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Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen: Historisch-politische Streifzüge
Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen: Historisch-politische Streifzüge
Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen: Historisch-politische Streifzüge
eBook902 Seiten10 Stunden

Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen: Historisch-politische Streifzüge

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Über dieses E-Book

Eckhard Jesse (*1948) ist einer der führenden deutschen Politikwissenschaftler unserer Tage. Der Band bietet ausgewählte Abhandlungen aus den letzten Jahren zu zentralen politisch-historischen Fragen. Alle Interventionen des Chemnitzer Politologen zeichnen sich durch Prägnanz und ein klares Urteilsvermögen aus. Sie enthalten Analysen zum Stand der deutschen Politikwissenschaft, zu den Komplexen 'Extremismus und Demokratie' sowie zu 'Parteien und Wahlen', die die Schwerpunkte von Jesses Forschungstätigkeit bilden. Der Verfasser vertritt eine antiextremistische, durch wertgebundene Toleranz geprägte Position, die stets zeitgeschichtlich orientiert ist. Die Einführung des Bandes arbeitet den roten Faden der Beiträge heraus; die im Anhang versammelten Texte zur Promotion belegen Jesses Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs: über 80 Wissenschaftler wurden bei ihm promoviert. Der Band knüpft an das frühere Sammelwerk des Autors aus dem Jahr 2008 an: 'Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen' (ISBN 978-3-412-20157-9).
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum31. Aug. 2015
ISBN9783412503130
Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen: Historisch-politische Streifzüge
Autor

Eckhard Jesse

Eckhard Jesse war bis 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Politische Institutionen an der TU Chemnitz.

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    Buchvorschau

    Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen - Eckhard Jesse

    Politikwissenschaft, Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen

    Der einleitende Beitrag verdeutlicht zum einen die Intention des Bandes, zum anderen dessen Inhalt. Neben Anregungen für Doktoranden finden Abhandlungen aus den letzten Jahren zu drei Komplexen Aufnahme: Politikwissenschaft, Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen. Die Handschrift des Verfassers soll erkennbar bleiben, unabhängig von der jeweiligen Textsorte.

    1.Intention

    Im Jahre 2008, anlässlich meines 60. Geburtstages, waren zwei Sammelwerke mit bereits publizierten Aufsätzen auf den Markt gekommen. Sie hatten (fast) den denselben Titel und Untertitel. Nur das erste – entscheidende – Wort lautete anders: „Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen"¹ enthielt 21 Beiträge zu folgenden Themenbereichen: Zeit- und Streitgeschichte – „Vergangenheitsbewältigung und Tabus – DDR und deutsche Frage – alte und neue Bundesrepublik – Wahlen und Wahlsystem – Parteien und Parteiendemokratie – Demokratie und Demokratieschutz – Links- und Rechtsextremismus. „Diktatur in Deutschland. Diagnosen und Analysen² umfasste 24 Beiträge zu drei Komplexen: Theorie – Geschichte – DDR. Die positive Resonanz hat mich ermuntert, einen dritten Band mit ausgewählten seit 2008 entstandenen Texten folgen zu lassen.

    Dieser Reader – das kann kaum anders sein – ist nicht aus einem Guss. Die Beiträge sind schließlich aus unterschiedlichen Anlässen zu verschiedenen Zeiten veröffentlicht worden, und die Textsorten variieren. Neben stark enzyklopädisch ausgerichteten Aufsätzen (etwa über das Parteiensystem des Kaiserreichs und der Weimarer Republik sowie über das – in Anführungszeichen – der DDR) finden sich leidenschaftliche, von Polemik nicht freie Essays, etwa zum Streit über Theodor Eschenburg, einen der Gründungsprofessoren der deutschen Politikwissenschaft, oder zur Zukunft der Liberalen. Sollte die politische Wirklichkeit die Skepsis, die im Essay über die FDP zum Ausdruck kommt, nachhaltig widerlegen, so ist der Verfasser keineswegs verstimmt. Ohnehin muss das Prospektive nicht dem Präskriptiven entsprechen.

    Angesichts des begrenzten Raumes war es unmöglich, Einschätzungen aus meinen Kommentaren und Kurzanalysen aufzunehmen, veröffentlicht etwa im „Focus, in der „Neuen Zürcher Zeitung oder in der – leider eingestellten – „Financial Times". Gleiches gilt für Kritiken. Es hat mir immer viel Freude bereitet, mich mit Positionen anderer [<<7||8>>] Autoren auseinanderzusetzen – sei es in Form von Literaturberichten³, sei es in Form eines Rezensionsessays.⁴ Im ersten Fall kann der Kritiker die Spreu vom Weizen scheiden, im zweiten Fall in die Tiefe gehen und Hinweise auf Aspekte geben, die das Buch nur am Rande oder gar nicht anspricht. In Deutschland hat der „Mittelbau bei Besprechungen im Fach Politikwissenschaft „das Sagen. Das ist ein betrüblicher Umstand, weil bei jüngeren Kollegen – verständlicherweise – der Mut zu einer kritischen Position ebenso wenig entfaltet ist wie ausgeprägte Urteilskraft.

    „Die Feder des Autors soll, auch wenn die Textsorten unterschiedlich sind, erkennbar sein. Mir ist Leisetreterei ein Gräuel. Wer „anstößige Positionen vermeidet, vermag keine Anstöße zu geben. Daher fallen manche Aussagen deutlich aus, ohne „diplomatische" Verklausulierungen. Der Verfasser begreift sich als Demokratiewissenschaftler. Dieser keineswegs dogmatisch zu verstehende Begriff erhebt keinen Alleinstellungsanspruch, soll Politikwissenschaftler mit einem anderen Ansatz nicht ins Abseits rücken. Das hiesige Fach umfasst zu Recht Repräsentanten höchst verschiedenartiger Couleur, wie es in einer pluralistischen Gesellschaft der Fall ist.⁵ Selbstverständlich kann Politikwissenschaft nicht nur die Wissenschaft von der Demokratie sein, denn dies liefe auf eine keineswegs zu rechtfertigende Verengung hinaus. Und selbst ein „Demokratiewissenschaftler" wäre schlecht beraten, jede Fragestellung monokausal in das Prokrustesbett einschlägiger Positionen zu zwängen. Gleichwohl: Ich sehe den Erhalt des demokratischen Verfassungsstaates als eine zentrale Herausforderung an. Dies schließt seine Fortentwicklung ein. Eine Demokratie braucht Reformen, eine Diktatur kann sie sich nicht leisten.

    Wer Politikwissenschaft als ein Fach mit gesellschaftlicher Relevanz begreift, weiß nur allzu genau: Damit ist es oft nicht gut bestellt. Viele Debatten schmoren im eigenen Saft, kreisen um die eigene Achse, sind nicht frei von Selbstreferenzialität, um das Defizit mit unterschiedlichen Worten zu kennzeichnen. Peter Graf Kielmansegg, studierter Jurist, promovierter Historiker, habilitierter Politologe, hat vor über einem Jahrzehnt dem Fach die Leviten gelesen. Die Monita gelten teilweise noch heute, mag auch der eine oder andere Fortschritt zu verzeichnen sein: Die Politikwissenschaft „muss sich die Frage gefallen lassen, wie präsent sie in den politischen Diskursen des Landes ist; was sie an [<<8||9>>] Erkenntnis in die Diskurse einzubringen hat. Und muss sich, wenn diese Frage gestellt ist, wohl sagen lassen: Politikwissenschaft in Deutschland – das ist, alles in allem, eine Veranstaltung um ihrer selbst willen; ein Fach, das ängstlich und angestrengt darum bemüht ist, sich selbst von seiner Wissenschaftlichkeit zu überzeugen. Politikwissenschaftler schreiben für Politikwissenschaftler, Politikwissenschaftler werden von Politikwissenschaftlern gelesen, die Zunft produziert für die Zunft – viel mehr ist leider nicht zu vermelden."⁶ Peter Graf Kielmansegg hat diesen Defiziten durch sein wissenschaftlich ertragreiches wie öffentliches Engagement entgegenzusteuern gewusst, und nicht nur er.

    So spürte Franz Walter mit zwei Mitarbeitern dem Phänomen „Pegida" in einer brandaktuellen Studie vom März 2015 facettenreich nach: essayartig, empirisch, analytisch, deskriptiv, auch bewertend, keine sechs Monate nach dem Beginn der ersten Demonstration.⁷ Frank Decker, Jürgen W. Falter, Karl-Rudolf Korte, Claus Leggewie, Werner Patzelt, um nur einige politikwissenschaftliche Kollegen aus dem Bereich der (vergleichenden) Regierungslehre zu nennen, schrecken ebenso nicht vor Urteilen bei „heißen Eisen zurück. Auch Ulrich von Alemann, Florian Grotz, Wolfgang Merkel, Manfred G. Schmidt und Roland Sturm sind im politischen Diskurs gefragt. Der Verfasser hat solche Beiträge ausgesucht, die eben nicht in erster Linie für die „Zunft bestimmt waren, sondern auf ein breiteres öffentliches Interesse hoffen durften. Ob das gelungen ist, mögen andere entscheiden.

