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Pegida-Effekte?: Jugend zwischen Polarisierung und politischer Unberührtheit
Pegida-Effekte?: Jugend zwischen Polarisierung und politischer Unberührtheit
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eBook751 Seiten8 Stunden

Pegida-Effekte?: Jugend zwischen Polarisierung und politischer Unberührtheit

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Über dieses E-Book

Pegida hat den politischen Diskurs verändert - soviel steht vier Jahre nach Beginn der Proteste fest. Doch die Deutungen zu den Ursachen und Folgen der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« gehen weit auseinander.
Auf Basis einer umfangreichen empirischen Studie diskutieren die Autor_innen dieses Bandes, ob und wie Pegida als Protestphänomen und Chiffre bei der Jugend verfängt. Die Studie bietet eine Analyse politischer Deutungsmuster der Jugend im Jahr 2018, indem sie politische Vorstellungen, Wünsche, Ängste und Gedanken zur demokratischen Einwanderungsgesellschaft in den Mittelpunkt stellt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Aug. 2018
ISBN9783732846054
Pegida-Effekte?: Jugend zwischen Polarisierung und politischer Unberührtheit
Autor

Julian Schenke

Julian Schenke (Dr. disc. pol.), geb. 1988, ist niedersächsischer Bibliotheksreferendar und Politikwissenschaftler. Er forschte am Göttinger Institut für Demokratieforschung mit Arbeitsschwerpunkten in den Bereichen qualitativer politischer Kulturforschung und Bewegungsforschung.

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    Buchvorschau

    Pegida-Effekte? - Julian Schenke

    1.Problemstellung und Vorgehen

    Schon das einjährige Bestehen ist für Protestbewegungen eine Wegmarke; ein Ausweis kontinuierlichen Durchhaltevermögens und dadurch – zumindest aus Sicht der Demonstrierenden sowie Aktivistinnen und Aktivisten – ein Indikator spürbaren Erfolgs. Tatsächlich: Blickt man auf die Geschichte politischer Unmutsbekundungen und Erhebungen in der Bundesrepublik, sind Protest-Jubiläen nicht einfach nüchterne Maßeinheiten verstreichender Zeit, sondern oft auch frühe, wenngleich deutungsbedürftige Zeichen tieferliegender, handfester kultureller und politischer Veränderungen. Insbesondere dann, wenn Protest einerseits als Ausdruck von Inklusionsbegehren oder andererseits als Reaktion auf Entpolitisierungsprozesse, die in Misstrauen gegenüber den politischen Eliten umschlagen kann, gedacht wird. Ein Protest-Geburtstag ist daher nicht nur von Bedeutung für die Protestierenden selbst, sondern womöglich aussagekräftig in Bezug auf eine ganze Gesellschaft.

    Im vergangenen Oktober feierten die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«, kurz: PEGIDA, auf dem Dresdner Theaterplatz ihren dritten Jahrestag. Dies ist auch durchaus ein Hinweis darauf, dass sich der Protest zu Ansätzen einer sozialen Bewegung oder eines Teils davon verstetigt hat. Zu Beginn der meist wöchentlich stattfindenden montäglichen »Spaziergänge« im Spätherbst 2014 war trotz aller medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit noch nicht abzusehen, ob es sich hier um ein punktuelles Strohfeuer handeln, oder ob sich Dresden als Seismograf eines schwerer wiegenden und allgemeinen politisch-kulturellen Gärungsprozesses erweisen würde.¹ Nun wurde im Zuge der Geschehnisse 2015, als syrische und arabische Flüchtlinge, die über die sogenannte »Balkanroute« nach Europa und Deutschland strebten, und vor allem nach dem damit in Verbindung stehenden elektoralen Siegeszug der aggressiv-populistisch auftretenden AfD unmissverständlich deutlich, dass das seit Jahren schwelende Misstrauen der Bürger/-innen in die politischen Institutionen und ihre Vertreter/-innen erhebliches Konfliktpotenzial birgt, das sich zum einen situativ in drastische Polarisierungsschübe entladen kann, sich zum anderen auch verstetigen und tief in die Struktur der deutschen Demokratie einzusinken vermag.

    Es handelt sich hier um Tendenzen, die bereits in den Studien des Instituts für Demokratieforschung zu den Entstehungs- und Konsolidierungsdynamiken von PEGIDA, zu der durch und durch »mittigen« Sozialstruktur ihrer Demonstrierenden und den Sinnquellen ihres Protests² antizipierend aufgedeckt werden konnten. Zudem ergab die Analyse der zivilgesellschaftlichen Gegenproteste von NOPEGIDA, dass die gebildeten, weltoffenen und protesterfahrenen Teile der gutsituierten bürgerlichen Mitte sich durchaus konfrontativ herausgefordert fühlten, den Kampf um die kulturelle Deutungshoheit in der Bundesrepublik unerbittlich zu führen.³ Doch ist die Geschichte dieses Protestphänomens und seines Antagonisten keineswegs zu Ende erzählt. Im Gegenteil. Dem Mosaik von Protest und Gegenprotest fehlte bisher ein entscheidendes Stück: das Verhältnis der Proteste zur nichtprotestierenden Mehrheit, der »Normalbevölkerung«.

    1.1PEGIDA UND DIE JUGEND: NEUE INDIKATOREN FÜR EIN VERÄNDERTES POLITISCHES KLIMA?

    Zwar mag die vielfach proklamierte Polarisierung des politischen Klimas in der Stadt Dresden eher ein situatives, bereits wieder abgeklungenes Phänomen gewesen sein, und jedenfalls keineswegs eine so elementare Umwälzung bedeuten, wie es die zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort gerne dargestellt haben. Doch lässt sich heute, im Jahr 2018, infolge der kontinuierlichen Beforschung konstatieren: Der PEGIDA-Protest scheint geholfen zu haben, die Kräfteverhältnisse der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zu verschieben. Schließlich – so auch die einschlägigen Kommentare, die im Kapitel 2.1. referiert werden – trug er wesentlich dazu bei, den Rekurs auf nationale beziehungsweise kulturelle »Identität« der autochthonen Deutschen zu etablieren, zumindest die Debatte um die »Leitkultur« erneut zu aktualisieren, die Forderung nach protektionistischem Erhalt ihrer Privilegien gegen die als Zumutung für die unteren Mittelschichten gebrandmarkten Projekte von Internationalisierung und Zuwanderung in Stellung zu bringen. Populistische, zuweilen zynische Provokation ist das dieser Haltung entsprechende Stilmittel, seit den Wahlen 2017 sogar im Plenarsaal des Bundestags. Die kosmopolitisch gesinnte, den freien Verkehr von Waren, Kapital und Menschen befürwortende (links-)liberale Gegenseite der neuen, erfolgreichen Mittelschichten indes reagiert mit defensiver Verhärtung und Unverständnis, beklagt den Diskurswandel sowie die Salonfähigkeit rechter Positionen in Medien und Öffentlichkeit, und beruft sich auf die Maximen von Vielfalt und Toleranz – während eine wohlsituierte, gegenüber nachrückenden Aufsteigern jedoch zunehmend abgeschottete alte Mittelschicht die gesellschaftliche Eintracht zerrinnen sieht. Kurzum: Es gibt gute Gründe dafür, dass PEGIDA die identitätspolitische Tribalisierung der Mitte, die seit 2014/15 spürbar an Fahrt gewinnt, befeuert hat.

    Aber: Ist PEGIDA bloßes Signum von Veränderung, hat der Protest also ratifiziert und an die Oberfläche der Aufmerksamkeit geholt, was sich schon vorher ankündigte – oder ist PEGIDA gar ein entscheidender Katalysator gewesen, der es vermocht hat, Individuen und Gruppen in seinen Bann zu schlagen? Nachdrücklich stellt sich die Frage, wohin die Bruchlinien einer bundesrepublikanischen Demokratie der dezimierten Volksparteien führen, das heißt, wie die politische Kultur Deutschlands in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aussehen wird.

