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Streitlust und Streitkunst: Diskurs als Essenz der Demokratie
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eBook558 Seiten6 Stunden

Streitlust und Streitkunst: Diskurs als Essenz der Demokratie

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Über dieses E-Book

Aktuell die Corona-Pandemie, davor die Klimakatastrophe und die Migrationskrise – die öffentliche Diskussion polarisiert sich, sie wird schriller und der Umgangston wird rauer, ja oftmals sogar unerträglich. Auf der Strecke bleibt die Streitlust, die Streitkunst und auch der gesellschaftliche Diskurs. Aber sie sind es, die in der Tradition der Aufklärung die Suche nach tragfähigen Kompromissen und Lösungen für gesellschaftliche Probleme erst ermöglichen.



Im vorliegenden Band beschreiben Experten am Beispiel verschiedener Themenfelder, ob und inwieweit die Aufmerksamkeitsökonomie, welche durch die Digitalisierung noch wirkmächtiger geworden ist, ein regelrechtes Diskursversagen ausgelöst hat. Welche Schäden entstehen dadurch dem Gemeinwesen und der Demokratie? Und was müssen wir tun, um zivilgesellschaftliche Streitkultur zurückzugewinnen und damit das Ringen um Problemlösungen wieder zu ermöglichen?



Die Autoren analysieren Themen, die in jüngerer Zeit viel öffentliche Aufmerksamkeit absorbiert haben. Ferner beschäftigen sie sich mit dem von den Redaktionen eher vernachlässigten Meta-Diskurs über die Medien und den Journalismus selbst sowie mit dessen Beeinflussung durch Propaganda. Der Journalismus ist durch seine fortschreitende Unterfinanzierung, aber auch durch teilweise selbstverschuldete Glaubwürdigkeitsverluste in Not geraten.



Weitere Abschnitte widmen sich den Unzulänglichkeiten der Auslandsberichterstattung sowie der Rolle der Intellektuellen in unserer Streitkultur.

Dieser Reader ist als Einführungsband in die Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses konzipiert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Nov. 2020
ISBN9783869625553
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    Buchvorschau

    Streitlust und Streitkunst - Herbert von Halem Verlag

    Russ-Mohl

    ZUR EINFÜHRUNG: STREITLUST UND DISKURSKULTUR VOR UND NACH CORONA

    Um es vorwegzuschicken: Meine persönlichen Helden im Drama um die Corona-Pandemie und um Diskurshoheit im Jahr 2020 sind nicht der Virologe Christian Drosten oder sein ›Gegenspieler‹ Hendrik Streeck – auch wenn beiden zu attestieren ist, dass sie begnadete Wissenschaftskommunikatoren sind, fast so begnadet wie die YouTuberin Mai Thi Nguyen-Kim, Selfmade-Wissenschaftsjournalistin und promovierte Chemikerin.

    Unter meinen Covid-19-Heroen befinden sich auch keine Politiker. Weder Angela Merkel noch Jens Spahn, Armin Laschet oder Markus Söder sind darunter, obschon viele Medien sie in den Wochen der Corona-Schockstarre erstaunlich distanzlos als besonders führungsstark glorifiziert haben. Nicht die Kanzlerin, der viele Medienleute schon wegen ihres Physikstudiums, das Jahrzehnte zurückliegt, hohe Problemlösungskompetenz bescheinigten – offenbar in völliger Unkenntnis der Arbeitsweisen und des Spezialisierungsgrades heutiger Naturwissenschaften. Und auch nicht der vor Virilität strotzende stramme Markus und seine Wettbewerber um die Publikumsgunst und die Kanzlernachfolge – wenngleich wir ja tatsächlich froh sein können, dass wir im deutschsprachigen Raum keinen Donald Trump, keinen Jair Bolsanaro und auch keinen Recep Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin als politisches Führungspersonal haben und dass Journalisten von unseren Regierenden nicht rüpelhaft attackiert, bei ihrer Arbeit behindert, ja bedroht, ins Gefängnis geworfen oder ermordet werden.

    Es mag ja sogar sein, dass wir mit der deutschen politischen Führungsequipe, aber auch mit Sebastian Kurz in Österreich und mit der Allparteien-Koalition der Konkordanz-Demokratie in der Schweiz bis dato (Mitte Juni 2020) vergleichsweise ›gut‹ durch die Krise navigiert wurden. Wobei all diese Urteile und Vergleiche, mit denen im Netz und in den Medien sich tagtäglich die unterschiedlichen Lager um die Corona-Meinungshoheit bekriegen, ja nichts weiter sind als vorschnell. Denn bei Redaktionsschluss für dieses Buch steht zwar vorläufig fest, dass Deutschland bisher mehr Glück gehabt hat als etwa Italien, Spanien oder die USA. Andererseits weiß aber niemand, inwieweit dieses Glück tatsächlich umsichtiger Regierungspolitik zuzuschreiben ist. Obendrein wissen inzwischen eigentlich alle, dass sich ein Lockdown nur für sehr begrenzte Zeit durchhalten lässt und deshalb all diejenigen, die vollmundig die Überlegenheit der rigideren deutschen, österreichischen oder schweizerischen Strategie gegenüber beispielsweise dem schwedischen Vorgehen mit Triumphgeheul konstatierten, allenfalls einen vorläufigen Erfolg verbuchen konnten. Der Ausgang des Dramas ist und bleibt ungewiss, mutmaßlich bis zur universellen Verfügbarkeit eines Impfstoffs.

    Dann sind da noch die Kollateralschäden, die in die Zwischenbzw. Erfolgsbilanzen und in den Corona-Lebensrettungs-Diskurs viel zu spät und auch zu wenig einbezogen wurden: angefangen bei Suiziden infolge Lockdown-bedingter Existenzvernichtung oder Vereinsamung, über die gesundheitlichen Schäden, die durch abgesagte Operationen oder nicht erfolgte Arztbesuche aus Angst vor Ansteckungsgefahr entstanden sind. Gar nicht zu reden von Arbeitslosigkeit und Pleiten, von astronomischen Schuldenbergen, die wir der nachfolgenden Generation aufbürden, ohne irgendwelche ökologischen Probleme nachhaltig gelöst zu haben, und von Hungertoten draußen vor den abgeschotteten Toren der EU, die nach Einbruch der Weltwirtschaftskrise 2020 schlichtweg nichts mehr zu essen hatten.

