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Die Macht der Worte: Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert
Die Macht der Worte: Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert
Die Macht der Worte: Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert
eBook489 Seiten5 Stunden

Die Macht der Worte: Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert

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Über dieses E-Book

Erneut begibt sich der renommierte Sprachforscher Horst Dieter Schlosser auf die Suche nach der Wirkmacht von Worten und Sprachbildern. Nach seinem Buch über die "Sprache unterm Hakenkreuz" betrachtet er diesmal die wichtigen Leitbilder und Schlüsselbegriffe des 19. Jahrhunderts. Der große Einfluss von Sprache auf politische und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse wird in historischen Analysen häufig unterschätzt. Hier setzt das neue Buch von Horst Dieter Schlosser an. Der Sprachforscher zeichnet an einer Vielzahl von konkreten Beispielen die verschiedenen Wirkmechanismen von Worten und Sprachbildern im 19. Jahrhundert nach. Von der unkritischen Vereinnahmung bis zur kritischen Reflexion, von identitätsstiftend bis rassenideologisch-abgrenzend, von "Einheit" über "Nation" und "Volk" bis "Freiheit": Schlossers Analyse schließt eine Lücke in der historisch-politischen Geschichtsschreibung und veranschaulicht, wie die bewusstseins- und realitätsbildende Macht der Worte sogar bis in die Gegenwart wirkt. Ein Buch für alle, die die Geschichte des 19. Jahrhunderts anders lesen, verstehen und reflektieren möchten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum15. Aug. 2016
ISBN9783412506797
Die Macht der Worte: Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert

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    Buchvorschau

    Die Macht der Worte - Horst Dieter Schlosser

    Einleitung Die Macht sprachlicher Symbole

    Der Darstellung der Geschichte Deutschlands wie Europas, ja sogar der Welt im 19. Jahrhundert ist nach exzellenten Analysen gerade der jüngeren Zeit kaum noch etwas hinzuzufügen.¹ Ob Fakten-, Sozial- oder Mentalitätsgeschichte: alles scheint gesagt zu sein. Und doch kommt dabei zumeist die Rolle der Sprache zu kurz. Gemeint ist nicht der Siegeszug des hochdeutschen Standards, der sogenannten Hochsprache, der sich zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und der Einigung auf verbindliche Normen einer deutschen Rechtschreibung um 1900 ereignet und der durchaus auch ein Politikum darstellt. Vielmehr erscheint häufig zu wenig beachtet, wie stark und manchmal sogar entscheidend ein bestimmter Sprachgebrauch auf die politische und soziale Entwicklung eingewirkt hat. Die Macht sprachlicher Symbole zeigt sich immer wieder, wenn durch sie das Bewusstsein ihrer Benutzer sogar bis hin zur Autosuggestion geprägt wird, wie man es noch im 20. Jahrhundert beim Zusammenbruch der beiden deutschen Diktaturen erfahren konnte: Je weiter sich die Realität von den einmal installierten ideologischen Deutungen entfernte, umso fester glaubten zumindest deren Hauptvertreter an die Überlegenheit ihrer Sprache über die Realität. Die sprachlichen Symbole von Leitbildern können also auch ein Eigenleben entfalten.

    Auch die Rangfolge einzelner Leitbilder kann sich verändern, wie es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Dominanz von „Einheit gegenüber der Zielvorstellung von „Freiheit zeigen lässt. Selbst wenn die Politik ganz neue Leitbilder verfolgt, bleiben die zentralen sprachlichen Symbole davon vielfach unberührt. Ihr Charakter als (einstige) Schlüsselwörter wird dabei schlicht missbraucht – als rein sprachliche Fundamente für die Etablierung von Ideologien.

    Ob im Deutschen Bund, ob in den verschiedenen Reaktionen auf die Restauration, ob im Aufbruch der Arbeiterbewegung oder der Frauenbewegung, ob in der Überhitzung von Nationalismus und Antisemitismus: ohne die Selbstvergewisserung der Akteure und ohne ihre Vorstellungen von Zukunft, die sich primär in gemeinsamen oder differenten, gar antagonistischen sprachlichen Sym- [<<9] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe bolen dokumentieren, könnte die historische Entwicklung eigentlich nur als beliebige Folge von gedanken-, weil sprachlosen Aktionen erscheinen.

    Natürlich wird kein seriöser Historiker leugnen, wie sehr jeweils schon zeitgenössische sprachliche Urteile über die erfahrene Realität die Einschätzung der „objektiven" Fakten geprägt haben, und er zieht daraus für seine nachträgliche Deutung oft genug Gewinn. Diese Funktion der Sprache kann im weitesten Sinn als deskriptiv, damit aber im Verhältnis zu den beschriebenen oder gedeuteten Sachen und Themen eher als nur sekundäre Kraft gesehen werden. Das gilt auch für die Fälle, in denen sich die Deutungen der Realität, ob schon zeitgenössisch oder erst in nachträglichen Interpretationen, auf bereits vorgegebene, traditionelle sprachliche Muster stützen.

