.³⁷ In einer weiteren Studie wird sich neben anderen aktuellen SPD-Größen auch Steinmeier genähert, sie geht jedoch über ein Gespräch mit dem Biographierten nur bedingt hinaus.³⁸ Eine andere lesenswertere befasst sich fokussiert mit Steinmeiers Wirken als Außenminister in der Großen Koalition von 2005 bis 2009.³⁹

    Aufschlussreich sind auch Studien über andere Politiker, vornehmlich über Gerhard Schröder und Angela Merkel. Diese sind zwar der Form einer Biographie geschuldet fokussiert auf ihren Biographierten verfasst, streifen aber zumindest bisweilen die anderen Akteure, bei Schröder die Hintergrundakteure, bei Merkel den Außenminister und Vizekanzler und damit wichtige Säulen der Regierungsstabilität.⁴⁰ Ähnlich verhält es sich bei Studien zur SPD, die jedoch ohnehin ein elementarer Bestandteil einer jeden Biographie sein dürften, die sich einem führenden Sozialdemokraten nähert, wenn auch in diesem Falle einem, der erst spät mit seiner Partei verbunden worden ist. »Die SPD. Biographie einer Partei« darf hier sicherlich als Standardwerk gelten, an dem wohl keine Biographie über einen aktuellen Sozialdemokraten vorbeikommt, weil es auch die jüngsten Entwicklungen bis 2009 mit einbezieht.⁴¹ Wichtig sind überdies zahlreiche weitere ältere und neuere Studien zur Sozialdemokratie, die insbesondere als Aufsätze erschienen. Aufschlussreich sind außerdem Studien zur politischen Strategieentwicklung, die in dieser Biographie - zum Beispiel mit Blick auf die Umsetzung der Agenda 2010 - immer wieder Eingang finden.⁴² Während für Niedersachsen und seine Ministerpräsidenten erst in jüngster Zeit erste Studien erschienen sind,⁴³ die den Hintergrundmann Steinmeier jedoch erneut nur am Rande streifen, sind Aufsätze und Monographien der Zeitgeschichte und der Politikfeldforschung der jüngeren Politik im Bund, die für die Bewertung von Steinmeiers Tun von Interesse sind, zum Beispiel Edgar Wolfrums quellenreiches Werk »Rot-Grün an der Macht«,⁴⁴ bereits zahlreich. Weil das so ist, kann in Bezug auf den Forschungsstand nur gelten, was der Autor einer Biographie über Karl Schiller bereits konstatierte: »Die Sekundärliteratur, die in dieser Arbeit verwendet wurde, ist […] in einem so breiten Radius gestreut, dass es aussichtslos wäre, sie an dieser Stelle einzugrenzen.«⁴⁵

    Wesentlich »für eine politische Biographie zumindest der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in der dank des Telefons und mittlerweile der neuesten Medien »nicht mehr alle Vorgänge minutiös in Vermerken und Briefwechseln dokumentiert sind«,⁴⁶ ist das umfangreiche Zeitungs- und Zeitschriftenmaterial. Natürlich handelt es sich hierbei um »journalistische Fremdeinschätzungen«,⁴⁷ deren empirische Befunde bei alleiniger Nutzung durchaus anekdotischer Natur sein können.⁴⁸ Und obwohl bei Zeitungsartikeln »[a]llerei Subjektivitäten und ›unzuverlässige‹ Informanten […] zu Verzerrungen oder auch […] schlicht zu Unwahrheiten führen« können, sind sie gleichzeitig »bisweilen die einzige Quelle, um bestimmte Vorgänge zu erhellen«.⁴⁹ Das ist insbesondere dann der Fall, wenn jeweils mehrere Zeitungsquellen herangezogen werden, was zwar auch in dieser Biographie aufgrund der exklusiven (Fehl-)Informationen einzelner Artikel nicht immer gewährleistet werden kann, aber doch im Kern dieser Geist verfolgt wird. Eben weil Beobachtungen und Hintergrundinformationen bisweilen exklusiv sind, sie aber, egal woher sie stammen und vorausgesetzt, sie sind wahrheitsgemäß, mindestens neue Hinweise geben können, wurde auf eine definitive Eingrenzung der Zeitungsauswahl verzichtet. So werden neben dem Standardrepertoire der im biographischen und zeitgeschichtlichen wissenschaftlichen Kontext herangezogenen Printmedien, nämlich den großen überregionalen Zeitungen und Zeitschriften - Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, taz, Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, Financial Times Deutschland (bis zu ihrer Einstellung), Welt, Focus, Spiegel und Stern - auch kleinere, aber mit bisweilen sehr erhellenden Artikeln (ihrer Berliner Korrespondenten) bestückte Zeitungen wie die Stuttgarter Nachrichten oder der Bonner General-Anzeiger in die Analyse einbezogen. Hinzu kommen für Steinmeiers Jahre in Niedersachsen insbesondere die Hannoversche Allgemeine Zeitung als gut informiertes Landeshauptstadtorgan sowie zur Einordnung von Steinmeiers Jugend die Lippische Landes-Zeitung.

    Die Spannbreite der überregionalen Presse bildet dabei das Meinungsspektrum von links (taz) bis konservativ (Welt) in ihren Abstufungen ab, womit in der Gesamtschau eine gewisse Objektivität bei aller Subjektivität gewahrt bleiben soll. Insgesamt repräsentieren sie dabei die Antifolie der wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart. Da, wo der Wissenschaftler im Rückblick beurteilt, war der Journalist, im besten Falle, vor Ort. Die journalistischen Erzeugnisse zeigen so idealerweise zutreffende Momentaufnahmen, weil sie im Anblick der jeweiligen Ereignisse verfasst worden sind. Eine spätere Verklärung ist - anders als bisweilen natürlich eine unmittelbare - nicht möglich. Sie geben so mindestens »Stimmungsverhältnisse«⁵⁰ wieder. Zahlreiche Porträts über Steinmeier, dem sich spätestens seit dem 11. September 2001 von immer mehr Journalisten genähert worden ist, ergänzen die allgemeinen durch personenbezogene Artikel.

    Der wichtige Quellenbestand der Zeitungen und Zeitschriften wird ergänzt durch journalistische Biographien, die, bis 2002, etwa zahlreich erschienen sind über Gerhard Schröder,⁵¹ aber auch, später, zum Beispiel über Peer Steinbrück.⁵² Keine dieser Biographien kommt, wenn auch dies nicht immer in der Tiefe erfolgt, ohne Erwähnung der Person Steinmeier aus. Einige Monographien wie »Wohin geht die SPD?«⁵³ sind zudem gar an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus angesiedelt.

    Als ergiebige Quelle erwiesen sich einige Autobiographien, die mittlerweile zumindest mit Blick auf die rot-grünen Jahre im Bund (1998 bis 2005) und die erste Amtszeit Angela Merkels (2005 bis 2009) von Gerhard Schröder⁵⁴ über Joschka Fischer⁵⁵ und Frank-Walter Steinmeier selbst⁵⁶ bis hin zu Peter Struck⁵⁷ und Peer Steinbrück⁵⁸ erschienen sind. Unter Berücksichtigung dessen, dass eben der Autobiograph sich womöglich als »Great Man« darzustellen versucht, zumindest aber nicht objektiv über seine Rolle urteilen kann, geben sie doch immer wieder Hinweise zur Rolle Steinmeiers bei bestimmten Sachverhalten, die dann anhand der anderen Quellen überprüft werden können.

    Von enormem Gewinn ist der bisher weitgehend nicht behandelte Quellenbestand der Aufsätze, die Steinmeier über die Jahrzehnte verfasste. Gerade in Bezug auf den Wissenschaftler Steinmeier, als der er zahlreiche Essays an der Schnittstelle zwischen Jura und Politikwissenschaft veröffentlichte, lassen sie Rückschlüsse auf seine damaligen Einstellungen zu. Eingehend wurde zudem seine Dissertation gesichtet sowie die Zeitschrift Basis News, deren Redaktion er als Jura-Student angehörte. Dass Steinmeier auch nach seiner Wissenschaftskarriere und seinem Wechsel in die Politik im Hintergrund nicht vollkommen aufgehört hat zu publizieren, sondern sich, wenn auch nur jeweils im Abstand mehrerer Jahre, in Aufsätzen zu Wort meldete, macht diese Publikationen zu unverzichtbaren Primärquellen, geben sie doch das jeweilige (öffentliche) Denken Steinmeiers preis: zuerst als Wissenschaftler mit Blick auf politische Zusammenhänge, dann auf seine Einstellungen in Bezug auf die Arbeit im Kanzleramt, fortan in Bezug auf sein Wirken als Außenminister und schlussendlich auf seine Arbeit als Oppositionsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Ergänzt wird dieser Quellenbestand noch durch zahlreiche Reden, die er seit 2005 hielt.