    Es sind auch keine Journalistinnen und Journalisten, die ich mit Lorbeer bekränzen möchte. Gewiss, es gab und gibt viele herausragende Einzelleistungen – z. B. im Datenjournalismus oder bei der interaktiven, grafischen Aufbereitung von Statistiken. Sie sollten nicht in Vergessenheit geraten, zumal sie oftmals unter erschwerten Bedingungen erbracht wurden. Auch und gerade in den Redaktionen herrschte wochenlang Homeoffice-Betrieb und Ausnahmezustand. Andererseits dürften solch besondere Leistungen gewiss noch mit Preisen gebührend gewürdigt werden, seien sie nach Theodor Wolff, Henri Nannen oder Hanns Joachim Friedrichs benannt, seien es die Swiss Press Awards in der Schweiz oder der Dr.-Karl-Renner-Publizistikpreis in Österreich oder eben in den USA die Pulitzer Preise. Also kein Grund, hier und heute diesen Argumentationsstrang weiterzuverfolgen.

    Im Olymp der Corona-Heldinnen und -Helden

    Stattdessen gehören zuvörderst Ärzte und Pflegekräfte sowie Väter und Mütter kleiner Kinder in der Homeoffice-Quarantäne in meinen Olymp der Corona-Helden und -Heldinnen. Aber sie wurden ja in den Medien und von den Balkonen südeuropäischer Länder bereits hinreichend gefeiert, sodass es sie hier eher pflichtschuldig nochmals zu erwähnen gilt. Unter den Wissenschaftlern gebührt aus meiner Sicht ein Ehrenplatz Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen, namentlich und stellvertretend für viele andere Dan Ariely, Richard Thaler, Ernst Fehr und Irving L. Janis.

    Schon ihre wichtigsten Buchtitel verraten, weshalb: Predictably Irrational. The Hidden Forces That Shape Our Decisions ist Arielys erster Bestseller betitelt.¹ Es steht ja zu befürchten, dass selten im Namen der Rationalität so viele vorhersagbar irrationale Entscheidungen getroffen wurden wie vor und während des Lockdowns. Auch Arielys Folgepublikation hat es in sich: The Honest Truth About Dishonesty: How We Lie to Everyone – Especially Ourselves. In der Tat scheitern ja rationale Diskurse nicht zuletzt an unser aller Unehrlichkeit und an unserem Talent, uns immer wieder selbst zu belügen – Journalisten und Wissenschaftler nicht ausgenommen.

    Thalers vielleicht wichtigstes populärwissenschaftliches Werk wiederum ist Misbehaving betitelt. Auch dabei geht es um etwas, was Diskurse prägt. Auf Deutsch lässt sich das frei, aber treffend auch mit ›zivilem Ungehorsam‹ statt wörtlich mit ›schlechtem Benehmen‹ oder ›Ungezogenheit‹ übersetzen. Wobei es Thaler in seinem Buch um einen innerwissenschaftlichen Diskurs, um das Aufmucken der Verhaltensökonomen gegen den Mainstream geht. In unserem Kontext dagegen wäre auszuloten, mit welchen Erfolgsaussichten man im Kampf um Diskurshoheit gegen ein loses, aber vielleicht gerade deshalb hochwirksames Kartell aus grünrot-schwarzen Leitmedien und Eliten Aufmerksamkeit gewinnen kann – oder eben auch nicht. Und welche Denkfehler uns allen dabei unterlaufen – denjenigen, die aufbegehren, ebenso wie denen, die ihre Lufthoheit im öffentlichen Diskurs verteidigen.

    Der Schweizer Verhaltensökonom Ernst Fehr (2020) wiederum hat frühzeitig, als die Medien noch tagtäglich mit wenig aussagekräftigen Todes- und Infiziertenstatistiken jonglierten, für die Schweiz vorgeschlagen, wöchentlich eine repräsentative Stichprobe zu ziehen und 5.000 Schweizer auf Covid-19 zu testen, um mit verlässlicheren Daten der Ausbreitung des Virus nachspüren zu können.

    Irving L. Janis (1972) ist vor einem halben Jahrhundert mit einer einzigen Publikation zur ›Celebrity‹ im Wissenschaftsbetrieb avanciert: Victims of Groupthink sagt schon so ziemlich alles über Herdentrieb und Herdenverhalten, die in Situationen großer Unsicherheit oftmals rationales Denken und Entscheiden ersetzen. Wäre der Titel je ins Deutsche übersetzt worden, hätte er »Gefangene des Gruppen-Denkens« heißen können.

    An diesem Punkt ist für mich ein weiterer ›Held‹ der Bestseller-Autor Rolf Dobelli. Er hat bereits vor rund zehn Jahren mit seiner populärwissenschaftlichen Zusammenschau sozialpsychologischer und verhaltensökonomischer Erkenntnisse zu Denkfehlern den Instrumentenkasten geliefert, um die Kommunikation im allgemeinen und den Diskurs um Covid-19 im Besonderen und in ›den‹ Medien, ›dem‹ Journalismus und ›der‹ Öffentlichkeit in einer digitalisierten Aufmerksamkeitsökomomie einordnen zu können: Bei Dobelli (2011) lässt sich das jeweils Wichtigste über Bestätigungsfehler (›Confirmation Bias‹), Übervertrauen (›Overconfidence‹), Kontrollillusion (›Illusion of Control‹), Vernachlässigung von Wahrscheinlichkeiten (›Neglect of Probability‹), Verfügbarkeitsheuristiken (›Availability Bias‹), Herdentrieb und Gruppendenken (›Groupthink‹) sowie weitere rund vier Dutzend Denkfehler nachlesen, mit denen wir alle uns im Alltagsleben und im Kampf mit Informationsüberlastung über Wasser halten – gebildete Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftler, Journalisten, Politiker eingeschlossen. Dazu mehr im Folgenden.

