Demokratie im Stresstest: Wie die sozialen Medien den gesellschaftlichen Frieden gefährden
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Über dieses E-Book
Marc Nottelmann-Feil zeigt im vorliegenden Essay, aus welchen Gründen in den sozialen Medien notwendigerweise eine virtuelle Schattengesellschaft entsteht, deren Treiben mit demokratischen Prozessen kaum noch etwas zu tun hat. Die echte Gesellschaft zerbricht, weil sich die Diskussion im Netz in unvermittelte Paralleldiskurse auflöst. Die Struktur der sozialen Medien gehört darum dringend auf den Prüfstand. Schnelles Handeln ist das Gebot der Stunde, denn Gesellschaft, Kultur und Politik stehen schon am Scheideweg.
Marc Nottelmann-Feil
Marc Nottelmann-Feil read Japanese Studies, Mathematics, Logic and Philosophy of Science. Since 2000 he has been working for the "EKO House of Japanese Culture" in Duesseldorf. He is a Buddhist priest of the Jodo Shinshu school.
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Buchvorschau
Demokratie im Stresstest - Marc Nottelmann-Feil
Inhalt
Einleitung
Vorsicht E-Mails!
Facebook oder die Erfindung der synthetischen Massenkommunikation
Biedermann und die Brandstifter
Die Struktur der angeblichen Dialoge
Nieder mit dem #Establishment!
Meinungsbildung ohne Politik
Von klaren Fronten zum Bürgerkrieg
Twitter - Meinungsführerschaft durch Selbst-Advertising
Was ist Wahrheit, Herr Pilatus?
Mensch und Menschenbild der sozialen Medien
Erste-Hilfe-Maßnahmen und falsche Erwartungen
Frieden mit Facebook & Co?
Schlussbemerkung
Weiterführende Literatur
Einleitung
Es gibt Jahre, in denen sich die Geschichte zu beschleunigen scheint. Alte politische Strukturen, die lange als solide und unerschütterlich galten, brechen plötzlich auseinander, etwas Neues ist im Gange, aber man weiß nicht was. Seit 2011 haben sich die Gewichte in der Welt verschoben: der Nahe Osten steht in Flammen, die EU erodiert, Russland ist zur geopolitisch denkenden Expansionspolitik zurückgekehrt und die Vereinigten Staaten von Amerika wählten einen Präsidenten, der das Eigeninteresse seines Landes über alles stellt.
Noch immer führt der Westen Regie. Wenn man das Gesamtbild betrachtet und weit von der Leinwand zurücktritt, alle Details vernachlässigt und nur auf die gröbsten Umrisse sieht, so ist es doch ein im Westen entstandenes Menschenbild, das hinter all diesen Erscheinungen wirkt. Der Mensch gilt als das von Gier geleitete Wesen, das sich im Kampf um das Eigeninteresse gegen die anderen durchsetzen muss. Auf allen Ebenen bis hin zur Ebene der Staaten und der Weltwirtschaft herrscht darum Konkurrenz. Nichts ist wichtiger für den einzelnen Menschen wie für den Staat, als sich so schnell wie möglich weiterzuentwickeln; jede Gewinnaussicht muss frühzeitig erkannt und rigoros, zur Not auf Kosten der Langsameren oder auch nur Besonneneren, genutzt werden. Dies führt zur Deregulierung, zum Freihandel um jeden Preis, zum sorglosen Umgang mit den begrenzten Ressourcen dieser Welt ebenso wie zur immer schmerzhafter werdenden Kluft zwischen Arm und Reich. Letztendlich beginnen mit dem hier skizzierten Menschenbild die meisten, wenn nicht gar alle Probleme, die zu den erwähnten Umwälzungen geführt haben.
Ich möchte aber nicht erklären, warum die Welt in einer Krise ist. Meine Fragestellung geht in eine andere Richtung: Warum können wir im gesellschaftlichen Diskurs keine vernünftigen Antworten auf die Herausforderungen finden, obwohl sich die Möglichkeiten der Kommunikation in den letzten Jahren geradezu in einem Quantensprung verbessert haben? Die sozialen Medien verknüpfen inzwischen die gesamte Welt; niemals war es so leicht, Verbindungen zu schließen, sich über die Probleme und Diskussionen der entferntesten Weltteile zu informieren und auf allen Ebenen mitzureden. Warum schafft es die Menschheit nicht, miteinander zu reden und gemeinsam Lösungsansätze zu erarbeiten? Wer sich in Deutschland für die Politik eines afrikanischen Landes interessiert, kann mühelos auf dem Laufenden bleiben: er kann lesen, was die Regierung und Opposition twittern und posten, und sogar in Echtzeit darauf antworten, fast so als lebte er in Afrika. Wann hätte man je eine so unvorstellbare Freiheit gehabt! Ebenso sind alle Parteien und Medien in Deutschland, jeder noch so kleine politische Zirkel, im Internet vertreten. Jeder Bundestagsabgeordnete ist nur ein paar Mausklicke vom Bürger entfernt, die Basisdemokratie scheint also in greifbarer Nähe – und doch scheint unsere Gesellschaft dadurch nicht zufriedener und ausgeglichener geworden zu sein. Im Gegenteil, es brennt an allen Ecken und Enden. Erst kürzlich sprach Bundespräsident Gauck in seiner Abschiedsrede sogar von einer Gefährdung der Demokratie.¹ Noch zwei Jahre zuvor hätte die große Mehrheit der Deutschen ihre Demokratie für die stabilste auf der ganzen Welt gehalten.
