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Tugendethik ohne Tugendterror
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eBook172 Seiten2 Stunden

Tugendethik ohne Tugendterror

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Über dieses E-Book

"Tugendethik ohne Tugendterror" heißt das neue Buch des Potsdamer Politikwissenschaftlers Heinz Kleger. In Reaktion auf Tilo Sarrazins Buch "Der neue Tugendterror" behandelt der Autor die ideengeschichtliche Bedeutung von Begriffen wie Tugend, Terror und Ethik und deren Ausprägungen in Geschichte und Gegenwart. Wie beeinflussen politischer Populismus, Agitation und Moralismus die Urteilsfähigkeit und Debattenkultur in einer Demokratie? Welche Rolle spielt das Internet als Medium, indem per Klick moralisch gewertet und an den Pranger gestellt werden kann? Was gelten Unschuldsvermutung und einordnende Distanz in einer Echtzeit-Kommunikationskultur? Was kann dagegen eine demokratische Tugendethik als Form der Selbstzivilisierung leisten?

"Demokratische Tugendethik ist in einer lernenden Demokratie verortet. Sie entspringt aus Erfahrungen mit dieser. Ihr Fokus liegt auf einem Begriff des Politischen als Teihabe. Das heißt: Mann/Frau übernimmt Verantwortung für seine/ihre Stimme der Wahl, der Abstimmung, des Protests und sonstiger Beteiligung. Insofern arbeitet die Tugendethik einer demokratischen Regierbarkeit zu, ohne die Menschen zu überfordern. Das selbstbestimmte Subjekt soll hinter den Regeln und Beauftragten nicht verschwinden."
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum17. Sept. 2015
ISBN9783739257358
Tugendethik ohne Tugendterror
Autor

Heinz Kleger

Heinz Kleger, Prof. Dr. phil., geb. 1952 in Zürich, Philosoph und Politikwissenschaftler, lehrte von 1993-2018 Politische Theorie an der Universität Potsdam, 2004-2008 auch an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

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    Buchvorschau

    Tugendethik ohne Tugendterror - Heinz Kleger

    2013.

    1. Was sind Tugenden?

    ‚Gutsein‘ müsste es im Deutschen heißen, wo im Griechischen ‚arete‘ steht, was gewöhnlich, obwohl unbefriedigend mit ‚Tugend‘ übersetzt wird.⁵ Was den Menschen jedoch ‚gut macht‘ ist ebenso umstritten wie der Weg dorthin. Erst unter dem Einfluss von Imanuel Kants Ethik im 18. Jahrhundert wird ‚Tugend‘ vor allem ‚moralisch‘ im Sinne von Sittlichkeit oder Moralität verstanden.⁶ In der antiken Ethik-Tradition ist dies nicht so. Der weite Sprachgebrauch umfasst deshalb bis heute mit Tugenden auch nicht-moralische Eigenschaften wie etwa die Tugenden des Handwerks, des Dirigenten, des Sportlers usw. Zu diesem Sprachgebrauch gehören Syndrome von Tugenden wie sogenannte ‚protestantische Tugenden‘, ‚preußische Tugenden‘, ‚deutsche Tugenden‘, ‚asiatische Werte‘ usw. Sie lassen sich rhetorisch leicht instrumentalisieren und sind hier nicht unser Thema.

    Wer verstehen will, was in der antiken Ethik unter Tugendethik verstanden worden ist, muss sich zunächst von bestimmten neuzeitlichen Vorstellungen befreien: „In der antiken Ethik spielt der Begriff der Tugend eine ungleich größere Rolle als in der modernen Ethik. Dies gründet vor allem darin, dass im Zentrum der modernen Ethik die Frage steht, zu welchen Handlungen man moralisch verpflichtet ist und was die Quelle dieser Verpflichtung ist, während für die antike Ethik die sehr viel weitere Frage, wie man leben soll, leitend ist. Diese Frage verstehen die Griechen als Frage danach, welche Art von Mensch man sein soll. Ihre ganz allgemeine und triviale Antwort lautet zunächst, dass man ein guter Mensch, also ein Mensch, der Arete hat, sein soll. Was aber macht die Arete aus, worin liegt das Gutsein eines Menschen? Die Dominanz dieser Fragen bei den Alten hat gelegentlich dazu geführt, die antike Ethik eine ‚Tugendethik‘ zu nennen. Versteht man diese Charakterisierung in dem Sinne, dass der Begriff der Tugend der basale Begriff der antiken Ethik sei, ist sie irreführend.