    Killing the Messenger: Medien sind mächtig

    Medien sind mächtig. Es gilt mehr denn je Niklas Luhmann (1996: 9): »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«. Nur dass die sozialen Medien mit all ihren Dissonanzen und Einfallstoren für Desinformation und Verschwörungstheorien hinzugekommen sind.

    Allerdings ist das Zitat aus seinem Kontext gerissen, und die zweite Hälfte ist in unserem Zusammenhang nicht minder relevant als die erste: »Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt« (ebd.).

    Ich jedenfalls werde den Verdacht nicht los, dass gerade in der Corona-Berichterstattung solch ein ›selbstverstärkendes Gefüge‹ starke Wirkung entfaltet hat und es in freiheitlichen Gesellschaften eher der Journalismus und die Medien als die Regierungen waren, die den Lockdown ausgelöst haben – und zwar mit ihrem Übersoll an Berichterstattung, das die Regierenden in Demokratien stark in Zugzwang gebracht hat.

    Weil es sich um einen Verdacht, sprich: um eine Forschungshypothese handelt und noch nicht um gesicherte Erkenntnis, wie wir sie dereinst von medienwissenschaftlichen Inhaltsanalysen sowie im Rückblick von Historikern erwarten dürfen, formuliere ich einige meiner Beobachtungen und Vermutungen, die diesen Verdacht begründen, im Folgenden zunächst in Form von Fragen – in der Hoffnung, dass andere, vor allem Journalisten und Wissenschaftler, diese aufgreifen und weiterverfolgen werden.

    Damit kein Missverständnis entsteht: Es gab, wie bereits gesagt, zahllose bewundernswerte Einzelleistungen von Journalistinnen und Journalisten in der Corona-Berichterstattung. Die Kehrseite, die kaum irgendwo öffentlich diskutiert wurde, war indes, wie miserabel ›der‹ Journalismus als bereits ausgezehrte, angeschlagene Institution gerüstet war, um eine Pandemie und das damit einhergehende gesellschaftspolitische Großexperiment eines Lockdowns zu begleiten. Allerorten fehlten und fehlen Wissenschafts- und Medienexperten in den Redaktionen, in der Überzahl sind Politik-, Lokal- und Sportjournalisten sowie Unterhaltungskünstler, die im Umgang mit einer Pandemie genauso hilflos sind wie Du und ich – und die deshalb den PR-Abteilungen regierungsnaher Forschungsinstitute wie dem Robert Koch Institut weitgehend ausgeliefert waren.

    Im Rückblick ist es jedenfalls beängstigend, mit welcher Nonchalance die Redaktionen der Leit- und Mainstream-Medien in den DACH-Ländern und auch anderswo in der freiheitlichen Welt das Corona-Virus in Wuhan zunächst übersehen oder allenfalls als regionales Phänomen wahrgenommen haben, geradezu als blieben Viren brav an der Sicherheitskontrolle eines Flughafens zurück.

    Hat es danach obendrein eine Phase gegeben, in der nahezu alle Medien weitestgehend ungefiltert die chinesische Staatspropaganda vom Lockdown in Wuhan übernommen haben? Bis hin zur Errichtung neuer Krankenhäuser innerhalb von Tagen? Wenn das so gewesen sein sollte: Handelt es sich dann womöglich um eine gekonnte und nicht durchschaute Propaganda-Aktion der chinesischen Staatsführung, mit der die Überlegenheit des autoritären chinesischen Wegs der Pandemie-Bekämpfung vorexerziert werden sollte? Wurden mit der unkritischen Übernahme dieser Darstellung womöglich demokratische Regierungen in Zugzwang gesetzt, mit einem Notstandsregime Grundrechte auszuhebeln und Handlungsstärke zu beweisen?

    Kurz vor dem Ende des Karnevals war dann jedenfalls Schluss mit lustig. Das Virus rückte geografisch und kulturell näher, es wurden tagtäglich in den Nachrichten Toten- und Infizierten-Statistiken aus aller Welt präsentiert, und in Wiederholungsschleifen flimmerten die Bilder der Leichentransporte in Militärkolonnen aus Bergamo und die der Leichenkühlhäuser in New York in unsere Wohnzimmer. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass angesichts dieser täglichen Überflutung mit Corona-Nachrichten Angst, ja Panik und Schockstarre in der Bevölkerung entstanden ist. Die bisher zu wenig diskutierte Frage lautet: Was hat das bis dato nicht gekannte, einmalige Übersoll an Berichterstattung politisch bewirkt? Noch nicht einmal die Terrorattacken auf das World Trade Center und das Pentagon haben vergleichbare Medienresonanz ausgelöst: Noch mitten in der Phase der Schockstarre berichtete das auf Inhaltsanalysen spezialisierte Forschungsinstitut Mediatenor, dass die Corona-Berichterstattung bereits vom Umfang her die Berichterstattung zu 9/11 übertroffen hatte (SCHATZ 2020).

    Ist somit der unabweisbare Handlungsbedarf für die Politik womöglich vor allem deshalb entstanden, weil die Medien – ähnlich wie bereits zuvor bei Rinderwahn, SARS und Ebola – Unsicherheit nicht als Unsicherheit kommuniziert haben, sondern stattdessen mit ihrer Angstmache die tatsächlichen Ansteckungsrisiken zumindest für den Großteil der Bevölkerung, der nicht den Risikogruppen zuzurechnen ist, maßlos übertrieben haben? Kam es auf diese Weise, also durch konsonante und fast schon monomane Berichterstattung, zu so etwas wie dem Schmitt-Schmidt-Moment in der deutschen Nachkriegsgeschichte?