    Von besonderem Wert, wenn auch aufgrund des nur eingeschränkten Zugangs nicht »das Rückgrat«⁵⁹ dieser Biographie, ist das bereits zugängliche Archivmaterial, das für diese Untersuchung gesichtet werden konnte. Zwar unterliegen die Aktenbestände des Bundeskanzleramts und der Niedersächsischen Staatskanzlei nach wie vor der 30-jährigen Sperrfrist. Dies gilt jedoch nicht für die Aktenordner des Parteivorsitzendenbüros Schröder (1999 bis 2004) und des Parteivizes Steinmeier (2007 bis 2009). Der Einblick in diese Bestände ermöglicht unverfälschte Rückschlüsse, etwa wenn es um Sitzungsprotokolle, handschriftliche Notizzettel nach einer verlorenen Wahl oder handschriftliche Vermerke in Redemanuskripten geht. Dadurch, dass die Niedersächsische Staatskanzlei bereits eine erste Einsicht in Aktenbestände auch der Exekutive zuließ, konnte zumindest für jede der politischen Phasen in Steinmeiers Karriere auf wenigstens einige bisher unveröffentlichte Dokumente zurückgegriffen werden. Dass die Staatskanzlei wiederum lediglich zu einzelnen Themen eine Sammlung zusammenstellte und dabei eine Vorauswahl traf, sorgte natürlich dafür, dass es sich nur um eine selektive Auswahl handeln kann. Doch die Alternative wäre gewesen, dass keinerlei Akten aus Niedersachsen hätten hinzugezogen werden können. Unabhängig davon stellt sich allerdings zum Beispiel für Edgar Wolfrum ohnehin die Frage, ob sich »in diesen Akten tatsächlich noch die großen Geheimnisse wie einst vor hundert Jahren [finden]? Oder bewirkt nicht vielmehr eine demokratische Öffentlichkeit sowie die neuen Medien im digitalen Zeitalter […], dass vieles bereits vor dem Ablauf der Frist eruiert werden kann?«⁶⁰ Diese Fragen sind zwar richtig, doch geben gerade die Akten der Parteipolitiker Steinmeier und Schröder zumindest einzelne Details frei, die - zumindest vernetzt mit den anderen Quellen - einen wichtigen Puzzlestein ergeben.

    Einen integralen Bestandteil dieser Biographie und keineswegs von ihrer Bedeutung her zuletzt genannt bilden die Zeitzeugeninterviews. Über 25 teils mehrstündige Gespräche, deren Aussagen immer wieder zur Veranschaulichung und zum Aufzeigen von Widersprüchen in diese Untersuchung einfließen, wurden daher mit Politikern und Weggefährten Steinmeiers aus den verschiedenen Phasen geführt. Mit dem Kumpel aus Jugendtagen Heinz Verbic, mit den Freunden seit Studientagen Christoph Nix und Dirk Herkströter, mit Willi Waike, Karl-Heinz Funke, Heinrich Aller, Gerhard Glogowski und Rolf Wernstedt, allesamt Protagonisten aus den Tagen in Niedersachsen, mit Brigitte Zypries, die Steinmeier seit Studientagen kennt, schließlich mit Gerhard Schröder, mit Wolfgang Clement, Hans Eichel, Rezzo Schlauch, Walter Riester und Rudolf Scharping, die ohne Ausnahme Schlüsselakteure der rot-grünen Jahre darstellten, sowie mit den darüber hinaus in die Große Koalition und bis danach wirkenden politischen Akteuren Thomas Steg, Edelgard Bulmahn, Franz Müntefering, Ulla Schmidt, Monika Griefahn, Kurt Beck und Sigmar Gabriel.⁶¹ Absagt haben lediglich Herta Däubler-Gmelin, Michael Steiner, Doris Schröder-Köpf und Joschka Fischer.

    Möglich war es hingegen, Frank-Walter Steinmeier selbst für zwei Gespräche zu gewinnen, von denen eines noch in Oppositionstagen und das andere eine Stunde vor einem Telefonat des erneuten Außenministers Steinmeier mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow stattgefunden hat. Natürlich wären Gespräche mit ausländischen Akteuren wie Lawrow auch für diese Biographie interessant gewesen. Doch es musste hier eine Auswahl getroffen und auf Realisierbarkeit geachtet werden. So wurde versucht, für jede Phase von Steinmeiers Karriere mindestens zwei, meist sogar bis zu fünf Akteure mit unterschiedlichen Positionen zu gewinnen, was auch gelungen ist.

    Wichtig war dies allein schon deshalb, weil die Gefahr der rückblickenden Verklärung - wie bei den autobiographischen Schriften - vor allem bei Zeitzeugeninterviews vorhanden ist. Sie bergen die Gefahr, dass Erinnerungen sich im Zuge der Zeit verändern, bis sie für wahr gehalten werden, weil wir, wo wir die Wahrheit »zerstörerisch« finden, sie zu bekämpfen versuchen.⁶² Mehr noch speichert das Gedächtnis, wie es Harald Welzer formuliert, »nur im extremen Ausnahmefall […] das […], wie es wirklich war.«⁶³ Wenn also Steinmeier rückblickend einen fließenden Übergang vom politischen Menschen im Hintergrund zum Politiker im Vordergrund sieht, dann stimmt das nicht mit seinen Äußerungen im Zuge dieser Wandlung und jenen in der Zeit davor überein, in denen er sich eben doch auch anders geäußert hat.

    Und so mag der »Umgang mit den Erinnerungen von Zeitzeugen […] zwar riskant« sein, »doch erscheinen diese Erinnerungen«, wie Edgar Wolfrum anmerkt, »eine viel zu wertvolle Quelle, um von Historikern ignoriert zu werden. Sie liefern vielgestaltige persönliche Eindrücke, die in anderen Quellengattungen nicht zu finden sind. Sie legen Zusammenhänge frei und führen auf Spuren, die in spröden Akten nicht mehr auftauchen.«⁶⁴ Das war auch bei dieser Biographie nicht anders. Und so sind sie unerlässlich, um sich dem Protagonisten auch aus der »Lebenswelt[] de[s] handelnden Menschen selbst« zu nähern.⁶⁵ Sie können »ein wesentlich plastischeres Bild davon deutlich« machen, wie etwa die »Prozesse in Institutionen«, bei Steinmeier also seine Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Staatssekretär, Kanzleramtschef, Außenminister und Fraktionsvorsitzender, funktionierten und funktionieren.⁶⁶ Die Gefahren hingegen müssen bei der Bewertung der Interviews immer wieder berücksichtigt werden, was sie allerdings schon dadurch werden, dass sie eben nur eine Quelle darstellen.

    Bei der Durchführung der Interviews wurde ein teil-standardisiertes Verfahren gewählt, das von Interview zu Interview immer wieder ergänzt und korrigiert wurde.⁶⁷ Gleichzeitig wurden sie als Hintergrundgespräche geführt, damit die Interviewten zunächst vollkommen frei erzählen konnten. So war es möglich, detailreiche Aussagen und bisweilen auch nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Zeitzeugenwissen zu generieren, das aber als Hinweisgeber fungieren kann. Aufgrund dessen liegen die Transkripte - rund 800 Seiten - dieser Biographie auch nicht in Gänze bei. Die Aussagen finden dennoch immer wieder in Auszügen Eingang. Dabei gilt: Alle Passagen wurden den Interviewten vorgelegt und sind autorisiert. Dort, wo eine Namensnennung nicht vertretbar erschien, wurden die Auszüge in Rücksprache mit den Akteuren zwar ebenfalls freigegeben, aber gleichzeitig anonymisiert.

    Die Interviews, die wissenschaftliche Literatur, die Medienberichte, die Autobiographien, die Aufsätze und Reden Steinmeiers und die Archivquellen werden schließlich ergänzt durch zahlreiche teilnehmende Beobachtungen, die für diese Biographie durchgeführt worden sind. Die Fülle an Material zeigt, dass das Problem der Zeitgeschichte »nicht die Quellenarmut, sondern vielmehr die Quellenfülle« und die damit einhergehende Selektierung ist.⁶⁸ Dennoch wird gerade durch den Gegenschnitt dieser ganz unterschiedlichen Quellen überhaupt erst ein so elementares, bereits angedeutetes »Kreuzverhör der Quellen« möglich.⁶⁹ Es soll also »bespiegelt [werden], was Zeitzeugen erinnern«,⁷⁰ Akten verglichen, Steinmeiers Aufsätze bezüglich Haltungen ausgewertet, Hinweise aus Autobiographien mit journalistischen Quellen gegenübergestellt werden - und das, ergänzt durch die wissenschaftliche Literatur, in allen Kombinationen.

    Die Biographie ist dabei in drei große Analyse-Abschnitte eingeteilt. In den frühen Jahren (Kapitel II: Frühe Jahre) wird sich Steinmeiers Jugend genähert und seine Karriere als Wissenschaftler eingehend analysiert. Insbesondere seine Aufsätze aus dieser Zeit werden dabei hinsichtlich seiner Einstellungen untersucht. Es folgt der Wandel zum politischen Mitarbeiter im Hintergrund (Kapitel III: Politik im Hintergrund), wo sein Wirken bezüglich seines Einflusses auf den Ministerpräsidenten und das Land Niedersachsen sowie, ab 1998, auf den Bundeskanzler und die Bundesregierung analysiert wird. Dabei soll erneut herausgearbeitet werden, warum Steinmeier wie weiter aufsteigen konnte. Die Agenda 2010 und sein Einfluss darauf werden hierbei genauso diskutiert wie sein Einfluss auf die rot-grünen Jahre im Bund und auf die Karriere Gerhard Schröders. Gleiches gilt für die Grenzen seines Einflusses. Erneut finden auch Aufsätze Steinmeiers Erwähnung, die insbesondere in Bezug auf den Vorwurf der fehlenden Haltung interessant sein dürften.

