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Die gescheiterte Republik: Kultur und Politik in Österreich 1918–1938
Die gescheiterte Republik: Kultur und Politik in Österreich 1918–1938
Die gescheiterte Republik: Kultur und Politik in Österreich 1918–1938
eBook528 Seiten6 Stunden

Die gescheiterte Republik: Kultur und Politik in Österreich 1918–1938

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Über dieses E-Book

Der kleine Rest der großen Donaumonarchie, ungeliebte Notlösung: Die Republik Österreich. Seit ihrer Gründung 1918 gab es keine gemeinsame politische Kultur, kein gemeinsames Verständnis darüber, was dieses neue Gebilde eigentlich sein sollte – bis 1934 die demokratische Republik und 1938 auch Österreich am Ende war. Anton Pelinka stellt die Frage nach der Verantwortung für das politische wie kulturelle Scheitern und zeichnet den Weg in den Abgrund nach. Die junge Republik Österreich war eine Verlegenheitslösung, der Konsens zwischen den staats- und republikgründenden Parteien fragil. Gemeinsamkeiten gab es wenige, und die Zukunft blieb ungewiss. War Österreich erst auf dem Weg zur »wahren« Demokratie, war dieses Österreich nur eine Zwischenstufe zum Sozialismus, oder war es nur eine Republik, die nicht mehr war als eben keine Monarchie? Der »deutsche« Staat Österreich, belastet mit einem Namen, der gestern noch eine Großmacht bezeichnet hatte, sollte sich emanzipieren, wollte sich aber nur höchst widerwillig vom Schatten des alten Reichs lösen. Es entwickelte sich keine politische Kultur, die der ungeliebten Staatsform durch eine systematische Politik der Machtteilung zu Stabilität verholfen hätte. Und auch die »Hochkultur« – Literatur und Wissenschaft, Theater und Musik – nahm diese Republik kaum wahr. Zwischen einer auf das Gestern eines übernationalen Reiches fixierten Nostalgie und einem erträumten Morgen in Gestalt eines »Anschlusses« setzte sich, bis auf wenige Ausnahmen, kaum jemand mit der demokratischen Republik Österreich auseinander. War ihr mörderischer Abstieg aber wirklich zwingend vorgezeichnet, und wie wäre ihr Zerbrechen zu vermeiden gewesen? Was waren die Alternativen zum Absturz?
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Wien
Erscheinungsdatum17. Juli 2017
ISBN9783205205500
Die gescheiterte Republik: Kultur und Politik in Österreich 1918–1938

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    Buchvorschau

    Die gescheiterte Republik - Anton Pelinka

    1 »Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

    »Dass jemand, der wie ich vollkommen jeder Politik fernstand und seit Jahren nicht einmal sein Wahlrecht ausgeübt hatte, ausgesucht worden war […].« (Zweig 1961, 423)

    Mit diesen Worten kommentierte Stefan Zweig die Hausdurchsuchung, die von der Polizei des »autoritären Ständestaates« 1934 in seinem Salzburger Haus vorgenommen worden war. Zweig, dessen Welt die »von gestern« war, die Welt eines kosmopolitischen Weltbürgers in Österreich-Ungarn, dem multinationalen Reich, das seinem Ende entgegentaumelte; eine Welt, deren kulturelle Glanzlichter viele über den Zustand dieses Österreich zu täuschen vermochten; einem Reich, das schließlich die Unfähigkeit zur inneren Reform mit einem aggressiven Befreiungsschlag zuzudecken versuchte. Zweig war in der 1918 gegründeten Republik nie wirklich heimisch geworden, obwohl er von Erfolg zu Erfolg eilte: als Textautor von Opern Richard Strauss’, in der Nachfolge Hugo Hofmannsthals; vor allem aber als Autor von historischen Büchern, Romanen, die sich weltweit bestens verkauften. Zweig war in der Republik nie angekommen. Zweig, der Vertreter der Aufklärung, stand dieser Republik, deren Verfassung vom Geist der Aufklärung und der Demokratie bestimmt war, ganz einfach ferne.

    Zuhause war er, der in Wien aufgewachsene Sohn aus dem jüdischen Großbürgertum, in den Jahren der Republik in Salzburg; aber er fühlte sich wohl auch zuhause in London und New York und schließlich im brasilianischen Petropolis. Und er beobachtete das Weltgeschehen mit großer Aufmerksamkeit: Er besuchte die Sowjetunion, nahm aber anders als andere Besucher in dieser Zeit dort nicht ein im Aufbau befindliches Paradies wahr. Und er verfolgte den Aufstieg des Österreichers Adolf Hitler mit wachsender Sorge und schließlich mit großer Verzweiflung.

    Unpolitisch war dieser Österreicher ganz bestimmt nicht – auch wenn er sich selbst als jemanden bezeichnete, der »das Politische und Dogmatische im tiefsten verabscheute« (Zweig 1961, 359). Er, der an der Weltpolitik aufmerksam Anteil nahm, der 1928 bei seinem Besuch im Reich Stalins das marxistisch-leninistische Experiment skeptisch, aber offen und mit großem Interesse beobachtet hatte; Zweig, der das Heranwachsen der mit dem Namen Adolf Hitler verbundenen Gefahr höchst aufmerksam beobachtet hatte – mit der Politik der Republik, die seiner Welt »von gestern« gefolgt war, wusste Stefan Zweig wenig anzufangen. Umso verständlicher war sein Erstaunen, dass die Polizei des autoritären Dollfuß-Schuschnigg-Systems ihn im Verdacht hatte, er könne Waffen des Republikanischen Schutzbundes gelagert haben.

    Zweig verstand sich als Bürger einer globalen Kultur, als Kosmopolit, der auch Bürger des kleinen Österreich war – weil er eben zuvor als Bürger eines großen Österreich das Licht der Welt erblickt hatte. Mit Kultur verband Zweig nicht die Wohnbauoffensive des »Roten Wien«. Kultur, das waren für ihn die Salzburger Festspiele, deren Anfänge er miterlebte; Kultur, das war die weltweite Allianz, die Internationale der dem aufsteigenden Nationalismus und Totalitarismus entgegentretenden Schriftsteller, die sich primär als Europäer – und nicht vor allem als Franzosen oder Deutsche oder Italiener verstanden; oder eben auch nicht primär als Österreicher.