    Bei Carl Schmitt heißt es: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«. Helmut Schmidt wiederum hatte während der Hamburger Flutkatastrophe in puncto Ausnahmezustand im Kleinen vorexerziert, was jetzt Angela Merkel und ihre Große Koalition in einer ganz anderen Dimension austesteten: Was ist der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft im Kampf gegen eine Pandemie zumutbar, wenn die Leit- und Mainstream-Medien pikanterweise mit ihrer Selbstgleichrichtung Handlungsbedarf signalisieren? Und was sagt es obendrein über diese Medien aus, wenn diese noch nicht einmal die Regieanweisungen eines der totalitärsten Regime der Welt zur Pandemiebekämpfung hinreichend hinterfragen?

    Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist das Virus hochgefährlich und keine Erfindung von Journalisten. Ich bin bislang auch nicht bekannt als Verschwörungstheoretiker. Es wäre nur schlichtweg dumm, wie bei den alten Griechen die Überbringer schlechter Nachrichten für ihre Neuigkeiten haftbar zu machen und bestrafen zu wollen. Aber genauer hingucken, wie die Corona-Berichterstattung ›gelaufen‹ ist, sollten wir schon. Denn zu Corona wäre es ja gar nicht mehr gekommen, wenn ein Teil der Medien mit seiner Angstmache und seinen Übertreibungen in der Vergangenheit Recht behalten hätte. Denn dann wären die Menschen in Deutschland wohl bereits in der Rinderwahn- oder in der SARS-Krise ausgestorben.

    Das Verlaufsmuster des Corona-Aufmerksamkeitszyklus

    Einige (Fehl-)Entwicklungen in unseren hochentwickelten Gesellschaften mit ebenso hochentwickelten Mediensystemen sollten wir deshalb gerade jetzt, nach dem Corona-Lockdown, nochmals – und vielleicht ja auch endlich ernsthaft in den Redaktionen selbst – zur Kenntnis nehmen:

    Erstens dominiert in ›Normalzeiten‹ in unseren Medien seit Jahrzehnten die Unterhaltung. Gewiss, wir, die Nutzer, wollen das so, aber der Medienkritiker Neil Postman beklagte schon in den 1980er-Jahren, wir amüsierten uns »zu Tode« (POSTMAN 1985). Als er sein Buch veröffentlichte, hätte er sich vermutlich nicht träumen lassen, wie explosionsartig sich seither die Unterhaltungsangebote dank YouTube, Netflix und Amazon-Prime, aber auch dank Facebook, Instagram, Tinder und TikTok weiter vermehren würden. In Krisenzeiten, auch während der Corona-Klausur, steigert sich das dann nochmals, weil weniger alternative Freizeitangebote verfügbar sind: Das Übermaß an Unterhaltungsangeboten sorgt für Ablenkung – und auch für die Option, sich den Nachrichten zu entziehen. Selbst schwer erträgliche Wirklichkeiten erscheinen durch den Konsum von Unterhaltungsangeboten in milderem Licht: Unsere Gesellschaft ›funktioniert‹ auch deshalb, weil sich notfalls ein Großteil der Bevölkerung als Couchpotatoes ruhig stellen lässt, statt durch Proteste und Demonstrationen den gesellschaftlichen Diskurs zu ›befeuern‹.

    Zweitens geschieht in Krisenzeiten etwas Merkwürdiges: Die klassischen Nachrichtenmedien gewinnen Aufmerksamkeit und auch Glaubwürdigkeit zurück – und brüsten sich dann gerne unter Verweis auf steigende Nutzerzahlen und Vertrauens-Zuwächse mit ihrer Unentbehrlichkeit. Andererseits geraten gerade in solchen Zeiten die Redaktionen in einen unauflöslichen Konflikt: Um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzielen, müssen Journalisten in der Konkurrenz mit Wettbewerbern zuspitzen und übertreiben und mitunter auch Angst, Schrecken und Panik verbreiten, indem sie zum Beispiel die Aussichten dramatisieren, selbst Opfer von Terror oder eben auch von Covid-19-Ansteckung zu werden, statt die Risiken realistisch darzustellen. Im Pressekodex werden die Medien zwar auf Wahrheitssuche und unvoreingenommene Recherche verpflichtet. Aber Papier ist bekanntlich geduldig.

    Drittens unterliegt der Journalismus in der Aufmerksamkeitsökonomie der Zyklizität. Analytisch unterscheiden lassen sich in aller Regel mehrere Phasen eines Aufmerksamkeitszyklus (LUHMANN 1971; DOWNS 1972; ausführlicher: RUSS-MOHL 1981: 16ff.) – und damit einhergehend auch unterschiedliche Ausprägungen von Journalismus-Versagen.²

    •In der Latenzphase entwickelt sich ein Problem, das meist viel zu spät erkannt wird: Im konkreten Fall bricht im fernen Wuhan eine Corona-Epidemie aus. Wer bereits in dieser Phase Covid-19 ernst genommen hat, wurde ausgelacht, ja als Verschwörungstheoretiker abgestempelt.³

    •In der Aufschwungphase wird die mediale Aufmerksamkeitsschwelle (ECCLES/NEWQUIST/SCHATZ 2007) durchbrochen; immer mehr Medien fokussieren auf das Thema, und weil sich die Redaktionen sehr intensiv gegenseitig beobachten, schaukelt es sich hoch und erlangt schließlich im öffentlichen Diskurs Dominanz. Dabei mündet die mediale Konkurrenz um Aufmerksamkeit leicht in einen Dramatisierungsund Überbietungs-Wettbewerb. Außerdem setzt sich eine ›herrschende Sichtweise‹ durch (KEPPLINGER 2001). Irritierende Nachrichten und Fakten werden vom Mainstream ausgeblendet. Im Fall von Corona absorbierte das Thema mit nie dagewesener Wucht die mediale Aufmerksamkeit und blieb über viele Wochen hinweg, und damit ungewöhnlich lange in der Medienarena.