    Drei Komplexe stehen neben einem Exkurs über Promotionen im Vordergrund: Politikwissenschaft – Extremismus und Demokratie – Parteien und Wahlen. Dadurch entfielen Beiträge zur deutschen Einheit – ein Themenfeld, das mir am Herzen liegt.⁸ Das Thema meiner Antritts- wie das meiner Abschiedsvorlesung betraf jeweils die DDR.⁹ Geboren in der Ringelnatzstadt Wurzen, habe ich die ersten zehn Jahre meines Lebens in der Leipziger Region zugebracht. Insofern war das frühe Interesse für die DDR wohl lebensgeschichtlich bedingt.¹⁰ Lange vor 1989/90 wandte ich mich DDR-Themen [<<9||10>>] zu, so einem deutsch-deutschen Systemvergleich, der meine Skepsis gegenüber einer systemimmanenten Vorgehensweise verdeutlicht,¹¹ der „Totalitarismus-Doktrin aus DDR-Sicht, den (Pseudo-)Wahlen oder der Volkskammer.¹² Der Tenor entsprach nicht dem Zeitgeist. Auch die eng mit der Teilung verbundene deutsche Frage ließ mich bereits vor den Schlüsseljahren 1989 und 1990 nicht los, wenngleich der „deutsche Taumel (Brigitte Sauzay), den das Ausland überschätzt hatte, an mir vorüberging. Ich gehörte – als „Westler – zu den Gegnern einer Vereinigung unter neutralen Vorzeichen,¹³ nicht zu den Gegnern einer deutschen Einheit unter den Vorzeichen der Westbindung, wohl aber zu den (eher wenigen) Befürwortern des NATO-Doppelbeschlusses. Meine Sympathie galt keineswegs Franz Alt, dem irrlichternden Bestsellerautor, sondern Manfred Hättich, seinem rational argumentierenden Kritiker, einem Verantwortungsethiker.¹⁴ Die Phantasie fehlte für die Vorstellung, die Sowjetunion werde die DDR aus ihrem Machtbereich entlassen. Noch immer ist unklar, wieso Michail Gorbatschow nicht auf die „deutsche Karte gesetzt und eine Neutralisierung Deutschlands propagiert hat.¹⁵

    Jede Form des dritten Weges war und ist mir suspekt.¹⁶ Der demokratische Verfassungsstaat, die Marktwirtschaft und die Westbindung müssen unverbrüchlich gelten. [<<10||11>>] Oft kreisen die schillernden dritten Wege nur um Ziele, deren Urheber von utopischen oder unausgegorenen Gedankengängen (je nach Perspektive) geleitet sind. Da sie niemals in der politischen Wirklichkeit bestehen mussten, ist es einfach, sie gegen die schnöde Praxis des ersten oder des zweiten Weges auszuspielen.

    Einer Versuchung bin ich nicht erlegen: Kein Beitrag wurde nachträglich aktualisiert oder anderweitig verändert, um jeden Eindruck von Besserwisserei, Rechthaberei und rückwärtsgewandter Prophetie zu vermeiden. So tauchen manche Irrtümer auf – den „Absturz der FDP etwa habe ich nicht wahrhaben wollen. Und den demokratischen Parteien hätte ich mit Blick auf das NPD-Verbotsverfahren nicht nur mehr Vernunft gewünscht, sondern auch mehr zugetraut. Politikwissenschaft ist ohnehin keine Disziplin, deren Stärke in der Prognosekraft liegt, ob man an die Studentenbewegung, den Zusammenbruch des Ostblocks, das Aufkommen des Islamismus oder die „Arabellion denkt.

    Formale Vereinheitlichungen, etwa bei der Zitierweise, erschienen unumgänglich. Manche Überschneidung hat den Vorteil, dass der Leser erkennt, welche Aspekte dem Autor besonders am Herzen liegen, etwa die Revision des deutschen Wahlrechts in einigen wesentlichen Punkten, um zu größerer Transparenz zu gelangen. Der mit Fragen versehene Vorspann zu jedem Text soll neugierig machen und dessen Kern benennen.

    Es möge nicht selbstbespiegelnd wirken: Nach der friedlichen Revolution empfand ich es gleichsam als eine Verpflichtung, an der TU Chemnitz in Ringvorlesungen Oppositionellen von einst, die mittlerweile, nach dem Ende der Diktatur, deren Ablehnung sie einte, keineswegs mehr gleiche Positionen vertraten, ein Forum zu geben (mit Blick auf die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft). Sie nutzten die Gelegenheit, der kritischen Öffentlichkeit Rede und Antwort zu stehen.¹⁷ Der gebürtige Sachse hätte „so etwas" vor 1990 nicht für möglich erachtet. Aber das bedeutet keineswegs den Verzicht auf Kritik an den Positionen von Bürgerrechtlern.¹⁸

    Die Einleitung zu einem von Armin Mitter und mir herausgegebenen Sammelwerk zur deutschen Einheit – eines der ersten seiner Art – verweist als Tag des Abschlusses auf den 18. März 1992¹⁹, die zu dem Band „Eine normale Republik?" auf [<<11||12>>] den 18. März 2012.²⁰ Diese Einleitung ist am 18. März 2015 beendet worden, genau 25 Jahre nach der ersten und letzten demokratischen Wahl zur Volkskammer, die den Weg zur deutschen Einheit geebnet hat. Bis jetzt fehlt eine große Studie zu diesem frei gewählten Parlament, im Gegensatz zur bestens dokumentierten Tätigkeit des Zentralen Runden Tisches durch Uwe Thaysen.²¹ Das stellt der Politikwissenschaft – und der Geschichtswissenschaft – kein gutes Zeugnis aus.²²

    2.Inhalt

    Dieser Band umfasst (ohne die kleinen Texte im Exkurs) 24 Beiträge zu den drei erwähnten Komplexen. „Extremismus nimmt ebenso wie „Parteien mehr Platz ein als „Demokratie und „Wahlen, wobei die Analyse eines extremistischen Phänomens zugleich die demokratische Komponente einschließt und die Analyse von Parteien kaum angängig ist, ohne deren Abschneiden bei Wahlen kritisch zu würdigen. Zudem: Trennscharfe Grenzen zwischen den beiden letzten Kategorien sind nicht immer möglich. Abhandlungen über extremistische Parteien könnten in der einen wie in der anderen Rubrik Aufnahme finden.

    Die ersten fünf Beiträge analysieren höchst unterschiedliche Aspekte zur Politikwissenschaft, einer in Deutschland jungen Disziplin. Ich war während meines Studiums in der ersten Hälfte der 1970er Jahre an der Freien Universität Berlin über das dortige Tohuwabohu perplex. Das Otto-Suhr-Institut galt seinerzeit als Hochburg der hiesigen Politikwissenschaft. Mich hatte mehr der damals längst emeritierte Ernst Fraenkel geprägt, den ich 1974 bis zu seinem Tode im Frühjahr 1975 regelmäßig aufsuchen durfte, wobei das Engagement von Hannelore Horn, Hartmut Jäckel, Alexander Schwan, Gesine Schwan, Helmut Wagner und Heinrich August Winkler gegen die teils unzumutbaren Zustände beeindruckend war. Der Pluralismustheoretiker Fraenkel²³, dessen Schriften nun vollständig vorliegen²⁴, zeigte sich von den wenig pluralistischen Verhältnissen an dem Institut, an dem er lange, von Anfang der 1950er bis Ende der 1960er Jahre, gelehrt [<<12||13>>] hatte, milde formuliert, wenig angetan.²⁵ Der erste Satz meiner allerersten Rezension lautete: „Der geistige Klimawandel, der sich in den letzten Jahren (nicht nur im Bereich der Politikwissenschaft) vollzogen hat, offenbart sich auf exemplarische Weise an der Kritik der Pluralismustheorie, die das rivalisierende Mit-, Neben- und Gegeneinander einer Vielzahl von Interessen nicht perhorresziert, sondern als unabdingbar erachtet."²⁶

    Der ersten Generation der deutschen Politikwissenschaft, überwiegend aus der inneren oder äußeren Emigration stammend, gehörten somit keine ausgebildeten Politikwissenschaftler an. Gleichwohl wirkten einige von ihnen schulbildend, so etwa Wolfgang Abendroth in Marburg, Arnold Bergstraesser in Freiburg, Ferdinand A. Hermens in Köln. Ihre Leistungen als „Generalisten und als „Demokratiewissenschaftler sind oft unterschätzt worden. Der gemeinsam mit Sebastian Liebold verfasste Beitrag über Trends, Herausforderungen und Perspektiven in der deutschen Politikwissenschaft verweist auf die Gefahr des Identitätsverlustes des Faches. Es bedarf mehr gesellschaftlich relevanter Synthesen, weniger spezialistisch-kleinteiliger Studien zu marginalen Themen. Der Essay über den Doyen der deutschen Politikwissenschaft, Theodor Eschenburg, ist eine scharfe Reaktion auf die Entscheidung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, den nach dem Tübinger Gelehrten benannten Preis für ein wissenschaftliches Lebenswerk nicht mehr zu verleihen. Die Kontroverse dauert an, ein Ende ist nicht in Sicht.²⁷ Claus Leggewie spricht in seinen Erinnerungen jüngst „salomonisch davon, das Votum der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, den Preis abzuschaffen, sei „überkorrekt, die Verteidigung Eschenburgs durch manche seiner Schüler „überempathisch".²⁸ Ob es mit dieser vage-vorsichtigen Aussage sein Bewenden haben kann?²⁹ Die Porträts zu dem über 90-jährigen Bonner Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und zu dessen über 80-jährigen Nachfolger Hans-Peter Schwarz sind nicht nur in der Struktur gleich angelegt, sondern die beiden herausragenden Wissenschaftler weisen auch ein ähnliches wissenschaftliches Profil auf, allein schon durch ihre starke geschichtswissenschaftliche Orientierung.³⁰ Konzentrierte sich Bracher stärker auf die Zeit vor 1945, so lag der Schwerpunkt der Forschungen von Schwarz nach 1945. Bei Bracher dominierte, anders als bei Schwarz, die strukturelle Komponente die [<<13||14>>] biographische. Es ist ein beklagenswerter Umstand: Die heutige Politikwissenschaft hat sich von ihren Ursprüngen gelöst, gerade mit Blick auf ihre historische Dimension.