    Eine ganz andere, freilich ähnlich weite Distanz lag zwischen der Republik und Konrad Lorenz. Während Zweig schon Jahre vor 1938 ein unbestrittener Star des globalen Literaturbetriebes war, wurde Lorenz nach 1945 zu einem ebenso unbestrittenen Star des Wissenschaftsbetriebes. Seine Distanz zur Politik hatte Lorenz in einem bemerkenswerten, mit 26. März 1938 datierten Brief an einen deutschen Kollegen ausgedrückt: »Sie können sich keine blasse Vorstellung davon machen, welche Begeisterung hier herrschte und selbst jetzt noch herrscht, in welcher Ausnahms- und Festesstimmung selbst so unpolitische Menschen wie wir sind! […] Ich glaube, wir Österreicher sind die aufrichtigsten und überzeugtesten Nationalsozialisten überhaupt !« (Föger, Taschwer 2001, 65).

    Lorenz war als »unpolitischer« Mensch Mitglied der NSDAP und entsprach mit antisemitischen Bemerkungen übelster Art (Föger, Taschwer 2001, 84 f.) dem Zeitgeist dieser Jahre – Bemerkungen, die er später als Missverständnisse hinzustellen versuchte: Lorenz wurde in der Zweiten Republik zu einer Art Säulenheiliger eines durchaus politischen Konsenses. Politiker der SPÖ und der ÖVP lobten ihn ungefragt, auch die KPÖ hatte Positives anzumerken, und den Grünen war er eine Art personifizierter Gründungsmythos (Föger, Taschwer 2001, 14, 193 f.). Über die politische Seite des selbstbekennenden Unpolitischen wurde nach 1945 nur wenig gesprochen. Dass der Ruhm des Nobelpreisträgers für Medizin und Physiologie mit dem Ruhm des anderen selbstbekennenden Unpolitischen, mit dem Stefan Zweigs, auf keinen Fall auf einen Nenner zu bringen war, darüber wurde nach 1945 so weit wie möglich geschwiegen. Dieses (und anderes) Schweigen war freilich Teil des Preises, der für die Stabilisierung der neuen, der Zweiten Republik zu entrichten war.

    Abb. 1: Stefan Zweig (1934) – der »unpolitische« Kosmopolit in Salzburg, mit Arturo Toscanini (links) und Bruno Walter (Mitte).

    Abb. 2: Konrad Lorenz (1939) – der »unpolitische«, begeisterte Nationalsozialist sinniert über seine Karriere, die ihm die NSDAP ermöglichen wird.

    Zweigs Distanz zur Politik der Republik äußerte sich in einer Nichtteilnahme an den Wahlen der Republik – und in einer tiefen Depression, als der Nationalsozialismus erfolgreich nach der Weltherrschaft zu greifen schien. Lorenz’ Distanz zur Politik der Republik äußerte sich in einer kritiklosen Unterwerfung unter eben diesen Nationalsozialismus, eine Haltung, die bestenfalls als grenzenlos opportunistisch und schlimmstenfalls als Ausdruck einer mörderischen Gesinnung zu verstehen ist. Das Desinteresse, das Stefan Zweig der Politik der Republik entgegenbrachte, und Konrad Lorenz’ bereitwillige Anpassung an den NS-Staat zeigen den höchst widersprüchlichen Grundakkord der Kulturgeschichte dieses Österreich, dessen republikanisch-demokratischer Charakter nicht einmal 16 Jahren zu überleben vermochte und dessen bloße Existenz bald darauf verloren ging. Kultur, das identifizierte kaum jemand mit dem intellektuellen Widerspruch zwischen Otto Bauer und Ignaz Seipel, zwischen dem revolutionären Weltbild des Austromarxismus und dem klerikal-restaurativen des Politischen Katholizismus; Kultur, das stand über diesen Niederungen, deren Lärm den ungeliebten Kleinstaat erfüllte; dieses Österreich, das so eigentlich niemand gewollt hatte. Kultur, das war – explizit als »unpolitisch« definiert – die Kompetenz des im brasilianischen Exil Verzweifelnden; und Kultur, das war der Wissenschaftsbetrieb, der den Naturwissenschafter Konrad Lorenz zu unpolitisch-politischen Verrenkungen trieb. Mit Politik sollte und wollte Kultur nichts zu schaffen haben.

    In dem 1918 neu geschaffenen Kleinstaat war Wien das Mekka der Psychoanalyse; in diesem Österreich vertrat der »Wiener Kreis« ein naturwissenschaftlich diszipliniertes Verständnis von Philosophie, und junge Sozialforscherinnen und Sozialforscher entwickelten im niederösterreichischen Marienthal Forschungstechniken, die später – an der Columbia University, an der University of Sussex und anderswo – bahnbrechend für den Zugang zu Gesellschaft und Politik werden sollten. In diesem kleinsten der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns waren Staatsoper und Burgtheater weiterhin weltweit wahrgenommene Zentren der Hochkultur – und Salzburg wurde in kurzer Zeit zu einem Standort, an dem Arturo Toscanini dirigierte und Max Reinhardt inszenierte. Dieses kleine Österreich war tatsächlich so etwas wie eine kulturelle Großmacht.