    •Schließlich wird ein Gipfelpunkt erreicht: Die Berichterstattung zum Thema selbst wird breiter, facettenreicher, Spekulationen und Übertreibungen werden schrittweise korrigiert. Damit verliert in der Umschwungphase das Drama allmählich an Zugkraft, zumal sich ein Teil des Publikums inzwischen ›überinformiert‹ (›overnewsed‹) fühlt und sich abzuwenden beginnt. Im Fall von Corona hielten die Redaktionen jetzt nicht mehr immer denselben Virologen, Epidemiologen und Regierungsvertretern die Mikrofone unter die Nase, sondern gewährten auch anderen – Medizinern, aber auch Verfassungsrechtlern, Finanzexperten, Mittelständlern, Politologen, Medienforschern und Psychologen – die Möglichkeit, zu einem differenzierteren Bild dessen beizutragen, was die Pandemie und der Lockdown an Folgen verursachen. Interessant ist, wie nahezu zeitgleich dieser Stimmungswandel eingeläutet wurde – in meiner Stichprobe vom Tagesspiegel und der Berliner Zeitung über den Spiegel bis hin zu Steingarts Morning Briefing und zu Bild.

    •Zu guter Letzt flacht in der Abschwungphase die Berichterstattungsdichte ab, und das Thema verschwindet allmählich wieder aus der Medienagenda: Bei Redaktionsschluss für dieses Buch befinden wir uns im Blick auf die Covid-19-Pandemie möglicherweise am Anfang dieser Abschwungphase – zumindest wurde Corona von den weltweiten Rassismus-Protesten verdrängt, die der von US-Polizisten verursachte Tod von George Floyd auslöste. Andererseits ist klar, dass Folgen des Lockdowns und denkbare weitere Pandemiewellen uns noch lange Nachrichten bescheren werden, die ihrerseits Aufmerksamkeitszyklen zu generieren vermögen. Peter Sloterdijk beschreibt das Zyklusende wie folgt: »Debatten enden hierzulande in der Regel damit, dass das Publikum seine von den Medien permanent umworbene Aufregungsbereitschaft nach kurzer Zeit anderen Themen zur Verfügung stellt. Am Ende siegt regelmäßig die Erschöpfung über das Lernen« (zit. n. STEINGART 2020 m.w.N.).

    In ihren Wirkungen sollten wir mediale Aufmerksamkeitszyklen nicht unterschätzen, auch wenn deren Folgen kaum messbar und damit empirisch kaum zweifelsfrei erfassbar sind. Die Zyklizität solcher Zyklen wird im Übrigen auch dadurch beeinflusst, sprich: abgeflacht oder verstärkt, dass mediale Aufmerksamkeitszyklen sich mit anderen Zyklen überlagern und mit ihnen interagieren (RUSS-MOHL 1981, 1993). Diese anderen Zyklen dauern meist länger: Es gibt bekanntlich in der Wirtschaft Konjunkturzyklen, in der Politik Themenkarrieren oder Reformkonjunkturen, und Forscher haben darüber hinaus bereits vor langer Zeit die generationsübergreifenden ›langen Wellen‹ technologischer Innovation identifiziert, die sogenannten ›Kondratieff-Zyklen‹.

    Der Corona-Aufmerksamkeitszyklus hatte auch Facetten, die Forscheraufmerksamkeit verdienen, weil sie ungewöhnlich waren, zum Beispiel seine Intensität und seine Dauer. Zumindest in meinem eigenen Lebenszyklus kann ich mich an kein Medienthema erinnern, das mit vergleichbarer Wucht und vergleichbar lange die Medienagenda beherrscht hat.

    Man kann diese coronamonomane Berichterstattung als Italienisierung des Journalismus deuten: Die Mitte der 1970er-Jahre gegründete Zeitung La Repubblica und deren legendärer Chefredakteur Eugenio Scalfari haben das dubiose ›Erfolgsrezept‹ jahrelang vorgemacht, und haben schließlich Nachahmer gefunden: Täglich werden ein Schwerpunktthema und andere Themen vorgegeben. ›Funktioniert‹ das entsprechende Thema, kann es auch schon mal die Ausgaben einer Woche oder gar eines ganzen Monats dominieren. Anderes und somit der Rest der Welt wird tendenziell ausgeblendet. Als Marlene Dietrich verstarb, gab es in La Repubblica rund ein Dutzend Seiten Nachruf-Berichterstattung.

    Es genügte, eine beliebige deutsche Tageszeitung in Zeiten des Corona-Virus durchzublättern: Genauso toxisch wie das Virus selbst war im Blick auf Angsterzeugung die exzessive Berichterstattung darüber. Und weil das Weltgeschehen ja doch sehr viel facettenreicher und komplexer ist als Covid-19, ist ein monothematischer Information Overload zugleich auch Desinformation, die durch das Weglassen relevanter Nachrichten entsteht.

    Vorhersagbare Denkfehler

    Fehlentwicklungen im Journalismus, in der Politik und damit auch im öffentlichen Diskurs haben aber auch damit zu tun, dass uns, den Akteuren, nahezu vorhersagbar Denk- und Entscheidungsfehler unterlaufen. Im Folgenden geht es um die wichtigsten, neuerlich bezogen auf die Corona-Berichterstattung:

    Am fatalsten ist der Bestätigungsfehler (›Confirmation Bias‹): Die Welt ist so komplex, dass jeder von uns gerne seine eigenen Vorurteile bestätigt sieht. Weder der weltbeste Virologe noch eine sehr erfolgreiche Bundeskanzlerin, aber auch nicht blitzgescheite Journalisten wie Gabor Steingart, Steffen Klusmann oder Anja Reschke können jedoch gleichzeitig und auch nur annähernd abschätzen, wie Infektionsketten in einer Pandemie und Lieferketten in der Wirtschaft verlaufen, sowie in wessen Taschen Milliarden und Abermilliarden von Steuergeschenken letztlich landen, und wie all dies unser aller Existenzen und Gesundheit, unsere Lebensqualität und unseren Alltag durcheinander wirbelt. Damit wächst die Versuchung, sich aus den Nachrichten das herauszupicken, was die eigene Sichtweise unterstützt, und mich hat oftmals bestürzt, mit welcher Inbrunst und Selbstsicherheit das viele von uns tun, sei es vor laufender Kamera als Experten, sei es im privaten Freundeskreis oder in den sozialen Netzwerken.