    Doch schon dabei wird die eigentlich sekundäre Funktion der Sprache nicht selten zur primären Kraft einer Weltdeutung: Noch bevor die zu behandelnde Sache eine ihrer Spezifik angemessene sprachliche Definition erhalten kann, bestimmen vielfach tradierte Nominationen, die in ihrem Ursprung angemessen gewesen sein mögen, das Urteil auch über das Neue, indem sie – oft genug unbesehen, mitunter aber auch absichtsvoll – auf die Gegenwart übertragen werden. Der Übergang von der sekundären Funktion der Sprache zur primären Kraft, die realitätsbestimmend und sogar handlungsleitend sein kann, ist erst recht in all den Fällen erkennbar, wo es sich um eine wirklich neue Sprachgebung für ein bis dato noch unbekanntes oder unbeachtetes Phänomen handelt. Spätestens dann steht am Anfang nicht das sogenannte Faktum, sondern das Wort.

    Um diese abstrakten Überlegungen auf Themen des 19. Jahrhunderts zu beziehen, seien drei Beispiele aus einem eher politikfernen Bereich, dem der technischen Entwicklung, angeführt. In ihnen wird deutlich, dass Wörter einer Sachentwicklung eindeutig vorauseilen und ihr als entwicklungsleitende Perspektive dienen können: Telegraf, Telefon und Fernseher. Zwar gingen den beiden erstgenannten Innovationen technische Entwicklungen voraus, die diese Termini in ihrem sprachlichen Ursprung erklären: Als „Telegraph galt bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein optisches Übertragungssystem mittels Signalmasten, das zur schnelleren Übermittlung wichtiger Nachrichten unter anderem auch von Napoleon genutzt wurde. Als „Telephonium wurde eine akustische Übertragungstechnik bezeichnet, für die ein Franzose namens François Sudre 1828 eine eigene Musiksprache kreierte. Doch die in diesen Termini fixierte Idee, über sonst nur schwer zu überwindende Entfernungen hinweg in kürzester Zeit Informationen optisch bzw. akustisch zu übermitteln, wurde zum Kern eines [<<10] Leitbilds für eine bei Nutzung der Elektrizität rasant entwickelte neue Technik.² Und auch den „Fernseher gab es als Wort, das in Analogie zum „Fernsprecher gebildet wurde, bereits Jahrzehnte, bevor eine elektronische Übermittlung bewegter Bilder technisch überhaupt erst möglich war.

    Was sich in diesen Fällen semantisch ereignete, lässt sich modellartig auch auf andere Gegenstände übertragen, nicht zuletzt auf die Ideen, durch welche die politischen und sozialen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurden: Von vorgegebenen Nominationen für politische und gesellschaftliche Themen werden bestimmte semantische Facetten akzentuiert, die als Leitbilder für erst in der Zukunft erreichbare Realitäten etabliert werden, andere Facetten werden vernachlässigt oder gehen ganz unter. Insofern ist Ideengeschichte in ihrem Kern stets auch Sprachgeschichte; denn sprachlose Ideen sind im doppelten Wortsinn undenkbar.

    Wohl am einleuchtendsten ist die These vom Vorrang der Sprache vor jeder Realität bei Utopien, weil sie eine zunächst nur sprachlich vorgestellte zukünftige Wirklichkeit vorführen. Aufs engste damit verwandt, wenn nicht gar selbst im eigentlichen Sinne utopisch, sind alle politischen und sozialen Programme, deren Spezifikum es ja gerade ist, über eine wie auch immer angemessene Beschreibung von Ist-Zuständen hinaus Ziele in der Zukunft, also Soll-Zustände zu repräsentieren, die zunächst nur in Form sprachlicher Symbole existent sein können. Überflüssig zu sagen, dass auch politische Propaganda und kommerzielle Werbung vom Vertrauen in die Macht der Sprache leben.

    Trotz aller vorgängigen Realitätserfahrungen, die aber ebenfalls schon sprachlich, wenn auch meist noch unsicher und variantenreich, gefasst wurden, sind die politischen und sozialen Ideen des 19. Jahrhunderts in Deutschland zunächst nur als sprachliche Symbole präsent. Sie kursieren in einem ersten Stadium häufig sogar nur als Schlagwörter und werden erst nach und nach mit jeweils eigenen pragmatischen Perspektiven verbunden und entwickeln sich so zu Schlüsselwörtern. Durch semantische Erweiterung oder Verengung entsteht dann oft eine ganze Bandbreite von Fahnen- und/oder Stigmawörtern. Trotzdem fungieren die einmal in Umlauf gesetzten Begriffe oftmals abseits ihrer pragmatisch-semantischen Differenzierung weiterhin als Schlagwörter, unter die sich vielerlei subsumieren lässt.

    [<<11]

    Als prominentes Beispiel kann der Begriff „Freiheit gelten. Zwar hatte dieser Begriff bereits eine lange philosophie-, auch religionsgeschichtliche Vorgeschichte, die für die politische Praxis in Deutschland aber erst in dem Moment relevant wurde, als man – via sprachlicher Kommunikation – von seiner außerdeutschen Wirkung, in der Amerikanischen und Französischen Revolution, erfuhr. Noch bevor man die konkrete, die politische und soziale Deutung des Begriffs in der außerdeutschen Praxis kannte, versammelten sich unter dem Schlagwort „Freiheit und seinem semantischen Ableger „liberal" alle möglichen Vorstellungen einer erwünschten Abkehr von tradierten Ordnungen – von einer Selbstbefreiung des Individuums bis zum revolutionären Umsturz.