    Doch das alles schien ohne direkte Verbindung mit dem zu sein, was Zweig als »die Politik« bezeichnete und für die Lorenz sich erst erwärmen konnte, als sie in deutscher Uniform in Österreich einmarschiert war. Die Republik blieb dieser Kultur fremd. Die Republik, von dieser Kultur kaum wahrgenommen, taumelte der Katastrophe entgegen. Die Republik wurde zerstört, ersetzt zunächst von einem halbherzig autoritären, halbherzig faschistischen System, das selbst bald Opfer des schlimmsten aller Systeme werden sollte, die in der Geschichte bisher dokumentiert und analysiert sind. Ein Absturz – von der Kultur des Stefan Zweig mit Entsetzen und von der Kultur des Konrad Lorenz zunächst mit klammheimlicher, dann mit offener Freude kommentiert; eine Katastrophe, die mit dem Namen des noch vor Sigmund Freud wohl meistzitierten Österreichers dieser Zeiten verbunden ist; mit dem, der Zweigs kosmopolitischer »Welt von gestern« entflohen war, um von München und Berlin aus Österreich von der politischen Landkarte, ja von der Geschichte zu tilgen.

    Am Beginn stand der Versuch, aus der weltpolitisch vorgegebenen Restmasse des alten Österreich etwas, irgendetwas Vernünftiges zu machen. Am Beginn stand der intellektuell und ethisch ehrenvolle Gründungsakt einer Demokratie, die ihre Existenz der Niederlage des alten, teilweise demokratischen Österreich verdankte, dessen Parlament – das Abgeordnetenhaus des Reichsrates – bereits ab 1907 auf der Grundlage eines allgemeinen und gleichen Männerwahlrechtes gewählt wurde, sich aber nicht zu einem gleichwertigen Gegenspieler des Kaisers und dessen Regierung zu steigern vermochte. Am Beginn des neuen Österreich stand die Gründung der Republik – als die wohl beste Verlegenheitslösung, die im Herbst 1918 politisch möglich war. Und im Oktober 1920 beschloss die 1919 gewählte Provisorische Nationalversammlung Österreichs ein Bundes-Verfassungsgesetz und gab so der Verlegenheitslösung einen vernünftigen Rahmen.

    Die Republik war im November 1918 von parlamentarischen Eliten des Kaiserreiches ausgerufen worden. Diese entschieden über die Wahl einer Konstituierenden Nationalversammlung, die 1920 die Verfassung beschloss. Der republikanische Grundkonsens war von Personen und politischen Kräften formuliert, die schon in der Schlussphase des Kaiserreiches politisch eine Rolle spielten: Sozialdemokraten, Christlichsoziale, Deutschnationale. Freilich: Auf einen republikanischen Katalog der Grundrechte konnten sich die Republikgründer nicht verständigen. Man einigte sich auf einen pragmatischen Kompromiss: Die im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867 verankerten Grund- und Freiheitsrechte sollten ihre Geltung auch in der Republik behalten, in der Ersten wie auch in der Zweiten. Die Republik war neu – aber sie betrat nicht vollständig Neuland (Welan 1971, 37).

    Der Verfassungskonsens war vor dem Hintergrund der Probleme gefunden worden, die für die meisten Menschen zunächst viel dringlicher waren als die Frage der Gestaltung der politischen Ordnung: Die Versorgungslage war im Herbst 1918 katastrophal. Es ging darum, die Ernährung der Millionen sicherzustellen, die in dem Raum lebten, der nicht von einem der anderen Nachfolgestaaten in Anspruch genommen war. Die Versorgung der Bevölkerung unterstrich die Abhängigkeit von den Siegermächten: Eine wirksame Bekämpfung der Hungersnot setzte Hilfe von Frankreich, Großbritannien, Italien und den USA voraus (Stadler 1966, 163–166).

    Der Entscheidung über die republikanische und demokratische Verfassung waren intensive Beratungen vorangegangen, um auf der Basis der von den Siegermächten des Weltkrieges geschaffenen Tatsachen eine von einem breiten Konsens getragene politische Struktur zu schaffen. Dies gelang. Das Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 begann mit den Sätzen:

    »Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.«

    Auf diese Verfassung hatten sich Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Deutschnationale verständigt. Sie diente als Grundlage der Republik, bis diese ab März 1933 in mehreren Etappen von einer zur Diktatur entschlossenen Regierung zerstört wurde. Und sie dient als Grundlage der mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 wieder entstandenen Republik. Diese freilich, die Zweite Republik, entwickelte sich zu einer Erfolgsgeschichte: eine stabile Demokratie, die sich in das entstehende europäische Gesamtgefüge einzuordnen verstand; eine Republik, deren politische Spielregeln allgemein akzeptiert wurden; eine Ordnung, die soziale Stabilität und einen insgesamt steigenden Wohlstand ermöglichte.

    Diese Erfolge waren der Ersten Republik versagt geblieben. Das begann schon mit der Dürftigkeit und Widersprüchlichkeit des allen Akteuren gemeinsamen Verständnisses von dem, was »Österreich« zu bedeuten hätte, das Land, dem sie ja eine Verfassung gegeben hatten. Was »Österreich« war, blieb nebulos und umstritten. Der Anschluss an das Deutsche Reich der demokratischen Republik von Weimar war von den Siegermächten unterbunden worden. War dieses Österreich – der im Wesentlichen deutschsprachige »Rest« des alten Kaiserreiches – nur ein Provisorium, das darauf zu warten hatte, bis eine sich ändernde politische Gesamtlage Europas den gewünschten Anschluss doch noch ermöglichen würde? Oder war dieses Österreich, dessen »deutscher Charakter«, was immer dies auch heißen mochte, zunächst von niemandem bestritten wurde, war die Republik auf Dauer als zweiter deutscher Staat errichtet, der sich später im Vergleich mit dem zur Diktatur transformierten Deutschen Reich als das »bessere« Deutschland verstehen konnte? Oder war dieses Österreich die Keimzelle von etwas Alt-neu-Großem, von einem Reich, das unter geänderten Bedingungen wiedererstehen sollte – mit oder ohne die Vorzeichen der Herrschaft der Habsburger? Oder war dieses Österreich eine Art Wartezimmer auf dem Weg zu einer Europa oder gar die Welt umspannenden Sowjetrepublik? Österreich war nicht Österreich war nicht Österreich.