    Die antike Ethik ist eudämonistisch. Ihr basaler Begriff ist der des Glücks, nicht der der Tugend. Freilich waren sich alle Philosophen der Antike, die sich mit Ethik beschäftigt haben, darin einig, dass Arete zu haben, ein Mittel zum Glück oder ein Konstituens oder gar das Ganze des Glücks ist. Umso dringlicher war es, zu fragen, was das Gutsein des Menschen eigentlich ausmacht und auf welchem Wege es zu erlangen ist. Natürlich haben diese Fragen nicht erst die Philosophen gestellt. Jeder, der über sein Leben und das anderer Menschen nachdenkt, interessiert sich für sie."⁷ Das wollen wir uns zu Herzen nehmen und dabei im Gedächtnis behalten, dass Glück und Tugend ebenso wenig wie Tugend und Moral, dasselbe sind. In der Sophistik sodann wird die ‚arete‘ zum zentralen Thema. Diese ersten Aufklärer der Philosophie verstehen sich als Lehrer der Arete, wofür sie sich bezahlen lassen. Wie die Sophisten, so nahmen auch Sokrates und Platon an, dass die Arete eine Voraussetzung des Glücks ist. Sie dient dieser eudämonistischen Ethik, denn der Mensch will letztlich glücklich sein. Heute scheint das sogar mehr denn je so: Von den modernen individualistischen Menschen spricht man nicht nur von Gott-Suchern, sondern sogar von Glück-Suchern. In der antiken Ethik dient selbst das ‚Gerecht-sein‘ dem Glück des Menschen. Moral und Glück stehen nicht in einem Gegensatz, sondern in einem Verhältnis zueinander. Die Tugend dient dem Glück, obwohl die verschiedenen Philosophenschulen unterschiedliche Auffassungen davon haben. Es ist zudem nicht klar, welche weiteren Güter (etwa Gesundheit, Reichtum oder Macht) zum Glück beitragen. Insgesamt ist das genaue Verhältnis der Arete zum (jeweiligen) Glück ein Hauptthema vieler philosophischer Kontroversen.

    Epikur zum Beispiel ist der Auffassung, dass Glück kein intrinsischer Wert ist, sondern dass nur die ‚arete‘ bewirkt, was das Glück ausmacht, nämlich Lust, die wiederum primär in der Schmerzverminderung besteht.⁸ Dagegen ist es eine Kernthese der Stoiker, dass die Arete allein schon das Glück ausmacht und es dazu keiner weiteren Güter bedarf. Dieser stoische Gedanke darf nicht „kantianisierend missverstanden werden", denn auch die stoische Ethik bleibt im Unterschied zur kantischen Ethik eudämonistisch.⁹ Widersprüche zu einer strengen Pflichtenethik gibt es hier noch nicht. Dazu kommt, dass für die Stoiker die Arete lehr- und lernbar ist. Sie hängt von einem selbst (Selbst) ab (Autarkie). Mit Cicero wird ‚arete‘ sodann ins lateinische ‚virtus‘ übertragen, das mit ‚Mannhaftigkeit‘ (vir), ‚Kraft‘ und ‚Tapferkeit‘ übersetzt worden ist und weitere Assoziationen mit sich führt. Diese folgenreiche Umbesetzung durch ‚männliche Tugenden‘ nimmt der Republikanismus von Machiavelli wieder auf.¹⁰ Bei ihm ist ‚virtù‘ die politische Tugend schlechthin, bei der die Wehrhaftigkeit der Bürger als Bedingung republikanischer Freiheit im Fokus steht. Dieses Tugenddenken wirkt weiter etwa in amerikanischen oder eidgenössischen Vorstellungen einer Republik der Freiheit, die sich selber verteidigen kann.¹¹ Es ist mit Wehrpflicht und Patriotismus eng verbunden.

    Dagegen begründet das Christentum eine ganz andere Tradition: „Dem Denken des Alten und Neuen Testaments ist der Begriff der Tugend fremd. In dieser durch und durch theonom gedeuteten Welt wird nicht gefragt, welche Charaktereigenschaften dem eigenen Glück förderlich sind. Gott hat den Menschen Gebote und Gesetze gegeben, ihnen müssen sie nachkommen. Dies ist das einzig richtige, weil Gott gefällige Leben."¹² In dieser Tradition ergibt sich im Mittelalter die Unterscheidung zwischen ‚theologischen‘ Tugenden wie Glaube, Hoffnung und Liebe und sogenannten ‚natürlichen‘ Tugenden. Bei Thomas von Aquin – dem Aristoteles des Mittelalters – bedürfen die Tugenden sodann der Leitung durch die Vernunft („ratio est radix omnium virtutum").¹³ Thomas wirkt weiter vor allem in der katholischen Welt, aber auch darüber hinaus in der internationalen Ethik-Diskussion.