    Auch die „Restauration als mögliche Gegenkraft wurde ihren Vertretern so recht erst von dem Augenblick an bewusst, als sie mit der Bedrohung ihrer jahrhundertelang sakrosankten Position konfrontiert wurden. Erst in der Konkurrenz der Leitbilder und ihrer Schlüsselwörter entstand und wuchs – auf beiden Seiten – ein Rechtfertigungsdruck, der Berufungen auf sehr unterschiedliche Traditionen nötig machte: auf restaurativer Seite die Betonung vor allem eines althergebrachten „Gottesgnadentums der Herrschenden, das bisher unangefochten gegolten hatte, auf Seiten der Opposition die Behauptung einer schon in der Vergangenheit, gar in prähistorischen Zeiten gültigen Werteordnung, die dem aktuellen Herrschaftssystem entgegenzusetzen wäre.

    Es ist gewiss kein Zufall, dass das 19. Jahrhundert mit seinen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft ein Jahrhundert der „Bewegungen, also kollektiver Bemühungen auf angestrebte Ziele hin wurde. Der Philosoph und Schriftsteller Ludolf Wienbarg sprach 1834 sogar vom „prophetischen Gefühl einer neubeginnenden Weltanschauung.

    Das in der ersten Jahrhunderthälfte allmählich wachsende Selbstbewusstsein unterer Bevölkerungsschichten, insbesondere der lohnabhängigen Arbeiter, wurde zwar durch die außersprachlichen Erfahrungen von Unterdrückung und Ausbeutung zweifellos gefördert. Aber diese Erfahrungen hätten sich kaum mehr als in einem schon lange gepflegten Lamento artikulieren können, wenn diese Schichten nicht durch die vom Bürgertum betriebene Opposition gegen die traditionelle Herrschaftsordnung auf gesellschaftliche Strukturen aufmerksam gemacht worden wären. Dabei konnten auch die rechtlosen Schichten am unteren Rand der Gesellschaft für sich einen theoretischen Ort entdecken. Es bedurfte freilich auch hierbei des Gebrauchs sprachlicher Symbole, die diesen Ort näher bestimmten und ihn von den sozialpolitisch weniger hilfreichen Positionen der bürgerlichen Freiheitsbewegung abgrenzen ließen; am radikalsten war dabei zweifellos das begriffliche „Angebot" des Marxismus.

    [<<12]

    In ähnlicher Weise lässt sich die Entstehung der Frauenbewegung nachvollziehen, die zunächst auf eine sprachliche Differenzierung der in der Amerikanischen wie Französischen Revolution verkündeten „Menschenrechte zurückging. Deren Proklamation war nur ein sprachlich-symbolischer Vorgriff auf erwünschte politische und gesellschaftliche Zustände, in denen aber noch undifferenziert, de facto aber ausschließlich auf den Mann bezogen „der Mensch als Individuum in den Mittelpunkt gerückt wurde. Ohne diesen Vorgriff aber wäre ein frauenspezifisches Bewusstsein kaum entstanden.

    Schließlich war die imperialistisch eskalierende Verschärfung der National­idee und ihre bis in einen Weltkrieg mündende Übersteigerung zunächst das Produkt einer Auseinandersetzung mit vorgängigen sprachlichen Symbolen, von „Volk, „Vaterland und „Nation, die nach traditionellen partikularen Anschauungen von politisch-ethnischer Identität zu Gunsten einer „völkischen, rassenideologisch begründeten Einheit zu einer geradezu tautologischen Trias verschmolzen.

    Dass dabei ethnische Minderheiten zunehmend in schlimmste Bedrängnis gerieten, war selbstverständlich mehr als ein „Kollateralschaden. Die exzessive Abgrenzung gegen „Fremde war schon im 19. Jahrhundert der Sammelpunkt aller möglichen Klischees, an denen sich aber das letztlich seiner selbst keineswegs sichere Bewusstsein des „Eigenen emporranken konnte. Die Verengung des ethnischen Selbstbewusstseins der Deutschen erfuhr dabei seine scheinwissenschaftliche Legitimation durch eine horrende Metaphorisierung der zoologischen Rassennomenklatur. Ihr fiel schließlich alles „Undeutsche, neben Juden auch Slawen und Romanen, zum Opfer, von nichtweißen „Rassen" ganz zu schweigen.

    Gerade an diesem letzten Themenkomplex wird eine immer mögliche Verquickung von Motiven deutlich, die grundsätzlich auch für die Entwicklung aller bisher angedeuteten Leitbilder des 19. Jahrhunderts gilt. Und es soll auch keineswegs geleugnet werden, wie sehr an einer solchen Verquickung und daraus folgenden Differenzierungen außersprachliche Umstände beteiligt waren, die sich aber kaum jenseits der zeitgenössischen Kommunikation entwickeln konnten.

    In der Repräsentation der wesentlich sprachbasierten Leitbilder spielte überhaupt immer wieder auch das Außersprachliche eine große Rolle. Insbesondere das monarchische Beharren auf göttlicher Legitimation ging mit einem großen Aufwand zeremonieller und ritueller Formen einher, von kirchlichen Salbungen und Krönungen bis zum höfischen Gepränge bei öffentlichen Auftritten. Aber auch die Opposition entwickelte ihre eigenen Formen einer außer- und para- [<<13] sprachlichen Selbstdarstellung, von Festen und Aufzügen über eine heute kaum noch nachzuvollziehende Gesangskultur bis zur intensiven Nutzung eigener Fahnen, ob bürgerlich in Schwarz-Rot-Gold oder „proletarisch" in Rot. Diese Phänomene sollen in der folgenden Darstellung immer wieder mitbedacht werden, aber es darf dabei nie vergessen werden, dass die außersprachlichen Zeichen ohne ihre letztlich doch sprachliche Deutung sinnlos gewesen wären.