    Und »demokratisch«: Wer war dieses Volk, das nun, offiziell als neuer Souverän deklariert, an die Stelle des alten Herrscherhauses getreten war? Die Deutschen der Monarchie – etwa einschließlich der deutschsprechenden Flüchtlinge aus dem vormals österreichischen Galizien, unter ihnen vor allem auch Jüdinnen und Juden? Alle Bewohner der kleinen Republik – unabhängig von Muttersprache und Religionszugehörigkeit, unabhängig auch von regionaler Herkunft? Und wie sollte die Demokratie, aufbauend auf dem »Demos«, nun organisiert werden? Zunächst war man sich, nach getaner Verfassungsarbeit, durchaus einig. Wahlen in den Nationalrat, Wahlen in die Landtage der bald neun Länder wurden durchgeführt, ohne dass ernsthaft die Legitimität dieser Vorgänge in Zweifel gezogen worden wäre. Doch bald schon tauchten Stimmen auf – war dies die »wahre« Demokratie, oder war sie nur eine »Formaldemokratie«, in der die Parteien im Parlament de facto als Souverän agierten? Und machten nicht bald auch Nachbarstaaten vor, dass die »Herrschaft des Volkes« auch ganz anders interpretiert werden konnte – in Ungarn, Italien, Jugoslawien? Demokratie war nicht Demokratie war nicht Demokratie.

    Nein, das Prinzip der Demokratie war letztendlich kein alle verbindendes Prinzip, dessen Implikationen von allen außer Streit gestellt worden wären. Und erst recht: Republik? War diese mehr als eine pragmatische Notlösung, die nach der Abdankung des letzten Kaisers ergriffen werden musste? War Republik überhaupt jemals anders definiert als aus dem Negativen – dass die Republik eben keine Monarchie sein sollte? Schwang im Begriff Republik irgendetwas mit, was eine emotionelle, eine affektive Dimension ansprach – wie die Republiken, die mehr als ein Jahrhundert davor aus Revolutionen entstanden waren: in Nordamerika, in Frankreich?

    Der Verfassungskonsens von 1920 beinhaltete keine belastbare Übereinstimmung darüber, was die Grundbegriffe Österreich, Demokratie, Republik zu bedeuten hätten. Und daran scheiterte die Republik. Freilich: Sie scheiterte auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Europa insgesamt und mit der Entwicklung in der Mitte Europas ganz besonders. Europa entwickelte sich nach 1918 nicht hin zu mehr, es entwickelte sich hin zu immer weniger Demokratie. Österreich war da so anders nicht. Und das alles lief letztlich auf das Ende der Demokratie in Österreich, auf das Ende der demokratischen Republik und schließlich auf das Ende Österreichs hinaus.

    Die Erste Republik scheiterte. Aber musste sie scheitern? Ganz offensichtlich nicht wegen ihrer in eine Verfassung gegossenen politischen Ordnung und wohl auch nicht wegen der handelnden Personen: Immerhin stehen unter der Unabhängigkeitserklärung von 1945 die Namen von bereits in der Ersten Republik maßgebenden Politikern, allen voran Karl Renner und Leopold Kunschak. Die Personen, die den Absturz der Republik nicht aufzuhalten vermochten, waren wesentlich nicht nur an der Gründung, sondern letztlich auch am Erfolg der Zweiten beteiligt.

    Die politische Ordnung der Ersten Republik war als das konzipiert, was Westminster-Demokratie genannt wird: Die Mehrheitsbildung in einem frei gewählten Parlament bestimmt, wer regiert (Lijphart 1999, 9–30). Die Trennung zwischen Exekutive und Legislative ist aus ebendiesem Grund faktisch nicht gegeben – eine mit der Parlamentsmehrheit identische Regierung steht im Parlament einer zur Übernahme der Regierung bereiten Opposition gegenüber. Eine Trennung der Gewalten ist in diesem Demokratiemodell aber sehr wohl zwischen der mit der Parlamentsmehrheit zu einer Einheit verschmolzenen Regierung auf der einen und der unabhängigen Rechtsprechung auf der anderen Seite vorgesehen. Der demokratische Charakter ist durch den Wettbewerb zwischen Regierung und Opposition hergestellt und erweist sich in der Rotation der Parteien zwischen der einen, der Regierungs-, und der anderen, der Oppositionsfunktion.

    Aber eben diese Konsequenz der Westminster-Demokratie, die den britischen Parlamentarismus charakterisiert, kam in Österreich nicht zum Tragen: Die politische Rechte, bald »Bürgerblock« genannt, wurde bei keiner Wahl von der politischen Linken abgelöst. Während im britischen Unterhaus über Jahrhunderte hinweg Tories und Whigs, dann – ab dem 20. Jahrhundert – Konservative und Labour einander an der Regierung ablösten, war die Funktionsverteilung zwischen rechts und links in Österreich während der gesamten Dauer der Ersten Republik festgeschrieben. Und als die von den Christlichsozialen geführte Regierung fürchten musste, bei Wahlen die Mehrheit zu verlieren, beschritt sie den Weg in die Diktatur.

    Der Ersten Republik fehlte die politische Kultur, von der die Zweite ausgezeichnet werden sollte: ein praktiziertes System der Machtteilung, ausgedrückt in »Großen Koalitionen« und Sozialpartnerschaft. Die Erste Republik war verfassungsrechtlich als Westminister-Demokratie konzipiert – die Alternative zu diesem Modell, die Konkordanz- oder Konsensdemokratie etwa nach Schweizer Muster –, wurde nicht ernsthaft angedacht und schon gar nicht umgesetzt (Lijphart 1999, 31–47). Und doch wäre dieses alternative Verständnis von Demokratie eine Chance gewesen, die Demokratie zu stabilisieren, wie die Entwicklung der Zweiten Republik belegt. Die Erste Republik blieb bestimmt von einem Schwarz-Weiß-Denken, von einer Unfähigkeit, Politik statt eines »Alles-oder-Nichts« als ein »Mehr-oder-Weniger« zu begreifen. Die Ansätze einer Konsensdemokratie hatten sich mit der Verabschiedung des Bundes-Verfassungsgesetzes schon am 1. Oktober 1920 erschöpft. Die Logik einer nun nicht mehr gebremsten Konfliktdemokratie führte zu den Ereignissen der Jahre 1933 und 1934, zum Ende der demokratischen Republik und schließlich zum Ende Österreichs.

