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Rapallo und die deutsche Russlandpolitik 1922-1933: Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eines politischen Mythos
Rapallo und die deutsche Russlandpolitik 1922-1933: Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eines politischen Mythos
Rapallo und die deutsche Russlandpolitik 1922-1933: Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eines politischen Mythos
eBook481 Seiten5 Stunden

Rapallo und die deutsche Russlandpolitik 1922-1933: Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eines politischen Mythos

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Über dieses E-Book

Am 16. April 1922 schlossen Sowjetrussland und Deutschland in dem italienischen Badeort Rapallo einen Vertrag, durch den sie Verzicht auf entwaige kriegsbedingte Entschädigungsansprüche und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbarten. Aber nicht der Inhalt des Vertrages, sondern die Umstände und die symbolische Bedeutung seines Abschlusses eröffneten eine Etappe der engen politischen, wirtschaftlichen und geheimen militärischen Zusammenarbeit zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion, die bis heute mit dem Schlagwort "Rapallo" assoziiert wird. Dass es sich dabei um einen politischen Mythos handelt, der in verschiedenen historischen Epochen und Kontexten eine ungebrochene Kontinuität aufweist, ist Ausgangspunkt der Dissertation von Inna Prudnikova, die an der Freien Universität Berlin verteidigt wurde. In der Dissertation werden die Entstehung, Wirkung und Funktionen des Rapallo-Mythos in der Weimarer Republik erforscht.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Juli 2019
ISBN9783746097480
Rapallo und die deutsche Russlandpolitik 1922-1933: Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eines politischen Mythos
Autor

Inna Prudnikova

Inna Prudnikova wurde 1986 in Belgorod, die ehemealige UdSSR, geboren. Nach dem Abschluss des Studiums an der Universität Voronezh im Fachbereich Geschichte bekam sie ein Stipendium der Konrad -Adenauer -Stiftung. 2014 schloss sie das Promotionsstudium an der Freien Universität Berlin ab und verteidigte die Dissertation zum Thema der deustch-sowjetischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Seitdem ist sie freiberuflich in Berlin tätig.

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    Buchvorschau

    Rapallo und die deutsche Russlandpolitik 1922-1933 - Inna Prudnikova

    242.

    Titel

    I Entstehung des Rapallo-Mythos: historische Rahmenbedingungen und Akteure

    I.1 Die Aufnahme diplomatischer Kontakte zwischen Deutschland und Sowjetrussland 1920-1922

    I.1.1 Die ersten diplomatischen Kontakte: die Tätigkeit der Zentrale für den Kriegsgefangenenaustausch und das Abkommen vom 9. 04. 1920

    Carl Melchior, der ehemalige Leiter der deutschen Finanzdelegation bei den Friedensverhandlungen zum Versailler Vertrag, brachte am 20. Februar 1920 in einer Rede vor der Versammlung der Deutschen Demokratischen Partei zum Ausdruck, dass das Pariser System der Nachkriegsordnung die wirtschaftliche und finanzielle Souveränität des Deutschen Reiches verletze und damit keine Voraussetzungen dafür biete, „selbständig auswärtige Politik zu treiben. Das deutsche Volk verfüge aber, wie Carl Melchor ausführte, über „gewisse Einfluss- und Machtmittel, die ihm zum Aufstieg zu einer eigenständigen Großmacht verhelfen können. Im Rahmen dieser Erwägung wies Melchior darauf hin, dass die deutsche Diplomatie „in viel höherem Grade als bisher seinen Blick nach Osten richten müsse, denn ein deutsch-sowjetisches Zusammengehen könne aus seiner Sicht im internationalen Feld als Gegengewicht zu den alliierten Siegermächten dienen. Carl Melchior betonte, dass beide Völker „für die nächsten Generationen so eng aufeinander angewiesen seien, dass die Deutschen in ihren Schulen „durch Geschichts-, Geographie- und Sprachunterricht in ganz anderer Weise als bisher auf die russische Welt einstellen sollen. Vielleicht würde es in Zukunft, so Melchior, „zwischen dem durch Niederlage und Revolution zerrütteten Russland und dem in ähnlicher Lage befindlichen Deutschland eine Art Liga der Besiegten (…) bilden, von der keines der siegreichen Völker etwas zu befürchten hätten, und deren Zweck es wäre, durch gegenseitige Unterstützung beim eigenen Aufbau Europas beizutragen.¹

    Die deutsch-sowjetischen diplomatischen Beziehungen wurden am 5. November 1918 wegen der Propagandatätigkeit des damaligen sowjetischen Gesandten Adolf Joffe und der Ermordung des deutschen Botschafters in Moskau, des Grafen Mirbachs, abgebrochen. Anfang der 20er Jahre diente die antisowjetische Einstellung der Reichsregierung als „Anknüpfpunkt gemeinsamer Politik mit den Alliierten"², die darauf ausgerichtet war, die innenpolitische Machtstellung der Bolschewiki zu erschüttern. Nach den gescheiterten Interventionen in Sowjetrussland setzte sich innerhalb der deutschen Spitzendiplomatie die Überzeugung durch, dass die deutsch-sowjetische Annäherung dem Reich die Möglichkeit eröffnen könnte, sich aus der außenpolitischen Isolierung herauszulavieren und die Handlungsspielräume auf dem Gebiet der internationalen Politik zu erweitern. Die Anbahnung der deutsch-sowjetischen Beziehungen befürworteten auch die deutschen Industrie- und Wirtschaftskreise, da für sie „die Möglichkeiten, die der russische Markt auch in Zukunft bergen werde auf der Hand lagen, denn Russland war „schon vor dem Weltkrieg wichtiger Rohstofflieferant und Absatzmarkt für die deutsche Wirtschaft gewesen