    Der zweite Teil ist mit neun Abhandlungen dem Komplex „Extremismus und Demokratie" gewidmet, so gleichfalls der Titel des vom Verfasser herausgegebenen Jahrbuches³¹, zunächst mit Uwe Backes, ab Band 21 (2009) zudem mit Alexander Gallus. In den Beiträgen soll der rote Faden erkennbar sein: einerseits der strikte antiextremistische Ansatz, der auf Äquidistanz gegenüber jedweder extremistischen Variante fußt, einer Gleichsetzung der Extremismen jedoch keineswegs das Wort redet, auch nicht durch Vergleiche³²; andererseits der konsequente Demokratieschutz, der auf liberalen Prinzipien fußt, nicht auf repressiven. Kritik an der normativen Extremismusforschung ist wie die Kritik an der Konzeption der streitbaren Demokratie möglich und nötig, doch sollte sie keinen Popanz aufbauen.³³ Wer dies tut, betreibt Donquichotterie.

    Der Aufsatz über den gleichsam ubiquitären „Antifaschismus in der DDR bei Genossen, der Masse und den wenigen Dissidenten beleuchtet einen schillernden Begriff, der selbst für Anhänger des demokratischen Verfassungsstaates positiv konnotiert ist, ohne dass diese immer die Gefahr einer „Antifaschismusfalle wahrnehmen. Den Erkenntnisgewinn des Terminus „extremistische Parteien" hingegen in Zweifel zu ziehen, ist unangebracht, weil die Forschung sonst auf einen Ansatz verzichtete, der weithin vernachlässigte Aspekte zur Sprache bringt, wie im nächsten Beitrag verdeutlicht.³⁴ Dass die normative Extremismusforschung entgegen verbreiteten Unterstellungen keineswegs rechts und links außen gleichsetzt, sondern Intensitätsgrade unterscheidet, erhellt der Aufsatz über eine harte (NPD) und eine weiche (Die Linke) Form des Extremismus, und zwar am Beispiel der für die Parteienforschung wichtigen Kategorien Ideologie, Organisation, Strategie.³⁵ Es mutet paradox an: Gerade die Richtung, die das antithetische Begriffspaar von Extremismus und Demokratie negiert, lehnt Abstufungen innerhalb des Extremismus als [<<14||15>>] untauglich ab.³⁶ Wie nicht nur die Analyse über die NPD anlässlich der Bundestagswahl 2009 belegt, ist diese weitaus entfernter vom demokratischen Verfassungsstaat als die Partei Die Linke – und vielleicht deswegen auch weitaus weniger erfolgreich.³⁷ Wer das neuerliche Verbotsverfahren gegen die 1964 ins Leben gerufene, moralisch erledigte und politisch gescheiterte NPD entschieden verwirft, will diese Partei nicht verteidigen, wohl aber das Konzept der streitbaren Demokratie, dessen jakobinische Interpretation („keine Freiheit für die Feinde der Freiheit) die Demokratie nicht stärkt, sondern schwächt. Das Motto des Verfassers: Verbot: kein Gebot, Gebot: kein Verbot. Die Verteidigung der streitbaren Demokratie setzt sich zum einen mit der plumpen – antifaschistischen – Kritik Wolfgang Wippermanns auseinander, zum andern mit der differenzierten – wertrelativistischen – Kritik Claus Leggewies und Horst Meiers.³⁸ Deren Konzept, so schlüssig es ausfällt, lässt außer Acht: Extremismus erschöpft sich nicht in propagierter oder praktizierter Gewalt.³⁹ Extremisten – den Gebrauch dieses als ideologisch angesehenen Terminus lehnen die Autoren ab – von rechts und links außen bedienen sich vielfältiger Feindbilder, gegenläufiger wie analoger. Deren Intensität sagt etwas über das Ausmaß der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates aus. Dessen Anhänger sollten Feindbilder vermeiden, auch und gerade in der Auseinandersetzung mit Feinden des demokratischen Verfassungsstaates – aus Gründen der Glaubwürdigkeit und der Überzeugungsfähigkeit. Das ist eine Quintessenz des Textes über Feindbilder. Die beiden Aufsätze über terroristische Strukturen in Vergangenheit und Gegenwart sowie über extremistische Einstellungsmuster sind weit voneinander entfernt – und doch nahe benachbart. Es geht jeweils um höchst unterschiedliche Formen des Extremismus, aber ausschließlich um dessen rechte Variante. Der von Mythen umrankte „Nationalsozialistische Untergrund⁴⁰ war keine „Braune Armee Fraktion, und die Studien einer Leipziger Forschergruppe entlarven unaufhörlich den verwirrend interpretierten „Extremismus der Mitte⁴¹, wobei sie, wie viele andere, diesen nur „rechts" orten und mit Alarmismus nicht sparen.⁴²

    [<<15||16>>] Der dritte Teil umfasst zehn Abhandlungen zu „Parteien und Wahlen".⁴³ Misstrauen ruft bei mir hervor, wer die demokratischen Spielregeln als „formal" abtut und nicht bereit ist, den Wert von Wahlen als Ausdruck der politischen Willensbildung anzuerkennen. Die Art des Wahlsystems legitimiert den Verfassungsstaat.⁴⁴ Mag Kritik an Auswüchsen der Parteiendemokratie noch so berechtigt sein: Bessere demokratische Alternativen – diese Banalität kann nicht oft genug betont werden – gibt es nicht. Weder ein Ständestaat noch ein Rätestaat ist in der Lage, den auf Parteien basierenden demokratischen Verfassungsstaat zu ersetzen, der im Bund erst einen einzigen ungefilterten Regierungswechsel – 1998 – erfahren hat.

    Die ersten beiden Aufsätze, jeweils stark lexikalisch strukturiert, erörtern zum einen das buntscheckige Parteiensystem im autoritären Kaiserreich und in der demokratischen Weimarer Republik, zum anderen das einförmige „Parteiensystem in der undemokratischen Deutschen Demokratischen Republik. In den drei Systemen, so unterschiedlich sie auch waren, nahmen die Parteien keinen zentralen Rang in der politischen Wirklichkeit ein, mit Ausnahme der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die in der DDR die Suprematie besaß. Die Haltung der SPD, die in der Vergangenheit offen oder verdeckt antidemokratische Positionen stets bekämpft hatte, zur PDS, der Linkspartei und der Partei Die Linke steht danach auf dem Prüfstand, und zwar unter der doppelten Kernfrage: Rückt die SPD von einstigen Positionen ab? Ist ein Wandel angemessen? Das in anderer Hinsicht mitunter gespannte Verhältnis zweier „bürgerlicher Parteien – der Union auf der einen, der FDP auf der anderen Seite – gerät im nächsten Beitrag ins Zentrum. Lange galt ein solches Bündnis gleichsam als selbstverständlich, doch durch die jetzige Vielfalt des Parteiensystems und durch die Krise der Liberalen sind in der deutschen Koalitionsdemokratie⁴⁵ andere Konstellationen möglich geworden – und wohl nötig.⁴⁶ Das Anwachsen der Parteienzahl im Bundestag – 1983 durch die Grünen, 1990 durch die PDS und 2017 vielleicht durch die Alternative für Deutschland – ist vor dem Hintergrund der in der Bundesrepublik Deutschland praktizierten Verhältniswahl erfolgt. Wie die Abhandlung über „Verhältniswahl und Gerechtigkeit belegt, ist Gerechtigkeit in diesem Umfeld ein schillernder Begriff: „Gerechtigkeit durch die Wahl des Parlaments deckt sich nicht mit „Gerechtigkeit durch die Wahl der Regierung". Zwar erscheint eine große Reform im Sinne eines Übergangs zur Mehrheitswahl keineswegs vonnöten, hingegen die eine oder andere kleine Reform: die Modifikation der Fünfprozentklausel und die Abschaffung des Zweitstimmensystems etwa. Seit Jahrzehnten engagiere ich mich dafür. Die beiden Aufsätze zum [<<16||17>>] Ausgang der Bundestagswahlen 2009 und 2013 analysieren Koalitionskonstellationen wie Perspektiven des Parteiensystems. Das beste Ergebnis der FDP (2009) erklärt sich auch mit dem damaligen Wahlsystem (keine Verrechnung von Überhangmandaten), ihr schwächstes (2013) mit dem jetzigen (Kompensation von Überhangmandaten). Sollten die Parteien immer weniger gewillt sein, vor der Wahl im Bund und in den Ländern⁴⁷ ihre Koalitionsoptionen bekanntzugeben, verlöre das Wählervotum massiv an Einfluss. Die Linke hat 2013 zwar gegenüber der Bundestagswahl 2009 3,2 Prozentpunkte verloren, doch konnte sie – die stärkste Oppositionskraft – zum ersten Mal den dritten Platz erobern. Wie nach der Bundestagswahl 2005 gelang es ihr, sowohl eine „bürgerliche als auch eine rot-grüne Regierung zu blockieren. Heute will kaum einer seine Vorhersagen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre wahrhaben, als das parlamentarische Ende der PDS auf Bundesebene zu nahen schien. Nicht nur der Verfasser dieser Zeilen war davon überzeugt. Hingegen vermochte sich damals keiner das Ende der FDP in der Bundespolitik vorzustellen. Nun ist das Eintreten eines solchen Szenarios möglich, wiewohl nicht zwingend. Ein Essay verdeutlicht, warum es gute Gründe gibt, auf eine Revitalisierung des Liberalismus zu hoffen. Wir brauchen, pointiert formuliert, „weniger Staat! Kritik am „Steuerstaat und am „Umverteilungsstaat ist ein Alleinstellungsmerkmal der Liberalen. Die Kennzeichnung der Bundesrepublik Deutschland unabhängig von der jeweiligen Regierungskonstellation als „Staat der Großen Koalition (Manfred G. Schmidt) stimmt. Der Sachverhalt verdient gleichwohl eine ambivalente Würdigung: Zum einen ist dies ein positives Zeichen für politische Mäßigung (zumal in einem Land, das im 20. Jahrhundert vier Systemwechsel erlebt hat⁴⁸), zum anderen ein negatives, weil konsensuelle Prozeduren nötigen Wandel erschweren. Regierungswechsel wirken sich durch vielfältige verhandlungsdemokratische Mechanismen zu wenig auf die Policy-Ebene aus. Allerdings sind in den letzten Jahren „rapide Politikwechsel⁴⁹ eingetreten: Die abrupte Wende in der Energiepolitik ist dafür prototypisch.