    Gewiss: Ohne Vertrauen in andere, zumal in Experten wie Ärzte, Apotheker und Pflegepersonal, in Rechtsanwälte, in Steuerberater und Autohersteller kann keiner in einer hochkomplexen gesellschaftlichen Umgebung überleben. Aber eben auch nicht ohne ›Shortcuts‹ bei der Entscheidungsfindung und damit ohne die tagtägliche Bestätigung gefühlter ›Wahrheiten‹. Schon deshalb gibt es kein Entkommen aus der eigenen Filterblase – und ist wohl jeder von uns gelegentlich anfällig für Verschwörungstheorien (SCHEIDT 2017).

    Im Fall von Corona sind wir zwar nicht alle vom Virus infiziert worden, aber die mediale Angst- und Panikmache hat gewiss ansteckend gewirkt. Weil andererseits weder Tote noch Infizierte noch Ansteckungsrisiken angemessen kontextualisiert wurden, hat die Berichterstattung auch diesmal die Bevölkerung gespalten: in eine große Mehrheit, die angesichts des Bedrohungsszenarios den Lockdown und seine Unannehmlichkeiten zunächst mitgetragen haben, und in eine doch nicht gänzlich zu vernachlässigende Minderheit, die Regierungen und Medien misstraute und den Lockdown weder mit der Menschenwürde noch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für vereinbar hielt. Beide Gruppen haben – Stichwort ›Confirmation Bias‹ – täglich neu Bestätigungen für ihr Vorurteil gefunden – aber solange wir nicht über Wahrheitsfindung demokratisch abstimmen lassen, ist und bleibt es unmöglich, herauszufinden, welche Seite letztendlich recht hatte, vor allem wenn sich beide Lager verbittert und verständnislos gegenüberstehen.

    Unser Denken und Handeln ist obendrein häufig von Übervertrauen (›Overconfidence‹) geprägt (DOBELLI 2011: 13 m.w.N.): Das gilt in ganz besonderem Maße für all diejenigen, die es für sich zum Beruf erkoren haben, anderen tagtäglich die Welt zu erklären: Lehrer und Hochschullehrer, Journalisten und Talkshow-Prominenz, sichtbare YouTube-Influencer und weniger sichtbare PR-Strategen und Politikberater, die es vorziehen, im Hintergrund die Strippen zu ziehen. Sie und wir alle neigen dazu, unsere Kompetenz zu überschätzen. Forscher haben darüber hinaus herausgefunden, dass die weniger Intelligenten unter uns noch anfälliger sind für Übervertrauen als die besonders Klugen – was nicht allzu sehr überrascht, weil Intelligenz ja auch darin besteht, die eigenen Fähigkeiten und Grenzen realistisch einzuschätzen.

    Persönlich hat mich jedenfalls auch im Kontext von Covid-19 neuerlich erschreckt, wie selten Journalistinnen und Journalisten Unsicherheiten kommunizierten – statt offen einzuräumen, dass nicht nur in den Bundeswehrdepots Gesichtsmasken und andere Basisausrüstung zur Bekämpfung einer Pandemie (oder eines B- oder C-Waffenangriffs[!]) fehlten, sondern in den Redaktionen auch das Personal, um angemessen über Pandemie-Risiken zu berichten.

    Eng mit Übervertrauen verbunden ist die Kontrollillusion (›Illusion of Control‹) – die Fehleinschätzung, man habe alles unter Kontrolle (vgl. auch DOBELLI 2011: 65ff. m.w.N.). Experten und Journalisten, die tagtäglich internationale Covid-19-Statistiken verglichen und jeweils Infektionsrückgänge als Erfolge der Eindämmungsmaßnahmen und der Entscheidungen von Bundesund Landesregierungen feierten, begingen und begehen weiterhin diesen Denkfehler. Sie unterschätzen den Zufall, sprich: die Zahl der intervenierenden und unkontrollierbaren Variablen, die bei der Ausbreitung von Viren im Spiel sind und die eben dafür sorgen können, dass Bergamo, Heinsberg und New York zu Hot Spots wurden und dass ein Krankenhaus in Potsdam geschlossen werden musste, weil 20 Prozent der Patienten und des Personals infiziert waren, während die Teilnehmer einer Demo im benachbarten Berlin, die ohne Mundschutz und ohne Sicherheitsabstand dicht an dicht gedrängt standen, scheinbar überhaupt keinen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hatten.

    Seit Jahren machen Risikoforscher wie Gerd Gigerenzer darauf aufmerksam, dass die Vernachlässigung von Wahrscheinlichkeiten (›Neglect of Probability‹) in der Medienberichterstattung ein gravierendes Problem ist (zuletzt: Gigerenzer im Gespräch mit Hildebrandt [2020]). Auch in der Corona-Berichterstattung, vor allem in der Anfangsphase der Schockstarre, hatten ausgewogene Berichte über Ansteckungsrisiken Seltenheitswert. Während die Politiker unter dem Eindruck der Fernsehbilder aus Bergamo eine dort beobachtete Überlastung von Intensivstationen im eigenen Verantwortungsbereich verhindern wollten, war für den Bürger das Infektionsrisiko sowie die Folgen einer Infektion nicht realistisch einzuschätzen. Denn die Medien berichteten zu wenig über die Risikogruppen, zählten die Toten falsch und informierten nicht darüber, wie wahrscheinlich eine potenziell fatale Infektion im Vergleich zu der Möglichkeit war, bei einem Verkehrsunfall oder einem Schlaganfall zu sterben.