    Im Falle der Vereinigten Staaten von Amerika, einem Land, das noch immer als Vorreiter gesellschaftlicher Entwicklungen in den westlichen (post-)industriellen Gesellschaften gilt, sind dem Problem der identitätspolitischen Polarisierung der Mitte in den letzten Jahren bereits mehrere Bücher gewidmet worden. So argumentierte jüngst Robert Putnam auf empirischer Grundlage, dass durch sozialstrukturelle Entwicklungen eine neue Klassengesellschaft entstanden sei, deren Lebensrealitäten das alte Aufstiegs- und Chancengleichheitsversprechen des »American Dream« radikal entwertet hätten. Die Kindheit seiner Kinder sei mit seiner eigenen kaum mehr vergleichbar.⁴ Dass aber gerade diejenigen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner, die die ökologischen und sozialen Folgen des wirtschaftlichen Wachstums am deutlichsten zu spüren bekommen, ihre Stimme den wirtschaftsfreundlichen Präsidentschaftsbewerbern George W. Bush und Donald Trump gaben, zeigt, dass die Konfliktlinien nicht allein zwischen dem soziologisch feststellbaren »Oben« und »Unten«, sondern eben auch entlang kultureller, teils religiös gefärbter Polarisierungen verlaufen, nah am klassischen Cleavage zwischen ruralen und urbanen Mittelschichten. Diesem Phänomen widmen sich gleich mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mittlerweile Bestsellerautorinnen und -autoren wurden, wie Thomas Frank⁵, Chaterine J. Cramer⁶ oder Arlie Russell Hochschild. Hochschild arbeitete in einer vielbeachteten Milieustudie heraus, wie sich das Gefühl des gesellschaftlichen »Abgehängtseins« frustrierter und wütender Bürger, die den bisher etablierten politischen und kulturellen Eliten mit zynischem Misstrauen gegenüberstehen, in Zustimmung zur neurechten Tea-Party-Bewegung ummünze.⁷ Die Verweigerungshaltung gegenüber dem sogenannten »Establishment« findet seinen Ausdruck demnach auch in epistemologischer Hinsicht: Die auf das prüfbare Faktum verwiesene Distinktion »richtig« vs. »falsch« werde aufgelöst zugunsten einer unversöhnlichen Negationshaltung, blockierender »Empathiemauern«, die die gesellschaftlichen Gruppen zwischen sich einziehen. Gleichwohl: Die Spaltung in unversöhnliche Fronten heftet sich im Gegensatz zu Europa mitunter, wie Torben Lütjen gezeigt hat, an die Wählerlager von Demokraten und Republikanern und verschärfte sich hier in den letzten Jahren insofern eher ideologisch-dualistisch als tribalistisch.⁸

    Bezeichnenderweise stießen viele dieser Autoren auf das Problem einer sozial desillusionierten und politisch heimatlosen Jugend. Nicht nur habe, so James David Vance, die politisch-kulturelle Umwälzung, die sich etwa in der Entfremdung der »white working class« von der eigenen Gesellschaft andeute, unter ebenjenen Jugendlichen begonnen.⁹ Auch bei Putnam sind es die mageren Berufsaussichten und prekären strukturellen Ressourcen der jungen Generationen, hier allerdings des Nachwuchses der unteren und mittleren Mitte, die den sozialen Konfliktstoff der näheren Zukunft lieferten.

    Solche Erwägungen rücken die Jugend ins Zentrum auch des Interesses am bundesrepublikanischen politischen Klima. Denn unter Jugendlichen und jungen Menschen schälen sich diejenigen Orientierungsmuster, Denkweisen, Deutungsschemata und Wertordnungen, sozialen und kulturellen Problemwahrnehmungen, Erwartungen und Hoffnungen, auch Auffassungen von persönlicher und kollektiver Zugehörigkeit heraus, die künftige Modi des gesellschaftlichen Zusammenlebens maßgeblich prägen werden. Insofern geraten insbesondere jene Regionen in den Aufmerksamkeitsfokus, die ohnehin durch Eruptionen der politischen Kultur auffällig geworden sind, oder Ereignisse und Formationen, die eine bundesweite Ausstrahlung erreichen konnten. Hat PEGIDA die junge Generation in Dresden, Sachsen beziehungsweise der Bundesrepublik insgesamt politisch beeinflusst? Konnten die Demonstrationen und ihre Organisatorinnen und Organisatoren Stereotype prägen, Pauschalisierungen etablieren oder Aggressionen schüren, die bei Jugendlichen eine sichtbare Wirkung zeitigen? Ob PEGIDA in diesem Sinne »wirkt«, ist angesichts von zunehmenden fremdenfeindlichen Übergriffen und Anschlägen eine drängende Frage.¹⁰ Haben sich Haltungen und Diskurse, vornehmlich in Dresden und Sachsen verändert, während in anderen Regionen Deutschlands abweichende Muster erkennbar sind? Inwiefern dringen Phänomene wie die breit diskutierte sogenannte Neue Rechte im Allgemeinen und PEGIDA im Besonderen in die Lebens- und Gedankenwelt von Jugendlichen ein? Inwieweit werden junge Menschen in diesem Prozess und von den beschriebenen Phänomenen geprägt und wie reagieren sie auf diese? Denn: Ließe sich unter der jungen Generation ein Einfluss von PEGIDA messen, so wäre auch das Indikator eines veränderten politischen Klimas.

    1.2UNTERSUCHUNGSOBJEKT JUGEND: ÜBER DAS ANKNÜPFEN AN EIN FORSCHUNGSFELD

    Jugendliche und junge Menschen sind Bezugspunkt der vorliegenden Studie. Sie stellten sich uns als Gesprächspartner zur Verfügung, gaben uns Auskunft über ihre Lebensverhältnisse, über ihre Ängste und Zukunftserwartungen, über ihre Sicht auf sich selbst und ihre Umwelt sowie auf Gesellschaft und Politik. Damit stießen wir in ein ausgesprochen lebendiges Forschungsfeld vor, denn politische, wissenschaftliche und mediale Debatten über die »Lage der Jugend« sind ein periodisch wiederkehrendes Phänomen. Das Erkenntnisinteresse am Thema ist von Wünschen und Hoffnungen (etwa auf eine progressive, aufgeschlossene und politische Jugend, den »Hoffnungsträger im Zukunftsloch«¹¹), aber auch von Sorgen und Ängsten (etwa vor einer apathischen und »entpolitisierten« Jugend einerseits, vor einer möglicherweise politisch radikalisierten, gewaltbereiten Jugend andererseits) geprägt. Nicht selten werden aktuelle gesellschaftliche Konfliktlagen und Problemstellungen »stellvertretend als Jugendprobleme diskutiert«¹², sind einschlägige Studien zumeist in diesem Sinne praxis- und bedarfsorientiert ausgerichtet.¹³ Dass das Verhältnis der Jugendlichen und jungen Menschen zur Politik von großem Gewicht ist, ja einem Lackmustest für die Stabilität der demokratischen Institutionen und der sozialen Integrität der Gesellschaft gleichkommt,¹⁴ ist – ob explizit oder implizit – Prämisse der meisten Studien, auch wenn kritische Stimmen vor einer Überschätzung der Jugendphase als Einflussgröße der Entwicklung politischer Werte und Kompetenzen in der Gesellschaft warnen.¹⁵ Der Blick auf die Jugend verspricht oftmals prognostischen Gewinn, hofft er doch, zukünftige Entwicklungen beziehungsweise Kontinuitäten von Gesellschaft und Politik – ob diese nun zum »Guten« oder zum »Schlechten« ausfallen – frühzeitig erkennen zu können.¹⁶ Gerade angesichts der seit Jahren geführten Debatte über den Zustand beziehungsweise eine eventuelle »Krise« der Demokratie und angesichts des Aufstiegs (rechts-)populistischer Parteien in Europa erscheint eine solche Perspektivnahme besonders attraktiv.¹⁷ Auch deswegen ist die soziologische oder politikwissenschaftliche Jugendforschung selten an Grundlagenforschung und Theoriebildung interessiert. Vorherrschend sind in diesem Feld vielmehr repräsentativ angelegte und an aktuellen Entwicklungen interessierte Studien, wie etwa die »Shell Jugendstudien« oder der Längsschnittsurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI)¹⁸, ferner auf die Rekonstruktion von Lebenswelten konzentrierte Methodenmixturen, wie sie vom SINUS-Institut verfolgt werden.¹⁹ Qualitative Forschungsdesigns – wie das hier umgesetzte – hingegen sind rar.