    Im daran anschließenden Kapitel wird Steinmeiers Wandel zum Politiker im Vordergrund (Kapitel IV: Politik im Vordergrund) analysiert, wobei zunächst umfangreich auf sein Wirken als Außenminister in den Jahren von 2005 bis 2009 eingegangen wird, bevor seine parteipolitische Karriere, seine Ochsentour rückwärts mit seiner Arbeit als Parteivize, seiner Vizekanzlerschaft und seiner Kanzlerkandidatur 2009, untersucht wird. Dem schließen sich die Jahre in der Opposition an, in der Steinmeiers Rolle bei der Revitalisierung der SPD fernab der Regierung beleuchtet wird, mit dem dieser dritte große Analyseabschnitt endet. Diese drei Oberkapitel - II. Frühe Jahre, III. Politik im Hintergrund, IV. Politik im Vordergrund - werden jeweils mit einem Zwischenfazit abgerundet. Schließlich folgt ein Ausblick, in dem auf Steinmeiers erneute Amtszeit als Außenminister eingegangen wird, der aufgrund der Aktualität aber eben nicht mehr als einen Ausblick und eine erste Einordnung leisten kann. Im finalen Fazit, das den Titel »Einflussreicher Sozialdemokrat, inhaltsreicher Politiker?« trägt, werden noch einmal zusammenfassend die Ausgangsfragen beantwortet und die These dieser Biographie auf ihre Richtigkeit überprüft.

    Schlussendlich bleiben zwei Aspekte zu erwähnen, die für jede Biographie gelten. »Die Biographie«, so schrieb Saskia Richter in ihrem Werk über Petra Kelly, »hinterfragt autobiographische Zeugnisse genauso wie die Berichte der Wegbegleiter und Beobachter. Gleichzeitig analysiert sie die Inszenierung des Lebens, die Selbst- und die Fremdbeschreibung, ohne zwischen Inszenierung und Authentizität unterscheiden zu können«.⁷¹ Ihr Resümee lautete folgerichtig: »Mit der Biographie ist keine absolute Wahrheit herauszufinden.«⁷² Noch einmal sei außerdem an den Dreiklang, der in dieser Biographie hergestellt werden soll, erinnert, eben »- und das ist denkbar banal - den Porträtierten in den sozialen, kulturellen und politischen Kontext« einzuordnen.⁷³ Wenn Torben Lütjen nun festhält, dass, wenn das nicht gelingt, das »nicht an der Gattung der Biographie, sondern am Versagen des Biographen« liege,⁷⁴ ist dem nichts hinzuzufügen.


    1 | Zur Bedeutung des strategischen Zentrums vgl. Raschke, Joachim; Tils, Ralf: Politische Strategie. Eine Grundlegung, Wiesbaden 2013².

    2 | Schwarz, Hans-Peter: Helmut Kohl - eine politische Biographie, München 2012, S. 941.

    3 | Ebd., S. 940.

    4 | Ebd., S. 291.

    5 | Vgl. z.B. Schöllgen, Gregor: Gerhard Schröder. Die Biographie, München 2015; vgl. außerdem Langguth, Gerd: Machtmenschen. Kohl. Schröder. Merkel, München 2009; vgl. auch Langguth, Gerd: Angela Merkel. Biographie, München 2010⁶.

    6 | Walter, Franz: Charismatiker und Effizienzen. Porträts aus 60 Jahren Bundesrepublik, Frankfurt a.M., 2009, S. 14.

    7 | Vgl. ebd.

    8 | Dausend, Peter: Mann ohne Geschichte; in: Zeit, 19.06.2008, S. 3.

    9 | Der Vorwurf treffe Steinmeier, hält der Spiegel fest. Es sei, so das Nachrichtenmagazin, ein Vorwurf, der »quasi stellvertretend für die ganze regierende Generation« an ihn gerichtet werde; Leinemann, Jürgen: »Ich bin nicht der Stellvertreter«; in: Spiegel, 19.04.2003, S. 46-48; hier: S. 46; vgl. auch Lorenz, Robert; Micus, Matthias: Von Beruf: Politiker, Freiburg i.Br., 2013, S. 30.

    10 | Vgl. Schweiger, Hannes: »Biographiewürdigkeit«; in: Klein, Christian (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 32-36.

    11 | Lütjen, Torben: Karl Schiller (1911-1994). ›Superminister‹ Willy Brandts, Bonn 2007, S. 8.

    12 | Richter, Saskia: Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, München 2010, S. 20.

    13 | Ebd., S. 21.

    14 | Zitiert nach Gallus, Alexander: Politikwissenschaft (und Zeitgeschichte); in: Klein, C (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 382-387; hier: S. 382.

    15 | Vgl. Niclauß, Karlheinz: Kanzlerdemokratie, Paderborn 2004, S. 359.

    16 | Vgl. Siemann, Wolfram: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biographie, München 2016.

    17 | Vgl. Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012.

    18 | Vgl. Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007.

    19 | Vgl. Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009; Ähnlich interessant ist die folgende Monographie, die sich mit den Politikern des 20. Jahrhunderts beschäftigt und hier chronologisch auf die Suche nach dem »Gesicht des 20. Jahrhunderts« geht: Schwarz, Hans-Peter: Das Gesicht des 20. Jahrhunderts. Monster, Retter, Mediokritäten, München 2010.

    20 | Vgl. Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 291.

    21 | Hans Peter Schwarz schreibt etwa, dass »Personen und Ereignisse das Regierungshandeln prägen. Aber neben anderen Einflussgrößen wie etwa den Rollenzwängen einer Koalition, unterliegt das Zentrum der Regierung nicht zuletzt der Spannungslage von Person und System […]«; Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 960.

    22 | König, Klaus: Das Zentrum der Regierung; in: Bröchler, Stephan; Blumenthal, Julia von (Hg.): Regierungskanzleien im politischen Prozess, Wiesbaden 2011, S. 49-68; hier: S. 49.

    23 | Werner, Lukas: Deutschsprachige Biographik; in: Klein, C (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 265-277; hier: S. 265.

    24 | Erll, Astrid: Biographie und Gedächtnis; in: Klein, C (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 79-86, S. 84f.

    25 | Bude, Heinz im Gespräch mit der Zeit; in: Dürr, Tobias: »Von Machern und Halbstarken«; in: Zeit, 20.05.1999; Onlineversion des Printartikels abrufbar unter: www.zeit.de/1999/21/199921.interview.bude_.xml (zuletzt eingesehen am 09.08.2016).

    26 | Zur Geschichte und Rezeption dieses Begriffs vgl. Wolfrum, Edgar: Rot-Grün an der Macht, München 2013, S. 13.

    27 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 939.

    28 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 13.

    29 | Ebd.

    30 | Schwarz, H.-P.: Adenauer. Der Aufstieg, 1986, S. 960.

    31 | Schwarz, H.-P.: Helmut Kohl, 2012, S. 972.

    32 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 13f.

    33 | Schwarz, H.-P.: Adenauer. Der Aufstieg, 1986, S. 965.

    34 | Vgl. Müller, Kay; Walter, Franz: Die Chefs des Kanzleramtes. Stille Elite in der Schaltzentrale des parlamentarischen Systems; in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2002, S. 474-500.

    35 | Lütjen, Torben: Frank-Walter Steinmeier - Die Biografie, Freiburg i.Br. 2009, S. 155.

    36 | Vgl. Schönfeld, Ralf: Bundeskanzleramtschefs im vereinten Deutschland. Friedrich Bohl, Frank-Walter Steinmeier und Thomas de Maizière im Vergleich, Stuttgart 2011.

    37 | Vgl. Kohlmann, Sebastian: Wege zur Macht - zwei Politiker-Biographien im Vergleich: Frank-Walter Steinmeier und Klaus Wowereit, München 2007; Erwähnenswert, weil eben auch dort Steinmeier gestreift wird, sind außerdem der Aufsatz über Steinmeier in Franz Walters »Charismatiker und Effizienzen« (Walter, F.: Charismatiker und Effizienzen, 2009, S. 290-292) und, ebenfalls von Franz Walter, hier zusammen mit Kay Müller, »Graue Eminenzen der Macht«, wo ebenfalls auch Steinmeier behandelt wird (Vgl. Müller, Kay, Walter, Franz: Graue Eminenzen der Macht, Wiesbaden 2004, S. 172ff).

    38 | Vgl. Reinhardt, Max: Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei, Baden-Baden 2011.

    39 | Vgl. Furtak, Robert K.: Frank-Walter Steinmeier; in: Kempf, Udo; Merz, Hans-Georg; Gloe, Markus (Hg.): Kanzler und Minister 2005-2013, Wiesbaden 2015, S. 228-236.

    40 | Vgl. z.B. Schöllgen, G.: Gerhard Schröder, 2015; vgl. außerdem Langguth, G.: Machtmenschen, 2009; vgl. auch Langguth, G.: Angela Merkel, 2010.