    Im „Exkurs: Hinweise zur Promotion" sind vier kürzere Texte aufgenommen, die nicht recht zu den bisherigen Themen passen. Was hat es damit auf sich? Es war mir seit jeher ein Bedürfnis, eigene Erkenntnisse an andere weiterzugeben. Die Artikel sind Anregungen für junge Wissenschaftler, nicht mehr, nicht weniger. Dass die Mehrheit der Promovenden das dritte Lebensjahrzehnt bei Abgabe ihrer Doktorarbeit überschritten hat, ist ebenso ein Missstand wie die hohe Zahl der Abbrecher. Diese Defizite, [<<17||18>>] die aus vielen Ursachen resultieren, gehen auch auf mangelnde Betreuung zurück. Ein damit zusammenhängendes Problem: Der „Fall Guttenberg, der zu Guttenbergs Fall ausgelöst hat, führte der Öffentlichkeit das Plagiats-„Unwesen vor Augen.

    Die zehn „goldenen Regeln für Promovenden sind wie die zehn „goldenen Regeln für Doktorväter und -mütter bei aller Ernsthaftigkeit nicht frei von leiser Ironie. Der Titel deutet darauf hin, ebenso die jeweils letzte „Regel. Im Laufe der Jahre ist mir zunehmend aufgefallen, manche Studie droht an bloß strukturellen und sprachlichen Problemen zu scheitern. Daraus sind zehn – strukturelle und sprachliche – Anregungen entstanden. Ein unklarer Ausdruck ist oft Ausdruck unklarer Gedanken. Klarer Ausdruck setzt meist klare Gedanken voraus. Wer einen schwierigen Sachverhalt durchdrungen hat, kann ihn einfach wiedergeben (nicht: vereinfacht). Die Kritik an der in den letzten Jahren aufgekommenen „Verschulung will belegen, wie wichtig die Verantwortung und das Vertrauen eines Betreuers für das Gelingen einer Promotion ist. Gleiches gilt für Verantwortung und Vertrauen bei den Promovenden. Ich habe niemals eine „Betreuungsvereinbarung" unterschrieben, und ich habe nicht vor, dies jemals zu tun. Bereits hier fängt die für Betreuer und Betreute unwürdige Reglementierung an. Im Promotionswesen liegt an deutschen Universitäten vieles im Argen. Mögen meine Hinweise eine kleine Hilfe für Doktoranden bedeuten. Selbstverständlich bin ich mir der verschiedenen Wissenschaftskulturen bewusst, weswegen eine Promotion in Chemie anderer Regularien bedarf als eine im Fach Politikwissenschaft.

    Seit nunmehr 25 Jahren führe ich mindestens zweimal jährlich dreitägige Doktorandenkreise durch, zuweilen ergänzt durch einwöchige Treffen: oft im Ausland, in Italien, auch in Litauen und Polen. Die Betreuung leistungswilliger junger Menschen in einer Atmosphäre der Liberalität beglückt. Wer meine Vorliebe für Kritik in jeder Form kennt, weiß nur zu gut: Die Teilnahme an Rezensionswettbewerben bedeutet eine „freiwillige Pflicht". Niemals war es mein Ziel, Doktoranden und Habilitanden dogmatisch auf eine spezifische – wissenschaftliche oder gar politische – Position festzulegen (deren Publikationen sprechen ohnehin für sich), wobei die Akzeptanz des Verfassungsbogens, das läuft nicht auf eine Apologie des juste milieu hinaus, für einen Demokratieforscher selbstverständlich ist.

    Einer meiner Lieblingssätze: Politikwissenschaft ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Mit Freude habe ich die späteren beruflichen Fortschritte vieler „Schüler – und „Schülerinnen – verfolgt. Damit der Kontakt nicht abreißt, finden Jahr für Jahr – stets im Sommer, immer an einem anderen Ort – Treffen mit den „doctores und ihren Partnern statt. Im Vordergrund steht weniger der wissenschaftliche Gedankenaustausch, mehr das persönliche Gespräch. Nicht nur das legendäre „Mafia-Spiel stellt die Nähe zwischen Doktoranden- und Doktorenkreisen dar. Die Zusammenarbeit mit meinen „Schülern" war und ist mir nie Last, sondern bereitet mir Lust, selten Frust. Ihnen ist dieser Band gewidmet. [<<18||19>>]

    1Vgl. Eckhard Jesse, Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen, hrsg. von Uwe Backes und Alexander Gallus, Köln u. a. 2008.

    2Vgl. ders., Diktaturen in Deutschland. Diagnosen und Analysen, Baden-Baden 2008.

    3Vgl. etwa nach (traurigen oder erfreulichen) Jubiläen, wenn der Bücherberg anschwillt: Dreißig Jahre nach dem sogenannten „deutschen Herbst", in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 20, Baden-Baden 2008, S. 279–303; Friedliche Revolution – Deutsche Einheit – Vereinigtes Deutschland?, in: Politische Vierteljahresschrift 52 (2011), S. 437–555; Der Bau der Mauer vor 50 Jahren, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 24, Baden-Baden 2012, S. 265–284.

    4Vgl. etwa am Beispiel dreier Bücher von Hans Herbert von Arnim, Frank Decker und Karl Dietrich Bracher: „Volksparteien ohne Volk, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 19 (2009), S. 421–436; Frank Deckers „Architektur der deutschen Politik: fulminanter Entwurf mit einigen Baulücken, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 42 (2011), S. 436–444; Demokratie versus Diktatur: Karl Dietrich Brachers „Zeitgeschichtliche Kontroversen", in: INDES 3 (2014), Heft 4, S. 153–158.

    5Vgl. Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hrsg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014.

    6 So Peter Graf Kielmansegg, Notizen zu einer anderen Politikwissenschaft. Über Wilhelm Hennis’ politikwissenschaftliche Abhandlungen, in: Merkur 55 (2001), S. 436.

    7 Vgl. Lars Geiges/Stine Marg/Franz Walter, Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015.

    8 Vgl. Eckhard Jesse, Die Verfassungsfrage: neue Konstitution oder „Anschluss"?, in: Andreas Apelt/Robert Grünbaum/Martin Gutzeit (Hrsg.), Der Weg zur Deutschen Einheit. Mythen und Legenden, Berlin 2010, S. 171–187; Die deutsche Demokratie 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, in: Hans-Joachim Veen/Peter März/Franz-Josef Schlichting (Hrsg.), Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus, Köln u. a. 2010, S. 31–43; 20 Jahre Deutsche Einheit. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, in: MUT 45 (2010), Heft 10, S. 24–41; Die demokratische Konsolidierung der neuen Bundesländer, in: Clemens Vollnhals (Hrsg.), Jahre des Umbruchs. Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa, Göttingen 2011, S. 345–360; 1945 – 1949 – 1955 – 1968 – 1989 – 1990?, in: Einsichten und Perspektiven Heft 3/2012, S. 202–227.

    9 Vgl. ders., War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40/1994, S. 12–23; Das Ende der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 34–35/2015.

    10Ders., Ostdeutsche Identität im Westen und Entscheidung für die Politikwissenschaft, in: Andreas Apelt (Hrsg.), Neuanfang im Westen. Zeitzeugen berichten – 1949–1989, Halle (Saale) 2013, S. 40–45.

    11Vgl. ders. (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich (1980), 4. erw. Aufl., Berlin 1985.

    12Vgl. ders., Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland – ein Vergleich, in: Jürgen Weber (Hrsg.), DDR – Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zu einer vergleichenden Analyse ihrer politischen Systeme, München 1980, S. 191–212; Die „Totalitarismus-Doktrin" aus DDR-Sicht, in: Konrad Löw (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988, S. 63–87; Die Volkskammer der DDR. Befugnisse und Verfahren nach Verfassung und politischer Praxis, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Berlin 1989, S. 1817–1840.

    13Vgl. ders. (Hrsg.), Renaissance der deutschen Frage?, Stuttgart 1987; Die deutsche Frage rediviva, in: Deutschland Archiv 17 (1984), S. 397–414; Die (Pseudo-)Aktualität der deutschen Frage – ein publizistisches, kein politisches Phänomen, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Die deutsche Frage in der Weltpolitik, Stuttgart 1986, S. 51–68; Das SPD/SED-Papier – Dokument von weitreichender Bedeutung (mit Jutta Ludwig), in: Deutsche Studien 26 (1988), S. 284–300; Der „dritte Weg" in der deutschen Frage. Über die Aktualität, Problematik und Randständigkeit einer deutschlandpolitischen Position, in: Deutschland Archiv 22 (1989), S. 543–559; 40 Jahre deutsch-deutsche Beziehungen. Gibt es eine deutsche Nation?, in: Politik und Kultur 16 (1989), Heft 3, S. 29–35; The German Question. Anglo-American, French and West German Perspectives, in: West German Politics 12 (1989), S. 143–150.