    Eric Hobsbawm erlebte als Schulkind in den 1920er Jahren in Wien die Alltäglichkeit eines politischen Denkens, das die Trennung in Lager als selbstverständliche Gegebenheit, als vorgegeben und quasi natürlich akzeptierte. Die Menschen, so Hobsbawm, nahmen es als Teil der herrschenden Verhältnisse hin, sich entweder in das geschlossene Milieu der Sozialdemokraten (der »Roten«) oder in das der Christlichsozialen (der »Schwarzen«) einordnen zu müssen (Hobsbawm 2003, 12). Eine die Lager verbindende Gemeinsamkeit existierte nicht, war jedenfalls nicht erkennbar. Die vormalige Reichs- und Residenzstadt eines multinationalen Empires war zwar, erkenn- und hörbar vor allem in der Vielfalt sprachlicher Intonationen, noch immer nicht das, was der Deutschnationalismus gerne gehabt hätte – eine eindeutig »deutsche« Stadt. Aber die Sprachfärbungen waren die Grundlage einer informellen, freilich effektiven kulturellen Hierarchie: Eine slawische (vor allem tschechische – »böhmische«) Färbung der deutschen Sprache galt als minderwertig, und Menschen italienischer Herkunft (etwa aus dem vormals österreichischen Trentino) waren als »Katzelmacher« Objekt alltäglicher Verspottung (Hobsbawm 2003, 11).

    Die Kluft zwischen der aus dem alten Österreich kommenden ethnischsprachlich-kulturellen Vielfalt und einer das Deutsche betonenden Einfalt bekamen vor allem die Menschen jüdischer Herkunft zu spüren. Diesen, von denen viele – wie Joseph Roth – nostalgisch der Monarchie nachtrauerten, gab in diesem neuen Österreich niemand das Gefühl, Teil der »Nation« zu sein – denn eine solche gab es in der Republik ja nicht, jedenfalls keine, die sich als österreichisch verstanden hätte (Hobsbawm 2003, 22). Aber auch formell machte es der in Schattierungen dominante Antisemitismus den Jüdinnen und Juden schwer, sich in dem klein gewordenen Österreich zuhause zu fühlen. 1921 verhinderte der deutschnationale Innenminister Leopold Waber die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an die im republikanischen Österreich lebenden, vor allem aus dem (alt)österreichischen Galizien stammenden Menschen jüdischer Herkunft mit der Begründung, als Juden könnten sie – aus »rassischen« Gründen – nicht als Deutsche gelten und damit auch nicht in Österreich eingebürgert werden (Judson 2016, 445, 542). Die Republik hatte auf diese Weise die Standards der Nürnberger Rassengesetze vorweggenommen.

    Der Unterschied zwischen dem Scheitern der Ersten und dem Erfolg der Zweiten Republik kann mit dem Begriff Kultur umschrieben werden. Die Erste Republik scheiterte, weil die an den Bildern von Schwarz oder Weiß, von Gut oder Böse, von unbedingtem Sieg oder totaler Niederlage orientierten politischen Akteure ihre manichäischen Weltbilder nicht hinter sich lassen konnten oder wollten. Die politische Kultur der Ersten Republik war die einer unbedingten Gegnerschaft, die letztlich in offene Feindschaft kippte.

    Das kann freilich nicht bedeuten, dass diese Unversöhnlichkeit allen gleichermaßen zuzuschreiben gewesen wäre. Auch wenn wohl keine der politischen Parteien der Ersten Republik von der Verantwortung für das Scheitern dieser Demokratie frei war – die Verantwortung traf stärker diejenigen, die letztlich aktiv die Demokratie zerstörten, um einen autoritären Staat an die Stelle der Republik zu setzen; und erst recht die, die im Interesse einer totalitären Phantasie die Eigenständigkeit Österreichs auslöschten. Die drei staatsgründenden Lager der Ersten Republik teilten sich die Verantwortung für deren Scheitern – aber nicht zu gleichen Teilen. Die Verantwortung derer, die gezielt und mit Absicht die demokratische Republik in den Abgrund führten – im Wesentlichen der Repräsentanten des katholisch-konservativen Lagers und damit der Christlichsozialen Partei – war natürlich eine andere, eine tiefere und größere als die Verantwortung derer, die sich zu Recht als Opfer des Weges weg von der Demokratie und hin zu einem autoritären Staat sehen mussten.

    Aber auch die Sozialdemokratie kann natürlich nicht als bloß passives Opfer einer Entwicklung gesehen werden, die ja auch von der Furcht vor einem von den Sozialdemokraten selbst mit genährten Bolschewismus-Gespenst bestimmt war. Und erst recht war die Verantwortung des deutschnationalen Lagers eine andere – eines Lagers, dessen Vertreter ab 1933 fast vollständig in die NSDAP übergetreten waren; eines Lagers, das sich schließlich – mit Ausnahme einiger weniger – voll mit dem rassistischen, antisemitischen, gegen jedes Verständnis von universellen Menschenrechten agierenden Regime identifizierte; mit einem Deutschland, dessen Ziel die Beseitigung eines unabhängigen Österreich war.

    Ian Kershaw widmet in seiner düsteren Zusammenfassung über das schreckliche Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Österreichs Demokratie eine differenzierte Aufmerksamkeit. Kershaws generelles Urteil geht von dem Widerspruch aus, dass einerseits Österreichs Demokratie von 1918 bis 1933 intakt blieb – angesichts der Entwicklung in den meisten der anderen Nachfolgestaaten (Italien, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Polen) keine Selbstverständlichkeit (Kershaw 2015, 184). Der Abstieg Österreichs in die Diktatur begann später als in den meisten anderen Staaten des Raumes. Kershaw diagnostiziert aber andererseits auch die von Anfang an gegebene Fragmentierung der Gesellschaft als ein Dilemma, das die Republik letztlich nicht zu überwinden verstand: die tiefen Risse, die zwischen den drei Lagern bestanden und eine Verankerung der Demokratie verhinderten (Kershaw 2015, 131).