    Ein gebräuchliches Vorgehen der sogenannten Jugendforschung ist bereits seit Jahrzehnten, für die je ausgewählte Kohorte Mannheim’sche Generationengestalten auszurufen: Nannte man die Geburtsjahrgänge 1940-1955 die 68er-Generation, waren diejenigen von 1955-1970 die saturierten Babyboomer, bekamen die zwischen 1970 und 1985 Geborenen den Titel der ökonomisch wie ökologisch krisengeprägten Generation X verliehen (um die Jahrtausendwende ergänzt durch das Schlagwort der vermeintlich konsumorientierten und egoistischen »Generation Golf«²⁰). Als jüngste Generationenkategorie firmiert seit einigen Jahren – in ironisierter alphabetischer Fortführung – die reflexionsbedürftige und erstmals mit digitalen Medien aufgewachsene Generation Y (auch Millennials genannt) für die Jahrgänge 1985 bis 2000.²¹ (Für die Kohorte von 2000 bis heute ist, obwohl das SINUS-Institut die Jugendlichen von 2016 Generation Mainstream nennt, noch keine mehrheitsfähige Generationenkategorie vorhanden.) Es gilt zu beachten, dass solche Kategorien oftmals zuerst von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Journalistinnen und Journalisten ins Gespräch gebracht und erst später vom wissenschaftlichen Diskurs adaptiert werden. Es sind mithin Slogans, deren analytisches Potenzial zwar diskutabel ist, die aber dennoch zweifellos als »gesellschaftliche Orientierungskategorien«²² fungieren, welche die Komplexität sozialer Entwicklungen zu strukturieren helfen.

    Aber die Diskussionen um Jugend drehen sich immer auch um Signalbegriffe, die zeitgenössische Entwicklungen problematisieren sollen. Abgesehen von der Frage, ob man solche Versuche als veranschaulichende Vereinfachungen begrüßt oder als »überpointierte Generalisierungen auf der Basis weniger Indikatoren«²³ kritisiert, geben sie doch fraglos Aufschluss über die Struktur einschlägiger Debattenverläufe. Daher lohnt sich ein kurzer Überblick: Sprach der konservative Soziologe Helmut Schelsky in den 1950er Jahren noch von einer politikfremden und pragmatischen »skeptischen Generation«²⁴, so ist spätestens seit den Studentenprotesten der späten 1960er und frühen 70er Jahre das Begriffspaar Konformismus/Nonkonformismus ein Evergreen der Diskussion um die Abfolge von Jugendgenerationen, seit der 9. Shell-Jugendstudie 1981 auch immer wieder im Zusammenhang mit der Frage selbstständiger »Jugendkultur(en)«.²⁵ Gefragt wurde und wird hier nach Kräftereservoirs politisch-rebellischen Verhaltens, häufig (wenn auch nicht immer) mit dem Ergebnis abnehmender subversiver Tendenzen und zunehmender Sehnsucht der Jugendlichen nach einem saturierten Mittelstandsleben.²⁶ Die Frage, wie aufmüpfig respektive angepasst »die Jugend« sei, ist seither kaum zu umgehen. Auch Erik Hurrelmann und Klaus Albrecht knüpfen in ihren zuweilen staunenden Ausführungen an dieses Vokabular an und nennen die Generation Y in einem erweiterten Sinne »revolutionär«. Damit meinen sie, dass die »Ypsiloner« im Gegensatz zur früheren lautstarken Außerparlamentarischen Opposition sämtliche Sektoren der Gesellschaft im Stillen umkrempeln würden – trotz äußerlicher Angepasstheit.²⁷

    Nach 1989 und vor allem um die Jahrtausendwende herum trat zunächst das Verhältnis der politischen Mentalitäten von Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland in den Vordergrund²⁸; zudem zeigte sich die Jugendforschung für einige Jahre aufgeschreckt durch Wellen rechtsextremer Gewalt und begab sich im Rahmen zahlreicher Studien, Symposien und Sammelbände auf die Suche nach den Ursachen des jugendlichen Rechtsextremismus. Als zentraler Erklärungsfaktor wurde vor allem (nicht immer ohne herablassenden Unterton) die der Wende folgende Orientierungslosigkeit der tendenziell konformistisch-autoritätsfixierten, »modernisierungsrückständigen«, das heißt sozial und ökonomisch deprivierten Menschen nach dem staatlich »verordneten Antifaschismus«²⁹ diskutiert, die Rechtsextremismus als Bewältigungsmodus neuartiger Konfliktlagen durch Rückgriff auf vermeintlich Vergangenes beziehungsweise Tradiertes attraktiv werden lasse.³⁰ Bald jedoch verwarf man monokausale Erklärungsversuche für die vornehmlich von Jugendgruppen ausgehende rechte Gewalt, gerade angesichts des auch in Westdeutschland präsenten Phänomens. Dringend notwendig und aufgrund der dahinter stehenden Komplexität sozialer Verwerfungen zugleich doch unerreichbar, scheint vielen seitdem ein »integrierender« Erklärungsansatz, der alle Trägergruppen der Gewalt, nämlich »Modernisierungsverlierer«, »Konkurrenten« auf dem Arbeitsmarkt, »Wochenendextremisten« und »ideologische Überzeugungstäter« berücksichtigt.³¹ Zu einem konsensfähigen Ergebnis ist diese Diskussion bisher nicht gelangt, obwohl man die tragende Relevanz der Jugend für das Phänomen des Rechtsextremismus fortwährend herausstreicht.³²

    Zwar ist das Verhältnis von Ost und West im Allgemeinen auch weiterhin Thema der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung, tritt jedoch zugunsten eines bundesrepublikanischen Gesamtblicks mittlerweile in den Hintergrund. Die Gründe dafür liegen, so der Politikwissenschaftler Gert Pickel, in einer wachsenden Angleichung der Lebensverhältnisse ost- und westdeutscher Jugendlicher (im Sinne der Installation demokratischer Institutionen und persönlicher Freiheiten als neue »Selbstverständlichkeiten«), die schon 2002 zu einer Angleichung der »politischen Überzeugungen der Legitimitätsebene bereits in großem Umfang«³³ – kurzum: zu einer wachsenden Übereinstimmung der politischen Orientierungen – geführt habe. Zwar dürften noch bestehende Differenzen nicht geleugnet, aber eben auch nicht überbetont werden. Pickel jedenfalls schließt sozusagen mit einer Residualdifferenz zwischen Ost und West: Zählebige Unterschiede bestünden demnach nur mehr in unterschiedlichen Ausprägungsformen von Politikverdrossenheit.³⁴ Diese strukturell ambivalente Situation wird auch in der vorliegenden Studie oft eine Rolle spielen, verkompliziert sie doch die Analyse des Materials.