    14Vgl. Franz Alt, Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt, München 1983; Manfred Hättich, Weltfrieden durch Friedfertigkeit. Eine Antwort auf Franz Alt, München 1983.

    15Vgl. etwa Stefan Karner u. a., Der Kreml und die „Wende" 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente, Innsbruck u. a. 2014.

    16Vgl. beispielsweise Eckhard Jesse, Oppositionelle Bestrebungen in der DDR der achtziger Jahre. Dominanz des dritten Weges?, in: Karl Eckart/Jens Hacker/Siegfried Mampel (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998, S. 98–101; Die Bundesrepublik Deutschland zwischen drittem Weg und Westbindung. Die Beispiele des „Historikerstreits und der „deutschen Frage, in: Peter März (Hrsg.), Die zweite gesamtdeutsche Demokratie. Ereignisse und Entwicklungslinien. Bilanzierungen und Perspektiven, München 2001, S. 65–76; Alexander Gallus/ders., Was sind dritte Wege? Eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B. 16–17/2001, S. 6–15.

    17Vgl. ders., Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz (2000), 2. Aufl., Berlin 2001; ders. (Hrsg.), Friedliche Revolution und deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin 2006; ders./Thomas Schubert (Hrsg.), Zwischen Konfrontation und Konzession. Friedliche Revolution und deutsche Einheit in Sachsen, Berlin 2010; dies. (Hrsg.), Friedliche Revolution und Demokratie. Perspektiven nach 25 Jahren, Berlin 2015.

    18Vgl. u. a. ders., Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt a. M. 1995, S. 987–1030; ders., Die DDR-Opposition seit Mitte der siebziger Jahre, in: Hans-Joachim Veen/Ulrich Mählert/Peter März (Hrsg.), Wechselwirkungen Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975–1989, Köln u. a. 2007; S. 65–77; ders., Haben die Bürgerrechtler gesiegt?, in: Tilman Mayer (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, Berlin 2010, S. 29–38.

    19Vgl. Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte – Politik – Gesellschaft, Bonn/Berlin 1992.

    20Vgl. Eckhard Jesse (Hrsg.), Eine normale Republik? Geschichte – Politik – Gesellschaft im vereinigten Deutschland, München/Baden-Baden 2012.

    21Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 2000; ders. (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, 5 Bde., Wiesbaden 2000.

    22Die ausgezeichnete Fallstudie von Hans Michael Kloth (Vom „Zettelfalten zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage, Berlin 2000) erfasst nur einen Ausschnitt der Arbeit der Volkskammer.

    23Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (1964), 9. Aufl., hrsg. von Alexander von Brünneck, Baden-Baden 2011; Hans Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland. Entstehung, Kritik, Perspektiven, Leverkusen 1977.

    24Vgl. ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1–Bd. 6, hrsg. von Alexander von Brünneck, Hubertus Buchstein und Gerhard Göhler, Baden-Baden 1999–2011.

    25Vgl. Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt a. M. 2009, S. 32–325.

    26Eckhard Jesse, Ernst Fraenkels Beiträge zur Pluralismus-Diskussion, in: Das Parlament v. 9. März 1974, S. 11.

    27Vgl. auf der einen Seite Udo Wengst, Theodor Eschenburg. Biographie einer politischen Leitfigur 1904–1999, Berlin u. a. 2015; auf der anderen Seite Anne Rohstock, Vom Anti-Parlamentarier zum „kalten Arisierer" jüdischer Unternehmen in Europa. Theodor Eschenburg in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2015), S. 33–58.

    28Claus Leggewie, Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie, München 2015, S. 312.

    29Vgl. demnächst den Beitrag des Verfassers: Die Kontroverse über Theodor Eschenburg, in: Zeitschrift für Politik 62 (2015), Heft 4.

    30Die 2007 mit Frank-Lothar Kroll ins Leben gerufene Buchreihe „Chemnitzer Beiträge zu Politik und Geschichte" umfasst mittlerweile 12 Titel.

    31Die Anfang der 1990er Jahre mit Uwe Backes ins Leben gerufene Buchreihe „Extremismus und Demokratie" umfasst mittlerweile 30 Titel.

    32Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005.

    33Vgl. etwa Christoph Kopke/Lars Rensmann, Die Extremismus-Formel. Zur politischen Karriere einer wissenschaftlichen Ideologie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 45 (2000), S. 1451–1462; Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hrsg.), Ordnung, Macht, Extremismus, Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden 2011; Jan Ackermann u. a., Metamorphosen des Extremismusbegriffes. Diskursanalytische Untersuchungen zur Dynamik einer funktionalen Unzulänglichkeit, Wiesbaden 2015. Hier wird Uwe Backes und Eckhard Jesse der – nicht selbstironische – Gebrauch des pejorativ konnotierten Terminus der „Extremismus-Formel" unterstellt, obwohl dieser doch von Kopke und Rensmann stammt. Siehe Tino Hein/Patrick Wöhrle, Politische Grenzmarkierungen im flexiblen Normalismus, in: Ebd., S. 14.

    34Eine Gegenposition verficht Richard Stöss, „Extremistische Parteien" – Worin besteht der Erkenntnisgewinn?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 47/2008, S. 3–7.

    35Eine Ausweitung des differenzierten Extremismusbegriffs hat jüngst vorgelegt: Armin Pfahl-Traughber, Das Zehn-Stufen-Modell der „Extremismusintensität". Kategorien zur Analyse und Einordnung politischer Bestrebungen, in: Ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2014 (I), Brühl 2014, S. 7–36.

    36Vgl. beispielsweise Richard Stöss, Zum „differenzierten Extremismusbegriff" von Eckhard Jesse, in: Alexander Gallus/Thomas Schubert/Tom Thieme (Hrsg.), Deutsche Kontroversen. Festschrift für Eckhard Jesse, Baden-Baden 2013, S. 169–183.

    37Vgl. Marc Brandstetter, Die NPD unter Udo Voigt. Organisation. Ideologie. Strategie, Baden-Baden 2013.

    38Vgl. Claus Leggewie/Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, Reinbek bei Hamburg 1995. Siehe kritisch dazu Eckhard Jesse, Der Streit um die streitbare Demokratie. Fundamentalkritik an der Schutzkonzeption des Grundgesetzes und an der Praxis, in: Politische Vierteljahresschrift 38 (1997), S. 577–583.

    39Vgl. zuletzt Horst Meier, Verbot der NPD – ein deutsches Staatstheater in zwei Akten. Analysen und Kritik 2001–2014, Berlin 2015.

    40Die beste (nicht in jeder Hinsicht gute) Studie stammt von Stefan Aust/Dirk Laabs, Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014.

    41Siehe zuletzt Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Hrsg.), Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus, Gießen 2015.

    42Vgl. jetzt eine umfassende Studie, die linksextremistische Einstellungspotentiale unter die Lupe nimmt: Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder, Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie, Frankfurt a. M. 2015.

    43Die 2012 mit Roland Sturm ins Leben gerufene Buchreihe „Parteien und Wahlen" umfasst mittlerweile zehn Titel.

    44Vgl. Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen 1949–1983, Düsseldorf 1985.

    45Vgl. Frank Decker/Eckhard Jesse (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2013.

    46Vgl. Volker Kronenberg/Christoph Weckenbrock (Hrsg.), Schwarz-Grün. Die Debatte, Wiesbaden 2010.

    47Vgl. Volker Best, Koalitionssignale bei Landtagswahlen. Eine empirische Analyse von 1990 bis 2012, Baden-Baden 2015.

    48Vgl. Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90, 4. Aufl., Bonn 2013.

    49Vgl. Friedbert W. Rüb, Rapide Politikwechsel in der Demokratie. Grüne, Akteure, Dynamiken und Probleme, in: Jens Kersten/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Politikwechsel als Governanceproblem, Baden-Baden 2012, S. 15–44; ders. (Hrsg.), Rapide Politikwechsel in der Bundesrepublik. Theoretischer Rahmen und empirische Befunde (= Sonderheft der Zeitschrift für Politik 6), Baden-Baden 2014.

    TEIL 1: POLITIKWISSENSCHAFT

    Die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft

    Wer war die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft nach 1945? Zu ihr zählten „Einheimische wie Theodor Eschenburg, Michael Freund und Dolf Sternberger und „Ausgewanderte wie Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Eric Voegelin. Das oft abwertende Urteil über die „Generalisten – naturgemäß keine „gelernten Politikwissenschaftler – ist unangebracht, Ausdruck von Geschichtsvergessenheit. Wo kann die heutige Politikwissenschaft von der – zum Teil vergessenen – Gründergeneration des Faches lernen?

    1.Statt einer Einleitung: Der Streit um die Vergangenheit Theodor Eschenburgs

    In den letzten Jahren erregte eine erbittert geführte Kontroverse, die bis heute andauert, nicht nur die (politik)wissenschaftlichen Gemüter¹. Die Vergangenheit von Theodor Eschenburg, einem der Gründungsväter der deutschen Politikwissenschaft, steht auf der Agenda. Auslöser: Ein Aufsatz von Rainer Eisfeld, der Eschenburg, welcher der NSDAP nie beigetreten war, u. a. die Beteiligung an einer Kampagne gegen den linken Pazifisten Emil Gumbel sowie die Mitwirkung an einem „Arisierungsfall" 1938 vorwarf. Außerdem habe Eschenburg seine keineswegs ruhmreiche Vergangenheit nach 1945 nicht offenbart². Daraufhin gab die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) ein Gutachten in Auftrag, das zu dem Ergebnis kam, es sei sinnvoll, den nach Eschenburg benannten Preisnamen für ein großes wissenschaftliches Lebenswerk nicht mehr zu vergeben³. Claus Offe nahm den Preis auf dem wissenschaftlichen Kongress der DVPW 2012 – ausgerechnet in Tübingen – zwar entgegen, distanzierte sich aber in seiner Dankesrede vom Namensgeber. Weniger dessen Verhalten im Dritten Reich sei Anlass zur Klage als sein leisetreterisches Verhalten nach 1945, die eigene Vergangenheit betreffend⁴.