    Eine Politische Kultur der Teilung der Macht wäre an sich in Österreich, wäre in der Republik sehr wohl angelegt gewesen: Die Verfassung der österreichischen Bundesländer (mit Ausnahme Vorarlbergs) sah vor, dass die im Landtag vertretenen Parteien ihrer parlamentarischen Stärke entsprechend auch in der Landesregierung vertreten sein mussten. Dieses System der Konzentrationsregierung konnte sich auf das Vorbild der Schweiz berufen, wo im Gefolge des Bürgerkriegs des Jahres 1847 (des »Sonderbundskrieges«) sich schrittweise durch eine faktische, nicht rechtlich vorgeschriebene Verregelung ein politisches System etablierte, das allen größeren Parteien Anteil an der Regierungsmacht einräumt (Fallend 1997, 238–244).

    Österreich war 1920, nach dem Zerbrechen der Großen Koalition, auf der Ebene des Bundes einen anderen Weg gegangen. Einen letzten Versuch, eine auf Machtteilung aufbauende Konkordanz- und Konsensdemokratie zu etablieren, machte Ignaz Seipel im Sommer 1931. Seipel war persönlich an Otto Bauer herangetreten, bestimmt von der strategischen Überlegung, eine Einbindung Bauers – der in seiner Partei, der Sozialdemokratie, dem linken Flügel zugerechnet wurde – wäre die beste Voraussetzung für eine Konzentrationsregierung, die unter christlichsozialer, also Seipels Führung stehen sollte. Die Verhandlungen zwischen den beiden großen Parteien zerschlugen sich, bevor sie noch wirklich begonnen hatten – in der Sozialdemokratie setzte sich die Meinung durch, das Koalitionsangebot Seipels würde die Sozialdemokratie mit einer Verantwortung für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik belasten, die angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem auf Kosten der Arbeiterschaft gehen müsste (Goldinger, Binder 1992, 183–185).

    Wie immer man diese Befürchtungen der Sozialdemokratie sehen mag – sie würde durch eine Beteiligung einer Politik der sozialen Verschlechterung gegenüber ihrer Kernklientel unglaubwürdig werden: Angesichts der späteren Entwicklungen war die Ablehnung von Seipels Angebot letztlich die Zurückweisung einer wohl letzten Chance zur Rettung der Republik. Selbst Otto Leichter, der die sozialdemokratische Parteilinie vertritt, konzediert im Rückblick: »Mag sein, dass der Verlauf der österreichischen Konterrevolution anders gewesen wäre, wenn damals Otto Bauer Seipels Kanzlerkollege geworden wäre. Die kleinen Geister, die sich als Vollstrecker des Faschismus in Österreich vorgedrängt haben, hätten gewiss nicht das Märchen verbreiten können, mit den österreichischen Sozialdemokraten könne man nicht verhandeln und zusammenwirken, solange Otto Bauer ihr Führer sei. Sie hätten auch schwerlich den Übergang der christlichsozialen Partei in ihrer Gesamtheit in die faschistische Front durchsetzen können, wenn die Partei noch 1931 eine Konzentrationsregierung mit den Sozialdemokraten gebildet hätte« (Leichter 1964, 129 f.).

    Die Sozialdemokratie hatte in dieser entscheidenden Situation sich für Passivität entschieden. Damit hatte sie die – vielleicht, wahrscheinlich – letzte Gelegenheit ungenützt verstreichen lassen, die bereits voll in Gang befindliche Entwicklung nicht einfach erleiden zu müssen, sondern aktiv korrigieren zu können (Leser 1968, 449–456). Die Nationalratswahl 1930, die der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei wieder die relative Mandatsmehrheit gebracht hatte, wurde von der Parteiführung als Bestätigung ihrer Politik des Abwartens gewertet – einer sich bald als wirklichkeitsfremd erweisenden Politik der Passivität, des »Attentismus«, die auf die Gewinnung einer absoluten Parlamentsmehrheit und einer dann der Partei automatisch zufallenden Rolle der bestimmenden politischen Kraft abgestellt war (Hanisch 2011, 273–277).

    Das Scheitern der Republik bestand im Versagen, im Unvermögen der Republikgründer, über den Tellerrand ihrer eigenen selektiven Wahrnehmung so etwas wie das Ganze zu erkennen. Die real existierende Republik war es offenbar nicht, die Marxisten und Klerikale und Deutschnationale einte. Die Lager und ihre Parteien sahen immer stärker die jeweils andere Seite als das Übel, das es zu überwinden galt, weil es der Verwirklichung des eigenen Zieles entgegenstand. Die Republik war nichts, was verband. Die Republik war bloß der Kampfplatz, auf dem man sich bekriegte, um über die Republik hinweg in eine hellere Zukunft schreiten zu können; einer Zukunft, die explizit die jeweils anderen ausschloss: den »gottlosen« Marxismus – und die Juden und die von diesen beherrschte »dekadente« Kultur; oder die Parteien des Klassenfeindes der Bourgeoisie, deren selbst gewählte Aufgabe die Niederhaltung der Arbeiterklasse war. Diese Phantasien, getrieben von »Weltanschauungen«, von »Ideologien«, wiesen durchwegs über die Republik hinaus, weil sie den jeweils anderen, deren gegenläufigen Interessen und gegnerischen Parteien keinen Platz ließen. Daran ging letztlich die Republik zugrunde.