    41 | Vgl. Walter, Franz: Die SPD. Biographie einer Partei, Hamburg 2009.

    42 | Vorwiegend herangezogen wurde bei strategischen Bewertungen die folgende Abhandlung: Raschke, J.; Tils, R.: Politische Strategie, 2013.

    43 | Vgl. Nentwig, Teresa; Schulz, Frauke; Walter, Franz; Werwath, Christian (Hg.): Die Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Hannover 2012; vgl. auch Nentwig, Teresa; Werwath, Christian (Hg.): Politik und Regieren in Niedersachsen, Wiesbaden 2016.

    44 | Vgl. Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013.

    45 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 14.

    46 | Ebd., S. 15.

    47 | Fischer, Julia: Das Primat der Richtlinienkompetenz. Zur Bedeutung der Organisation des Bundeskanzleramts; in: Florack, Martin; Grunden, Timo (Hg.): Regierungszentralen. Organisation, Steuerung und Politikformulierung zwischen Formalität und Informalität, Wiesbaden 2011, S. 201-224; hier: S. 206.

    48 | Vgl. ebd.

    49 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 15.

    50 | Ebd.

    51 | Vgl. z.B. Krause-Burger, Sibylle: Wie Gerhard Schröder regiert. Beobachtungen im Zentrum der Macht, Stuttgart/München 2000; vgl. auch Hogrefe, Jürgen: Gerhard Schröder. Ein Porträt, Berlin 2002.

    52 | Vgl. z.B. Sturm, Daniel-Friedrich: Peer Steinbrück. Biographie, München 2012.

    53 | Sturm, Daniel-Friedrich: Wohin geht die SPD?, München 2009.

    54 | Vgl. Schröder, Gerhard: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2006.

    55 | Vgl. Fischer, Joschka: »I am not convinced«: der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, München 2011.

    56 | Vgl. Steinmeier, Frank-Walter: Mein Deutschland, München 2009.

    57 | Vgl. Struck, Peter: So läuft das. Politik mit Ecken und Kanten, Berlin 2010².

    58 | Vgl. Steinbrück, Peer: Unterm Strich, Hamburg 2010².

    59 | So bezeichnet Edgar Wolfrum die »unveröffentlichten Archivquellen« in seiner Abhandlung über Rot-Grün; Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 716.

    60 | Ebd., S. 716f.

    61 | Weitere Gespräche waren eher informeller Natur und werden daher hier nicht aufgeführt.

    62 | Fetz, Bernhard: Biographisches Erzählen zwischen Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Authentizität; in: Klein, C. (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 54-59; hier: S. 54f.

    63 | Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis, München 2002, S. 21; vgl. auch Flick, Uwe; Kardorff, Ernst von; Steinke, Ines: Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick; in: dies. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg, 2000, S. 13-29; hier: S. 23.

    64 | Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 716.

    65 | Flick, U.; Kardorff, E. von; Steinke, I.: Was ist qualitative Forschung?; in: dies. (Hg.): Qualitative Forschung, 2000, S. 13-29; hier: S. 14.

    66 | Ebd., S. 17.

    67 | Schließlich bestimmt »die Auswertung jedes Interviews oder jedes Beobachtungsprotokolls […] die weitere Entwicklung der Datenerhebung«; Rosenthal, Gabriele: Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim 2011², S. 84.

    68 | Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 717.

    69 | Ní Dhúill, Caitríona: Grundfragen biographischen Schreibens; in: Klein, C. (Hg.): Handbuch Biographie, 2009, S. 424-438; hier: S. 433.

    70 | Wolfrum, E.: Rot-Grün an der Macht, 2013, S. 716; Uwe Flick und andere schreiben hierzu außerdem, dass die qualitative Forschung »das Fremde oder von der Norm Abweichende [nutzt] und das Unerwartete als Erkenntnisquelle und Spiegel, der in seiner Reflexion das Unbekannte im Bekannten und Bekanntes im Unbekannten als Differenz wahrnehmbar macht und damit erweiterte Möglichkeiten von (Selbst-)Erkenntnis eröffnet«; Flick, U.; Kardorff, E. von; Steinke, I.: Was ist qualitative Forschung?; in: dies. (Hg.): Qualitative Forschung, 2000, S. 13-29; hier: S. 14.

    71 | Richter, S.: Die Aktivistin, 2010, S. 20.

    72 | Ebd.

    73 | Lütjen, T.: Karl Schiller, 2007, S. 7.

    74 | Ebd.

    II. Frühe Jahre

    2.

    Kindheit und Jugend

    2.1 BRAKELSIEK

    An der Kneipe »Zum goldenen Käfer« hängt auch im Jahr 2013 noch ein Schaukasten des TuS 08, dem Brakelsieker Turn- und Sportverein.¹ Die dunkelrote Farbe ist mittlerweile abgeblättert. Im Wahlkampf 2009 fand dieser Verein auf Steinmeiers Homepage natürlich Erwähnung. Geplant war der Text: »Ich war kein begnadeter Techniker, auch kein großer Torjäger, eher ein solider Teamspieler – bin ich heute noch.«² Steinmeier korrigierte im Textentwurf für die Internetseite handschriftlich: »Nicht der begnadete Filigrantechniker, dafür großes Kämpferherz und langen Atem und ein solider Teamspieler – das bin ich heute noch.«³

    So also möchte Steinmeier, dass man ihn sieht. Als den Teamspieler mit Herz, der er auch als Kind schon gewesen sein will. Zu jener Zeit wäre in dem beschaulichen 1000-Seelen-Dorf vermutlich niemand auf die Idee gekommen, dass dieser 1956 geborene, fußballspielende nette Junge von nebenan eines Tages einen Beruf ausüben würde, der ihn in kürzester Zeit zum Beispiel von Breslau über Kabul, New Delhi, Paris, New York und Prag führen würde.⁴ Selbst an eine politische Karriere war nicht zu denken.

    Brakelsiek ist eines jener kleinen Dörfer, wie man sie im Lipperland häufig vorfindet: idyllisch, aber auch etwas aus der Zeit gerückt. Für Jugendliche sei das nichts mehr hier, erzählt die Wirtin eines der zwei Gasthäuser. Vom gelben Ortseingangs- bis zum durchgestrichenen Ortsausgangsschild sind es nur 750 Meter. Zur nächsten Autobahn fährt man 45 Minuten. Brakelsiek ist damit abgehängt von den Verbindungsstraßen in die großen Städte, von den Autobahnen, die in die Welt hinausführen. So sind es im Jahr 2014 vor allem die Alten, die noch da sind, die sich an der Idylle und der Ruhe erfreuen können.

    Das Elternhaus liegt auf Höhe des sogenannten grünen Bandes, jener grün-bewachsenen ansteigenden Fläche, die sich wie ein Gürtel um die Senke schließt, in der das Dorf beherbergt liegt. Enge Straßen, teilweise so schmal, dass sie für heutige Autos fast nicht mehr passierbar sind, schlängeln sich dort an den Fachwerkhäusern vorbei. Am Ende einer Straße prangt das Schild: »Anlieger frei«. Nur Fußgänger dürfen dort noch weitergehen entlang des beginnenden Feldweges. Einige Meter in diese Richtung steht rechter Hand das weiße Haus mit dem dunklen Spitzdach und dem Eingangsbereich mit Glassteinen an der Wand. Nur wenige Jahre nach Steinmeiers Geburt hat es der 2012 verstorbene Vater Walter um 1965 innerhalb von vier Jahren selbst gebaut.⁵ Steinmeiers Mutter Ursula wohnt bis heute dort, sein Jugendzimmer von einst existiert noch.⁶ Vom Elternhaus blickt man direkt auf das Dorf und die umliegende Landschaft. Leise surren die zwei Windräder auf den Hügeln links und rechts des Hauses. Mehr ist nicht zu hören. Der Durchgangsverkehr rollt am Sonntag erst ab Mittag und auch dann nur leise. Die Umgebung lädt zum Wandern ein, wie es ein grauhaariger Mann zusammen mit seinem Schäferhund am Sonntagmorgen tut und angesprochen auf den prominenten Dorfbewohner umgehend eine Geschichte zu erzählen weiß.

    Es ist nur eine eher belanglose Geschichte von seiner Frau, die sich an den jungen Steinmeier erinnert, der sich einmal einen Lolli im Laden habe kaufen lassen wollen, aber die Mutter den Wunsch verneinte. Er nimmt diese vermeintliche Begebenheit als Beispiel für die Sparsamkeit, zu der die Eltern ihren Sohn erzogen hätten. Tatsächlich ist es schon eine der größeren Anekdoten über Steinmeier aus jener Zeit. Journalisten, die im Zuge des Wahlkampfes 2009 für zahlreiche Porträts auf die Suche gegangen sind, genauso wie einige Wissenschaftler, die Ähnliches unternahmen, haben nicht die eine große Geschichte aus seiner Kindheit gefunden. Dennoch, so wirkt es bei derlei Gesprächen, freuen sich die Dorfeinwohner über ihren mittlerweile so berühmten Bürger: Er bringt ohne Zweifel ein bisschen Glamour in dieses sonst so bodenständige Leben.