    Wenn Risiken falsch eingeschätzt werden, hat das häufig auch mit Verfügbarkeitsheuristiken (›Availability Bias‹) zu tun: »Wir machen uns«, so Rolf Dobelli, »ein Bild der Welt anhand der Einfachheit, mit der uns Beispiele einfallen. Was natürlich idiotisch ist, denn draussen in der Wirklichkeit kommt etwas nicht häufiger vor, nur weil wir es uns besser vorstellen können. Dank dem Availability Bias spazieren wir mit einer falschen Risikokarte durch die Welt. So überschätzen wir systematisch das Risiko, durch einen Flugzeugabsturz, Autounfall oder Mord umzukommen« (DOBELLI 2011: 45f.). Oder eben durch Corona, weil wir wochenlang mit Toten- und Infiziertenstatistiken bombardiert wurden, mit denen die Redaktionen vom RKI und von der Johns Hopkins University gefüttert wurden – obwohl diese Zahlen erkennbar nicht aussagekräftig waren. Gigerenzer merkt an, dass zu der Zahl der Infizierten nur die bestätigten Fälle gerechnet würden, die wirkliche Zahl der Infizierten aber wegen der Dunkelziffer höher sei. Wir wüssten aber nicht, wie viel höher. Bei den Todesfällen gebe es eine andere Unsicherheit: »Viele missverstehen die Zahl als die Anzahl der Menschen, welche das Virus getötet hat«. Es handle sich jedoch um die Fälle, bei denen der Corona-Virus-Test positiv war. Eine Person könne »durch das Virus oder auch mit dem Virus verstorben« sein. Das sei im Blick auf die Risikogruppen wichtig. »In Deutschland, Italien und der Schweiz«, so nochmals Gigerenzer, »sind 50 Prozent der Toten über 80 Jahre alt, und die italienischen Gesundheitsbehörden berichten, dass 99 Prozent eine oder mehrere Komorbiditäten hatten, also Vorerkrankungen wie Hypertonie und invasiven Krebs. Das hohe Alter und die schweren Erkrankungen machen es nicht immer möglich zu unterscheiden, ob jemand durch oder mit Covid-19 gestorben ist, oder ob das Virus den Tod einige Wochen früher herbeigeführt hat« (Gigerenzer, zit. n. HILDEBRANDT 2020).

    Herdentrieb und Gruppendenken

    Genauso wichtig wie das Wissen um den Confirmation Bias ist die Einsicht, dass Unsicherheit unser Denken beeinflusst und dass wir in vergleichbaren Krisensituationen dazu neigen, uns einem Gruppendruck zu fügen und uns von anderen in unserer Wahrnehmung und in unseren Entscheidungen beeinflussen zu lassen. Gerade Journalisten haben es häufig mit solchen Ausnahmesituationen zu tun und sind deshalb für Phänomene wie Herdenverhalten und »Groupthink« (JANIS 1972) besonders anfällig.

    Es gibt natürlich Ausnahmen. Und wie schon nach der Weltfinanzkrise werden auch diesmal wieder Journalisten in der Rückschau solche Einzelbeispiele hochhalten und damit den Flurschaden vertuschen, der mit konsonanter Berichterstattung und Selbstgleichrichtung angerichtet wurde.

    2011 präsentierte jedenfalls Dean Starkman von der Columbia Journalism Review eine Inhaltsanalyse, die im Zeitraum von Anfang 2000 bis Mitte 2007 die neun wichtigsten Wirtschaftsmedien der USA umfasste. Er identifizierte immerhin 730 Beiträge, in denen vor der Finanzkrise gewarnt wurde. Gemessen an den 220.000 Artikeln, die allein das Wall Street Journal in diesem Zeitraum veröffentlicht hatte, sei das aber eben wie »ein Korken, der auf einem Nachrichtenstrom von der Größe der Niagara-Fälle daherkommt« (STARKMAN 2011: 43). Auf die Corona-Berichterstattung übertragen heißt dies, dass es zwar eine Gegenstrom-Berichterstattung gab (und gibt), dass diese aber in der Flut der Nachrichten unterging.

    Was hätte also anders laufen können?

    Wir alle laufen Gefahr, dem Rückschaufehler (›Hindsight Bias‹) zu verfallen – eine Fehlleistung, die vor allem Wissenschaftlern gerne angekreidet wird, weil sie im Nachhinein alles besser zu wissen glauben. Würden Journalisten und Entscheidungsträger den öffentlichen Diskurs anders führen, wenn sie sich all dieser potenziellen Denk- und Entscheidungsfehler stärker bewusst wären? Wären sie mit dem Corona-Virus womöglich demütiger umgegangen? Hätten sie angesichts der hohen Unsicherheiten und kaum abwägbaren Risiken einem weniger invasiven, dafür aber längerfristig durchhaltbaren Kurs in der Corona-Prävention und -Bekämpfung den Weg bereitet?

    Was in anderen Ländern, die Corona scheinbar gelassener bekämpft haben und noch bekämpfen als wir, darunter Schweden, anders gelaufen sein dürfte, wäre durch Inhaltsanalysen zu untersuchen: Haben die Medien dort weniger Angst und Schrecken verbreitet? Haben die jeweiligen Regierungen – gewiss in Schweden, bei der schnellen Rückkehr aus dem Lockdown in die ›Normalität‹ auch die Schweiz – mehr Vertrauen in die Mündigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger gezeigt? Oder haben dort die Politiker ›nur‹ weniger Entscheidungsdruck verspürt?

    Wobei es nicht um Schuldzuweisungen auf individueller Ebene gehen kann. Nein, nicht einzelne Reporter oder Redakteure, sondern – das wäre die kühne, durch weitere Forschung allerdings zu bestätigende These – ›der Journalismus‹ und ›die Medien‹ waren als Institutionen nahezu weltweit auf die Pandemie miserabel vorbereitet. Sie haben meist entsprechend dem skizzierten Muster eines Aufmerksamkeitszyklus agiert. Dabei wurden kollektiv Denkfehler begangen und wechselseitig übernommen. Im Herdentrieb vereint, dem Clickbaiting und den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, haben sie gleichsam über Nacht die Pandemie zum alles beherrschenden Thema gemacht und den Rest des Weltgeschehens wochen-, ja sogar monatelang nahezu ausgeblendet.