Täuschen wir uns nicht in etwas Grundsätzlichem? Die sozialen Medien verbinden die Welt und lassen die Gesellschaft enger zusammenrücken – so der erste Anschein, der viel für sich hat. Die Wirklichkeit jedoch, deren Zeuge wir sind, sieht ganz anders aus. Seit der Gründung von Facebook (2004) und Twitter (2006) erodieren staatliche Gebilde: Irgendwo in den Internet-Cafés von Tunis und Kairo nahm der Arabische Frühling seinen Anfang (2011), der unter dem Beifall des Westens die arabischen Autokratien zu Fall brachte. Für einen Augenblick schien es, als hätte sich, einem ewigen Gesetz der Geschichte folgend, die westliche Aufklärung wieder einmal gegen die östlichen Willkürherrschaften durchgesetzt; die verarmten Völker Nordafrikas und des Nahen Ostens erhoben sich gegen ihre korrupten Eliten. Es folgte aber kein Zeitalter der arabischen Vernunft, sondern ein Machtvakuum, in dem die innere Zerrissenheit der Gesellschaft sich deutlicher offenbarte denn je, bis sie sich in fatalen Bürgerkriegen entlud. Warum konnten die sozialen Medien das Staatsgefüge dieser Länder zwar erschüttern, die Gesellschaft aber nicht zusammenhalten? Warum finden diese Länder bis heute nicht zum Frieden zurück, obwohl es doch so einfach wäre, mit dem Feind via Facebook Kontakt aufzunehmen – ganz ohne internationale Diplomatie und mühsam arrangierte Friedenskonferenzen? Die sozialen Medien scheinen zwar die Gesellschaften durcheinanderzuwirbeln, aber irgendwie fehlt ihnen offenbar die Kraft, einen gesellschaftlichen Heilungsprozess einzuleiten.
Im Jahr 2016 hat eine Störwelle, die mit den sozialen Medien eng verflochten ist, auch die westlichen Staaten und Gesellschaften erreicht. Unvorhergesehenes geschah, Dinge ereigneten sich, die so gar nicht im Blickfeld der Meinungsforscher oder der etablierten Medien aufgetaucht waren. Sowohl der Brexit als auch die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten schlugen ein wie der Blitz, weil die etablierten Medien – Fernsehen, Presse und Radio – wie eh und je ihre Arbeit gemacht hatten: sie berichteten von Parteitagen und Verlautbarungen der Politiker, sie veranstalteten Talkshows mit unterschiedlichen Teilnehmern und Fernsehduelle; aber sie übersahen dabei die Halböffentlichkeiten (Plural!) der sozialen Medien. Zeitschriften wie „Guardian oder „The New York Times
gaben sich der Illusion hin, sie seien immer noch die unangefochtenen Leitmedien und auch der Diskurs in den sozialen Medien würde sich nach ihnen richten. Aber die sozialen Medien folgen eigenen Gesetzen, das dürfte nun klar geworden sein. Donald Trump hat sich tatsächlich mit Twitter und anspruchslosem TV gegen die gesamte Macht der etablierten Medien durchgesetzt. Ein Beben geht durch die mächtigste Demokratie der Welt, das uns vor Augen führen muss, wie kompromisslos die sozialen Medien als Katalysator der Disruption wirken.
Beschönigen wir also die sozialen Medien nicht weiter als Mittel des herrschaftsfreien Diskurses, als Vorreiter von Basisdemokratie und Werkzeug der Volkserziehung, sondern machen wir uns Gedanken, wie sie tatsächlich funktionieren und welche Konsequenzen ihr Wirken für die Gesellschaft hat! Am Ende sollten wir uns überlegen, wie wir mit diesen sozialen Medien weiterleben können oder anders gesagt: wie sie sich und wir uns verändern müssen, damit ein Leben in dieser neuen Situation möglich wird.
¹ Joachim Gaucks Rede zum Ende der Amtszeit vom 17. Januar 2017.
Vorsicht E-Mails!
Der Mensch ist das Wesen, das die Muster seines Kommunizierens abrupt verändern kann. Es gibt keine Gesellschaft ohne Kommunikation, Kommunikation ohne Gesellschaft hingegen ist durchaus möglich. Am Anfang der Menschheitsgeschichte waren das Kommunizieren und die Gesellschaft beinahe identisch: Gesellschaft war geselliges Zusammensein, bei dem kommuniziert wurde. In einer kleinen Horde von Jägern und Sammlern kennt jeder jeden, jeder weiß sehr viel über die anderen, und man hat untereinander kaum Geheimnisse. Die Mitteilung ist im Wesentlichen öffentlich, so wie auch der Beutefang öffentlich verteilt wird. Später wurden die Gesellschaften größer, es war bald unmöglich, alle anderen Menschen zu kennen. Dementsprechend bildeten sich immer komplexere Formen der Rollenverteilung, die darüber entscheiden, wer wo das Sagen hat. Neue Austauschformen kamen auf – der Bote, das geschriebene Wort, der Brief, die Druckerpresse usw. – die jeweils die Muster des Kommunizierens in der Gesellschaft vollkommen