    Viel später, als Steinmeier schon Kanzlerkandidat ist, erinnerte er sich einmal an seine Lieblingskinderbücher. Astrid Lindgrens »Wir Kinder aus Bullerbü« habe er gerne gelesen, erzählte er auf einer Veranstaltung.⁷ Dabei fällt auf: Man könnte diesen Ort aus Lindgrens Roman auf Brakelsiek übertragen – klein, idyllisch, einfach. Auf der Brakelsieker Internetseite heißt es noch im Jahr 2014, dass es »eine[s] der schönsten, vielfältigsten und lebens- und liebenswertesten Dörfer im lippischen Südosten«⁸ sei. Das Fazit des Beitrags lautet: »In Brakelsiek im Lipperland ist die Welt noch in Ordnung«.⁹ Ein Außenstehender würde diesen Ort vermutlich strukturschwach nennen, wie es so viele Dörfer Deutschlands im 21. Jahrhundert sind. Steinmeier selbst huldigt seiner Heimat zwar, spricht von den »viele[n] gute[n] Erinnerungen«, davon, dass es »viel Zusammenhalt auch ohne große Worte« gegeben habe; »die Leute haben einen Draht zueinander, und ich fühlte mich eigentlich immer gut aufgehoben.«¹⁰ Doch zurückkehren möchte auch er nicht.¹¹ Man könnte Brakelsiek eben auch als klein, rückständig und etwas bieder ansehen – nicht das, was sich allgemeinhin der heutige, um die Welt reisende Bürger zumindest auf Dauer vorstellt. So scheint es auch zum Teil ein trotziger Stolz, den die Lipperländer immer schon in Bezug auf ihre grüne Idylle verbreiteten. 1970, noch zu Beginn eines in seiner Wirkung nicht absehbaren Strukturwandels,¹² hieß es in einer Sonderbeilage der Lippische Landes-Zeitung mit dem Titel »Lippe – ein gesunder Wirtschaftsraum mit vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten«:¹³

    »Dem Tüchtigen steht die Welt offen. Das ist eine uralte Erkenntnis, sie gilt aber in unseren Tagen in weit stärkerem Maße als noch vor wenigen Jahrzehnten, und das Sprichwort ›Bleibe im Lande und nähre dich redlich‹ ist nicht immer mehr zeitgemäß. Gleichwohl hat es noch seine Bedeutung, zumindest für junge Leute, die eine erste berufliche Ausbildung anstreben. Der lippische Wirtschaftsraum bietet eine bunte Fülle von Möglichkeiten, einen Beruf zu erlernen und hier später auszuüben. Moderne Ausbildungsbetriebe in der Industrie, im Handwerk, im Handel und im Dienstleistungsbereich bieten die Gewähr für eine solide Grundausbildung für die verschiedenartigsten Tätigkeiten mit mannigfachen Aufstiegsmöglichkeiten.«¹⁴

    Diese Beschreibung ist ein Spiegelbild der Gesellschaft zu jener Zeit von Steinmeiers Jugend, als es noch eher ungewöhnlich war, wegen der Berufsausbildung die Heimat zu verlassen und Brakelsiek indirekt dafür warb, »im Lande« zu bleiben. Ein Bus verlässt Brakelsiek im Jahr 2014 nur etwa alle zwei Stunden, zehn Abfahrten gibt es an Schultagen, am Samstag sind es nur fünf Abfahrten, am Sonntag keine. Das war schon damals so. Der heute so weltläufige Politiker war im Dorf der einzige seines Jahrgangs,¹⁵ der von der Grundschule ans Gymnasium wechselte. Im Alter von zehn Jahren war das.¹⁶ Die Mutter war dafür, der Vater musste zunächst überlegen,¹⁷ seine Eltern wurden von Steinmeiers damaligem Lehrer ermutigt.¹⁸ Als die Entscheidung anstand, erinnert sich Steinmeier, »gab es für einen solchen Schritt kaum Vorbilder, in meiner Familie nicht und im Dorf genauso wenig.«¹⁹ Und tatsächlich: Sein jüngerer Bruder Dirk wählte eine klassische Lehre und arbeitete bald in einem holzverarbeitenden Betrieb, er blieb im Lande und wohnt auch 40 Jahre später noch im Nachbarort.

    Natürlich sind solche Entscheidungen, Weichenstellungen für das gesamte Leben, für den beruflichen Werdegang, die Karriere. Steinmeiers Entscheidung für das Gymnasium, auf dem er übrigens durchschnittliche Noten mit nach Hause brachte,²⁰ war womöglich so eine. Fortan jedenfalls pendelte er mit dem Bus ins benachbarte Blomberg, wo seine Schule noch heute steht.

    Glaubt man Weggefährten aus jener Zeit, war Steinmeier ein eher ruhiger Typ und weniger ein Lautsprecher. Sein damaliger Lateinlehrer etwa erinnerte sich im Stern daran, dass »Frank-Walter […] noch nie einer [war], der rauspoltert«.²¹ Sein Jugendfreund Peter Hausstätter fügte hinzu, dass Frank-Walter »auch mal rumgealbert« habe, »aber im Grunde […] immer schon ein Ernster und Verschlossener« gewesen sei.²² Es wäre zu diskutieren, ob das »ernst« und »verschlossen« mit einem besonnenen Temperament gleichzusetzen wäre. Das Fazit dieses Artikels aus jener späteren Zeit, als Steinmeier Kanzlerkandidat war, lautete jedenfalls: »[W]en man auch fragt, Mitschüler und Mitspieler, Freunde und Neider – in einem sind sie sich alle einig: Der Frank war schon okay. Ein ruhiger Typ.«²³ Er war allerdings auch einer, der voll in die Dorfgemeinschaft integriert war, der, wie beschrieben, im Fußballclub des Dorfes spielte und das zehn Jahre lang.

    Der Fußballplatz wurde von den Menschen im Dorf selbst angelegt. Auch Steinmeiers Vater war beteiligt, der, so schreibt Steinmeier retrospektiv, von »einem kleinen Bauernhof« stammte.²⁴ Mit 16 Jahren sei der Vater in den Zweiten Weltkrieg gezogen, wo er aber schon »nach dem ersten Ausheben von Schützengräben in britische Kriegsgefangenschaft geraten [war], sodass da […] Gott sei Dank eben auch nichts war, an dem man sich mit so großer Schärfe reiben konnte, […] wie das in anderen Familien […] der Fall war.«²⁵ Das Verhältnis zwischen den beiden blieb so uneingeschränkt eng, bis zu dessen Tod haben sie mindestens einmal wöchentlich telefoniert.²⁶

    Insbesondere handwerklich hatte der junge Steinmeier viel vom Vater, der nach dem Krieg den Beruf des Tischlers ergriff,²⁷ gelernt. Ein späterer Studienfreund, Christoph Nix, erinnert sich etwa, dass »Frank« »das Bett für meine Tochter« gebaut habe.²⁸ Nix, der seinen Vater früh verlor, klingt gerührt, wenn er von den Steinmeiers erzählt. »[S]einen Papa hat er sehr gerne gehabt. Und deshalb war er auch ein praktischer Mensch. [Die] [s]ind dann selber in die Schreinerei […]. Also diese beiden Seiten hat er auch gehabt, ganz praktisch zu sein«.²⁹

    Steinmeiers Mutter arbeitete vor dem Krieg ebenfalls »beim Bauern«, wie Steinmeier schreibt, und nach ihrer Flucht aus Schlesien im Zweiten Weltkrieg »später in der Textilfabrik im Nachbarort«.³⁰ Glaubt man Steinmeier, hatte sie, »obwohl Vertriebene«, nach dem Krieg »keine revanchistischen Gedanken auf Heimkehr in das angestammte Schlesien«.³¹ Sie blieb vielmehr in Brakelsiek, wo der Steinmeier-Zweig und damit auch Walter, den Ursula 1955, fünf Monate vor Frank-Walters Geburt, heiratete, schon »seit Ewigkeiten« lebte.³² »[G]roßes Vertrauen« habe der Neugeborene von den Eltern mitbekommen, schreibt ein Steinmeier-Biograph.³³ Ein »ordentliches Elternhaus« sei das gewesen, findet rückblickend Heinz Verbic, ein Freund aus dem Nachbarort.³⁴ Dabei war vieles noch ungewöhnlich für jene Zeit. Die Mutter arbeitete genauso wie der Vater, Steinmeier war daher, erinnert er sich, viel bei seiner Oma »mütterlicherseits«,³⁵ etwa um Hausaufgaben zu machen.³⁶ Insofern bestand nicht jenes klassische Rollenbild mit einer Mutter als Hausfrau und einem Vater als Alleinverdiener. Beide waren sie für Steinmeier gleichermaßen da, es existierte ein intaktes Familienleben, überhaupt sollen die Eltern sehr liberal gewesen sein.³⁷

    Steinmeier musste es so niemandem über Maßen beweisen, er hatte stets die volle Rückendeckung von zu Hause, musste nicht früh, etwa durch die Übernahme der Vaterrolle, besondere Verantwortung übernehmen. Wäre er ein 68er, hätte er mit seinen Eltern zudem nicht brechen können, weil sich die Frage nach persönlicher Kriegsschuld bei den Steinmeiers schlicht nicht aufdrängte und weil er sich nicht von klassischen Rollenmustern befreien musste. Die Heimat blieb so ohne größere Konfliktlinien und Distanzierung als Bezugspunkt stets bestehen. Auch die Beziehung zum jüngeren Bruder war und ist bis heute gut. In der Kindheit gab es keinen Kampf zwischen den beiden, keine Prügeleien oder dergleichen, erinnert sich Dirk.³⁸

    Steinmeier pflege, heißt es in einem Porträt, »ein ähnlich traditionelles Familienleben« wie seine Eltern, »anders als die 68er, die wenige Jahre zuvor ihren Weg gingen, sich, so ist es insbesondere bei Politikern der rot-grünen Jahre zu sehen, sich häufig scheideten oder gar nicht heirateten und Kindern aus verschiedenen Ehen mitbrachten«.³⁹ Steinmeier hingegen ist nur einmal verheiratet und hat eine Tochter. Er gehört der nachfolgenden Generation an. Davon handelt das folgende Kapitel.