    Politikverdrossenheit ist denn auch das eigentliche Grundthema der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung seit den 1990er Jahren, wenn auch nicht durchweg mit diesem Signalwort benannt. Denn die Gefahren von Xenophobie und Rechtsextremismus wurden immer auch als drohende Konsequenz politisch apathischer und desorientierter Jugendlicher und junger Menschen diskutiert.³⁵ Seit nahezu dreißig Jahren drehen sich einschlägige Debatten um die Situation einer zunehmend politikverdrossenen Jugend und flankieren die Diagnose, dass Jugendliche, wenn auch nicht mit der Demokratie als politischem System, so doch mit den demokratischen Institutionen und politischen Parteien der Bundesrepublik, fremdeln. So konstatieren verschiedene Forscherinnen und Forscher ein überdurchschnittlich geringes Vertrauen in Parteien und politisches Personal³⁶, beklagen die geringe politische Partizipationsbereitschaft der Jugendlichen, die nicht einmal zentrale Themen ihrer eigenen Lebenswelt als Gegenstand politischer Auseinandersetzung wahrnehme.³⁷ Eine weitere Feststellung ist, dass das Unbehagen an den Verhältnissen nicht etwa zu gesellschaftspolitischem Engagement und/oder extremistischen Orientierungen führe – all dies benötige vor allem entsprechende Gelegenheitsstrukturen –, sondern zur Abwendung vom politischen Prozess.³⁸ Gleichwohl gibt es auch kontrastive beziehungsweise relativierende Stimmen: Pickel verglich 2002 anhand zahlreicher Daten die Jugend mit der Gesamtbevölkerung und kam zu dem Schluss, dass diese keinesfalls politikverdrossener beziehungsweise »politikfeindlicher« sei als die Erwachsenen.³⁹

    Jedoch: Politikverdrossenheit ist nicht gleichbedeutend mit politischem Desinteresse. Das Interesse an Politik habe, so die Autoren der aktuellen Shell-Jugendstudie, jüngst sogar zugenommen.⁴⁰ Die Konfusion betreffend politischer Verdrossenheit und politischem Desinteresse ist dabei zweifellos auch durch die Unbestimmtheit des Begriffes der Verdrossenheit bedingt.⁴¹ Manche Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler, darunter Kai Arzheimer, verwerfen ihn daher als analytisch und empirisch untaugliches Modewort.⁴² Um dem zu begegnen und begriffliche Schärfe herzustellen, schlägt wiederum Pickel unter Rückgriff auf das Konzept politischer Unterstützung nach David Easton eine Differenzierung in fünf Dimensionen politischer Verdrossenheit vor: Er unterscheidet »Staatsverdrossenheit« (die Ablehnung der politischen Gemeinschaft), »Demokratieverdrossenheit« (die Ablehnung des politischen Systems), »diffuse Politikverdrossenheit« (fehlendes politisches Interesse und geringe politische Kompetenz), »Involvierungsverdrossenheit« (fehlende politische Aktivitätsbereitschaft) und »Politikerverdrossenheit« (Ablehnung bestimmter Autoritäten und Institutionen).⁴³ Die Pointe lautet: Nur eine Form, nämlich die im öffentlichen Diskurs in der Regel gemeinte »diffuse Politikverdrossenheit« vereint fehlendes politisches Interesse mit geringer politischer »Kompetenz« (das heißt politischem Fachwissen und der Fähigkeit zu politischer Urteilsbildung). Vor diesem Hintergrund wird rasch ersichtlich, warum Jugendliche und junge Menschen, die politische Eliten ablehnen oder auf die Teilnahme an Parlamentswahlen verzichten, sich durchaus von bestimmten politischen Themen elektrisieren lassen oder sich anderweitig engagieren können.

    Soweit die Diskussionskonjunkturen der letzten Jahre. Folgen wir den Interpretinnen und Interpreten der im bundesrepublikanischen Forschungsfeld nahezu hegemonialen Shell-, Sinus- und DJI-Studien, so haben wir gegenwärtig eine pragmatische Generation von Jugendlichen vor uns, die sich mit Hilfe einer »egotaktischen Grundeinstellung« und einem »Schuss Opportunismus« auf das eigene Fortkommen konzentriert, wenn auch durchzogen mit Spuren einer »zupackenden«, situativen Engagementbereitschaft.⁴⁴ Mit Jugendlichen und jungen Menschen, die erfolgreich das Aufwachsen mit – im Vergleich zu ihren Eltern – unsicherer gewordenen Karrierechancen bewältigen, sich in einem »Lebensgefühl« der »Statusinkonsistenz« durch eine komplexe und herausfordernde Leistungsgesellschaft navigieren.⁴⁵ Die wenig Interesse an selbstständigen Subkulturen oder rebellischem Distinktionsverhalten zeigen, sich stattdessen vielmehr als Teil des Mainstreams präsentieren und »neo-konventionalistische« Werthaltungen (Leistungsbereitschaft, Anpassungsfähigkeit und die Suche nach einem »Platz« in der Gesellschaft, das heißt, nach Akzeptanz und Geborgenheit inmitten stabiler Beziehungen) demonstrieren.⁴⁶ Und die mit der Partizipation in traditionellen zivilgesellschaftlichen Organisationsformen wie Parteien, Kirchen und Vereinen eher fremdeln, dafür aber steigendes Interesse an flexiblen und temporären Partizipationsmodi bekunden.⁴⁷ In gewissem Sinne, nämlich hinsichtlich der hier durchscheinenden pragmatisch-individualistischen Lebenshaltung, die nur vordergründig apolitisch erscheint, nähert sich die sogenannte Generation Y wieder der von Schelsky durchleuchteten skeptischen Generation der 1950er Jahre an. Denn Schelsky schrieb seinerzeit: »Unter der pseudo-erwachsenen Skepsis und Politikfeindlichkeit steckt ein durchaus reges Sachinteresse an den Vorgängen der Welt, insbesondere wenn sie irgendeinen Bezug auf die eigene Lage haben.«⁴⁸

    Eine Frage blieb bis hierhin jedoch unbeantwortet: Was genau ist mit Jugend gemeint, wie lässt sich diese Sozialgruppe konzeptuell eingrenzen? Unseren eigenen Ergebnissen vorangestellt – um diese korrekt einordnen zu können – soll daher folgend erläutert werden, was in dieser Studie unter Jugend vor dem Hintergrund der einschlägigen soziologischen beziehungsweise politikwissenschaftlichen Konzeptualisierungspraxis verstanden wird.

    Unternimmt man eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung von Jugend, so gibt es zwei naheliegende Ansatzpunkte: Jugend kann sowohl als psychodynamische Entwicklungsphase als auch als soziales Phänomen verstanden werden.⁴⁹ Das Entwicklungsphasenmodell mit seinem Fokus auf emotionale und kognitive Prozesse des Lernens und Erziehens, der Herausbildung einer Ich-Identität im Netz von charakterlichen, geschlechtlichen, politischen und anderen Selbstfindungsprozessen ist hauptsächlich für Erziehungswissenschaften und Entwicklungspsychologie von Interesse. Gefragt wird dort danach, welche »Entwicklungsaufgaben« Jugendliche und junge Menschen im Verlauf der Pubertät und danach zu erfüllen haben, über welche Wege sie sich in das gesellschaftliche System integrieren und wie sich diese Integration fördern und verbessern lässt.

    Dagegen knüpft die vorliegende Studie, die sich als Teil der politischen Kulturforschung versteht, an das soziologische Verständnis von Jugend als sozialem Phänomen an: Jugendliche und junge Menschen bilden demnach eine gesellschaftliche Gruppe mit untereinander vergleichbaren, durch Generationen- beziehungsweise Altersgruppenzugehörigkeit konstituierten Lebenslagen und Erfahrungsräumen. Diese Perspektive fragt also »stärker nach den sozialen Strukturmerkmalen, durch die die Meinungen, Einstellungen oder Handlungen von Jugendlichen präformiert (nicht determiniert!) werden«.⁵⁰ Die Emphase auf Strukturmerkmale (also Alters- beziehungsweise Lebenszykluseffekte, Gesellschaftseffekte und Kohorten- oder Generationseffekte⁵¹) sollte gleichwohl nicht zur Suche nach monokausalen Erklärungsmustern verleiten, sondern vielmehr mögliche Einflussgrößen untersuchen. Denn die jugendliche Sicht auf Politik und Interessenaushandlung, auf politische Praxis, ist angesichts historisch wandelbarer Lebensbedingungen und sich ausdifferenzierender Lebenswelten divers und denkbar offen.⁵² In dieser Hinsicht unterscheidet sie nichts von den Erwachsenen. Bewusst bemühten wir uns daher, die verschiedenen Sichtweisen zutage zu fördern, die Diversität verschiedener Weltsichten, Lebensentwürfe und Präferenzmuster zu reproduzieren, wie sie für Konfliktstrukturen in demokratischen Gesellschaften so charakteristisch ist – gerade bei einem wahrscheinlich polarisierenden Thema wie PEGIDA. Insbesondere hier galt es, die Vorzüge der Fokusgruppen-Methode auszuschöpfen.⁵³