    Für die Notwendigkeit, die deutsch-sowjetischen Beziehungen wieder aufzunehmen plädierte der überwiegende Teil der deutschen Diplomaten, obwohl wie sich Wipert von Blücher erinnerte, im Auswärtigen Amts „über den Bolschewismus sehr oft hin und her diskutiert wurde".⁴ Die Errichtung der sozialistischen Diktatur in Russland wurde von der deutschen Spitzendiplomatie als Etablierung einer Schreckensherrschaft angesehen. Hervorzuheben ist aber, dass sich sowohl in den politischen als auch den intellektuellen Kreisen der Weimarer Republik die Einsicht durchsetzte, dass der Bolschewismus eine vorübergehende Erscheinung ist, da er sich unter dem Zwang der Verhältnisse entwickeln wird. Otto Hoetzsch, ein Professor für osteuropäische Geschichte und Mitglied der DNVP, schrieb in einem Aufsatz für die Neue Preußische Zeitung, dass der Bolschewismus „im Grundsatz und in der Praxis nicht möglich sei.⁵Die von der Sowjetregierung eingeleiteten Maßnahmen zur Konsolidierung ihrer Macht, wie die Heranziehung der Beamten aus der Zarenzeit in die führende Positionen bei der sowjetischen Armee, die Annäherung an die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, wurden im Auswärtigen Amt als Anzeichen gedeutet, dass „Sowjetrussland das starre System verlassen hat.⁶ Die Hoffnung auf eine Evolution des Bolschewismus bildete für die diplomatische Elite der Weimarer Republik eines der entscheidenden Motive, die Beziehungen zu Sowjetrussland auf dem politischen und wirtschaftlichen Gebiet wieder aufzunehmen. Die Grundhaltung der deutschen Diplomaten zum Fragenkomplex der bilateralen Beziehungen war auch maßgeblich von der Vorstellung bestimmt, dass die Zusammenarbeit nicht mit den Vertretern einer bestimmten Regierung, sondern in erster Linie mit dem russischen Volk gesucht werden müsse, das trotz der grundlegenden staatspolitischen Umwälzung dasselbe geblieben sei, mit dem das Deutsche Reich seit Bismarck enge Freundschafbeziehungen gepflegt hatte.⁷ Die Vorstellung von der besonderen geistigen Verbundenheit der deutschen und russischen Völker, deren Wurzeln bis in die Kaiserzeit zurückreichten, war nach dem Abschluss des Versailler Vertrages in der Öffentlichkeit und im politischen Milieu der Weimarer Republik präsent. So legte der Vertreter der USPD Ewald Trapp in der Versammlung der Partei am 28. Juli 1920 im Zusammenhang mit der Beendung der Konferenz in Spa auseinander, dass das Deutsche Reich „gegenwärtig nur noch ein Anschluss an Russland retten könne das, „wie die Geschichte beweist, in unserer größten Not bisher immer noch unser Freund gewesen ist.⁸

    Die gemeinsame deutsch-sowjetische Frontstellung gegen den Versailler Vertrag bildete die entscheidende Antriebskraft dafür, dass sich auch in Sowjetrussland eine deutschfreundliche Stimmung allgemein verbreitete. Bemerkenswert ist in dieser Beziehung, dass die ostpreußische Grenzpolizei an das Auswärtige Amt Berichte schickte, in denen sie im Hinblick auf die deutschlandfreundliche Stimmung in Sowjetrussland ein Zusammengehen zwischen den beiden Staaten ausdrücklich befürwortete, denn nur so würde das Reich „in wenigen Wochen mehr zu sagen haben als die Entente, denn diese fürchtet sich vor Russland, weil im ganzen russischen Volke großer Hass gegen sie wegen des Versailler Vertrages besteht".⁹ Die in der deutschen Öffentlichkeit sowie politischen und intellektuellen Kreisen weit verbreitete Überzeugung, dass die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit ein gleichwertiges Korrelat gegenüber der Macht der Siegermächte bilden könne, beruhte auf den Befürchtungen des Westens vor den Folgewirkungen einer staatspolitischen Annäherung zwischen der Weimarer Republik und Sowjetrussland.

    Die Anknüpfung der deutsch-sowjetischen Beziehungen wurde von den Alliierten mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgt und als eine Bedrohung ihrer primären sicherheitspolitischen Interessen angesehen. So brachte Winston Churchill in einem Interview für den „Illustrated Sunday Herald zum Ausdruck, dass Deutschland „ohne große Hemmung in Sowjetrussland die Munitions- und Flugzeugfabriken in Betrieb setzen und „ein unermessliches Menschenmaterial" für die Wiederherstellung seiner Kriegsindustrie benutzen werde. Deshalb

    müsse England auf beide Staaten „ein achtsames Auge" haben und eine weitgehende deutsch-sowjetische Annäherung durch die Abwendung der bisherigen Erpressungspolitik verhindern.¹⁰ Die Beunruhigung, die die Möglichkeit eines politischen Zusammengehens zwischen Sowjetrussland und der Weimarer Republik im Westen auslöste, diente für die deutsche Diplomatie als Anlass, die Annäherung an Moskau voranzutreiben. Wie der Fürstenberg von Mecklenburg in diesem Zusammenhang in einem Brief an den Außenminister Simons bemerkte: „Wenn die Entente derartig besorgt ist, dass Russland und Deutschland sich näher kommen, dann ist der Weg richtig."¹¹ Bereits im Frühjahr 1920 unternahm die Wilhelmstraße den Versuch, in Kontakt mit den Vertretern der Sowjetregierung zu treten, um die notwendige politische und wirtschaftliche Grundlage für den Ausbau der bilateralen Zusammenarbeit zu schaffen.