    Nach einem zunächst eher summarischen Überblick über die wichtigsten Leitbilder des 19. Jahrhunderts und ihre Schlüsselwörter (Teil 1) soll die Geschichte der Leitbilder im Rahmen realpolitischer Entwicklungen dargestellt werden (Teil 2). Durch vielfache Vergewisserung der sprachlichen Impulse, mit denen politische und gesellschaftliche Entwicklungen angestoßen, aber auch kritisch reflektiert wurden, soll die Bedeutung von Leitbildern, nicht zuletzt auch ihre jeweils konkrete Interpretation deutlich gemacht werden. Das erfordert eine mehr oder weniger ausführliche Erinnerung an wichtige Stationen der Realpolitik und an aufschlussreiche zeitgenössische Kommentare, ohne die eine Leitbildgeschichte allzu abstrakt erscheinen müsste. Dabei müssen auch literarische Zeugnisse – bis hin zum Kinderbuch – zu Wort kommen, sofern sie Aufschlüsse über die jeweilige Gestimmtheit der Gesellschaft bieten können.

    Gegen die These vom Vorrang sprachlicher Symbole für politische und soziale Entwicklungen könnte eingewendet werden, dass im 19. Jahrhundert wesentliche Impulse von sachkulturellen Innovationen ausgingen, die man – oberflächlich betrachtet – weit jenseits ideologischer Auseinandersetzungen und gleichsam als naturwüchsig, d.h. als nur vom Außersprachlichen gelenkt sehen könnte. Man denke an die enormen Fortschritte, die gerade im 19. Jahrhundert insbesondere auf den Gebieten der Naturwissenschaften, Technik und Medizin erzielt werden konnten und die für die Gesellschaft und Politik von größter Bedeutung waren. Auch wenn der Zusammenhang zwischen grundsätzlichen Überzeugungen und konkretem Tun auf diesen Gebieten im Einzelnen noch genauerer Untersuchung bedarf, fällt doch auf, wie viele der prominenten Wissenschaftler und Erfinder sich zugleich in den politischen Auseinandersetzungen engagierten, also keineswegs als „unpolitisch" eingestuft werden können.³ Exemplarisch seien nur die Namen von Erfindern wie Werner Siemens oder Medizinern wie Rudolf Virchow genannt.

    Eine besonders enge Verbindung von wissenschaftlicher Theorie und praktischer Politik zu Gunsten nationaler Einheit ist etwa im Wirken von Friedrich [<<14] List (1789–1846) zu sehen. Er hat nicht nur wichtige Grundlagen für die Nationalökonomie in Deutschland geschaffen, von ihm stammte auch die Idee des Deutschen Zollvereins, mit dem die Handelsbeziehungen zwischen den Einzelstaaten des Deutschen Bundes koordiniert werden sollten – zumindest eine wichtige Stufe auf dem Weg zu einer nationalen Wirtschaftseinheit. Dieser Zollverein und seine Strukturen wurden bereits 1847 von führenden Liberalen als Modell dafür erwogen, wie man den Deutschen Bund im Sinne eines Nationalstaates neu etablieren könne. Im Norddeutschen Bund versuchte dann Bismarck, den Zollverein, in dem die süddeutschen Staaten bereits vertreten waren, für die größere politische Einheit zu nutzen. Friedrich List sah nicht zuletzt auch im Aufbau und in der Förderung eines umfassenden Eisenbahnsystems große Chancen für ein nachhaltiges Zusammenwachsen der deutschen Teilstaaten.

    Alle nach und nach realisierten Innovationen waren mithin alles andere als naturwüchsig, sondern folgten sehr wohl theoretischen, der Realität oft weit vorauseilenden Reflexionen. Der damit verbundene Zukunftsoptimismus verdichtete sich dabei in einem sprachlichen Symbol, das gleichsam zur Grundlage einer eigenen Ideologie wurde, die bis weit ins 20. Jahrhundert neue Entwicklungen auf den verschiedensten Sachgebieten, nicht zuletzt der Technisierung und Industrialisierung, mehr oder weniger unkritisch förderte: „Fortschritt. Die Faszination, die von diesem Begriff weit über sachkulturelle Aspekte hinaus ausging, schlug sich allein schon in der Benennung der allerersten Programmpartei nieder, der 1861 gegründeten liberalen „Deutschen Fortschrittspartei.

    Die Konzentration auf Leitbilder und Ideologien des 19. Jahrhunderts hat ihre Berechtigung darin, dass von ihnen in einem nicht unwesentlichen Umfang auch bis in die jüngste Gegenwart entscheidende Impulse für das politische Handeln ausgehen – sehr oft leider auch negativer Art, wie es sich in wieder zunehmender Fremdenfeindlichkeit, im fortlebenden Antisemitismus und Rassismus zeigt. Ihre nicht zuletzt in und durch Sprache vermittelten Begründungen sollen durch die hier vorgeführten historischen Analysen durchschaubarer gemacht werden.

    1Erwähnt seien nur Nipperdey (2013), Osterhammel (2013), Wehler (1995–2006) und Winkler (2000).