    Die Frage nach der Verantwortung für das Scheitern bewegte und bewegt die Politik der Zweiten Republik. Zwei Narrative stehen einander diametral gegenüber: die mit dem Namen Charles Gulick verbundene Interpretation des Scheiterns, eine Deutung, die sich auf die Unversöhnlichkeit der Rechten bezieht und im Antirepublikanismus und in der antidemokratischen Grundhaltung des katholisch-konservativen Lagers die eigentliche Ursache für den Untergang von Republik und Demokratie und schließlich von Österreich sieht. Die Täter- und die Opferrollen sind hier klar verteilt: Die Sozialdemokratie wurde, weil sie an ihrer demokratischen Grundhaltung festhielt, vom Bürgerblock und den Christlichsozialen bewusst und gewaltsam ausgeschaltet (Gulick 1948). Die Gegeninterpretation, die etwa Gordon Sheperd vertritt, sieht den politischen Katholizismus, die Christlichsozialen und insbesondere auch Engelbert Dollfuß als tragisch Getriebene in einem von außen geschriebenen Drehbuch: Um Österreich vor dem in Deutschland ab 1933 herrschenden expansiven Nationalsozialismus zu retten, sahen sich Dollfuß und die anderen österreichischen Patrioten in ihrem Widerstand gegen die deutsche Aggression von den Sozialdemokraten alleingelassen (Sheperd 1961).

    Das »dritte Lager«, in der Republik politisch organisiert in der Großdeutschen Volkspartei und im Landbund, war 1938 aus den Trümmern von Republik und »Ständestaat« als Sieger hervorgegangen. Dieses Lager, das heißt die meisten Repräsentanten der Großdeutschen Volkspartei und des Landbundes, hatte in den 1930er Jahren begonnen, sich mit einem System zu identifizieren, das in den Jahren vor 1945 und danach der Welt als das Böse schlechthin erschien: verantwortlich für einen Angriffskrieg, der mit innerer Logik zum Weltkrieg führte; und verantwortlich für die versuchte und weitgehend gelungene Ausmordung des europäischen Judentums – ein erstmaliges Verbrechen gegen die Menschheit (Bauer 2001, 20). Dieses Lager wurde mit dem Nationalsozialismus identifiziert, der noch grandioser, noch schrecklicher als die Republik und der »Ständestaat« gescheitert war. Und deshalb war das deutschnationale Lager 1945 bei der Wiedergründung der Republik und in der folgenden Periode politisch abwesend. Erst ab 1949 – in Form des Verbandes der Unabhängigen, aus dem 1956 die Freiheitliche Partei Österreichs entstehen sollte – fand dieses, fand das deutschnationale Lager wieder einen Platz in der Republik; und war offenkundig bestrebt, den Konflikt um Deutungshoheit und »Schuldfrage« den beiden anderen Lagern zu überlassen – zu offenkundig war es, dass für den österreichischen Deutschnationalismus nicht die Verteidigung der NS-Politik, sondern nur die Flucht aus der Verantwortung als sinnvolle Option erscheinen konnte.

    Die Zweite Republik schaffte es, unter dem maßgeblichen Einfluss und dem erheblichen Druck der siegreichen Alliierten, eine politische Kultur zu entwickeln, in der zwischen den Bürgerkriegsgegnern des Februar 1934 eine systematische Teilung der Macht etabliert werden konnte. Der dem parlamentarischen System der Westminster-Demokratie entsprechende Grundsatz »The Winner Takes All« wurde faktisch aufgehoben durch eine Praxis, in der die Frage nach dem Wahlsieger erheblich relativiert war. Das gab der Zweiten Republik Stabilität – und zeigt auch, dass das Scheitern der Ersten Republik nicht die Folge der politischen Ordnung der Republik an sich war, sondern die Konsequenz des Umgangs mit dieser Ordnung; eben die Folge der politischen Kultur.

    Die Zweite Republik konnte die Bürgerkriegsmentalität und damit die politische Kultur der Ersten überwinden. Die Zweite Republik hatte aus dem Versagen der Ersten gelernt. Was blieb, das waren die intellektuellen Nachhutgefechte, die sich der Frage nach der »Schuld« widmeten.

    2 Zum Begriff der Kultur

    Pieter Judson diagnostiziert für das Ende der Habsburger-Monarchie das Vorhandensein mehrerer politischer Kulturen – und damit das Fehlen einer einzigen, dominanten Politischen Kultur (Judson 2016, 370–376). Das alte Österreich, die österreichische Reichshälfte der Doppelmonarchie, war durch eine doppelte politische Brechung, eine mehrfache Fragmentierung gekennzeichnet: Zum Neben- und Gegeneinander der sich zunehmend auseinander entwickelnden Nationalitäten und ihren spezifischen Subkulturen, ausgedrückt in national (und damit nicht österreichisch) definierten Organisationsformen, etwa der Turnerbünde und Gesangsvereine, aber auch national (und eben nicht österreichisch) etikettierten Parteien, gab es auch eine Fragmentierung in politische Lager, die – ansatzweise – österreichisch waren: Die Sozialdemokratie war ihrem internationalen Verständnis entsprechend quer zu den nationalen Identitäten organisiert, und auch der Politische Katholizismus war zumindest von seinem Anspruch her transnational.

    Dass diese zu den nationalen Brüchen quer liegenden Fragmentierungen, die ja potentiell auch eine Zukunftschance für das alte Österreich und dessen mögliche Weiterentwicklung in Richtung eines Bundesstaates darstellten, in dieser ihrer gesamtösterreichischen Funktion letztlich nicht erfolgreich waren – am deutlichsten sichtbar im Gegensatz zwischen tschechischer und (deutsch-)österreichischer Sozialdemokratie und dem Auseinanderbrechen der Gesamtpartei (Mommsen 1963; Konrad 1976) –, war Teil des Scheiterns des alten Österreich: Symptom und Mitursache des Zerfalls.