    Eine entscheidende Rolle für die Anknüpfung der deutsch-sowjetischen Beziehungen spielte der Legationsrat Ago von Maltzan. Er vertrat die Ansicht, dass „die militärischen Erfolge der Roten Armee (…) die konterrevolutionären Armeen von Judenic, Kolcak und Denikin erledigt hätten und eine wirksame militärische Hilfe der Entente gegen Sowjetrussland zunächst undurchführbar erscheine", sodass mit der Sowjetregierung gerechnet werden müsse. Maltzan ließ sich auch von der Überlegung leiten, dass die Anknüpfung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in erster Linie der deutschen Wirtschaft zum Vorteil gereichen werde.¹²

    Als Ausgangspunkt für die Einleitung der deutsch-sowjetischen Handels- und Wirtschaftsverhandlungen sollte vom Standpunkt Maltzans aus die Frage des Kriegsgefangenenaustausches dienen. Die Notwendigkeit, die Heimbeförderung der sowjetischen Kriegsgefangenen durchzuführen, entstand unmittelbar nach dem Abschluss des Versailler Vertrages. Mit dieser Angelegenheit befasste sich Moritz Schlesinger, ein Hilfsarbeiter der Unterkunftsabteilung des Kriegsministeriums.¹³ Dank seines Engagements wurde am 2. Januar 1919 „Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangenen" gegründet, in der er den Posten des geschäftsführenden Stellvertreters übernahm.¹⁴ Die Tätigkeit der Zentrale beschränkte sich nicht nur auf die Regelung der Fragen des Gefangenenaustausches, sondern zielte auf die Anknüpfung wirtschaftlicher und handelspolitischer Beziehungen mit Sowjetrussland. Die Entsendung nach Berlin Viktor Kopps, des sowjetischen Bevollmächtigten für Kriegsgefangenenfragen, schuf hierfür alle notwendigen Voraussetzungen. Kopp war mit der Befugnis ausgestattet, neben der Beschäftigung mit den Fragen des Gefangenenaustausches auch Handelsgeschäfte zu tätigen. Auch Moritz Schlesinger wurde das Recht ausgeräumt, mit den sowjetischen Vertretern neben der Kriegsgefangenenfrage auch die des wirtschaftlichen und konsularischen Charakters zu besprechen. Nach dem Abschluss der Verhandlungen in Berlin wurde am 19. April 1920 ein Abkommen unterzeichnet, in dem nicht nur die Heimbeförderung der sowjetischen und deutschen Kriegsgefangenen geregelt, sondern die persönliche Immunität der beiderseitigen Bevollmächtigten und die Ausübung bestimmter konsularischer Befugnisse beschlossen wurden.¹⁵

    Im Juli 1920 fand zwischen dem damaligen Außenminister Simons und dem sowjetischen Volkskommissar Tschitscherin ein schriftlicher Gedankenaustausch über die Frage der Wiederaufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen statt. Auf diese Weise „trotz der grundlegenden prinzipiellen Ablehnung des Bolschewismus versuchte die deutsche Diplomatie „die Außenpolitik im unideologischen pragmatischen Raum zu halten, indem sie diese nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrag auf „eine undoktrinäre (…) Annäherung an die große Macht im Osten" ausrichtete.¹⁶

    I.1.2 Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrussland, das vorläufige Abkommen vom 6. Mai 1921

    Im Januar 1921 wurden in Moskau die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen eingeleitet, mit dem Ziel, eine für den Ausbau der beiderseitigen wirtschaftlichen Beziehungen erforderliche rechtliche Grundlage zu schaffen. Die deutschen Unterhändler verfolgten die Absicht, von Sowjetrussland die Erfüllung aller notwendigen Voraussetzungen für die Tätigung der Handelsgeschäfte privater deutscher Unternehmer, wie die Sicherung des Person- und Eigentumsschutzes, zu erwirken.¹⁷ Die Sowjetregierung machte aber ihr Entgegenkommen von der Frage der Wiederaufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen abhängig.