    Allerdings: Ein Blick auf die einschlägige Forschung zeigt, dass eine bündige Definition von Jugend nicht zu haben ist, ja, dass die Schwierigkeit, den eigenen Gegenstand klar zu definieren, als grundlegendes Dilemma der Jugendforschung gilt.⁵⁴ Besondere Schwierigkeiten tun sich beim Einziehen von Altersgrenzen auf, da die Phasen von Adoleszenz und Postadoleszenz sowohl historisch-empirisch als auch in wissenschaftlichen Konzepten stark variieren. Jugendliche und junge Menschen, so wird daher nachdrücklich festgehalten, bilden keine eindeutig festlegbare Altersgruppe, keine »Naturtatsache«, sondern sind ein intern differenzierter, durch historisch sich wandelnde sozioökonomische und institutionelle Einflüsse geprägter Teil der Gesellschaft.⁵⁵ Zudem ist hier gegenwärtig einiges in Bewegung: Lebensläufe werden unstrukturierter und offener, Bildungs- und Qualifikationsanforderungen komplexer, und dies alles affiziert auch die Pflege sozialer Kontakte, die Freizeitorganisation, nicht zuletzt die Möglichkeiten und Attraktivität zivilgesellschaftlicher und politischer Beteiligung.⁵⁶ Die Übergangsprozesse weg vom Kindes- und hin zum Erwachsenenalter verlaufen zunehmend weniger parallel, sondern intern heterogen und ungleichzeitig; insgesamt dehnt sich die Jugendphase aus.⁵⁷ Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Unterschiedlichkeit jugendlicher Lebenswelten, sondern auch hinsichtlich der verschiedenen Bildungs- und Erwerbsbiografien und der Verschiedenartigkeit jugendlicher »Selbstfindung« sowie politischer Suchbewegungen: Was früher zeitlich zusammenfiel (Pubertät und biologische Reife, rechtliche Mündigkeit, Bildungs- und Ausbildungsabschluss, ökonomische Selbstständigkeit), driftet infolge jüngerer gesellschaftlicher Entwicklungen zunehmend auseinander.⁵⁸ Als veraltet gelten daher Modelle von Jugend als einem psychosozialen »Moratorium«⁵⁹ beziehungsweise als »Transition« auf der »Lebenstreppe«⁶⁰ hin zum Erwachsenenalter, in welcher die für die Erwerbsarbeit erforderlichen Fähigkeiten, eine persönliche Identität sowie ökonomische Selbstständigkeit, erworben werden, bevor das Individuum ein vollwertiges Glied der Gesellschaft wird.⁶¹ Zur terminologischen Bewältigung dieser Verschiebungen existieren verschiedene Vorschläge; so ist etwa von »Entstrukturierung« beziehungsweise »Destandardisierung«⁶² oder »Patchwork«-Struktur der Jugendphase die Rede.⁶³ Gemeint ist, dass sich zentrale Merkmale dessen, was in vorigen Jahrzehnten als charakteristisch für die Jugend galt, seit relativ kurzer Zeit, aber mit einer beachtlichen Dynamik, verflüssigen. Jugend verliert demnach den Charakter einer einheitlichen Generationsschicht, die sich durch einen distinkten Erfahrungsraum auszeichnet. Zwar weist man die vorübergehend zirkulierende Formel von der »Auflösung der Jugendphase«⁶⁴ größtenteils als überspitzt zurück; konsensuale Zustimmung aber findet die wachsende Bedeutung von Strukturen sozialer Ungleichheit, der Statusposition der Herkunftsfamilie und ähnlicher Stratifikationsmuster, die die Biografieverläufe, Selbstverständnisse und Handlungsmuster der Jugendlichen zerfurchen.⁶⁵

    Das Ergebnis ist widersprüchlich: Der fortschreitende Anstieg jugendlicher Privilegien und Freiheiten (Konsummöglichkeiten, Sexualleben, politische und rechtliche Mündigkeit etc.) läuft zu einer ungebrochen konstitutiven Bedeutung ökonomischer Abhängigkeit parallel.⁶⁶ Für viele Jugendliche haben diese Entwicklungen strukturell bedingte Orientierungsschwierigkeiten zur Folge: Zwar ist etwa die Erwartung, sich durch Disziplin und Bildung ein zufriedenstellendes Auskommen zu schaffen, ungebrochen⁶⁷; die Härten der Arbeitsmarktsituation infolge des Wandels der Erwerbsarbeit (etwa durch zunehmend instabile Beschäftigungsformen wie Zeitverträge, ein allgemein ansteigendes Bildungsniveau im Zuge der sogenannten »Akademisierung« etc.) stellen aber die meritokratische Formel von Wohlstand durch Leistung infrage. Mit Nachdruck betont daher die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, dass es die Jugend im monolithischen Sinne gar nicht gebe⁶⁸ und fordert die Adaption ungleichheitssensibler Forschungskonzepte.⁶⁹ Weil Jugend also keine homogene Sozialgruppe ist, sondern die Komplexität der deutschen Gesamtgesellschaft abbildet, sind allgemeine Aussagen über diesen Untersuchungsgegenstand – auch bei quantitativ-repräsentativen Forschungsdesigns – notwendig begrenzt.⁷⁰

    Abb. 1: Altersspanne der Samples ausgewählter Jugendstudien

    Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Pickel 2002, BDKJ u.a. 2008⁷¹, de Rijke 2008⁷² Calmbach u.a. 2012⁷³, und Calmbach u.a. 2016

    Eine altersbezogene Eingrenzung, die das Sample der vorliegenden Studie strukturiert, war indes unvermeidlich. Wir haben sowohl die Phase der Adoleszenz als auch die der modernen Postadoleszenz einbezogen. Hier einen verbindlichen Richtwert aus den einschlägigen Studien zu destillieren, war angesichts der Vielfältigkeit der Forschungsdesigns kaum möglich.

    Wir verfolgten die Absicht, politische und gesellschaftliche Deutungsmuster der Jugendlichen möglichst umfassend in ihrer realen Heterogenität abzubilden, gerade weil die Übergänge zum klassischen Erwachsenenalter nur schwer pauschal zu ziehen sind und weil »politische Sozialisation erst relativ spät in der Biografie stattfindet und oft erst in der Postadoleszenzphase Kontur gewinnt«⁷⁴, das politische Interesse oft noch bis über das 30. Lebensjahr hinaus ansteigt.⁷⁵

    Demnach haben wir unser Vorgehen an den theoretischen Grundlagen der Jugendforschung ausgerichtet: Entsprechend dehnt sich die Lebensphase der (Post-)Adoleszenz in beide Richtungen (unter das 15. und über das 24. Lebensjahr) zunehmend aus. Ein zentraler Grund für die Ausweitung bis ins vierte Lebensjahrzehnt (30+) hinein⁷⁶, welches auf den ersten Blick nicht mehr viel mit Jugend zu tun zu haben scheint, aber tatsächlich zunehmend durch die Jugendphase geprägt ist, liegt im sogenannten »erweiterten Bildungsmoratorium«⁷⁷, auch »Bildungsexpansion«⁷⁸ genannt: Junge Menschen verfolgen immer längere (Aus-)Bildungswege und sind dadurch über einen größeren Zeitraum hinweg von den Anforderungen der Erwerbsarbeit dispensiert, wodurch die ökonomische Selbstständigkeit immer später eintritt. Gleichzeitig verkürzt sich die Kindheitsphase, so etwa die Autoren des DJI-Längsschnittsurveys, aufgrund gesellschaftlicher und kultureller Einflüsse zunehmend auf das erste Lebensjahrzehnt.⁷⁹ Um der Erweiterung der Jugendphase bis ins vormalige Erwachsenenalter hinein gerecht zu werden, entschieden wir uns für eine möglichst umfängliche Altersspanne, setzten aber zugleich – auch aus forschungspragmatischen Gründen – das Mindestalter höher als üblich an. Während wir der jugendsoziologischen Diskussion seit der Jahrtausendwende darin folgten, das Ende der Jugendphase im 30. bis 35. Lebensjahr zu lokalisieren⁸⁰, erschien uns die gängige Schwelle von zehn bis zwölf Jahren, die den Übergang von Kindheit in Jugend (als biologischen Eintritt der Pubertät) markiert, für unseren Untersuchungszweck als zu früh: Jugendliche unter 16 Jahren ließen wir keine Einladung zu den Diskussionen zukommen, zum einen weil dies das Alter der ersten Wahlberechtigungen (Kommunal- und Landesebene) markiert, zum anderen weil wir die angesichts des Studiendesigns für uns zielführendere politische Artikulationsfähigkeit vor allem bei älteren Jugendlichen erwarteten.