    2.2 GENERATION 74

    Als Steinmeier neun Jahre alt war, kam die SPD das erste Mal an die Regierung, als er zwölf Jahre alt war, gingen Studenten in ganz Westdeutschland auf die Straße und die 68er-Proteste nahmen ihren Lauf, als er 13 Jahre alt war, stellte die SPD das erste Mal den Bundeskanzler. Aus dem demokratischen Pflänzchen der Bundesrepublik war nach Spiegel-Affäre, Politikwechseln und Studentenprosten ein demokratischer Baum geworden. Erst später, um 1971 und 1972 im Alter zwischen 15 und 16 Jahren, begann Steinmeiers politische Sozialisation. An seinem 18. Geburtstag war Willy Brandt schon nicht mehr Kanzler. Dies also sind die Rahmendaten, die jedem Biographen bezüglich seines Protagonisten immer wieder im Rahmen der Generationenfrage begegnen.⁴⁰

    Wenige Jahre Altersunterschied sind dabei schon entscheidend, prägen doch Ereignisse ganz unterschiedlich. Während Steinmeier die Studentenproteste um 1968 mit den Worten, »das liegt alles ein bisschen vor meiner Zeit«,⁴¹ als nicht prägend beschreibt, verbindet sein Studienfreund Christoph Nix, nur knapp zwei Jahre älter, noch mehr damit: »[I]ch hatte nochmal 'ne andere Prägung gehabt, über die Schülerbewegung. Also […] diese zwei Jahre haben viel ausgemacht. […] Ich bin […] in die 68er-Bewegung als Vierzehnjähriger gekommen.«⁴²

    Der Unterschied wird noch deutlicher beim Blick in die vorausgegangene Generation, die, rund eine Dekade älter, die Kriegsfolgen zumindest mittelbar erlebte. Gerhard Schröder, geboren 1944, etwa lernte seinen Vater nie kennen, weil dieser aus dem 2. Weltkrieg nicht zurückgekehrt ist, er wuchs außerdem in großer Armut auf.⁴³ Als Peer Steinbrück 1947 geboren wurde, »präg[t]en die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs noch über das Gesicht der Stadt [Hamburg]. Ganze Straßenzüge […] [bestanden] nur aus hohlen, verbrannten Fassadenresten, in denen die verkohlten, scheiblosen, ausgebrannten Häuser wirk[t]en.«⁴⁴ Zukunftsängste wuchsen:

    »Die berühmte ›Stunde null‹ hat[te] für Millionen Menschen in der schmerzlichen Erkenntnis bestanden, ohne Wohnung, Arbeit und ausreichende Nahrung wieder ganz von vorne beginnen zu müssen, oft genug begleitet von der Trauer über den Verlust enger Angehöriger durch den Krieg.«⁴⁵

    Bei Steinmeiers Geburt 1956, elf Jahre nach dem 2. Weltkrieg, waren die unmittelbaren Kriegsschäden längst beseitigt, es gab zwei Elternteile und Konrad Adenauer war bereits seit sieben Jahren Kanzler. Der »Phase des Wiederaufbau[s]«, verortet zwischen 1949 und 1959, in der die vorausgegangene Generation aufgewachsen war, schloss sich die »Phase der Normalisierung«⁴⁶ an, in der nun Steinmeier zunächst heranwuchs. »Die bis dahin erreichte wirtschaftliche Lage«, heißt es in einer Analyse über diese, zwischen 1960 und 1969 verortete Periode,⁴⁷ »brachte den Wiederaufbau zu einem gewissen Abschluss. Breite Kreise der Bevölkerung sahen sich jetzt in der Lage, über die unmittelbare Lebenssicherung hinaus Konsumgewohnheiten zu entwickeln, die als Synonym für das ›Wirtschaftswunder‹ stehen«.⁴⁸

    Und weiter: »[D]ies galt vor allem für den Eigenheimbau, die schnelle individuelle Motorisierung und Urlaubsreisen in das europäische Ausland.«⁴⁹ Insbesondere das Eigenheim gehörte auch zu Steinmeiers Familie. Auch das Auto, ein BMW, fand Einzug. Und nicht zuletzt ein Fernseher, der bereits Ende der 1960er Jahre im Wohnzimmer der Eltern stand.⁵⁰

    Auch wenn auch diese Zeit nicht immer einfach gewesen sein soll, wie Steinmeier sich erinnert,⁵¹ stammte er doch aus der, wenn man so möchte, ersten (Politiker-)Generation, die wirklich in einer Demokratie aufgewachsen ist. Es war eine Generation, in der »an die Stelle einer Orientierung an den drängendsten Bedürfnissen, die sich aus der Not und den Zerstörungen ergaben, jetzt der Vergleich mit anderen Industriestaaten« getreten ist.⁵² Einen Generationenkonflikt, wie es die vorrausgegangene Kohorte der 1968er noch erlebte, gab es nicht mehr in dieser Form. Denn:

    »Sie hatten nicht mehr unmittelbar mit der Kriegsgeneration zu tun […] – und insofern das Glück der Normalität. Sie waren die erste Generation, für die Konsum und Reisen zur Selbstverständlichkeit wurden. Aber sie brachten deshalb auch keine so kantigen Persönlichkeiten mehr hervor wie Joschka Fischer, Gerhard Schröder oder Otto Schily.«⁵³

    Steinmeier selbst bezeichnet jene unkantige Generation, die in der Wissenschaft auch als eine »übersehene[] Generation[]«⁵⁴ oder als »78er«⁵⁵ beschrieben wird, im Rückblick als »74er«.⁵⁶

    Es war diese Zeit, die Ende der 1960er Jahre mit einer »Zeitenwende« begann.⁵⁷ 1969 kam es dabei »nicht nur zur Ablösung der CDU/CSU als Regierungspartei, sondern auch zu Veränderungen des Kräfteverhältnisses der Parteien, die langfristige Auswirkungen haben sollte.«⁵⁸ Die SPD konnte erstmals über 40 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen, und die FDP hatte sich in der Opposition erneuert.⁵⁹ Die Sozialdemokraten hatten Erfolg mit einer Kampagne, in deren Mittelpunkt die vier Aspekte »Stabilisierung der Wirtschaft und sichere Arbeitsplätze, Wissenschaft, Forschung und Ausbildung, Chancengleichheit und gutnachbarschaftliche Beziehungen nach Westen und nach Osten« standen.⁶⁰ Sie manifestierte damit einen innerparteilichen Wandlungsprozess, der 1957 begann und damit parallel zu Steinmeiers Aufwachsen verlief.

    Steinmeier erinnert sich, dass eines seiner ersten politischen Schlüsselerlebnisse das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Jahr 1972 gewesen sei, »wo wir in Blomberg, damals in meiner drittletzten Klasse am Gymnasium, […] morgens in der Aula zusammengeholt wurden, jedenfalls […] die Oberstufenklassen«.⁶¹ Er beschreibt die Umstände mit den Worten, dass »die technische Infrastruktur ja nicht so ausgereift wie heute« gewesen und »ein Fernseher, schwarz-weiß, in die Ecke gestellt« worden sei. Der sei dann »auf laut gedreht« worden »und dann haben wir […] mit einigen zig Schülern, vielleicht hundert, […] in dieser Aula gesessen und verfolgt, was dort stattfand«.⁶²

    Natürlich, auch da war Steinmeier erst sechzehn Jahre alt, was er selbst reflektiert mit den Worten, dass er von sich »rückblickend überhaupt nicht« behaupte,

    »dass ich im Detail mit fünfzehn, sechzehn gewusst habe, was dort stattfand oder das ich gar annähernd über die Komplexität der […] Auseinandersetzungen über die Ostpolitik informiert gewesen wäre. Das nicht. Aber […] man hat so ein wachsendes Gefühl dafür gehabt, wer auf der richtigen Seite steht. Und das spitzte sich in diesem Misstrauensvotum zu.«⁶³

    Als einen spannungsgeladenen Moment erinnert er sich an dieses Votum. So führt er weiter aus, dass es »eine öffentliche Haltung in der Republik« gegeben habe, »dass dieser Willy Brandt dort nicht gestürzt werden darf.«⁶⁴

    Waren die 68er noch vor seiner Zeit, dürfte er, unabhängig davon, wie stark seine Erinnerungen im Rückblick verfärbt sind, die Zeit danach aktiver mitbekommen haben, wenn vielleicht auch zunächst nur am Rande aus Diskussionen in Schule und Familie, dann schließlich unmittelbar mit jenem Misstrauensvotum von 1972.