    Obwohl über 100 Professoren vornehmlich der Politikwissenschaft in einem „offenen Brief" davor warnten, die Benennung des Wissenschaftspreises zu ändern, beschloss der Vorstand der DVPW im Oktober 2013, den Lebenswerk-Preis ganz abzuschaffen. Eschenburg, nach eigener Lesart kein Held, hatte sich im Dritten Reich als Geschäftsführer von Industrieverbänden durchlaviert. Rechtfertigt das die Abschaffung des nach [<<21||22>>] ihm benannten Preis, den vor Claus Offe Gerhard Lehmbruch (2003), Helga Haftendorn (2006) und Wilhelm Hennis (2009) erhielten? Müssen Kritiker nicht die wissenschaftlichen und publizistischen Leistungen Eschenburgs als Gründungsprofessor 1952 im Fach Politikwissenschaft an der Universität Tübingen berücksichtigen, zumal dieser im Dritten Reich nichts geschrieben hatte? Ist das nicht ebenso eine Überreaktion, wie es Austritte früherer Vorsitzender der DVPW sind (Jürgen W. Falter, Gerhard Lehmbruch, Christine Landfried)? Eschenburg, eine Art „Praeceptor Germaniae", hatte nach Alexander Rüstow (1951–1956) als Zweiter den Vorsitz der DVPW übernommen (1956–1959) und maßgeblichen Anteil an der wahrlich nicht einfachen Etablierung des Faches im Wissenschaftsbetrieb sowie der Einführung des Politikunterrichtes in der Schule.

    Der Streit ist deswegen ein Politikum, weil es lange nahezu Common Sense war, die Politikwissenschaft sei im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen von der (braunen) Vergangenheit unbelastet. Sie verstand sich anfangs als „Demokratiewissenschaft" und galt als Neugründung. Im Zusammenhang mit Eschenburg gerieten weitere Autoren ins Kreuzfeuer der Kritik, so der Kieler Michael Freund⁵ und der Freiburger Arnold Bergstraesser. Auf dem erwähnten Kongress der DVPW 2012 kam es zu einer heftigen Fehde zwischen Hannah Bethke sowie Rainer Eisfeld auf der Seite der „Angreifer und Günter C. Behrmann sowie Gerhard Lehmbruch auf der Seite der „Verteidiger⁶. Die Debatte litt unter der Fixierung auf die „Vergangenheitspolitik. Was die (besagten) Nachkriegspolitologen geleistet oder nicht geleistet haben, blieb weithin unerörtert. Dieser Sachverhalt wäre für ein Gesamturteil wichtig gewesen. Bereits in den achtziger Jahren flammte eine Diskussion über mögliche Kontinuitätsstränge von der Weimarer Politikwissenschaft zur „Auslandswissenschaft im Dritten Reich und von dort zur Politikwissenschaft in der Bundesrepublik auf (herkömmliche Links-Rechts-Orientierungen spielten dabei keine Rolle). Sie erlosch aber rasch wieder⁷. Was auffällt: An der zeitweiligen Mitgliedschaft von Wolfgang Abendroth, Ossip K. Flechtheim und Richard Löwenthal in der KPD nahm keiner Anstoß.

    Der folgende Beitrag will an die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft erinnern. Wodurch zeichnete sie sich aus? Was waren ihre Leistungen, was ihre Schwächen? Zunächst geht es um die Entstehung der von „innen wie von „außen aufgebauten Politikwissenschaft nach 1945. Es folgt eine Charakterisierung der teils im Lande gebliebenen, [<<22||23>>] teils ins Ausland gegangenen Nestoren der ersten Generation sowie ein kurzer, keineswegs systematischer Vergleich zur heutigen Politikwissenschaft.

    2.Die Entstehung der deutschen Politikwissenschaft nach 1945

    Die Konferenz „Einführung der politischen Wissenschaften an den deutschen Universitäten und Hochschulen"⁸ im hessischen Waldleiningen am 10./11. September 1949 ging auf deutsche wie auf amerikanische Initiativen gleichermaßen zurück⁹. Eingeladen hatte das hessische Kultus- und Justizministerium. Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Karl Loewenstein und der hessische Kultusminister Erwin Stein waren die „starken Männer auf der Tagung. Die 99 Teilnehmer, davon 44 Professoren aus dem In- und Ausland, höhere Beamte aus den Ministerien wie bekannte Persönlichkeiten, verständigten sich mehrheitlich auf die Etablierung eines Universitätsfaches „Wissenschaft von der Politik (die Terminologie schwankte). Die Königsteiner Konferenz am 15./16. Juli 1950 mit diesmal 88 Teilnehmern – erneut dominierten Loewenstein und Stein – sprach sich für ein Fach „Wissenschaft von der Politik" an den Universitäten aus und begrüßte die Gründung einer Fachvereinigung. Sie folgte im Februar 1951, wiederum in Königstein. Es ist eine gewisse Paradoxie: auf der einen Seite Widerstände anderer Fächer, auf der anderen Seite eine schnelle Gründung der Politikwissenschaft. Dieses Votum fußte auf dem politischen Willen, der neuen Disziplin den Weg zu ebnen.

    Berlin nahm mit der Deutschen Hochschule für Politik und dem Institut für Politische Wissenschaft eine gewisse Vorreiterfunktion ein. Bereits am symbolischen 18. März 1948 – auf den Tag ein Jahrhundert nach dem Ausbruch der Revolution in Berlin – beschloss die Berliner Stadtverordnetenversammlung die Wiedererrichtung der 1920 gegründeten Deutschen Hochschule für Politik. Der eigentliche Inspirator, Otto Suhr, später Regierender Bürgermeister von Berlin (1955–1957), wollte die Demokratie stärken. „Politisch gesehen war die Hochschule im wesentlichen ein Produkt sozialdemokratischer Reformbemühungen."¹⁰ 1952 erhielt die Deutsche Hochschule für Politik das Promotionsrecht.

    Im Juli 1950 entstand das Institut für politische Wissenschaft, das von vornherein als politikwissenschaftliches, international vernetztes Forschungszentrum angelegt war¹¹ [<<23||24>>] und insofern nicht in Konkurrenz zur Deutschen Hochschule für Politik geriet.¹² Otto Heinrich von der Gablentz avancierte zum ersten wissenschaftlichen Leiter, Arcadius R. L. Gurland zu seinem Stellvertreter. Ab 1954 übernahm nach internen Unstimmigkeiten Otto Stammer die Leitung. Drei Forschungszweige standen im Vordergrund: „die vergleichende Analyse der für moderne demokratische Verfassungssysteme kennzeichnenden politischen Institutionen und Prozesse – das Gebiet der ‚Demokratieforschung‘, die Untersuchung der gesellschaftlich-ideologischen Voraussetzungen, des politischen Wirkungszusammenhanges und der kulturellen Folgen totalitärer Herrschaftsgebilde – das Gebiet der ‚Totalitarismusforschung‘ – und im Zusammenhang mit diesen beiden Forschungsaspekten die kritische politikwissenschaftliche Durchleuchtung der jüngsten deutschen Geschichte und des Verhältnisses der Deutschen zu anderen Völkern und gesellschaftlich-politischen Lebensstilen¹³. Dieses Programm nimmt sich geradezu modern aus, und mit einiger Phantasie lässt sich der dritte Forschungszweig im Sinne „politischer Kultur interpretieren. Bezeichnenderweise ging die große Habilitationsschrift Karl Dietrich Brachers über die „Auflösung der Weimarer Republik (1955) aus diesem Institut hervor.¹⁴ Zur ersten Generation gehörten Persönlichkeiten, die emigriert waren (meistens in die USA), wie solche, die in Deutschland „überwintert hatten (innere Emigration). Die einschlägige Forschung verzeichnet eine Diskussion über den anfänglichen Einfluss der jeweiligen Strömung bei der Entstehung des Faches. Die einen sehen in den Emigranten die treibende Kraft¹⁵, die anderen in den im Land Gebliebenen¹⁶. Ein Grund für die unterschiedliche Akzentsetzung mag in dem anders gewählten Forschungsschwerpunkt liegen. Eine weitere – damit zusammenhängende – Kontroverse zielte auf die Bewertung des amerikanischen Einflusses. Antiwestlich gesinnte Autoren, sei es von rechts¹⁷ sei es von links¹⁸, beurteilen ihn negativ, freilich unterschiedlich begründet und unterschiedlich scharf.

    Zur Kategorie der „Einheimischen" zählen u. a. Wolfgang Abendroth, Theodor Eschenburg, Gert von Eynern, Eugen Fischer-Baling, Michael Freund, Otto Heinrich von [<<24||25>>] der Gablentz, Eugen Kogon, Carlo Schmid, Bruno Seidel, Otto Stammer, Dolf Sternberger und Otto Suhr. Hier bedarf es mannigfacher Differenzierungen. Wolfgang Abendroth (vier Jahre) und Eugen Kogon (sechs Jahre) gerieten aus politischen Gründen in die Gefängnisse des Dritten Reiches. Standen manche Widerstandskreisen nahe (wie Otto Heinrich von der Gablentz und Otto Suhr), verblieben die meisten in der inneren Emigration¹⁹. Als Einziger der Genannten war Michael Freund, ein früherer Sozialdemokrat, Mitglied der NSDAP.