    Kurzum: Die Vielgestaltigkeit jugendlicher Einstellungsmuster, wie sie uns entgegengetreten ist und auch den Auswertungsprozess geprägt hat, soll in den hier vorgestellten Resultaten stets zur Geltung kommen. Sprechen wir also in dieser Studie von Jugend beziehungsweise jungen Menschen, so meinen wir damit stets Personen im Alter von 16 bis 35. Insgesamt konzentriert sich das Gros unserer Daten rekrutierungsbedingt auf junge Menschen in den Zwanzigern: Zwei Drittel unserer Diskutanten sind zwischen 19 und 30 Jahre alt.

    1.3FRAGESTELLUNG UND STUDIENDESIGN

    Die Fragestellung, inwiefern die Jugend im Bann von PEGIDA steht, zielt auf verschiedene Ebenen und erfordert dementsprechend ein Studiendesign, das diesen Anforderungen Rechnung tragen kann. Die vorliegende Untersuchung steht in einer Reihe von Vorarbeiten und bildet den letzten Flügel eines Triptychons zur Frage von Auswirkungen PEGIDAs auf die politische Kultur und die bundesrepublikanische Zivilgesellschaft. Nachdem zunächst die Dresdner Proteste und die Gegeninitiativen im Interesse von Forschungsvorhaben des Instituts für Demokratieforschung standen, sind es nunmehr die Befindlichkeiten der nicht Beteiligten, der nicht primär involvierten Jugendlichen und jungen Menschen, die in den Blick genommen werden. Hierbei geht es letztlich auch um die Frage nach der Wirkung von Protest, die gemeinhin den Einfluss auf die nichtbeteiligte Bevölkerung, die Gegenstrategien des Staates sowie die nicht intendierten Folgen umfassen kann. Es geht also um die schweigende Mehrheit, genauer: die »schweigenden« jungen Menschen, darum, wie sie zu PEGIDA als Protestformation stehen, und inwiefern ihre politischen Maßstäbe und Deutungsrahmen mit PEGIDA als Bezugssystem verwoben sind. Wie verhandeln die jungen Menschen die Bewegung und ihre Themen wie »Deutsche Identität«, Geflüchtete und Asylpolitik, die Kritik an den Medien (»Lügenpresse«) und Politiker/-innen? Wie stehen sie zu Handlungsformen und Aktionen der Protestbewegung selbst? Diese Fragen sollen hier mit Ansätzen der politischen Kulturforschung bearbeitet werden, jedoch nicht in ihrer klassischen behavioralistischen Provenienz als vergleichende empirische Kulturforschung, sondern mit dem Fokus auf die »Ausdrucksseite« der politischen Kultur. Es geht dann – in der Tradition von Karl Rohe – stärker um tieferliegende Vorstellungs- und Deutungsmuster als um quantitativ registrierbare Einstellungen, mithin um ein politisches Weltbild, also im Sinne Karl Rohes sowohl um »politische Deutungskultur« als auch um die »politische Soziokultur«, als »unbewusste, Denk-, Rede- und Handlungsgewohnheiten«.⁸¹

    Doch ist bereits die Erforschung von Protest kein einfaches oder selbstläufiges Anliegen, weil Proteststrukturen fluide und die Sympathien von Teilnehmenden äußerst wandelbar sind.⁸² Vermutlich gilt dies umso mehr für jene, die ihrer politischen Präferenz zunächst keinerlei Ausdruck verleihen und somit politisch inaktiv in der Gesellschaft verharren.⁸³ Dennoch werden gerade aus den zuvor ermittelten Deutungsmustern und Motivationen der Anhänger der PEGIDA- und NOPEGIDA-Bewegung die möglichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten offenbar. Daher wurde auf Basis der gesammelten Forschungserfahrung die unbeteiligte jüngere Kohorte in einem ersten Untersuchungsschritt in Dresden und Leipzig, den wesentlichen Schauplätzen beider vorheriger Forschungsschwerpunkte (der Dominanz von PEGIDA in Dresden und der Übermacht von NOPEGIDA in Leipzig) in den Blick genommen. Um im Anschluss klären zu können, inwiefern die dort identifizierten Narrative spezifisch ostdeutsch oder gar sächsisch sind, wurden in einem zweiten Untersuchungsschritt vier weitere Fokusgruppen in Westdeutschland, genauer je zwei in Nürnberg und Duisburg, durchgeführt.⁸⁴

    Die Frage, ob und inwieweit die Jugend im Bann von PEGIDA steht oder nicht, erforderte ein Vorgehen über unterschiedliche Zugänge, das Feld wurde entsprechend mit Hilfe eines mehrteiligen Studiendesigns sondiert. Zunächst bedeutete die Frage nach dem Einfluss von PEGIDA die Notwendigkeit, die Entwicklung der Dresdner Protestbewegung kontinuierlich weiter zu begleiten, um den Kontakt zum Gegenstand und das Gespür für das Feld nicht einzubüßen, mithin Narrative und Symbole der Bewegung festzuhalten. Dies wurde für den vorliegenden Fall durch eine Auswertung von PEGIDA-Veranstaltungen, sowohl durch die Beobachtung vor Ort als auch via Live-Stream, ermöglicht (vgl. Kapitel 2.2.).

    Diese Beobachtungen und intensiven Vorarbeiten haben schließlich den Gang ins Feld vorstrukturiert. Um einen Einblick in die Lebensbedingungen junger Erwachsener in den primären Erhebungsorten zu gewinnen, wurden zunächst Expertinnen und Experten aus Politik und Zivilgesellschaft sowie aus der Jugend- und Sozialarbeit befragt. Es ging um ihre Einschätzung der Auswirkungen der PEGIDA-Demonstrationen seit über drei Jahren auf das Umfeld, ihre Beobachtungen zur Reaktion der Stadtgesellschaft im Allgemeinen und der Jugend im Besonderen und schließlich um konkrete Orte der Vergemeinschaftung der jungen Menschen in Leipzig und Dresden. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse halfen, das Feld zu systematisieren und Zugangswege zu identifizieren, die für die Erschließung des konkreten Forschungsgegenstandes vor Ort genutzt wurden.

    Ob PEGIDA der »Stadt Dresden schadet«⁸⁵ oder ob die Bewegung »wichtige Probleme, die von der Politik vertuscht werden«, benennt⁸⁶, wurde bereits in quantitativen Umfragen untersucht. Doch wenn es um bisher unbekannte, »neue« Deutungsrahmen gehen soll, um Zuschreibungen oder unkonkrete Vorstellungen, lassen sich diese nicht so einfach mit einem quantitativen Verfahren ermitteln. Für die Untersuchung der jüngeren Alterskohorten und die Frage nach den Resonanzeffekten von Topoi, Narrativen und Deutungsmustern von PEGIDA brauchte es ein qualitatives Studiendesign, das in der Lage ist, intersubjektive Sinngehalte der befragten Jugendlichen und jungen Menschen hervorzulocken. In diesem Sinne wurden insgesamt zwölf Fokusgruppen in Dresden, Leipzig, Duisburg und Nürnberg durchgeführt. Solche Gruppendiskussionen sind in unserem Verständnis Abbildungen eines alltäglichen Meinungsbildungsprozesses, in dem die Teilnehmenden zwar durch die Moderation thematisch angeleitet werden, aber phasenweise ohne Einflussnahme der Moderation ins Gespräch kommen. Dabei werden Ansichten und Einstellungen ausgetauscht und idealerweise an Beispielen alltäglicher Praktiken verdeutlicht, wodurch die Diskussionsteilnehmerinnen und Diskussionsteilnehmer einen Einblick in (potenzielle) Deutungsmuster, die ihre Handlungen strukturieren, gewähren.⁸⁷ Insbesondere junge Menschen haben vordergründig ein begrenztes Interesse an Politik und sehen sich selbst oftmals als wenig kompetent an, um über politische Themen zu sprechen. Vorstellungen und Meinungen artikulieren sie daher eher in undeutlichen Stimmungen statt in abfragbarem Wissen. Dieses Alltagsbewusstsein entsteht vor allem durch Interaktions- und Kommunikationsprozesse und ist daher in einer Gruppendiskussion für die Sozialforschung besser einzufangen als beispielsweise in einem Einzelinterview oder einer standardisierten Befragung⁸⁸, insbesondere wenn der Gegenstand für die Befragten eher »schwierig« und diffus ist.