    2Vgl. dazu: Schlosser, Horst Dieter (2002): Von „Annunciaphon bis „Zeitmaschine. Sprach­liche Überschreitungen schon vertrauter Technik. In: Sader, Jörg/Wörner, Anette (Hrsg.): Überschreitungen. Festschrift für Leonhard M. Fiedler. Würzburg: 223–236.

    3Grundsätzliche wie konkrete Zusammenhänge hat bereits Wehler (Bd. 3, 1995) beleuchtet.

    4List, Friedrich (1833): Ueber ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems. Leipzig.

    Teil 1 Deutsche Leitbilder des 19. Jahrhunderts

    Die soziale und politische Entwicklung im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurde entscheidend von Leitbildern bestimmt, die – sei es in enger Verbindung, sei es in Wechselwirkung oder in Konfrontation – in sprachlichen Symbolen als Schlüsselwörtern fassbar sind. Durchgängig galten die Zielbegriffe von politischer „Freiheit und nationaler „Einheit; man könnte sie die „Urleitbilder des Jahrhunderts nennen. Anfangs wurden sie meist gemeinsam angestrebt, im Laufe des Jahrhunderts aber erhielten sie unterschiedliche Gewichtungen. Gleichsam Prämisse der anfänglich engen Verbindung war die Überzeugung, dass die Deutschen „ein Volk und „eine Nation seien und ein gemeinsames „Vaterland hätten. Beachtet man aber, dass es sich in zeitgenössischen Äußerungen zum Thema „Einheit" oft nur um Beschwörungen eines angestrebten Ziels handelte, erweisen sich auch diese Begriffe als sprachliche Vorgriffe auf noch zu erreichende Zustände. Damit bekamen sie für die politische Praxis als Konkretionen des Einheitsziels einen je eigenen Leitbildcharakter, wobei sich ihre Beziehungen untereinander verändern konnten, wenn eine der Komponenten dieser Trias besonders dominant wurde.

    Mit der (scheinbaren) Erfüllung des Einheitsziels in der preußisch dominierten kleindeutschen Staatskonstruktion „Deutsches Reich" 1871 schien die zukunftsweisende Kraft dieses Urleitbilds und seiner Schlüsselwörter an ihr Ende gekommen zu sein. Doch zeigte sich schon vorher, dass sich dieses Leitbild durch die Integration neuer Perspektiven wie denen der Rassenideologie und imperialistischer Ambitionen sehr wohl reaktivieren ließ, natürlich von seinen idealistischen Anfängen weit entfernt und mehr oder weniger nur noch als Propagandainstrument missbraucht, weswegen es selbst Bestandteil einer neuen Ideologie wurde.

    Was im Einzelnen systematisch und/oder durch Nachzeichnung historischer Vorgänge noch genauer dargestellt werden soll, sei an dieser Stelle schon angedeutet. Das Urleitbild „Freiheit" bot ob seiner grundsätzlich offenen Semantik sehr verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die von unterschiedlichen politischen Kräften jeweils für sich beansprucht wurden. Das Streben nach nationaler Einheit geriet von der Jahrhundertmitte an mehr und mehr unter ein eigentlich partikulares, nämlich preußisches Machtziel, begünstigt durch den Ausschluss Österreichs aus einem gesamtnationalen Verbund. Entsprechend verengten sich [<<17] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe die Vorstellungen von dem, was „deutsches Volk, „deutsche Nation und „deutsches Vaterland sein sollten, und dies umso mehr, als die Rassenideologie auf deren Verständnis intensivsten Einfluss nahm. Damit einher ging aber auch eine Übersteigerung dieser Schlüsselwörter hin zu extremem Nationalismus und Imperialismus. Was 1848/49 nur gemäßigt „imperial als „Deutsches Reich" bezeichnet worden war, wurde zum Inbegriff deutschen Weltmachtstrebens.

    Gleichsam als Kontrapunkt dieser Entwicklungen sind die Selbstbehauptungsstrategien der konservativen Kräfte zu sehen, die mit dem Zielbegriff der „Restauration ein eigenes Leitbild verfolgten und sich bis 1918 auf den Mythos des „Gottesgnadentums von Monarchen stützten. Dieses letztlich rückwärtsgewandte Leitbild stand in negativer Korrelation zum Leitbild „Freiheit" der Opposition, scheint aber immer dann besonderen Auftrieb erhalten zu haben, wenn die realen Grundlagen monarchischer Macht gefährdet erschienen. Freilich orientierte sich auch die liberale Bewegung bei allem Fortschrittsoptimismus an rückwärtsgewandten Mythen, nicht zuletzt bei der Konstruktion einer aus germanischer, gar vorgeschichtlicher Zeit stammenden Werteordnung.

    Das Gesamtgefüge der genannten Leitbilder wurde, ebenfalls seit der Jahrhundertmitte, durch das Aufbegehren der bis dahin von der offiziellen Politik kaum oder gar nicht beachteten Unterschichten, die immerhin den allergrößten Teil der Gesellschaft ausmachten, in mehrfacher Hinsicht neu strukturiert. Die Arbeiterbewegung, die sich dieser Mehrheit und ihrer Probleme annahm, verweigerte sich dem Anspruch der schon etablierten sprachlichen Symbole, interpretierte sie neu oder ersetzte sie gar durch eigene Leitbilder, die freilich längst eine außerdeutsche Tradition hatten. Hier lebte noch einmal uneingeschränkt die Trias der Zielbegriffe der Französischen Revolution „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit" auf.