    Zur Kategorie der „Ausgewanderten gehören u. a. Arnold Bergstraesser, Ossip K. Flechtheim, Ernst Fraenkel, Carl J. Friedrich, Adolf Grabowsky, Arcadius R. L. Gurland, Ferdinand A. Hermens, Ernst Jäckh, Siegfried Landshut, Richard Löwenthal, Ernst Wilhelm Meyer, Fritz Morstein-Marx, Edgar R. Rosen, Eric Voegelin. Das Spektrum war breit gefächert, wiewohl etwas nach links verschoben (das gilt nicht für Bergstraesser, Grabowsky, Hermens, Jäckh und Voegelin). Carl J. Friedrich ging bereits 1926 in die USA (nicht aus politischen Gründen), der mit ihm aus Studentenzeiten gut bekannte Arnold Bergstraesser, zunächst angetan von der „nationalen Revolution, erst 1937 (aus politischen Gründen). Alfons Söllners Liste umfasst 64 Personen, die vor 1933 in Deutschland ein Examen abgelegt und sich dann – nach der Emigration – unter zum Teil schwierigen Umständen als Politikwissenschaftler etabliert hatten. Viele von ihnen kehrten auf Dauer nicht mehr nach Deutschland zurück, nahmen allenfalls Gastprofessuren wahr, so Hannah Arendt, Arnold Brecht, Waldemar Gurian, Ernst Hamburger, Otto Kirchheimer, Karl Loewenstein, Hans J. Morgenthau, Franz L. Neumann, Sigmund Neumann, Hans Simons, Leo Strauss, Arnold Wolfers.

    Zum ersten Professor für Politikwissenschaft an einer deutschen Universität nach 1945 avancierte Wolfgang Abendroth in Marburg (1950). Es folgten Ernst Wilhelm Meyer in Frankfurt (1951), Eugen Kogon in Darmstadt (1951), Heinrich Brüning in Köln (1951) und Michael Freund in Kiel (1951). Wer diese Professoren näher in Augenschein nimmt, erkennt die für die erste Generation typische Vielfalt der Lebenswege, auch ihre Brüche. Zwei (Brüning und Meyer) sind – trotz der Berufung – niemals „richtige" Politikwissenschaftler geworden, übten ihre Position nur kurzfristig aus.

    Wolfgang Abendroth (1906–1985) war fast zeit seines ganzen Lebens Marxist, als Mitglied der KPD, der KPD(O), der SPD und als Parteiloser von 1961 an. Nach dem ersten juristischen Staatsexamen in der Weimarer Republik folgte die juristische Promotion 1936. Eine vierjährige Zuchthaushaft (1937–1941) wegen Hochverrats, die Arbeit in einem Strafbataillon sowie ein Kriegseinsatz in Griechenland unterbrachen die verheißungsvolle Karriere. Zwar wurde er schnell auf juristische Professuren in der SBZ berufen, doch kehrte er der sich etablierenden SED-Diktatur Ende 1948 den [<<25||26>>] Rücken, aus Furcht vor Verhaftung. Nach einer Professur an der Wilhelmshavener Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft folgte 1950 der Wechsel auf den Marburger Lehrstuhl (bis zur Emeritierung 1972). Dort radikalisierte sich der Anfang der sechziger Jahre aus der SPD ausgeschlossene Marxist, einer der produktivsten Politikwissenschaftler Deutschlands, mit seiner zeitweiligen Hinwendung zum System der DDR. Seine vielen Schüler konnten mit ihrer marxistischen Scholastik keine ebenbürtigen Leistungen aufweisen.²⁰

    Ernst Wilhelm Meyer (1892–1969) studierte ebenfalls Jura und trat danach in den diplomatischen Dienst ein, den er 1937 aus politischen Gründen verließ. Obwohl Professor für Politische Wissenschaft in den USA (von 1940 an), kam Meyer 1947 als einer der ersten Emigranten wieder nach Deutschland. Er engagierte sich auf den Konferenzen zur Gründung des neuen Faches vielfältig und gelangte in den ersten Vorstand der Vereinigung. Doch bald nach der Annahme des Frankfurter Rufes – 1951 – folgte die Rückkehr in den Diplomatendienst, diesmal als Botschafter in Indien. Von 1957 bis 1965 fungierte er als SPD-Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Größere politikwissenschaftliche Leistungen sind von ihm, dem Mitbegründer der „Politischen Literatur, einem Vorläufer der „Neuen Politischen Literatur, nicht bekannt.

    Weitaus einflussreicher wurde Eugen Kogon (1903–1987), doch weniger aufgrund seiner politikwissenschaftlichen Professur, die er bis zur Emeritierung 1968 wegen vielfältiger anderer Engagements eher halbherzig wahrnahm (1967 bis 1969 hatte er allerdings den Vorsitz der DVPW inne), als durch sein Buch über den „SS-Staat"²¹ und durch seine Moderation des Fernsehmagazins „Panorama (1964/65), die zuweilen auf konservative Kritik stieß. Dem Studium der Nationalökonomie folgte eine lange Schaffensperiode bei einer katholischen Zeitschrift. Die Zeit von 1939 bis 1945 verbrachte der konservative Gegner des Nationalsozialismus, autoritären Staatsvorstellungen nicht abhold, im Konzentrationslager Buchenwald. Gemeinsam mit Walter Dirks gründete Kogon, der sich lange gegen die Westbindung Deutschlands gewandt hatte, 1946 die linksliberalen „Frankfurter Hefte, anfangs ein bedeutendes kulturpolitisches Magazin. Von Kogon sind zwar gesammelte Schriften in acht Bänden vorgelegt worden; über sein wechselvolles Leben gibt es jedoch keine Biographie.

    Heinrich Brüning (1885–1970), ausgebildeter Nationalökonom, wurde nach dem Bruch der Großen Koalition unter Hermann Müller von 1930 bis 1932 Reichskanzler einer von der SPD tolerierten bürgerlichen Minderheitsregierung der Weimarer Republik. Die Wissenschaft streitet sich bis heute über Brünings Rolle: versuchter Retter der Weimarer Demokratie oder einer ihrer Totengräber? Die posthum publizierten Memoiren bestätigen eher seine Kritiker. Er stimmte als führender Politiker der Zentrumspartei 1933 [<<26||27>>] dem Ermächtigungsgesetz zu, geriet aber bald unter politischen Druck der Nationalsozialisten. Nach der Flucht 1934 über die Niederlande in die USA gelang es ihm, eine Professur an der Harvard University zu erlangen. Die Gründungsprofessur in Köln für Politikwissenschaft gab Brüning, der mit der Westbindungspolitik Adenauers über Kreuz lag, 1953 auf. Sein dortiges universitäres Auftreten hat so gut wie keine Spuren hinterlassen.

    Michael Freund (1902–1972) war nach der Promotion im Fach Geschichtswissenschaft bei Hermann Oncken in einer untergeordneten Position an der Deutschen Hochschule für Politik tätig. Er publizierte im Dritten Reich eifrig und habilitierte sich bei Gerhard Ritter in Freiburg mit einer bereits veröffentlichten dreibändigen „Weltgeschichte der Gegenwart in Dokumenten". Nach seiner Entlassung aus politischen Gründen – wegen der früheren SPD-Mitgliedschaft – trat Freund 1940 der NSDAP bei, wohl aus Opportunismus, nicht aus Überzeugung²². Großen Nutzen zog er daraus nicht. Nach 1945 engagierte sich Freund bei den Initiativen zur Gründung des Faches Politikwissenschaft. Publizistisch aktiv, gehörte er zu den Herausgebern des Periodikums „Die Gegenwart (1951–1958). Besonders die Publikation eines Dokumentationsbandes über George Sorel, „Der falsche Sieg, aus dem Jahre 1944 wird ihm heute vorgehalten. Er will den Text so nicht geschrieben haben²³.

    3.Führende Repräsentanten der ersten Generation

    Die Frage nach der Zahl der (bisherigen) Generationen im Fach Politikwissenschaft ist ebenso umstritten wie deren Periodisierung. Trennscharfe Grenzen zu ziehen ist sind wegen mannigfacher Überlappung ohnehin kaum möglich. Nach der Gründergeneration, die vornehmlich „Demokratiewissenschaft" in den Vordergrund rückte, um damit ihre Legitimation zu bekräftigen, folgte etwa von 1960 bis Mitte der siebziger Jahre die Zeit der Konsolidierung, der Politisierung und der Professionalisierung. Mit Karl Dietrich Bracher, Iring Fetscher und Wilhelm Hennis, um nur drei Namen zu nennen, gelangten Politikwissenschaftler auf Lehrstühle, die nach 1945 studiert hatten (in der Regel nicht das Fach Politikwissenschaft). In den achtziger Jahren setzte eine deutliche Separierung der einzelnen Fachteile ein, die es kaum mehr möglich machte, einen angemessenen Überblick über die Disziplin zu gewinnen, zumal die Policy-Forschung und ein verstärkter Szientismus neue Akzente setzten. Durch die deutsche Einheit kam wieder jene Richtung etwas mehr zur Geltung, welche die Identität der Disziplin ebenso wie normative Elemente zu betonen sucht²⁴. Allerdings ist eine solche Kategorisierung vereinfachend, schon [<<27||28>>] wegen der Unabhängigkeit selbstbewusster Professoren, die nicht jeden neuen Ansatz aufgreifen und nicht jeder Mode nachlaufen.

    Das Fach expandierte – die Zahl der Professuren stieg bald sprunghaft an: von 21 (1959), davon allein zehn in Berlin, auf 81 (1969), später auf 214 (1974). In den letzten 40 Jahren hat sich die Zahl wegen des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik auf rund 250 erhöht. Von den einstigen Widerständen traditioneller Fächer, der Rechts- und der Geschichtswissenschaft etwa, ist nichts mehr zu merken. Gerade die gescholtenen Bergstraesser, Eschenburg und Freund waren es, die mit anderen – wie z. B. Ernst Fraenkel und Otto Heinrich von der Gablentz – die Politikwissenschaft an den Universitäten verankert hatten.