    Die Idee ist, dass die befragten jungen Menschen in Fokusgruppen »oftmals besser in der Lage sind, ihre Meinung zur Sprache zu bringen. Wenn sie auf Stichwortgeber reagieren können oder durch vorangegangene ähnliche Aussagen Mut gefasst haben«⁸⁹, können die Aussagen oftmals präziser und prägnanter ausfallen. Für die Teilnahme an Fokusgruppen ist eine gewisse Verbalisierungskompetenz unerlässliche Voraussetzung. Vor allem Jüngere wären möglicherweise – wie insbesondere auch ältere Probandinnen und Probanden – schwer »zum Sprechen zu bringen«. Die Eingrenzung unseres Samples zwischen 16 und 35 Jahren ist demzufolge sowohl theoretischen Erwägungen in Ableitung der Forschungsliteratur als auch forschungspraktischen Erwägungen geschuldet.

    Fokusgruppen sind keine spontanen Unterhaltungsrunden, sondern eine geplante, strukturierte und moderierend gelenkte Methode zur Erfassung von Vorstellungs- und Deutungsmustern. Damit dies gelingt, wird die Gruppendiskussion durch einen Themenkatalog strukturiert, der den Inhalt und Ablauf der Gesprächsrunde vorgibt, und damit eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen den Gruppen herzustellen vermag. Der Themenkatalog unterstützt die Moderation auch dahingehend, Topoi und Schlüsselwörter längst möglich zu vermeiden, weil es nicht darum gehen soll, die Befragten mit Forschungskonzepten zu konfrontieren, sondern deren Semantiken einzufangen. »Geht es doch in Fokusgruppen gerade darum, Sprache, Formulierungen und Ausdrucksweisen der Gesprächsteilnehmer aufzunehmen, um nachzuvollziehen, was diese sehen und als Realität erfahren.«⁹⁰ Die Gruppendiskussion folgt meist einer Grundstruktur: Aufwärmphase, »Phase der Vertrautheit«, am Ende Ausklang der Debatte mit der »Phase der Konformität«.⁹¹ Insbesondere, wenn alle Teilnehmenden einander unbekannt sind, und sich nicht, wie in einer Realgruppe, bereits kennen, ist die erste Stufe eher durch vorsichtige und zurückhaltende Aussagen geprägt. Zu Beginn werden auch eher Antworten und Aussagen formuliert, von denen die Teilnehmenden annehmen, dass sie auf gruppeninterne Zustimmung oder Erwartungshaltungen treffen. Erst im zweiten Abschnitt ist mit offenen, spontanen und auch unkontrollierten Reaktionen zu rechnen, die Einblick in persönliche Ansichten ermöglichen, bevor sich am Ende einer Fokusgruppe oftmals eine Art Gruppenkonsens herausbildet, in welchem unterschiedliche Meinungen eingeebnet werden.

    Auf diese Phasen ist sowohl bei der Erstellung des Themenkataloges als auch bei der Auswertung zu achten. Um die Aufwärmphase kurz zu halten und dennoch Informationen gewinnen zu können, haben wir nach einer kurzen Vorstellungsrunde, bei der wir Alter, Hobbies und »Status« (Schule, Ausbildung, Studium oder Erwerbstätigkeit) erfragt haben, den Befragten insgesamt 64 Bilder präsentiert, die sowohl ein Repertoire an Jugend- und Alltagskultur abbildeten als auch mit Blick auf unsere Fragestellung ebenso politische Themen sowie PEGIDA-Bezüge visualisierten.⁹² Die Befragten sollten sich nun drei bis maximal fünf Bilder aussuchen, die »Dinge zeigen, die für sie wichtig sind«. Sollte jemand eine Abbildung vermissen, diente ein grünes Feld als Platzhalter, das mit eigenen Bildern, quasi als »Joker« befüllt werden konnte.

    Bei der Vorstellung der jeweils ausgewählten Bilder waren die Befragten sogleich aufgefordert, der Gruppe vorzustellen, was konkret sie mit den Abbildungen verbinden, um möglichst auch schon an dieser Stelle alltagsweltliche Erfahrungen und Handlungsparadigmen einfangen zu können. Überdies war die Moderation angehalten, bei Themen wie Heimat, Politik oder Engagement, wie auch dem vermehrten Zustrom an Geflüchteten seit 2015, der im Folgenden vereinfacht als »Flüchtlingskrise« bezeichnet werden soll, vertiefender nachzufragen. Im weiteren Verlauf sollten die Befragten – nun unabhängig von den Bildern – erzählen, was sie mit Deutschland im Allgemeinen verbinden und wie sie zu dem Satz »Ich bin stolz, Deutscher zu sein« stehen. In einem nächsten großen Block wurden die jungen Menschen aufgefordert, über politische Fragen zu sprechen – idealerweise wurde an dieser Stelle durch die Moderation auf bereits Gesagtes zurückgegriffen und weitere Erzählimpulse gesetzt. Sollte bis zu diesem Zeitpunkt durch die Teilnehmer/-innen die Flüchtlingskrise noch nicht debattiert worden sein, wäre sie nun gezielt von der Moderation angesteuert worden. Überhaupt wird in den Fokusgruppen jedes Thema zunächst durch eine offene, allgemeine und neutral gehaltene Fragestellung eingeführt, um anschließend in die einzelnen Themenblöcke spezifischer hineinzuzoomen. Abschließend wurden die Befragten gebeten, an einem kleinen Gedankenexperiment mit folgender Initialisierungsfrage teilzunehmen: »Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit und stellen sich Folgendes vor: Sie sind 67 Jahre (in Variation: 70 Jahre) alt, es ist ein warmer Sommerabend, Sie sitzen im Freien und blicken auf Ihr Leben zurück. In Ruhe lassen Sie die entscheidenden Situationen und Momente Ihres Lebens Revue passieren.« Anhand notierter Stichworte wurde dann auch darüber gesprochen, welche Wünsche die Befragten für die Zukunft haben, ob sie überwiegend optimistisch sind oder sich eher Sorgen machen.