    In der Neuzeit wird der Tugendbegriff sodann aus seinem engen Zusammenhang mit Philosophenschulen wie der aristotelischen, der stoischen oder christlichen gelöst. Der Tugendbegriff büßt seine zentrale Stellung ein, die er in der antiken Ethik und praktischen Philosophie als Philosophie des guten Lebens innehatte. Er wird ersetzt und zugleich aufgefächert durch Begriffe, welche vorher lediglich einzelne Komponenten des Tugendbegriffs waren. Solche Begriffe, die wir heute noch gebrauchen, ohne sie immer genauer definieren zu können, sind ‚Charakter‘, ‚Integrität‘, ‚Einstellung‘, ‚Haltung‘ oder ‚Verhaltensmuster‘.¹⁴

    Sie deuten auf die moralische Kohärenz einer Person, gewissermaßen auf eine Haltung, die beständig ist und auf die man zuverlässig bauen kann. Diese Tugenden manifestieren sich (im Unterschied etwa zu Rechten, Werten und Gütern) in bestimmten Verhaltenstugenden oder Charakterzügen, die durch Erziehung, Politik und ein Verhältnis zu sich selbst modelliert und modifiziert werden können. Es sind durch Bewährung geprägte Dispositionen, die indes veränderbar bleiben. Sie können aber auch verfallen (Dekadenz). Gleichwohl bringen sie in Praxis und Interaktion einigermaßen erwartbare Handlungen über die Zeit hinweg hervor. Der Begriff des Charakters, der dafür steht, hat zwar als ‚Zwangscharakter‘, ‚Maske‘, ‚Heuchelei‘ und ‚Rolle‘ schwere Blessuren erhalten. Ein Charakter der ‚Charakterlosigkeit‘ stört uns aber nicht minder. Lieber sprechen wir stattdessen heute – etwas vage – von ‚Integrität‘ oder gar – noch unbestimmter – von ‚Identität‘, wohlwissend, dass beides narrative Konstruktionen sind.

    In der neuzeitlichen Ethik wird Kants Auffassung der Moralität als „Handlung aus Pflicht" zentral und begründet fortan die strenge Unterscheidung zwischen (antiker) Tugendlehre und universeller Pflichtenethik. Die wichtigsten Moralphilosophien der Neuzeit sind der Utilitarismus¹⁵ und die Moralphilosophie Kants.¹⁶ Nach der Wittgenstein-Schülerin Elizabeth Anscombe „liegt diesen Moraltheorien eine Gesetzeskonzeption der Ethik zugrunde, die der jüdisch-christlichen Tradition mit der für sie zentralen Idee eines göttlichen Gesetzgebers verpflichtet ist."¹⁷ In scharfem Kontrast dazu bedeutet die Aktualisierung der Tugendethik eine Kritik an dieser Pflichten- und Prinzipienethik: Der tugendhafte Mensch orientiert sich ihr zufolge nämlich nicht primär an Prinzipien und Pflichten, sondern an Handlungssituationen, die er für sich neu beurteilen muss. Dabei geht es zunächst um die adäquate Wahrnehmung der moralisch relevanten Eigenschaften einer Handlungssituation, woran wir, wie bereits Aristoteles erkannt hat, anknüpfen können (vgl. Kapitel 2).

    Allerdings ist der Interpretation von Anscombe, dass das Christentum dem „göttlichen Gesetz" unterliegt, zu widersprechen. Gerade weil das Christentum sich in Abgrenzung zum antiken Judentum nicht als Gesetzesreligion etablierte, konnte es zu einer Inklusion der klassischen Tugendlehre kommen. Diesen Inklusionsversuch gab es auch im Islam (Avicenna, Al-Farabi, Averroes), allerdings wurde die Tugendethik dort nach der Niederlage der innerislamischen Aufklärung des 9. bis 11. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie von einer theonomen Ethikkonzeption verdrängt. Im Christentum konnten sich hingegen Platonismus, Aristotelismus und Stoizismus als Hintergrundphilosophien erhalten, da die Frage nach dem Seelenheil gemäß der christlichen Botschaft nicht nur über gutes und gerechtes Verhalten beantwortet werden konnte, sondern vielmehr der Gnade Gottes obliegt. Glaube und Gnade rücken dadurch in den Vordergrund und öffnen die Tür für die moralphilosophische Spekulation, die gerade nicht als Säkularisat der antik-jüdischen Gesetzesreligion angesehen werden kann, sondern den gnadenbedürftigen Menschen in seiner Freiheit und Eigenverantwortlichkeit in den Mittelpunkt stellt.