    Den Gegenstand der in Moskau eingeleiteten Verhandlungen bildete ein Entwurf eines Abkommens über die Wiederherstellung der deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen und die Errichtung gegenseitiger wirtschaftlicher Vertretungen. Als Voraussetzungen für die Aufnahme der offiziellen amtlichen Beziehungen wurde von der deutschen Seite der Schutz der Eigentumsrechte der deutschen Kriegsgefangenen und Staatsangehörigen genannt.¹⁸ Die sowjetischen Unterhändler zeigten in der Frage des Eigentumschutzes kaum Entgegenkommen, was Moritz Schlesinger den Anlass gab, in einem Brief an Ago von Maltzan den ganzen Aufenthalt in Moskau als „eine geistige und psychische Hintze" zu bezeichnen.¹⁹ Im Laufe der langwierigen Verhandlungen gelang es beiden Seiten, einen akzeptablen Kompromiss zu erzielen, der dem Wirtschaftsabkommen am 6. Mai 1921 zugrunde gelegt wurde. Die beiden Seiten verpflichteten sich, den Heimtransport von Kriegs- und Zivilgefangenen gemeinsam durchzuführen und die Kriegsgefangenenfürsorge den Handelsvertretungen anzugliedern.²⁰ Aus wirtschaftlicher Perspektive hatte das Abkommen vom 6. Mai für die deutsche Seite keinen großen praktischen Nutzwert, da er die Voraussetzungen für einen uneingeschränkten Handelsverkehr zwischen Deutschland und Sowjetrussland nur bedingt erfüllte. Im Hinblick auf das Festhalten der Sowjetregierung an den Prinzipien des Außenhandelsmonopols stellte das Abkommen jedoch eine gewisse Kompromisslösung dar und ebnete den Weg zur Gestaltung des bilateralen Verhältnisses.

    I.1.3 Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Berlin und die Vorbereitung auf die Konferenz von Genua

    Den ersten Schritt zur Anknüpfung offizieller amtlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrussland bildete die Regelung der Frage nach der Ernennung der bevollmächtigten Vertreter. Wie aus dem Brief des Außenministers Friedrich Rosen an den Reichspräsidenten Ebert vom 31. Mai 1921 hervorgeht, befürworte die Sowjetregierung „die Entsendung eines Herrn aus deutschen Wirtschaftskreisen ohne parteipolitische Richtung".²¹ Dem Anforderungsprofil der Sowjetregierung entsprach der Leiter der Abteilung für den Außenhandel des Auswärtigen Amtes, der Professor für die Nationalökonomie Kurt Wiedenfeld. In seinen Erinnerungen erwähnt er, dass von ihm in erster Linie gefordert wurde, sich jeder diplomatischen Betätigung in Moskau zu enthalten. Sein Aufgabengebiet beschränke sich ausschließlich auf die Berichterstattung und Beobachtung der innerrussischen Verhältnisse.²² Von der Sowjetregierung wurde ihrerseits als bevollmächtigter Vertreter in Berlin Nikolaj Krestinki,

    der ehemalige Volkskommissar für die Finanzen, in Aussicht gestellt. Wie Wiedenfeld verfügte er über Kenntnisse und Erfahrungen auf wirtschaftspolitischem Gebiet, und konnte aus diesem Grund zur Förderung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen beitragen.

    Am 15. November 1921 überreichte Nikolaj Krestinki sein Beglaubigungsschreiben an den Reichspräsidenten Friedrich Ebert; Wiedenfeld trat bereits im September 1921 seinen Posten in Moskau an. Nach wenigen Monaten der Arbeit in der sowjetischen Hauptstadt schrieb Kurt Wiedenfeld in sein Tagebuch, dass er die Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Beziehungen als Fortführung der bismarckschen Tradition ansieht.²³ Er vertrat den Standpunkt, dass das Ziel der deutschen Außenpolitik darin bestehen sollte, „mit einem Anschluss an Russland zu drohen und dadurch den Bündniswert des Reiches sowie die Grundlage für die Durchsetzung seiner Ansprüche auf dem Gebiet der internationalen Politik zu schaffen. Widerfeld schrieb, dass er auf seinem Posten in Moskau nicht auf einen Anschluss an Sowjetrussland, sondern auf „das Drohen mit diesem hinarbeiten wolle.²⁴ Vor dem Hintergrund der zunehmenden innenpolitischen Krise in Deutschland und der Grundhaltung der alliierten Siegermächte in der oberschlesischen Frage berichtete Weidenfeld an das Auswärtige Amt, dass die deutsche Außenpolitik über keine Einfluss- und Machtmittel verfügt, als „den Schein einer Annäherung an Russland hervorzurufen".²⁵ Dass dieser Gedanke Kurt Wiedenfelds zum zentralen Handlungsmotiv der die deutsche Ostpolitik gestaltenden Diplomaten wird, zeichnete sich nach dem Ausgang der internationalen Konferenz in Genua ab.