    Die ebenfalls in Frankreich aufgekommene Idee des „Sozialismus erschien dabei großen Teilen der Arbeiterbewegung als Verheißung eines gesellschaftlichen und politischen Idealzustands, in dem die Leitbilder von „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit gleichsam ihre Vollendung fänden. Allerdings wurden schon im 19. Jahrhundert unter der Fahne des Sozialismus teilweise sehr verschiedenen Wege beschritten – von den Frühsozialisten über die Kommunisten bis zu reformbereiten Sozialdemokraten. Insofern fällt es schwer, eine allgemeingültige Ideologie des Sozialismus zu definieren. Am ehesten erscheint der Sozialismus von seinen Gegnern als eine einheitliche Bewegung wahrgenommen worden zu sein: als Gefahr für die bürgerliche Ordnung und den Staat.

    Tatsächlich ging vom „Kommunistischen Manifest" als dem radikalsten Beitrag zur Theorie des Sozialismus eine objektive Bedrohung aus, da dieses Programm nicht nur allgemein politische und soziale Veränderungen anstrebte, die [<<18] von der liberalen Mehrheit der Opposition erfolgreich verdrängt worden waren. Vielmehr waren in diesem Manifest alle Argumente zusammengefasst, die eine Herrschaft des Volkes als nur durch einen radikalen Bruch mit der alten Ordnung in Staat und Gesellschaft erreichbar erscheinen ließen.

    1 Das 19. Jahrhundert zwischen zwei großen Revolutionen

    „Revolution" als Programmbegriff

    Das radikalste Mittel, die Vision von „Freiheit, also ein Urleitbild in die Praxis umzusetzen, war und bleibt zweifellos eine Revolution, die sich nach 1789 beim politisch aktivsten Teil der Deutschen als eigenes Leitbild gegen das jahrhundertelang geltende „Gottesgnadentum der Fürsten etablieren konnte. Zwar sollte eine Revolution nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg in eine neue Ordnung sein, was sogar für den Anarchismus galt, der – ob nach gewaltloser oder gewaltsamer Überwindung tradierter Normen und Institutionen – eine bessere Gesellschaft etablieren wollte. Aber weil die Aussichten auf eine erfolgreiche Revolution in Deutschland nach 1849 in sehr weite Ferne rückten, konnte das sprachliche Symbol „Revolution" schon für sich zum Programmbegriff werden.

    Die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts wird gleichsam umrahmt von zwei großen Revolutionen: von der Französischen Revolution 1789/92 und der russischen Oktoberrevolution 1917. Beide Vorgänge sind auf je eigene Weise Eckpunkte spezifischer historischer Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Die Französische Revolution eröffnete mit ihrem Umbruch von einer monarchischen zu einer republikanischen Staatverfassung eine in vielen Ländern, nicht zuletzt auch in Deutschland wirksam werdende generelle Neubesinnung auf eine gerechtere Machtverteilung in Staat und Gesellschaft. Die russische Oktoberrevolution war der vorläufige Schlusspunkt eines seit der Jahrhundertmitte geführten Kampfes um politische Partizipation der bis dahin von der offiziellen Politik ausgeschlossenen Volksschichten. Die leitenden marxistischen Ideen, deren Fundament die utopische, also nur sprachlich begründete Vorstellung von einer homogenen „Arbeiterklasse" war, entwickelten sich nach dem Umsturz in Russland ihrerseits zu einem auch weltpolitisch machtvollen Faktor.

    Beide Umwälzungen erfüllen also in besonderer Weise Kriterien, mit denen Wende (2000)⁵ den Begriff „Revolution" von sachlich oder regional begrenzten [<<19] Aufständen und Revolten sowie von Bürgerkriegen unterscheiden möchte. Seine wichtigsten Kriterien können für die Definition der französischen und russischen Vorgänge als Revolution in jedem Fall gelten: Es handelte sich jeweils um einen radikalen, mit Gewalt verbundenen Wechsel der politischen und sozialen Verhältnisse, und es ging jeweils um eine universelle Perspektive der Motive, die auf eine bessere Zukunft zielten, mit entsprechenden Wirkungen, die über den Ereignisort weit hinaus reichten.

    Als politischer Schlüsselbegriff wurde „revolution allerdings bereits im 17. Jahrhundert in England verwendet, ohne dass dort die genannten Kriterien in vollem Umfang erfüllt worden wären. Auch die zeitgenössischen Benennungen der französischen Vorgänge ab 1789 und ihrer Vorläufer in Nordamerika 1775–83 nahmen den Begriff bereits in Anspruch, bevor man sich der vollen Bedeutung des „revolutionären Handelns bewusst sein konnte.

    Auch die Loslösung der nordamerikanischen Kolonien von Großbritannien im Unabhängigkeitskrieg von 1775–83 mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 wird mit Recht als Revolution, als „Amerikanische Revolution", verstanden, obwohl es sich nicht nur um einen einmaligen, zeitlich eng begrenzten Umsturz handelte, sondern um einen mehrjährigen Bürgerkrieg. Auf den Zusammenhang mit der Französischen Revolution und ihren ideellen Anspruch, der die regionalen Ereignisse in Nordamerika weit überstieg, ist noch einzugehen.