    Weil audiovisuelle Medien zu mehr Kürze und Prägnanz zwingen, dürfte die Bilanz für die öffentlich-rechtlichen Anbieter eher noch trübseliger ausfallen als für die kommerzielle Qualitätspresse: Nehmen wir ARD und ZDF, wobei das bei ORF und SRG kaum anders aussehen dürfte: In einer ›normalen‹ Tagesschau oder heute-Sendung werden wir in circa zehn bis 12 Minuten mit Nachrichten versorgt, vornehmlich aus dem eigenen Land, aber auch regelmäßig mit ein paar Meldungen aus aller Welt – und dann verwandeln sich die wichtigsten TV-Nachrichten der Republik in einen Ableger der Sportschau, was hohe Einschaltquoten sichern soll. Seit Mitte Februar bis Ende Mai 2020 wurden wir stattdessen täglich zur besten Sendezeit in Tagesschau und heute nahezu ausschließlich mit Corona berieselt, als gäbe es kein anderes Thema mehr in der Welt. In der Phase der Schockstarre war die Berichterstattung sehr eng auf das fokussiert, was eine Handvoll mediengewandte Virologen und Epidemiologen zu verkünden hatten. Und weil das offenbar nicht reichte, gab es unzählige Sondersendungen ARD extra und ZDF spezial hinterher. Was sich täglich zu einer vielfachen Berichterstattungs-Überdosis an Corona im Vergleich zum ›Weltgeschehen plus Bundesliga oder Champions-League‹ zu Normalzeiten addierte.

    Die fünf Abschnitte dieses Buchs

    Das Corona-Virus hat auch diesen Reader drastisch verändert – obschon er Monate vor dem Pandemie-Ausbruch konzipiert wurde. Einzelne Autoren und Autorinnen sind abgesprungen, weil sie sich vom Homeoffice mit kleinen Kindern und/oder der Ruck-Zuck-Umstellung an den Hochschulen von der Präsenz- auf die Online-Lehre überfordert fühlten. Andere hatten hingegen, weil Projekte und Vorträge abgesagt wurden, mehr Zeit, die dann ihren Manuskripten zu Gute kam. Zumindest all die Autoren, die für diesen Band Originalbeiträge beigesteuert haben, schrieben diese inmitten des Lockdowns – sie sind also unmittelbar von den Erfahrungen mit diesem Großexperiment geprägt. Auch die Streitkultur wird eine andere sein, wenn unser Gemeinwesen diese Krise durchgestanden hat.

    Geblieben ist die Absicht, Streitkultur auch dadurch lebendig werden zu lassen, dass das Buch selbst ein breites Spektrum von Positionen präsentiert. Als Autorinnen und Autoren kommen vorrangig Experten zu Wort, aber nicht nur solche, die sich auf den ausgetrampelten Pfaden des ›Mainstream‹ bewegen.

    Wir experimentieren auch mit unterschiedlichen Diskursformen: Im ersten Teil stellen wir, ohne dass sich die Beitragenden direkt aufeinander beziehen, unterschiedliche Positionen einander gegenüber. Es handelt sich um Sichtweisen und Denkanstöße, bei denen wir hoffen, dass Sie, die Leserinnen und Leser, diese miteinander ›ins Gespräch‹ bringen werden.

    Im zweiten Teil widmet sich jeweils ein Autorengespann je einem Themenkomplex, der unmittelbar vor der Corona-Pandemie viel mediale Aufmerksamkeit erfahren hat: dem Klimadiskurs, der Migrations- und Islamdebatte sowie dem Populismus und Extremismus an den Rändern der Gesellschaft.

    Teil 3 ist dem Journalismus selbst gewidmet – sowie den massiven Versuchen, ihn durch Public Relations und Propaganda zu beeinflussen. In diesem Teil haben wir insgesamt vier Autoren und Autorinnen gebeten, einen der beiden Hauptbeiträge zu kommentieren. Bei einem der Kommentare wird der Diskurs mit einem Rejoinder fortgesetzt.

    In Teil 4 wird an drei Beispielen – Italien, Israel und der Türkei – der Frage nachgespürt, unter welchen Bedingungen wir heutzutage über das Ausland informiert werden, und wer auf welche Weise die jeweilige Berichterstattung und die zugehörigen Diskurse beeinflusst.

    Im letzten Teil geht es um die Rolle von Intellektuellen im öffentlichen Diskurs. Ein Schlussakkord des Herausgebers widmet sich sodann der Frage, was wir alle tun können, um Streitlust und Streitkunst wiederzubeleben.

    Teil 1: Sichtweisen, Denkanstöße, Theoriegerüste

    Den Aufschlag macht ULRIKE KLINGER, Professorin für digitale Kommunikation an der FU Berlin. Sie analysiert, ob und inwieweit Diskursversagen eine Digitalisierungsfolge ist, und setzt sich dabei kritisch insbesondere mit der Intransparenz von Plattformen wie Google sowie YouTube, Facebook und Twitter auseinander.

    Im Anschluss wundert sich CHRISTIAN P. HOFFMANN, der an der Universität Leipzig Kommunikationsmanagement lehrt, wie in wenigen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung die Tech-Plattformen von universellen Heilsbringern, die demokratische Diskurse stimulieren und Schwarmintelligenz mobilisieren sollten, zu Sündenböcken mutierten, die plötzlich an allem Öffentlichkeitsversagen schuld sein sollen. Hoffmann schert dabei aus dem Mainstream der Plattformkritiker aus und hat spannende Forschungsergebnisse zusammengetragen, die einige unserer vermeintlichen ›Gewissheiten‹ infrage stellen – sei es zu Filterblasen, sei es zur Manipulation und zum Microtargeting in Wahlkämpfen, sei es zu Fake News, Desinformation und Hatespeech, zur Verletzung der Privatsphäre und zum Missbrauch von Monopolstellungen durch die mächtigsten unter den Plattformanbietern.

    Es folgt, in gewisser Weise als Antipode zu Hoffmann, der Sozialforscher und Ökonom GEORG FRANCK, Emeritus an der TU Wien, der ›seine‹ Aufmerksamkeitsökonomie auf den neuesten Stand bringt. Der Beitrag ist in doppelter Hinsicht ein anspruchsvolles theoretisches Herzstück dieses Bandes: Er setzt der Habermas’schen Utopie vom herrschaftsfreien Diskurs die Realität des mentalen

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