    Am 17. Januar 1922 überreichte der italienische Botschafter der deutschen Regierung die Einladung zur Konferenz in Genua, die sich mit den Fragen der Wiederherstellung und Reorganisation der durch den Krieg zerrütteten Finanz- und Wirtschaftssysteme befassen sollte. Sowjetrussland wurde auch zu der Teilnahme an der Konferenz eingeladen. Seine außenpolitische Isolierung und unüberbrückbare Differenzen mit den Alliierten in der Frage der zaristischen Vorkriegsschulden bildeten die entscheidenden Gründe dafür, dass Deutschland für die sowjetische Republik als „höchst erwünschte wirtschaftliche und politische Reserve" galt.²⁶ Aus diesem Grund versuchte im Frühjahr 1922 der inoffizielle Vertreter der Sowjetregierung Karl Radek, die Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen in die Wege zu leiten. Er sprach sich für das Zustandekommen eines deutsch-sowjetischen Staatsvertrags vor der Eröffnung der internationalen Wirtschafts- und Finanzkonferenz in Genua aus. Um die deutsche Regierung in dieser Frage zum Einlenken zu bewegen, setzte Karl Radek die Möglichkeit der Anwendung des Artikels 116 des Versailler Vertrages, dessen Bestimmungen der Sowjetregierung das Recht einräumten, von Deutschland Reparationszahlungen zu fordern, als politisches Druckmittel ein. Der führende Jurist des Auswärtigen Amtes Friedrich Gaus setzte in der Aufzeichnung vom 22. Dezember 1921 auseinander, dass der Artikel 116 ausschließlich zum Ausdruck bringe, dass „der Versailler Vertrag etwaige Rechte Russlands aus Restitution und Reparation nicht berührt. Nach seinen Ausführungen bestehe die Möglichkeit, dass die Siegermächte der Sowjetregierung das Recht auf Kriegsentschädigung einräumen werden, nicht, denn „die Folge wäre die gewesen, dass Russland mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages ohne weiteres, ohne einer besonderen Verständigung mit der Entente zu bedürfen, Reparationsrechte gegen Deutschland erlangt hätte.²⁷ Die eineindeutige juristische Auslegung des Artikels 116 war nach Ansicht von Friedrich Gaus als Indiz dafür anzusehen, dass es in dieser Frage zwischen den Alliierten und Sowjetrussland zu keiner Verständigung kommen könne. Auch Karl Radek betonte bei den Verhandlungen in Berliner, dass er „ein Gegner des Artikels 116 sei und diese Frage für ihn „überhaupt keine juristische, sondern eine politische habe.²⁸ Die Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Beziehungen sollte nach Ansicht Radeks vor der Eröffnung der Genua-Konferenz unbedingt erfolgen, da er die Besorgnis äußerte, dass die Siegermächte in Genua auf der Grundlage eines gemeinsam zusammengestellten Programms arbeiten und in gewissem Sinne eine Front gegen Sowjetrussland bilden würden. In einer Unterredung mit Reichskanzler Joseph Wirth, die am 19. Januar 1922 stattfand, brachte Radek zum Ausdruck, dass weder Russland noch Deutschland nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages „vollkommene Handlungsfreiheit haben und auf die „angelsächsische Berücksichtigung angewiesen seien. Das Ziel beider Länder müsse, vom Standpunkt Radeks aus, darin bestehen, auf der Konferenz in Genua die „erste Bresche in den Versailler Vertrag zu schlagen.²⁹Radek betonte, dass Sowjetrussland „als Besiegter mit dem Deutschen Reich „in einer Schicksalsgemeinschaft" stehe, was auch bei der Ausgestaltung der beiderseitigen Beziehungen in Erscheinung treten solle.³⁰

    Nach langwierigen und angespannten Verhandlungen wurde der Entwurf eines Vertrags ausgearbeitet, indem die Verpflichtung Deutschlands vorgeschrieben wurde, ohne vorherige Rücksprache mit der Sowjetregierung auf die Teilnahme am internationalen Konsortium zum Wiederaufbau Sowjetrusslands zu verzichten. Die sowjetische Seite übernahm ihrerseits die Verpflichtung, den Artikel 116 des Versailles Vertrages sowie den Ersatz von Kriegsschäden und Kriegskosten nicht in Anspruch zu nehmen. Die Reichsregierung erklärte sich nicht bereit, vor der Eröffnung der Konferenz in Genua die offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland wieder aufzunehmen, um im Westen keine Aufregung hervorzurufen und eine günstige politische Stimmungslage für die gemeinsame Erörterung der zur Entscheidung drängenden Wirtschaftsfragen zu schaffen.³¹ Ausschlaggebend kam hinzu, dass die Reichsregierung „das britische Misstrauen gegen eine weitere deutsche Annäherung an Moskau nicht herausfordern wollte, „da auf der kommenden Konferenz von Genua entsprechend dem britischen Plan Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied der Konferenz willkommen geheißen werden sollte.³²

    Die Sowjetregierung hatte der Teilnahme an der Genua-Konferenz auch eine große Bedeutung beigemessen. Der sowjetische Volkskommissar Georg Tschitscherin erklärte in einem Interview dem englischen Blatt „Daily Herald, dass Sowjetrussland nicht „als Siegerin oder Besiegte, sondern als eine den anderen gleichberechtigte Macht an der internationalen Konferenz teilnehmen werde.³³ Die Grundlage der einzuberufenden Wirtschafts- und Finanzkonferenz bildete die Resolution von Cannes vom 6. Januar 1922, deren Bestimmungen zufolge die Gewährung ausländischer Krediten an die Schuldnerstaaten nur dann erfolgen konnte, wenn sie ihre Schuldenverpflichtungen anerkennen. Sowjetrussland, dessen Wirtschaft durch Bürgerkrieg und Interventionen zerrüttet war, erklärte sich nicht bereit, in der Frage der russischen Vorkriegsschulden ein Entgegenkommen zu zeigen und beabsichtigte, finanzielle Hilfe vom Westen für den Wiederaufbau seiner Wirtschaft zu fordern.

    Im Zusammenhang mit der Einberufung der Genua-Konferenz schrieb das „Hamburger Fremdenblatt am 6. April 1922, dass die staatspolitische Verfassung Sowjetrusslands für das Deutsche Reich kein Hindernis bilden solle, mit ihm „als Leidgenossen in Genua zusammenzuarbeiten.³⁴ Angesichts der Tatsache, dass Deutschland und Sowjetrussland von den alliierten Siegermächten als Paria der internationalen Staatengesellschaft behandelt wurden, breitete sich in der deutschen Öffentlichkeit die Vorstellung aus, dass beide Staaten in Genua miteinander koalieren und ein Gegengewicht zum Zusammenschluss der alliierten Siegermächte schaffen sollten.