    Tatsächlich war der Ost-West-Konflikt mit der unter Willy Brandt verfolgten, von Egon Bahr konzipierten Doktrin »Wandel durch Annäherung«⁶⁵ das bestimmende Thema jener Zeit. »Die Debatte verlief ebenso leidenschaftlich und kontrovers wie seinerzeit die Diskussion über die Westpolitik Adenauers.«⁶⁶ Die Tragweite wird beim Blick auf die damaligen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag offenbar, die sich deutlich verschoben hatten. So verlor die sozialliberale Regierung zwischen 1970 und 1972 insgesamt sieben Abgeordnete, vier aus der SPD und drei aus der FDP.⁶⁷ Nachdem ein weiterer Abgeordneter der FDP aus der Fraktion ausgetreten war »und vertrauliche Zusagen mindestens eines weiteren FDP-Abgeordneten […] vorlagen, beschloss der Fraktionsvorstand der CDU/CSU« eben jenes »Misstrauensvotum.⁶⁸ In der noch kurzen bundesrepublikanischen Geschichte war das ein Novum, was die Dramatik noch einmal unterstrich.

    Und so galt das Ergebnis der Abstimmung, bei der sich Christdemokrat Rainer Barzel als Gegenkandidat von Willy Brandt seiner Mehrheit sicher wähnte, auch als »politische Sensation: nur 247 Ja-Stimmen, anstatt der notwendigen 249 entfielen auf Rainer Barzel.«⁶⁹ Von einem »Moment der Erleichterung bei Schülern und Lehrern« spricht Steinmeier im Rückblick, den er gespürt habe, »als das Ergebnis bekannt« gegeben wurde.⁷⁰ »[A]uch diejenigen, die […] nicht viel von Politik wussten, und die hatten wir ja auch, […] haben gespürt: Das war ein Tag, an dem sich sozusagen Zukunft in diesem Land entschied, welche Richtung dieses Land einschlägt.«⁷¹

    Willy Brandt blieb also Kanzler und die Schüler des Blomberger Gymnasiums konnten zum Unterricht zurückkehren, nicht ohne jene Bedeutung dieses Tages und dieser Zeit registriert zu haben. Die Lippische Landes-Zeitung titelte am Tag darauf, »Brandt bleibt Bundeskanzler – Barzel erhielt nur 247 Stimmen«.⁷² Außerdem war zu lesen: »CDU/CSU stimmte nicht geschlossen ab«.⁷³

    Dieses Votum verfestigte jene Phase des »[s]ozialliberale[n] Aufbruch[s]«,⁷⁴ die sich der »Phase der Normalisierung« anschloss, die Steinmeier nur als jüngerer Schüler erlebte. Nun konnte er, wenn auch nicht in seinem ganzen Ausmaß, aber eben doch in Nuancen, politisch Komplexes zu begreifen anfangen und beginnen wahrzunehmen. Politik war in dieser Zeit allgegenwertig, was sich zum Beispiel auch in der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 1972 widerspiegelte. Mit 91,2 Prozent war sie die höchste, die es je in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat.⁷⁵

    Auch über die dezidierte Politik hinaus waren die 1970er Jahre eine Zeit der deutlichen »Politisierung«.⁷⁶ Neben der Frauenbewegung lag hier auch die Gründung vieler Bürgerinitiativen, die Anti-Atomkraft-Bewegung und die Friedensbewegung.⁷⁷ Es wird offenbar, dass das, was sich im Wahlergebnis der SPD von 1972, mit 45,2 Prozent das beste in ihrer Geschichte,⁷⁸ schon ansatzweise widerspiegelte, sich spätestens 1980 mit der Gründung der Grünen manifestierte: Die Bundesrepublik öffnete sich nach links.

    Auch in anderer Hinsicht waren die 1970er Jahre eine Zeit des Wandels, wie sich ein Jahr vor Steinmeiers Abitur zeigen sollte. Als er 17 Jahre alt war, fand mit dem Ölpreisschock von 1973 eine Wende statt, die »mehr als eine bloß politische Richtungsänderung« war, »sondern vielmehr […] ein[] allgemeine[r] Kulturschock, in dessen Zusammenhang ein Begriff wie ›Grenzen des Wachstums‹ […] erst seine Signifikanz entfalten konnte«.⁷⁹ Es war »eine grundsätzliche Wende gegen den Glauben an uneingeschränkte Machbarkeit, gegen technokratische Zukunftsplanung und auch gegen die unhinterfragte Orientierung an wirtschaftlichem Wachstum.«⁸⁰ Das Jahr 1973 wird gemeinhin als das »Ende der Nachkriegszeit«⁸¹ beschrieben, mehr noch: »Der Westen erlebte seine tiefste Krise in der Nachkriegszeit, vielleicht sogar seit 1929.«⁸²

    Im Rückblick ist schwer zu beurteilen, wie stark Steinmeier persönlich davon betroffen gewesen sein mag. Es gibt sicherlich Gründe zu argumentieren, dass solche welt- und bundespolitischen Veränderungen von einem Jugendlichen gar nicht so bewusst wahrgenommen werden in diesem Alter, dass also das Leben im Kleinen seinen normalen Gang weitergeht. Das mag sein, doch: Die Bundesrepublik, in der Steinmeier fortan aufwuchs, war eine andere. Er selbst musste daher gar nicht ungemein viel davon mitbekommen haben, es vollzog sich ganz von selbst durch Teilhabe am politischen System.

    Hierbei muss man berücksichtigen, dass bis Anfang der 1970er Jahre Vollbeschäftigung in Deutschland erreicht war. Politiker und Wähler waren »bis in die Gene vom Erlebnis des ›Wirtschaftswunders‹ durchdrungen gewesen, das eine in ganz Westeuropa und darüber hinaus bewunderte industrielle Demokratie hatte aufblühen lassen«.⁸³ Es war »einerseits eine Volkswirtschaft von beispielloser Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, andererseits aber eine Industriegesellschaft von vorbildlicher Modernität« zu besichtigen.⁸⁴ Doch auch in Deutschland trübte sich in den folgenden Jahren die wirtschaftliche Lage merklich ein. Das Ende des Nachkriegsbooms wird im Rückblick in das Zeitfenster von 1971 bis 1975 datiert,⁸⁵ was auch an Zahlen festzumachen ist:

    »Bereits im Boom-Jahr 1970 waren die Einnahmen des Bundes um 2,3 Mrd. unter dem geschätzten Soll geblieben. Schätzungen von Wirtschaftsinstituten ergaben, daß die Einnahmen von Bund und Ländern mittelfristig erheblich unter den 1970 geschätzten Angaben liegen würden. Wenn man nicht den Kreditrahmen der öffentlichen Hand erheblich ausweiten und damit die ohnehin schon problematische Preisentwicklung weiter befördern wollte, blieb zumindest für neue Reformvorhaben kein Geld übrig. Verschärft wurden diese inneren Probleme durch die Krise des Weltwährungssystems von Bretton Woods. Diese, hier nur angedeuteten, Rahmenbedingungen führten Mitte der 70er Jahre zu einem massiven Konjunktureinbruch. Das Bruttosozialprodukt stieg 1973 noch um 5,1 %, stagnierte 1974 bei 0,4 % und fiel 1975 um 3,5 %. Die Industrieproduktion sank 1974 um 7,6 %, die Zahl der Arbeitslosen stieg von 273.000 im Jahre 1973 auf 582.000 ein Jahr später und 1975 erstmals auf über eine Million.«⁸⁶

    Probleme, deren Lösungssuche erst mit der späteren Agenda 2010 begonnen wurde, hatten in dieser Zeit ihren Ursprung. Denn mit der Wirtschaftskrise geriet auch das Wohlfahrtssystem ins Wanken. Damals waren »weder die Wähler noch die gewählten Volksvertreter bereit, den über die Jahrzehnte von einfallsreichen Sozialpolitikern entwickelten Wohlfahrtsstaat den schrumpfenden Verteilungsspielräumen anzupassen.«⁸⁷ Ob Rente, Kindergeld oder »Karenztage im Krankheitsfall« – nirgendwo wollte man sich an Änderungen wagen. »Erwies sich die Kassenlage als besonders kritisch, waren gewisse Anpassungen« jedoch »unumgänglich.«⁸⁸ Dennoch: Die Politik schaffte es nicht, einen großen Wurf in Fragen einer Reform der Sozial- und Gesellschaftspolitik mit damit einhergehendem Abbau von Leistungen herbeizuführen.⁸⁹ Und so war die Sozialpolitik eines der großen Problemfelder der 1970er Jahre, deren Auswirkungen lange nachwirkten. Denn die Sozialausgaben erfuhren auch nach Ende des Booms

    »noch immer eine fast naturwüchsige Vermehrung. Verschiebung bestimmter Zusagen, Abbremsen des Ausgabenaufwuchses, Querverschiebungen innerhalb der Sozialhaushalte, moderate Steuererhöhungen sollten aushelfen. Das meiste wurde über eine Erhöhung der Staatsschulden finanziert.«⁹⁰