    Die erste Generation ist von der nächsten besser abgrenzbar, als dies für die weitere Generationenfolge gilt. Vor dem Ersten Weltkrieg geboren, hatte sie bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Examen absolviert. Sie ist bei allem politischen und wissenschaftlichen Pluralismus durch ein beträchtliches Maß an Homogenität gekennzeichnet. Das einigende Band ist, wie erwähnt, mehr oder weniger die „Demokratiewissenschaft" gewesen. Zu den Ausnahmen gehören vor allem Carl J. Friedrich und Michael Freund, nicht die (früheren) Marxisten Wolfgang Abendroth, Ossip K. Flechtheim und Richard Löwenthal.

    Wer gehört zu den führenden Politikwissenschaftlern der ersten Generation? In dem kürzlich veröffentlichten Band „Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung", der nach Meinung der Herausgeber die 50 bedeutendsten Politikwissenschaftler porträtiert, sofern gestorben oder über 70 Jahre alt²⁵, fanden elf Politikwissenschaftler der ersten Generation Aufnahme: Wolfgang Abendroth, 1906–1985; Arnold Bergstraesser, 1896–1964; Theodor Eschenburg, 1904–1999; Ossip K. Flechtheim, 1909–1998; Ernst Fraenkel, 1898–1975; Carl J. Friedrich, 1901–1984; Ferdinand A. Hermens, 1906–1998; Siegfried Landshut, 1897–1968; Richard Löwenthal, 1908–1991; Dolf Sternberger, 1907–1989; und Eric Voegelin, 1901–1985. Viele aus der ersten Generation sind Spätberufene. Das gilt im doppelten Sinne. Zum einen hatten sie alle das 40. Lebensjahr überschritten (der Jüngste, Abendroth, war 44), die meisten das 50., als sie die Professur erhielten.²⁶ Der Grund: Vor 1933 gab es zum einen keine Professoren der Politikwissenschaft, im Dritten Reich ohnehin nicht, jedenfalls nicht in einer Weise, die es gerechtfertigt hätte, solche Personen nach 1945 in einem Fach, das Demokratieschulung in den Vordergrund rückt(e), Karriere machen zu lassen.²⁷ Zum andern zogen sich die Berufungen hin, u. a. wegen der späten Einrichtung der Lehrstühle und wegen des Zögerns mancher [<<28||29>>] Personen, einen Ruf anzunehmen: Abendroth erhielt 1950 den Ruf, Landshut 1951, Eschenburg 1952, Fraenkel 1953, Bergstraesser 1954, Friedrich 1956, Voegelin 1958, Hermens 1959, Flechtheim 1961, Löwenthal ebenso 1961, Sternberger 1962.²⁸ Insofern zählten nicht alle aus der ersten Generation zu Gründungsprofessoren.²⁹

    Deren beachtliche Zahl an Alterswerken erstaunt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Dolf Sternberger, ihm verdanken wir seit 1979 das schöne Wort „Verfassungspatriotismus, das nicht in einem Gegensatz zu herkömmlichem Patriotismus steht, hat sein gelehrtes Hauptwerk „Drei Wurzeln der Politik, in gewisser Weise charakteristisch für viele normative Positionen der ersten Generation, mit über 70 Jahren der Öffentlichkeit präsentiert. In ihm geht es darum, den Politikbegriff aufzufächern. Die unverschnörkelt-glasklare Sprache differiert sich wohltuend von der vieler heutiger Politikwissenschaftler. Der Verfasser unterscheidet in seiner begriffsgeschichtlichen Studie zwischen Politologik, für die Aristoteles steht, Dämonologik, die Machiavelli repräsentiert, und Eschatalogik, zu der Augustinus zählt. Sein Urteil überrascht nicht:

    „Weder die dämonologische noch die eschatologische Politik in irgendeiner ihrer Spielarten will die Menschengleichheit anerkennen, die eine, weil sie den oder die Herrschenden von ihr ausnehmen, die andere, weil sie die Guten und die Bösen auseinanderhalten und unterschiedlich behandeln will. Einzig die Politologik ist imstande, unsere philosophische Voraussetzung zu akzeptieren, indem sie nämlich die Menschen in Bürger zu verwandeln vermag oder als Bürger aufzufassen verlangt und das heißt als Gleiche. Das ist einer der Gründe, weswegen bürgerliche Politik den Menschen ebenso möglich wie zuträglich, weswegen sie also gute Politik ist."³⁰

    Unter den Gründungsvätern (es waren in der Tat nur Männer) ragen zwei Politikwissenschaftler heraus, ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit: Carl J. Friedrich und Ernst Fraenkel.³¹ Friedrich, in Leipzig geboren und in Marburg aufgewachsen, drei Jahre jünger als Fraenkel, lehrte nach der Promotion bei Alfred Weber in Heidelberg bereits von 1926 an in den USA. 1936 Professor in Harvard geworden, wollte er nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland wissenschaftlich wirken. Von 1956 an, dem Beginn des Ordinariats in Heidelberg, fand die Lehre jeweils im Sommersemester in Deutschland statt, in der übrigen Zeit in den USA. In Heidelberg währte seine Tätigkeit [<<29||30>>] bis 1966, in Harvard bis 1971. Eine schwere Krankheit hinderte ihn im letzten Lebensjahrzehnt daran, seine Forschungen fortzusetzen.

    Friedrich war kein „Demokratiewissenschaftler. Seine Konzeption des demokratischen Verfassungsstaates, die den Institutionen ein großes Gewicht beimaß, betonte vor allem den Wert des Rechtsstaates und die gewaltenbeschränkenden Prinzipien des Föderalismus. Die verwaltungswissenschaftliche Forschung gehörte zu Friedrichs Steckenpferden. Wohl keiner hat eine so ausgefeilt-systematisierte Totalitarismuskonzeption wie er entfaltet. Kaum ein Bereich der Politik war vor seinen Analysen „sicher. Was nicht verwundert: Von ihm stammt das erste wissenschaftliche Buch zur Politikwissenschaft in deutscher Sprache³².

    In Köln geboren und mit 16 Jahren nach Frankfurt am Main gekommen, studierte Fraenkel nach dem freiwilligen Kriegseinsatz dort Rechtswissenschaft. Das SPD-Mitglied, bei Hugo Sinzheimer promoviert, machte sich einen Namen als Anwalt und als Autor für gewerkschaftsnahe Blätter. Fraenkel, jüdischer Abstammung, musste 1938 fliehen. Da er in den USA beruflich nicht recht Fuß fassen konnte, arbeitete er nach dem Krieg für amerikanische Behörden in Korea. 1953 erhielt Fraenkel nicht zuletzt dank der Fürsprache seines Freundes Otto Suhr eine Professur an der Freien Universität Berlin mit vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten. 1967 emeritiert, zeigte er sich über die Studentenunruhen verbittert. Fraenkel starb fast ein Jahrzehnt vor Friedrich, seinem Kollegen und Konkurrenten.

    Fraenkel war ein „Demokratiewissenschaftler" durch und durch. Sein leidenschaftliches Bekenntnis für die westliche Demokratie repräsentativen Ursprungs, von Kenntnis getragen, nicht pathosgetränkt, durchzog sein Werk nach 1945 wie ein roter Faden. Er gilt als Begründer der zeitweilig heftig befehdeten Neopluralismustheorie³³, die dem Konzept Rousseaus eine Absage erteilt, ohne deswegen den Gemeinwohlbegriff zu verwerfen. Sein „Doppelstaat von 1941, eine gelehrte Abhandlung zum nationalsozialistischen Totalitarismus, der auf einem „Maßnahmenstaat und einem „Normenstaat" basiert, wird breit rezipiert.

    Der Berliner Politikwissenschaftler wirkte, gleich dem Heidelberger, im Grenzgebiet zwischen politischer Theorie und vergleichender Regierungslehre. Wie dieser begründete er keine Schule, auch wenn sich heutzutage viele auf Fraenkel berufen. Der Wandel, mit Blick auf die Zeit vor 1933 und nach 1945, ist bei ihm größer als bei Friedrich. Dieser verfügt in den USA über weitaus mehr Reputation als in Deutschland. Bei Fraenkel ist es umgekehrt, obwohl er das amerikanische Regierungssystem überaus wohlwollend analysiert hat. Friedrich wird mittlerweile stärker kritisiert als Fraenkel, anders als vor vier Dezennien.

    [<<30||31>>] Für die Aufnahme unter die „besten 50 galt es drei Hauptkriterien zu berücksichtigen: „fachliche Kompetenz, erfolgreiches Wissenschaftsmanagement samt – jedenfalls ansatzweise – Bildung einer meinungsprägenden Schule, öffentliche Sichtbarkeit³⁴. Nicht alle Kriterien trafen gleichermaßen zu. So war bei Fraenkel wie bei Friedrich die fachliche Kompetenz besonders ausgeprägt, bei Bergstraesser das Wissenschaftsmanagement, bei Eschenburg die öffentliche Sichtbarkeit. Naturgemäß lässt sich trefflich darüber streiten, ob es sich um die wichtigsten Merkmale handelt und wie sie zu gewichten sind. Gert von Eynern, Michael Freund, Eugen Kogon, Carlo Schmid, Otto Heinrich von der Gablentz, Arcadius R. L. Gurland, Otto Stammer, die auch in Frage gekommen wären, fehlen aus den unterschiedlichsten Gründen, meistens deshalb, weil die fachwissenschaftliche Kompetenz niedriger eingestuft wurde als

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