    I.2 Die Konferenz von Genua als Ausgangspunkt für das Entstehen des Rapallo-Mythos

    I.2.1 Der Abschluss des Rapallo-Vertrages – Hintergründe und Auswirkungen

    Die Verhandlungen über die Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Beziehungen, die im Frühjahr 1922 in Berlin eingeleitet wurden, zeitigten kein konkretes Ergebnis. Obwohl die grundsätzliche Übereinstimmung über die rechtlichen Bestimmungen des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsvertrags erzielt wurde, bestanden zwischen den beiden Seiten Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Erstattung von Sozialisierungsschäden sowie den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Es wurde auch kein tragfähiger Kompromiss über ein gemeinsames deutsch-sowjetisches Programm für die Genua-Konferenz getroffen. Die Verhandlungen auf der Konferenz nahmen aber seit den ersten Eröffnungstagen einen konfliktreichen Verlauf und zwangen die deutsche und sowjetische Delegation, den Einfluss der alliierten Siegermächte durch ein gemeinsames politisches Zusammengehen zu relativieren.

    Nach Ansicht des englischen Premierministers Lloyd George, des eigentlichen Initiators der Genua-Konferenz, sollte sie das Ende der Geheimdiplomatie und den Auftakt zu einer Verhandlungsdiplomatie markieren, die Wert auf „offene Erörterungen legen würde. Im Rahmen dieser Erwägung proklamierte Lloyd George, dass alle Staaten „im Geiste des Friedens nach Genua gehen sollen.³⁵ Am 10. April 1922 fand eine feierliche Eröffnung der Genua-Konferenz statt, an der die Hauptdelegierte, Sachverständige und Pressevertreter von 34 Staaten teilnahmen. Bei seiner Eröffnungsrede bezeichnete Lloyd George die Genua-Konferenz als die „größte Versammlung der europäischen Nationen, die jemals auf diesem Erdteil sich zusammengefunden hat.³⁶ Er führte aus, dass die Grundlage der Konferenz das Prinzip der Gleichberechtigung aller eingeladenen Staaten, der Versöhnungswille und die Achtung gegenseitiger Interessen bilden sollten. Diese Grundsätze seien aus der Sicht von Lloyd George die wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass alle an der Konferenz teilnehmenden Staaten an der Wiederherstellung der durch den Krieg zerrütteten internationalen Finanz- und Wirtschaftssysteme auf der Basis gleicher Bedingungen mitarbeiten werden, nämlich derer, die in der Resolution von Cannes festgelegt wurden. Die Verhandlungen auf der Konferenz verliefen in verschiedenen Kommissionen und Unterausschüssen, die sich mit der Besprechung der wirtschaftlichen, politischen und finanziellen Fragen wie auch der des Transportwesens beschäftigten. Am 11. April 1922 fand die erste Sitzung der Kommission für Finanzfragen statt, die den Diskussionsschwerpunkt auf die Erörterung der Währungsprobleme, auf Fragen zu Krediten und Wechselkursen legte. Den Vorsitz der Kommission führte der englische Schatzkanzler Sir Robert Horne, die deutsche Delegation wurde durch Reichsaußenminister Walter Rathenau, Reichminister der Finanzen Hermes und den Präsidenten des Reichesbankdirektoriums Havenstein vertreten.³⁷ Bereits am ersten Arbeitstag der Konferenz ließ der Pressechef der deutschen Delegation Oskar Müller an den Reichspräsidenten Berichte schicken, in denen er auseinandersetzte, dass die Verhandlungen in der Sitzung der Finanzkommission „zeitweise einen äußerst bedrohlichen Charakter annehmen. Frankreich stellte den Antrag, Deutschland und Sowjetrussland von der Mitarbeit in den Unterausschüssen der Finanzkommission auszuschließen, was für die deutsche Delegation „mit der völligen Unmöglichkeit, die Reparationsfrage auf indirektem Wege zur Sprache zu bringen", gleichkommen würde.³⁸ Müller wies den Reichspräsidenten darauf hin, dass England den französischen Antrag grundsätzlich ablehnte, da ein derartiges Vorgehen den Organisationsprinzipien der Konferenz widersprechen würde.

    Des Weiteren bot die erste Arbeitsphase der Genua-Konferenz für die deutsche Delegation Aussichten, die Reparationsfrage zum Gegenstand der Diskussionen zu machen. So wurde von der Finanzkommission die Stützung der Währung als wichtigste Voraussetzung für den Wiederaufbau des europäischen Wirtschafts- und Finanzsystems erkannt. Die Siegermächte hielten aber an dem Standpunkt fest, dass die dauerhafte Stabilisierung der Währung durch einen Budgetausgleich des Schuldnerstaates zu erreichen sei. Sie argumentierten in dem Sinne, dass die wirtschaftlich schwächeren Länder durch die Ausgabe von Papiergeld oder die Inanspruchnahme von Krediten ihre eigene Währung selbstständig stabil halten können. Die deutschen Diplomaten traten hingegen für die Maxime ein, dass der Wiederaufbau des europäischen Währungssystems ohne Ausgleich der Zahlungsbilanz der deutschen Wirtschaft über den Weg der Gewährung einer Außenanleihe nicht vorangetrieben werden konnte.³⁹ Die Finanzkommission hatte aber in einer Resolution beschlossen, dass der Ausgleich des Budgets durch eine „angemessene Besteuerung und „die Einschränkung der Staatsausgaben zu erreichen sei. Es wurde darauf hingewiesen, dass „bei einigen Ländern die ungünstige Bilanz

    eine derartige ist, dass sie die Erreichung des Gleichgewichts im Staatshaushalt ohne die zusätzliche Hilfe einer Außenanleihe schwierig macht".⁴⁰ Die alliierten Siegermächte zeigten somit die Bereitschaft, über die Frage einer Außenanleihe für Deutschland weiterhin zu diskutieren, wobei ihr Entgegenkommen durchaus möglich war.