    Darüber hinaus denken wir im Unterschied zu Anscombe, dass Kant die Pflichtenethik nicht vor dem Hintergrund der christlichen Theologie etablierte, sondern eher vor dem Hintergrund der Erosion der antiken Tugendlehren in der Neuzeit. Die klassische aristotelische Tugendlehre ging nämlich von einer Unterscheidung zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden aus. Erstere unterlagen der ‚prhonesis‘, letztere dem Logos oder ‚nous‘. Die dianoetischen Tugenden waren die Domäne der Philosophen, wobei es vornehmlich um metaphysische Erkenntnis bzw. um die Einsicht in die Ordnung der Welt ging. Die tugendhaften Bürger sollten sich jedoch für solche Einsichten nach Aristoteles nur am Rande interessieren. Ethische Tugenden waren für sie wichtiger, da diese auf das soziale Verhalten abzielen: Die ‚timé‘ wird hier höher geschätzt als die ‚theoria‘. ‚Gute Bürger‘ müssen im Sozialen klug handeln können, denn das ist ihr primärer Bezugsrahmen. Metaphysische Spekulationen sind hier fehl am Platz, ja sogar hinderlich. In dieser Hinsicht war Aristoteles im Gegensatz zu Platon durchaus ein Empiriker und Pragmatiker¹⁸, an den wir heute wieder anknüpfen können. Politische Theorie ist wie bei Aristoteles ein Produkt der Stadt und nicht der Schule oder Akademie.

    Ein zweiter Kritikpunkt der Tugendethik liegt darin begründet, dass die Prinzipienethiker von einem unangemessenen Bild moralisch Handelnder ausgehen: „Moralische Überlegungen sind wirksam, sofern sie mit Faktoren zu tun haben, die für unser Selbstverständnis relevant sind."¹⁹ Demnach bewegen sich sowohl der Utilitarismus als auch die kantische Ethik zu weit weg von den motivationalen Ressourcen der Menschen. Mit anderen Worten: Diese Ethiken erreichen die Menschen nicht und können deshalb auch keine motivationale Kraft entfalten. Die Tugendethik versucht dagegen, die konkreten Menschen in ihrem Alltag zu erreichen und zu bewegen.

    Ohne hier auf die verschiedenen Positionen der Tugendethik eingehen zu können²⁰, liegen ihre Gemeinsamkeiten darin, dass nicht die Bewertung von Handlungen, sondern die moralischen Akteure selber, die angesprochen werden sollen, im Vordergrund stehen. Die grundlegenden ethischen Urteile sind somit Urteile über Einzeltugenden sowie den Charakter von Menschen. Tugenden sind Dispositionen, das Richtige zu wählen. Sie beziehen sich auf Charaktereigenschaften von Menschen, welche diese ausbilden müssen, um in bestimmten Kontexten moralisch richtig handeln und urteilen zu können. Das heißt etwa klug zu urteilen, besonnen zu handeln, gemäßigt zu regieren oder geduldig zu warten. Diese Eigenschaften sind erworbene Eigenschaften, „die der einzelne selbst entwickelt und die zu entwickeln Hauptaufgabe jeder moralischen Erziehung ist.²¹ Systemtheoretische Leitbegriffe wie Flexibilität, Umstellungs- und Anschlussfähigkeit, die in unserer modernen Organisationsgesellschaft im Vordergrund stehen, genügen dafür nicht. Sie sichern gewissermaßen eine vorauslaufende Anpassungsfähigkeit an Modernisierungsprozesse, wobei sie die alten Tugendbegriffe teils überfordern, teils verdrängen. In Kap. 6 werden wir diesbezüglich von einer „Sicherung der Beweglichkeit in der Anpassung sprechen. Diese Flexibilität ist tendenziell eine Flexibilität bis hin zur Charakterlosigkeit. So weit wollen wir nicht

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