    Abb. 2a)-j): Fokusgruppenbilder mit Variationen für die West-Gruppen

    Quelle: Eigene Zusammenstellung lizenzfreier Bilder

    Der ursprüngliche Untersuchungsfokus lag auf jungen Menschen in Dresden und Leipzig. Während in der einen Stadt PEGIDA enorm erfolgreich war und noch immer ist, dominierte in der benachbarten Metropole der Gegenprotest. In beiden Städten haben wir durch Kontaktaufnahme mit Sportvereinen und Jugendinitiativen, Schulen und anderen Begegnungsorten von jungen Menschen über ein Schneeballsystem per E-Mail frei rekrutiert. Die in den so zusammengesetzten Gruppen gewonnenen Erkenntnisse waren den Vorstellungen und Denkmustern der NOPEGIDA-Protestierenden sehr ähnlich, was vermutlich der Rekrutierungsform geschuldet ist, meldeten sich doch eher diejenigen mit einem Interesse an politischen Themen und hohem Bildungsniveau. Somit war eine Modifikation des Feldzugangs im Sinne der ergebnisoffenen Forschung erforderlich.⁹³ Deshalb wurden über Markt- und Meinungsforschungsstudios Gruppen hinsichtlich ihrer Erwartungen einer möglichen »Islamisierung in Deutschland« und ihres Bildungsniveaus in variierender Zusammensetzung rekrutiert.⁹⁴ Insgesamt ergeben sich drei verschiedene Gruppentypen, nämlich die bezüglich ihrer Merkmalsausprägung und Selbsteinschätzung »Unbekümmerten«, die angaben, keine Angst vor einer Ausbreitung des Islams zu haben, die »Beunruhigten«, die zu Protokoll gaben, solche Ängste zu haben, oder die »Freien«, die ohne Auswahlfrage rekrutiert wurden. Daher werden die Teilnehmenden der verschiedenen Gruppen auch im Folgenden mit diesen Begriffen bezeichnet, wenn die Art der Rekrutierung von Interesse ist. Zusammen mit dem nachträglich durchgeführten »Westvergleich« mittels vier Fokusgruppen – um etwaige »typisch ostdeutsche« Sozialisations- und Einstellungsmuster ermitteln zu können – wurden so insgesamt zwölf Fokusgruppen mit insgesamt 88 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zwischen 16 und 35 Jahren durchgeführt. Die Erhebungen hatten zwei zeitliche Schwerpunkte: Zunächst den Sommer 2016 in Dresden und Leipzig sowie den Frühling und den Frühsommer 2017 in Nürnberg und Duisburg.

    Abb. 3: Struktur des Untersuchungssamples mit Erhebungszeiträumen

    Quelle: Eigene Zusammenstellung

    Die derart rekrutierten Befragten sind keineswegs repräsentativ für die Bevölkerung, ebenso wenig ist das Sample ein genuines Abbild der entsprechenden Altersgruppe. Allerdings stehen im Zuge von qualitativer Grundlagen- und Ursachenforschung auch weniger die Wiedergabe repräsentativer Zustände als vielmehr die Aufdeckung und Beschreibung grundlegender Zusammenhänge im Vordergrund. Es geht darum, die Relevanz und Wirkungsweise einzelner, spezifischer Aspekte in den lebensweltlichen Strukturen Jugendlicher und junger Erwachsener aufzudecken, zu beschreiben, zu rekonstruieren und schließlich zu interpretieren. In diesem Sinne werden die Gruppen hinsichtlich der Forschungsfrage, aber im Laufe der Erhebung offen für Modifikationen, ausgewählt, um die Entwicklung, Überprüfung oder Falsifizierung von Thesen zu ermöglichen. Arnd-Michael Nohl spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit der Erkenntnisgenerierung und Erkenntniskontrolle.⁹⁵

    Die Fokusgruppen wurden alle per Ton und Bild aufgezeichnet und anschließend nach einfachen Regeln (Verzicht auf nonverbale Äußerungen, kleine Pausen, o.Ä.) transkribiert. Überdies waren zwei bis vier Forschende als Beobachterinnen und Beobachter vor Ort, um – von den Diskutierenden unbemerkt – Stimmungen, Mimik und Gestik zu registrieren, die für die Auswertung des gesprochenen Wortes essenziell sind. Jede Fokusgruppe hatte einen Umfang von 120-150 Minuten mit vier bis acht Teilnehmenden. Überdies wurde jede und jeder am Ende der Gesprächsrunde gebeten, einen durch uns vorbereiten Fragebogen auszufüllen, der die soziodemografischen Merkmale sowie das Wahlverhalten erhebt.⁹⁶ Dies dient auch dazu, das untersuchte Bevölkerungssegment näher beschreiben und einordnen zu können, wenn auch keinesfalls dazu, Aussagen über Signifikanzen oder Korrelationen treffen zu können.

    Abb. 4: Alter der Befragten

    Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

    Die rund 720 transkribierten Seiten von allen Gesprächsgruppen wurden praktisch hermeneutisch ausgewertet und einzelne Passagen und Schwerpunkte einer Feinanalyse unterzogen. Neben die sinnverstehende Erschließung des Gesagten als erstem Analyseschritt trat die Auswertung der Gruppenstruktur: Wer sagt wann was und mit welchen Begriffen; wie werden diese von anderen aufgenommen und verhandelt? Zunächst wurde jede Gruppe für sich analysiert, bevor die Ergebnisse mit den anderen Gruppen in Beziehung gesetzt wurden. Die tiefergehende Erschließung und intensive Auswertung einzelner Passagen erfolgte mit Hilfe der Codierungsmöglichkeiten im Computerprogramm MaxQDA. Dabei waren einige Codes (wie Heimat, Identität und Nationalstolz, Politik oder PEGIDA) bereits deduktiv durch die Forschungsfrage vorgegeben, während sich andere Codes (beispielsweise politische Satire, Kriegsangst, das Verhältnis zur Erwerbsarbeit oder Verschwörungskonstrukte) induktiv aus dem Material ergaben. Um eine intersubjektive Nachprüfbarkeit zu gewährleisten, arbeiteten wir in einem Forscherteam zusammen, das das Material gemeinsam auswertete. Darüber hinaus wurden Thesen mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Demokratieforschung diskutiert, die über Ursachen von Fremdenfeindlichkeit in Sachsen geforscht haben, über Rechtsextremismus, die AfD und (Rechts-)Populismus beziehungsweise soziale Bewegungen arbeiten. Die Ergebnisse wurden überdies mit früheren Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung abgeglichen, in denen in Fokusgruppen mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus Politikwahrnehmungen und Gesellschaftsbilder erforscht wurden. Dies gilt nicht nur für die bereits erwähnten Anhängerinnen und Anhänger der PEGIDA-Bewegung und ihrer Gegnerinnen und Gegner, sondern umfasst auch Protestakteure und -akteurinnen gegen Stromtrassen, Windkraftanlagen oder Stadtentwicklungsprojekte, die Occupy-Bewegung, Erhebungen mit Grünen-Wählerinnen und -Wählern, mit Unternehmerinnen und Unternehmern, mit Personen, die soziologisch betrachtet aus der gesellschaftlichen Mitte, der Unter- oder der Oberschicht kommen. Gerade auf Basis dieses umfangreichen und kontrastierenden Materials lassen sich Deutungsmuster und Werthaltungen der in der vorliegenden Studie untersuchten jungen Menschen gezielt auf Narrationen von PEGIDA hin untersuchen. Doch dafür bedarf es zunächst eines Schrittes zurück, denn: Was macht die Bewegung selbst aus, was sind ihre Symbole und Narrative, die möglicherweise anschlussfähig für die jungen Menschen sind?

    Abb. 5: Höchster erreichter Bildungsabschluss der Befragten

    Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen

    Abb. 6: Persönliches Nettoeinkommen der Befragten

    Quelle: Eigene Zusammenstellung aus Daten der fragebogengestützten Erhebung im Anschluss an die Fokusgruppen


    1 | Vgl. Joachim Fischer, Hat Dresden Antennen? Die Funktion der Stadt für gesamtgesellschaftliche Debatten seit 1989, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 795, 2015, S. 16-28.

    2 | Vgl. Lars Geiges u.a., PEGIDA: Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015; Institut für Demokratieforschung, Büchse der Pandora? PEGIDA im Jahr 2016 und die Profanisierung rechtspopulistischer Positionen, Forschungsbericht, Göttingen 2016.

    3 | Vgl. Stine Marg u.a., NoPEGIDA: Die helle Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2016.

    4 | Vgl. Robert D. Putnam, Our Kids: The American Dream in Crisis, 2016.

    5 | Vgl. Thomas Frank, What’s the Matter with Kansas? How Conservatives Won the Heart of America, 2005.

    6 | Catherine J. Cramer, The Politics of Resentment. Rural Conciousness and the Rise of Scott Walker, Chicago 2016.

    7 | Arlie Russell Hochschild, Strangers in Their Own Land: Anger

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