    Das neue, das republikanische Österreich hatte, obwohl es nun nicht mehr als »Vielvölkerstaat« definiert wurde, die Fragmentierungen und Brüche des alten Österreich übernommen: Das deutschnationale Lager, verwurzelt in den Nationalitätenkonflikten der Monarchie, musste nun nicht mehr den Status des Deutschtums gegen tschechische oder italienische oder polnische Ansprüche verteidigen – umso bestimmender wurde die ja (zunächst zumindest bis 1933 auch von den anderen Lagern geteilte) Orientierung am Anschluss an das Deutsche Reich, eine Orientierung um fast jeden Preis, die letztlich zum März 1938 führte: zur Okkupation und Annexion Österreichs, für die der vereinfachende Begriff »Anschluss« verwendet wurde (Botz 1976). Die Subkulturen der anderen Lager – der Sozialdemokratie und des politischen Katholizismus – lebten aber in der Republik in der Form weiter, die sie bereits vor 1914 entwickelt hatten. In der Monarchie hatten sich die Lager zu einer subsidiären Form gesellschaftlicher Ordnung und auch politischer Macht entwickelt, die nun an die Stelle der zusammengebrochenen Ordnung des Kaiserreiches und einer nur dem Kaiser und nicht dem Reichsrat verantwortlichen Regierung traten. Diese Lager repräsentierten keine Politische Kultur, sondern politische Kulturen, die am Beginn der Republik in der Lage waren, sich zu verständigen – zu einer Allianz der Notwendigkeit. Aus dieser Allianz entwickelte sich aber keine politische Kultur der Gemeinsamkeit.

    Die Politische Kultur der Republik – dieses Neben- und Gegeneinander verschiedener politischer Kulturen – war in einem großen Reich entstanden. Die Politische Kultur der Republik war die Summe politischer Subkulturen, die sich in den letzten Jahrzehnten des alten Reiches zu kristallisieren begonnen hatten. Dieses Reich und damit der Bezug zu ihm waren zwar 1918 abhanden gekommen. Doch die im Reich der Habsburger verwurzelten politischen Kulturen existierten auch nach dem Ende ihres Bezugssystems in der kleinen Republik weiter; sie fanden nicht zu einer neuen, die Republik und ihre Rahmenbedingungen reflektierenden gemeinsamen, republikanisch-demokratischen Politischen Kultur. Die Lager als Träger der politischen Fragmentierungen brachten eine Summe nebeneinander existierender politischer Kulturen mit in die Republik, Kulturen, die dazu beitrugen, dass die Entwicklung einer einzigen, der Politischen Kultur der Republik nicht gelang. Die Republik war bestimmt von einer Kultur der Fragmentierung, der gesellschaftlichen Risse, der politischen Unversöhnlichkeit. Die Summe der politischen Kulturen der sich eben nicht nur als politische Parteien, sondern als »Weltanschauungsgemeinschaften« verstehenden Lager – dieses Neben- und Gegeneinander von Politischem Katholizismus, Austromarxismus und Deutschnationalismus, die war ganz einfach zu groß für die kleine Republik.

    Begriff und Konzept der Lager geht auf Adam Wandruszka zurück (Wandruszka 1954). Dieser unterstreicht die gemeinsamen Wurzeln der Dreiteilung der Lager in den letzten Jahren und Jahrzehnten der Monarchie. Wandruszka spricht von einem »christlich-konservativen«, einem »nationalen« und einem »sozialistischen« Lager, wobei er manche Formen des Überganges diagnostizierte – etwa die »Heimwehrbewegung« zwischen dem »christlich-konservativen« und dem »nationalen« Lager. Allen Lagern konzediert Wandruszka ein gemeinsames liberales und demokratisches Erbe, dessen Zurückdrängung zum Ende der Republik entscheidend beitrug. Dadurch »ging die gemeinsame Sprache und damit die Verständigungsmöglichkeit verloren und die Folge davon konnte nur der erst latente, dann der akute Bürgerkrieg, der erbitterte Kampf jedes der drei Lager gegen die beiden anderen und damit schließlich die Katastrophe sein« (Wandruszka 1954, 480 f.).

    Die Plattform, die verloren ging, das waren die Republik und ihre demokratische Verfassung, die ja zunächst von den drei Lagern gemeinsam getragen worden waren. Aber es war eben ein Konsens ohne kulturelle Tiefenwirkung, ohne Nachhaltigkeit. Die in Lagern formierten politischen Kulturen hatten nicht zu einer, zu der Politischen Kultur der Republik gefunden.

    Carl Schorske schreibt von einem »Key«, einem Schlüssel zum Verständnis der Politischen Kultur des alten Österreich im Fin-de-siècle. Schorske konzentriert sich auf ein »Trio«, auf drei Personen, die eine neue Qualität in die Gesellschaft und Politik des alten Österreich gebracht hatten: Georg Schönerer, Karl Lueger, Theodor Herzl (Schorske 1980, 116–180): Der Erste hatte es verstanden, aus seinem deutschen Nationalismus eine Bewegung und eine Partei zu machen, die den Anschluss an das 1871 geschaffene Deutsche Reich und damit die Zerstörung von Habsburg-Österreich anstrebte und darüber hinaus einen postkonfessionellen, einen »rassischen« Antisemitismus vertrat. Der Zweite hatte Habsburg-Österreich zu demokratisieren, zu retten versucht, war dabei aber immer vom für ihn selbstverständlichen »deutschen« Charakter Wiens ausgegangen und zum Prototyp eines vorhandene Vorurteile (insbesondere des Antisemitismus) instrumentalisierenden Populisten geworden. Und der Dritte beantwortete von Wien aus die mehr oder weniger unverhohlen antisemitischen Nationalismen seiner Zeit – den deutschen, den magyarischen wie auch die anderen – mit der Propagierung eines jüdischen Nationalismus.

    Dieses Trio stand am Ende der Monarchie. Lueger und Herzl starben noch vor Kriegsausbruch, aber beide lebten in ihren Bewegungen und Parteien weiter: Lueger als mythisch überhöhte Integrationsfigur des Politischen Katholizismus und damit der Christlichsozialen Partei; und Herzl als Schlüsselfigur des Zionismus, der die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina und die Gründung des Staates Israel schlussendlich erfolgreich betrieb. Luegers Partei wurde zur hegemonialen Partei der Republik, auch verantwortlich für das Ende der Republik und den Aufbau des autoritären Regimes der Jahre 1933 bis 1938.

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