    Die Grundlage der Verhandlungen in der politischen Kommission bildete das Londoner Memorandum vom 3. März 1922, das die Bedingungen für den Wiederaufbau der sowjetischen Wirtschaft und der Regelung finanzieller Verpflichtungen Sowjetrusslands enthielt. Im Londoner Memorandum wurde festgeschrieben, dass die Sowjetregierung die zaristischen Vorkriegsschulden und Anleihen, die die russischen Provinz- und Lokalbehörden oder sonstigen Unternehmungen von anderen Staaten bezogen hatten, zurückzahlen sollte. Der Sowjetregierung wurde auch die Verpflichtung auferlegt, eine Entschädigung für das sozialisierte Auslandsvermögen zu gewähren. Die etwaigen Rechte Sowjetrusslands auf die Anwendung des Artikels 116 wurden nicht berührt, für die Regelung der sowjetischen Schuldenverpflichtungen sah das Memorandum die Bildung einer zuständigen Kommission vor. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Alliierten und der sowjetischen Delegation bestanden hinsichtlich der Erstattung von Sozialisierungsschäden. Der Punkt 7. des Londoner Memorandums gewährte ausländischen Bürgern das Recht, von der Sowjetregierung für das verlorene Eigentum eine leistungsgerechte Vergütung zu verlangen. Falls die Rückerstattung wegen des Verlustes des Eigentums nicht möglich gewesen wäre, sollte den Anspruchsberechtigten eine gleichwertige materielle Entschädigung gezahlt werden.⁴¹ Die sowjetische Delegation lehnte diese Bedingungen kategorisch ab, da sie von ihrem Standpunkt aus „gegen die Gerechtigkeit als auch gegen die Souveränität des russischen Volkes verstießen.⁴² Bereits vor der Eröffnung der Genua-Konferenz betonte der sowjetische Volkskommissar Georg Tschitscherin in einem Interview für das „Berliner Tageblatt, dass die „Hauptzüge der internationalen Stellung Sowjetrusslands in Westeuropa „nicht genügend bekannt und „nicht genügend beachtet werden. Europa würde, so Tschitscherin, die Stellung Sowjetrusslands nur dann würdigen, wenn es die „etwas allzu billige Art aufgäbe, das russische Problem „in außenpolitischen und wirtschaftspolitischen Fragen zu behandeln".⁴³ In der ersten Arbeitsphase der Genua-Konferenz spitzten sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen der sowjetischen Delegation und den Alliierten weiter zu und es zeigte sich immer deutlicher, dass die Möglichkeit eines tragbaren Kompromisses beinahe nicht bestand.

    Zu dem weiteren Verlauf der Genua-Konferenz sind nicht viele Archivalien überliefert worden. Den wichtigsten Einzelposten der historischen Quellen stellte die Aufzeichnung des Ministerialdirektors Ago von Maltzan dar, den er am 17. April 1922, unmittelbar nach dem Abschluss des Rapallo-Vertrages, verfasste. Maltzan schrieb, dass er am 14. April mit dem belgischen Delegierten Charlier die Bestimmungen des Londoner Memorandums besprach, in denen die Ansprüche des Reiches auf die finanzielle Entschädigung des durch die Sowjetregierung nationalisierten deutschen Eigentums nicht anerkannt wurden. Stattdessen liefen die Gerüchte über die Separatverhandlungen zwischen der sowjetischen Delegation und den Alliierten über den Artikel 116 der Versailler Vertrags um, der der Sowjetregierung das Recht einräumte, Kriegsentschädigungen von Deutschland zu verlangen. Wie Maltzan schrieb, bestätigten die sowjetischen Delegierten diese Informationen und teilten ihm im Laufe der Verhandlungen mit, dass „Frankreich und England den allergrößten Wert auf eine baldige Verständigung legten".⁴⁴ Am gleichen Abend hatte Maltzan den stellvertretenden Vorsitzenden der italienischen Delegation, Kommendatore Giannini, besucht und setzte ihm vertraulich auseinander, dass die Verhandlungen zwischen Sowjetrussland und den Alliierten „einen günstigen Verlauf nähmen". Am 16. April gegen 1 Uhr nachts bekam Maltzan einen telefonischen Anruf vom Leiter der sowjetischen Delegation Adolf Joffe, der auf der Wiederaufnahme der unterbrochenen Verhandlungen über den Abschluss eines bilateralen Vertrags bestand. In seinen Aufzeichnungen schreibt Maltzan, dass er sich mit dem englischen Delegierten Wiese in Verbindung zu setzen versuchte, um ihn über die Pläne der deutschen Delegation zu unterrichten. Wiese sei aber telefonisch nicht erreichbar gewesen. Am 16. April fuhr die deutsche Delegation nach Rapallo, einem kleinen Vorort von Genua, wo Außenminister Walter Rathenau und Volkskommissar Georg Tschitscherin die Unterschriften unter den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsvertrag setzten.⁴⁵

    Der Vertrag hatte zum Inhalt, dass Sowjetrussland und das Deutsche Reich die durch den Krieg unterbrochenen diplomatischen und konsularischen Beziehungen wieder aufnehmen und auf den Ersatz von Kriegskosten und Kriegsschäden verzichten sollten. Des Weiteren übernahm Deutschland die Verpflichtung, keine Entschädigungen für das im Zuge der Sozialisierung verstaatliche deutsche Eigentum zu verlangen; für den Handelsverkehr zwischen den beiden Staaten galt das Prinzip der Meistbegünstigung.