    Selbst die Französische Revolution lässt sich nicht auf ein einmaliges Ereignis, etwa die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789, die ohnehin eher symbolischen Charakter hatte, fixieren. Denn erst über drei Jahre später, im September 1792, wird das Königtum abgeschafft und der König, Ludwig XVI., wird erst 1793, vier Monate später, hingerichtet. Außerdem musste sich die Französische Revolution auch noch in einem Bürgerkrieg bis 1796 des katholisch-royalistischen Widerstands in der Vendée erwehren.

    Ebenso ist die russische Oktoberrevolution nur ein, wenn auch das wichtigste Glied einer Kette von umwälzenden Vorgängen, nicht zuletzt der vorangehenden „Februarrevolution 1917, die zur Abdankung des Zaren Nikolaus II. führte. Und auch hier folgte noch ein jahrelanger Bürgerkrieg zwischen den Bolschewiki, den „Roten, und den Revolutionsgegnern, den „Weißen", der erst 1922 die endgültige Etablierung der Sowjetunion möglich machte.

    Auch die Erhebung der Franzosen im Juli 1830 gegen den Bourbonenkönig Karl X. gilt – obwohl zunächst ein innerfranzösischer Vorgang – völlig zu Recht als Revolution, als „Julirevolution, zumal sie weit über Frankreich hinaus erhebliche Wirkungen zeitigte. Dasselbe gilt für die französische „Februarrevolution von 1848. Sie führte in zahlreichen europäischen Ländern zu Erhebungen, nicht [<<20] zuletzt zur deutschen „Märzrevolution. In dieser deutschen Revolution, eigentlich eine Kette verschiedener Erhebungen, wurde versucht, die Vielstaaterei zu überwinden und die staatliche Ordnung eines geeinten Deutschlands auf ein frei gewähltes Parlament zu gründen. Und schließlich waren auch der Sturz der deutschen Monarchen und die Begründung einer Republik 1918 eine Revolution, die „Novemberrevolution, deren ursprüngliche Zielsetzung eine deutsche „Räterepublik war. Dass dieses Ziel dem einer parlamentarisch repräsentativen Republik unterlag, spricht nicht gegen den Begriff „Revolution. Die meisten Revolutionen werden durch ihre faktischen Ergebnisse vom ursprünglich angestrebten Weg abgelenkt. Für die deutsche Geschichte war die Novemberrevolution 1918 aber in jedem Fall eine Epochenwende.

    Für unseren Zusammenhang ist indes wichtig, dass es sich beim Begriff „Revolution keineswegs nur um einen nachträglichen Kennzeichnungsversuch handelt, sondern primär um ein sprachliches Symbol, mit dem sich die Akteure bereits zeitgenössisch identifizierten und daraus für ihr weiteres Handeln entsprechende Konsequenzen zogen. Das Wort ging mithin als bewusstseinsprägender Begriff in Deutschland wie in anderen Ländern jeweils den revolutionären Taten voraus. Das kann und soll natürlich nicht bedeuten, dass mit einem sprachlichen Symbol allein, ohne Bodenhaftung in der realen Welt, etwas bewegt werden könne. Aber gerade ein Terminus wie „Revolution enthält unabdingbar Zukunftsperspektiven, ohne die politisches Handeln zum puren Aktionismus würde. In diesem Sinne sind nicht nur die beiden großen Revolutionen in Frankreich und Russland, sondern auch die „kleineren" Umstürze dazwischen wichtige Orientierungspunkte für politische Zukunftsentwürfe, aber auch für die konservativen Versuche, ihnen entgegenzutreten.

    Die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts jedenfalls ist seit 1789 von politisch- und sozial-revolutionären Ambitionen zumindest in Teilen der politisch aktiven Gesellschaft geprägt, die jedoch lange Zeit an der Überzeugung einer Mehrheit scheiterten, der politische und gesellschaftliche Fortschritt könne gleichsam evolutionär, durch „Reformen erzielt werden. Das gilt sogar für nicht unwichtige Teile der Arbeiterbewegung, der Marx und Engels in ihrem „Kommunistischen Manifest von 1848 eigentlich sogar eine Weltrevolution nahelegen wollten.

    Die Französische Revolution und die russische Oktoberrevolution waren in ihren über ihre Ursprungsorte weit hinausreichenden Wirkungen gleichsam Geburtshelfer für verschiedene politische Haltungen, die sich zu Ideologien verdichteten, wobei die Funktion der Sprache sowohl als Medium der Rezeption wie auch als Instrument künftigen politischen Handelns eine besondere Rolle [<<21] spielte. Denn nicht nur ein durch Revolution schon erreichter neuer politischer und sozialer Zustand war gleichsam sekundär zu versprachlichen; vielmehr wurde durch Sprache eine erst noch zu schaffende, oft utopische Zukunft entworfen. Darin kam der Sprache vor jedem Handeln eindeutig eine Vorrangstellung zu.