    Gleichzeitig erhöhten sich durch die zunehmende Arbeitslosigkeit, wenig überraschend, natürlich auch die Beiträge, »die die Arbeitnehmer in die Sozialversicherungen einzahlen mussten.«⁹¹

    Überhaupt bedeutete die Wirtschaftskrise einen enormen Wandel hin­sichtlich des Arbeitsmarktes. Denn es waren nicht mehr nur die unqualifizierten Arbeiter, die ihren Job verloren, sondern vielmehr auch jene hochqualifizierten Arbeiter in der Industrie.⁹² Das lag auch daran, dass viele Branchen im Zuge der einsetzenden Globalisierung und dem damit verbundenen »globalen Wettbewerb[]«, dem sie fortan ausgesetzt waren, »in Schieflage« gerieten.⁹³ In den 1960ern betraf das nur den Kohleabbau, nun aber »kamen die Stahlindustrie, der Schiffbau und die Textilindustrie dazu.«⁹⁴ In diesen Jahren wurde ein gesellschaftlicher Wandel eingeleitet, in der der »Dienstleistungssektor« deutlich zunahm und dieser die Gesellschaft bald »volkswirtschaftlich« dominieren sollte.⁹⁵

    Weltwirtschaftskrise und Ölkrise könnten auf den 17-jährigen Steinmeier aber noch aus ganz anderer Hinsicht prägend gewesen sein. So wirkte sich der Ölpreisschock auf ein weiteres großes Thema aus: die Energiepolitik. »[E]ine Kettenreaktion mit Fernwirkungen bis heute« wurde »in Gang« gesetzt,⁹⁶ an deren Spitze der Ausbau der Atomenergie und die gleichzeitig aufkommende Gegenbewegung, aus der die späteren Grünen hervorgegangen sind, standen. Dieser aufflammende Konflikt zog sich, wie die Frage nach einer gerechten Sozialpolitik in Zeiten des wirtschaftlichen Wandels, mit Beginn von Steinmeiers politischer Sozialisation über seine ganze wissenschaftliche und politische Karriere hindurch.

    Was bei alledem nicht vergessen werden darf, sind die zunehmenden bildungspolitischen Maßnahmen, die während der Zeit von Steinmeiers Heranwachsen von der Politik, vornehmlich angetrieben von der Sozialdemokratie,⁹⁷ durchgeführt worden sind. So stieg etwa die Zahl der Lehrer von 1964 bis Anfang der 1980er Jahre von 300.000 auf über eine halbe Million, das Gymnasium stand immer mehr auch der einfacheren Bevölkerung zur Verfügung, wovon auch Steinmeier profitierte. Er legte sein Abitur im Jahr 1974 mit guten, aber nicht überdurchschnittlichen Noten ab.⁹⁸

    Hat die erste bundesrepublikanische Generation also »die NS-Zeit, ihr Ende und die Folgen erlebt [, wurde] die zweite Generation […] in die beiden ersten Dekaden der Bundesrepublik hineinsozialisiert«.⁹⁹ Sie identifizierte sich zunehmend mit ihr. »Eine größere Distanz zur geschaffenen politischen Ordnung und ihren Wertpostulaten zeigt[e] die dritte Generation, die ihre prägenden Einflüsse während der Studentenrevolte […] erhalten hat.«¹⁰⁰ Nun also kam die »vierte Generation«, die als »entideologisiert, postmateriell und auf ökologische Werte fixiert« beschrieben wird.¹⁰¹ Es war eine Zeit, in der, mit Ausnahme der sich zuspitzenden Gewalttaten der RAF, eine »pragmatische Demokratiezufriedenheit« einkehrte.¹⁰² Diese, Steinmeiers Generation, ist womöglich die erste Normal-Generation, eine Generation in einer Demokratie, die in der Demokratie geboren worden und in ihr aufgewachsen ist. Diese erste Hälfte der 1970er Jahre war es auch, die Steinmeier, wie im folgenden Kapitel zu sehen ist, zur SPD führen sollte.

    2.3 (SOZIALDEMOKRATISCHE) POLITISIERUNG

    Zwar will sich Jugendfreund Peter Hausstätter laut Stern daran erinnern, dass Vater Steinmeier und Sohn Frank-Walter stundenlang in der Küche gesessen und über verschiedenste Fragen geredet hätten. Er habe sich dabei häufig gefragt: *»Mensch, wovon reden die?« Und wenn Frank ihn in eine politische Diskussion verwickeln wollte, habe der Freund nur entgegnet: »Nee, lass mal, Politik bringt nur Ärger.«¹⁰³ Steinmeiers Vater hingegen wiegelte in der Süddeutschen Zeitung ab: »Wir waren nie der Haushalt, in dem große politische Debatten geführt wurden«.¹⁰⁴ Ein grundsätzliches Interesse dürfte von Zuhause daher zwar mitgegeben worden sein, nicht jedoch dürften die Eltern eine maßgebliche Rolle bei Steinmeiers Politisierung gespielt haben – außer dass sie in einem sozialdemokratisch-geprägten Ort wohnten.

    Wichtig für Steinmeiers Politisierung war neben dem Misstrauensvotum Willy Brandts nach eigener Darstellung ein Jugendkreis,¹⁰⁵ an deren Entstehung er maßgeblich beteiligt war. Die Bemühungen darum fügten sich im kleinen Brakelsiek in die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre.¹⁰⁶ Im Ort habe es dabei ein Gebäude, die ehemalige Grundschule, gegeben, das, so Steinmeier, »schon 'ne Weile frei« gestanden habe. »Und wir haben dann […] angefangen, da mal mit 'nen paar Leuten da vor Ort uns zu organisieren und Briefe zu schreiben und Veranstaltungen zu machen: Wir brauchen ein unabhängiges Jugendzentrum«.¹⁰⁷

    Sein Bruder Dirk erinnert sich an die damalige Situation mit den Worten, dass es »damals zwei Gruppen im Dorf« gegeben habe,

    »die Jungs aus der Siedlung und die vom Unterdorf. Zu denen gehörten wir. Beide Gruppen trafen sich im Bushäuschen. Das gab regelmäßig Ärger, weil das oft verdreckt und voll mit Kippen war. Also haben beide Gruppen unabhängig voneinander versucht, einen Raum zu kriegen. Der Bürgermeister meinte, wir sollten uns erst mal einigen, zwei Jugendzentren seien nicht zu machen. Und da hat der Frank zum ersten Mal gezeigt, wie gut er vermitteln kann. Er hat die beiden Gruppen zusammengeholt und den Streit geschlichtet.«¹⁰⁸

    Auch Verbic bestätigt, dass Steinmeier »diesen Jugendkreis da so 'nen bisschen versucht [hatte] in Gang zu bringen.«¹⁰⁹

    War Willy Brandts Misstrauensvotum Bundespolitik, waren es hier die örtlichen Strukturen, die bewegten. An diesen zwei Themen ist gut der Kontrast zu sehen zwischen der großen Politik und der Politik im kleinen, Politik, die für einen jungen Schüler greifbarer gewesen sein könnte.

    Für ihn selbst, erinnert sich Steinmeier, sei es der Punkt gewesen, »wo ein Mensch politisch wird. Und am Ende haben wir uns durchgesetzt […] [D]as sind so Grunderfahrungen, die man als junger Mensch, glaube ich, braucht. Die Grunderfahrung: Du mischst dich ein und es verändert sich was.«¹¹⁰ Dass das allerdings die Voraussetzung gewesen sei, sich »irgendwann in den neunziger Jahren […] entschieden« zu haben, »aus meinem politischen Interesse 'nen Beruf zu machen«, so weit geht dann auch er nicht. Steinmeier sieht diese Begebenheit jedoch zumindest retrospektiv als eine »der Grunderfahrungen, warum ich durch […] mein Leben hindurch […] immer ein politischer Mensch geblieben bin.«¹¹¹

    In der Tat sollte das Bemühen der Jugendlichen ein kleiner Erfolg werden. Einige Jahre später wurde der Jugendkreis schließlich offiziell zu einem Verein. Frank Steinmeier, mittlerweile Jura-Student in Gießen, sei für das Vertragswerk der »geistige Vater« gewesen, habe es verfasst, erinnert sich ein weiterer Brakelsieker.¹¹² In der »Satzung des Jugendkreises Brakelsiek e.V.«, die am 8. Januar 1980 vom Amtsgericht Blomberg beglaubigt wurde, taucht zwar nur der Name des jüngeren Dirks auf – als einer von 19.¹¹³ »Die konstituierende Sitzung des heutigen Jugendkreises«, erinnert sich aber eben dieser, habe »bei uns im Keller stattgefunden.«¹¹⁴ Diese Begebenheit zeigt, wie verwurzelt die Steinmeiers in den Dorfstrukturen gewesen sein müssen. Der Jugendkreis existiert noch immer und zählt rund 40 Jahre und eine digitale Revolution später, im Jahr 2014, 50 Mitglieder auf Facebook.¹¹⁵

    In die Mitte jenes für Steinmeier politisierenden Jahrzehnts fiel sein Beitritt zur IG Metall, der, glaubt man Verbic, eher zufällig geschah.

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