    Die Hintergründe des Vertragsabschlusses in Rapallo lösten in der deutschen Historiografie zahlreiche Kontroversen aus. Es etablierte sich kein akzeptabler Grundkonsens darüber, ob eine Verständigung zwischen Sowjetrussland und den Alliierten hinsichtlich des Artikels 116 erzielt werden konnte und was tatsächlich den Gegenstand der separat geführten Verhandlungen in der Villa Alberti bildete.

    Die sowjetischen Diplomaten, die an den Verhandlungen mit den Alliierten am 15. April 1922 teilnahmen, schrieben in ihren Erinnerungen, dass Artikel 116 nicht zur Diskussion gestellt wurde. Die Mitglieder der sowjetischen Delegation Nikolaj Ljubimov und Alexandr Erlich behaupteten, dass die Initiative für die Aufnahme der Sonderverhandlungen vom englischen Premierminister Lloyd George ausging, da er die Befürchtung hatte, dass die Genua-Konferenz vor dem Hintergrund der russisch-französischen Differenzen in der Schuldenfrage kein positives Ergebnis zeitigen würde.⁴⁶ Nach Ausführungen der sowjetischen Diplomaten bildete das Londoner Memorandum den Gegenstand der Besprechungen in der Villa Alberti; es wurde nämlich die Frage der zaristischen Vorkriegsschulden und der Rückerstattung des restituierten ausländischen Eigentums angeschnitten. Die sowjetische Delegation zeigte keine Bereitschaft, den Forderungen der Alliierten entgegenzukommen, stattdessen legte sie den Diskussionsschwerpunkt auf die Erörterung der Frage nach der Erstattung von Kriegsschäden, die die Westmächte Sowjetrussland leisten sollten. Nach kontroversen Diskussionen endeten die Verhandlungen in der Villa Alberti mit der Erklärung von Lloyd George, dass die Alliierten von Sowjetrussland die Anerkennung aller finanziellen Verpflichtungen nachdrücklich fordern werden und eine Erstattung von Kriegsschäden seitens der Westmächte nicht möglich sei, da sie während des russischen Bürgerkrieges keine Gegner der Sowjetregierung waren, sondern ausschließlich diejenigen politischen Kräfte unterstützten, die den Krieg gegen Deutschland führten.⁴⁷

    Aus den Erinnerungswerken sowjetischer Diplomaten geht somit hervor, dass keine Möglichkeit einer weitgehenden Verständigung zwischen den Alliierten und der sowjetischen Delegation über den Artikel 116 bestand. Auch der Sekretär der sowjetischen Delegation in Genua Boris Štejn schreibt in seinen Erinnerungen, dass die Frage der russischen Vorkriegsschulden und der Erstattung von gegenseitigen Kriegsschäden den Gegenstand der Sonderverhandlungen mit den Alliierten bildete und diese Besprechungen am 14. April 1922 „не привели ни к каким результатам (zu keinem Ergebnis führten, I.P.) wie auch die darauf folgenden Diskussionen am 15. April „прошли безрезультатно (ergebnislos endeten, I.P.)⁴⁸ Hervorzuheben gilt auch, dass eine Reihe von sowjetischen Historikern behauptet, dass die Verhandlungen mit den Westmächten auf der Genua-Konferenz nur das Problem der finanziellen Verpflichtungen Sowjetrusslands und „условия возобновления экономического сотрудничества (Bedingungen der Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, I.P.) zum Inhalt hatten.⁴⁹ Auf diesen Standpunkt stellte sich auch der amerikanische Historiker und Diplomat George Kennan. Er behauptet, dass die Besprechungen in der Villa Alberti „sofort in der Frage der Schulden und Forderungen ins Stocken gerieten und zu keinem Zeitpunkt „nur die entfernteste Gefahr" einer Verständigung auf der Grundlage des Artikels 116 bestand.⁵⁰ Dieser Standpunkt wurde auch von einer Reihe deutscher Historiker vertreten.⁵¹ Die meisten Wissenschaftler, die die Entstehungsgeschichte des Rapallo-Vertrages erforschten, hielten an der Auslegung fest, dass die Möglichkeit einer Verständigung zwischen Sowjetrussland und den Westmächten über den Artikel 116 evident bestand.⁵²

    Die Erinnerungen und Aufsätze der Delegierten der Genua-Konferenz stellen die einzigen historischen Quellen dar, aus denen sich die Vorgeschichte des Vertragsabschlusses in Rapallo in allgemeinen Zügen rekonstruieren lässt. Die Memoiren sowjetischer Diplomaten decken auf, dass die Sonderverhandlungen zwischen der sowjetischen Delegation und den Alliierten nicht den Artikel 116 des Versailler Vertrages,

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