    So wie die Französische Revolution in ihren Begründungen und Zielvorstellungen nicht vom Himmel gefallen ist, sondern einen längeren geistesgeschichtlichen, insbesondere gesellschaftstheoretischen und damit essentiell sprachlichen Vorlauf hatte, so ging auch der russischen Oktoberrevolution von 1917 eine längere theoretische Entwicklung vorauf, die nicht zuletzt auch von deutschen Theoretikern gefördert wurde. Aber es muss schon jetzt gesagt werden, dass sich bei der praktischen Umsetzung von Zielbegriffen durch unterschiedliche, auch wechselnde politische Gegebenheiten wie teilweise auch durch individuelle Positionen semantische, damit auch ideologische Differenzierungen und sogar Uminterpretationen ergaben. Man denke nur an die Gegensätze von Minderheits- und Mehrheitssozialisten in Russland, von Menschewiki und Bolschewiki. Und auch in Deutschland ging durch die Reihen der Befürworter der Französischen Revolution einerseits wie der dem Sozialismus zuneigenden Arbeiterbewegung andererseits ein bis heute spürbarer Riss zwischen Revolutionären und Reformern.⁶ Wie bei anderen Leitbildern behielt der Zentralbegriff „Revolution" jedoch oft genug eine die ideologischen Differenzen überbrückende Kraft.

    2 Der Freiheitsbegriff als politisches Fahnenwort

    „Freiheit, die ich meine"

    „Freiheit" kann – nicht erst seit der Adaption der zentralen Losung der Französischen Revolution – als eins der Urleitbilder der politischen und sozialen Entwicklung im Deutschland des 19. Jahrhunderts gewertet werden. Bereits die Amerikanische Revolution hatte ihre – zunächst noch schwachen – Auswirkungen auf das politische Denken in Deutschland. Aber auch diese Revolution war – abgesehen von den spezifischen handelspolitischen und militärischen Zielen im Unabhängigkeitskrieg – eingebettet in den weiteren Zusammenhang der europäischen Aufklärungsdiskurse. Die amerikanische Umsetzung der darin [<<22] entwickelten Ideen und Ideale in die politische Praxis, insbesondere durch die Formulierung von Grundrechten in der Unabhängigkeitserklärung von 1776, wurde dann zum Vorbild für die Französische Revolution. Aber auch die Einrichtung einer Republik mit Gewaltenteilung und freien Wahlen war für die Franzosen vorbildgebend.

    Europa, auch Deutschland, war sehr wohl, auf passive wie aktive Weise, von den Ereignissen in Nordamerika tangiert. Passiv durch den Soldatenhandel, durch den zahlreiche Deutsche von ihren Fürsten, allen voran von Hessen-Kassel, als Söldner auf britischer Seite in die Kämpfe gegen die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung geworfen wurden. Aktiv durch viele Militärs, nicht zuletzt Preußen, die sich der Sache der Amerikaner zur Verfügung stellten und dabei auch wichtige Positionen in der Kontinentalarmee einnehmen konnten. Der Prominenteste war der preußische Offizier Friedrich Wilhelm von Steuben (1730–94), der als Generalinspekteur der amerikanischen Armee entscheidend zum Sieg im Unabhängigkeitskrieg beitrug. Unter der Hand, mit stillem Einverständnis Friedrichs II., stellte Preußen den Amerikanern sogar Waffen zur Verfügung.

    Die bedeutendste personelle Verbindung zwischen den amerikanischen und französischen Ideen stellte zweifellos der Franzose Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette (1757–1834) dar. Auch er kämpfte als General auf amerikanischer Seite, wurde dann aber, 1789, Mitglied der französischen Generalstände und legte den ersten Entwurf der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor, den er zusammen mit dem amerikanischen Politiker Thomas Jefferson (1749–1826), zeitweilig Diplomat in Paris, erarbeitet hatte.

    Die deutschen Reaktionen auf die umwälzenden Entwicklungen in Nordamerika waren zunächst gespalten. Der Göttinger Historiker und bedeutende Publizist August Ludwig Schlözer (1735–1809) etwa stellte sich in der Auseinandersetzung der nordamerikanischen Kolonien mit England trotz seiner sonst vertretenen Forderung nach politischer Partizipation des Volkes auf die britische Seite.

    Die Nachrichten über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und darin insbesondere die Feststellung, dass „Life, Liberty and the pursuit of Happiness zu den „unveräußerlichen [Menschen-]Rechten zu zählen haben, weckten dagegen bei vielen begeisterte Zustimmung. Bereits am 5. Juli 1776 veröffentlichte der „Pennsylvanische Staatsbote in Philadelphia die erste deutsche Übersetzung, in der das Original mit „Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit wiedergegeben wird. Und bereits sieben Wochen später, am 24. August, war auch in Deutschland selbst der Text der Unabhängigkeitserklärung erstmals in einer Zeitung zu lesen.

    [<<23]

    Auf welche allgemeinere Disposition insbesondere der Begriff der Freiheit traf, lässt sich exemplarisch an Bekundungen des Dichters und Journalisten Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–91) nachweisen. Seiner antiabsolutistischen und sozialkritischen Äußerungen wegen wurde Schubart 1777 sogar für zehn Jahre im Kerker der Festung Asperg inhaftiert. Schon zum Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs 1775 dichtete er sein „Freiheitslied eines Kolonisten"⁷, in dem er seine Opposition gegen den Absolutismus eindeutig zum Ausdruck bringt. Konkret eifert er, durch den Mund eines deutschen Siedlers in Amerika, gegen den „gier’gen Britten", die englische Kolonialmacht, und gegen den Soldatenhandel der Fürsten. In der zweiten Strophe heißt es:

    Die Göttin Freiheit mit der Fahn‘

    (der Sklave sah sie nie),

    Geht, Brüder, seht! Sie geht voran!

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