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Afrotopia
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eBook169 Seiten2 Stunden

Afrotopia

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Über dieses E-Book

›Dunkler Kontinent‹, ›Elendsgebiet‹ oder ›Rohstofflager der Welt‹, noch immer denken und reden wir über Afrika in Stereotypen. Und noch immer ist der Maßstab, mit dem wir den Zustand und die Perspektive des Kontinents beurteilen, das Entwicklungsmodell des Westens, selbst wenn sich dieses weltweit als höchst zerstörerisch erwiesen hat.
In seinem bahnbrechenden Manifest, das zugleich Analyse und Utopie ist, fordert Felwine Sarr eine wirkliche Entkolonialisierung Afrikas, indem es sich auf seine vergessenen und verdrängten geistigen Ressourcen zurückbesinnt, ohne gleichwohl den Kontakt mit der Moderne zu verleugnen. So findet sich eine Fülle kulturellen und geistigen Reichtums, die auf ein anderes, ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur verweist. Die afrikanische Kulturrevolution bietet dabei auch für den Rest des Planeten dringend benötigte Ansätze, um eine bewusstere und würdevollere Zivilisation zu begründen. In 35 Jahren wird ein Viertel der Weltbevölkerung in Afrika zuhause sein – höchste Zeit, die verborgene Lebenskraft des Kontinents zu entdecken und das Zeitalter des Afrofuturismus einzuläuten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Jan. 2019
ISBN9783957576804
Afrotopia
Autor

Felwine Sarr

Écrivain et universitaire, Felwine Sarr est né en 1972 à Niodior. Il est l’auteur d’une œuvre novatrice et inspirante. Il a publié Dahij (Gallimard, 2009), 105 Rue Carnot (Mémoire d’encrier, 2011), Afrotopia (Philippe Rey, 2016, Grand prix de la Recherche), Ishindenshin (Mémoire d’encrier, 2017) et Habiter le monde (Mémoire d’encrier, 2017). Il anime avec Achille Mbembe le grand rendez-vous intellectuel africain, Les Ateliers de la pensée, à Dakar. Considéré comme l’un des plus brillants penseurs de l’Afrique, Felwine Sarr est parmi les intellectuels les plus féconds dans le renouveau d’une pensée africaine « décolonisée »

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    Buchvorschau

    Afrotopia - Felwine Sarr

    Anmerkungen

    Afrika denken

    Überlegungen über den gesamten afrikanischen Kontinent anzustellen, ist eine schwierige Aufgabe, bekommt man es doch mit hartnäckigen Gemeinplätzen, Klischees und Pseudogewissheiten zu tun, die sich wie ein Dunstschleier über die Realität legen. Seit den 1960er-Jahren und seit dem Morgen der Unabhängigkeit ist Afrika von der afropessimistischen Vulgata ohne Unterlass als der Kontinent beschrieben worden, der einen Fehlstart hingelegt hat und seitdem am Abdriften ist: ein sterbendes Ungeheuer, dessen jüngste Zuckungen das baldige Ende ankündigen. Die grimmigen Zukunftsprognosen Afrikas folgen aufeinander im Gleichschritt mit den Erschütterungen und Krisen, die der Kontinent durchlaufen hat. Auf dem Höhepunkt der Aids-Pandemie prophezeiten einige Auguren gar nichts weniger als die Auslöschung allen Lebens auf dem afrikanischen Kontinent. Soll diese Ansammlung von Elend doch von einer Gesundheitskatastrophe zugrunde gerichtet werden, der übrigen Menschheit kann es dann nur besser gehen. Damit ist die symbolische Gewalt lediglich angedeutet, mit der die Medien und eine umfangreiche Literatur sich das Schicksal Hunderter Millionen Menschen ausgemalt, es verhandelt, dargestellt und in die kollektive Fantasie eingeschrieben haben – stets als Beispiel des Scheiterns, des Mangels, des Handicaps, ja sogar des Defekts oder Geburtsfehlers.

    Diese Neigung der anderen, den afrikanischen Kontinent zur Projektionsfläche für ihre Fantasien zu machen, reicht weit zurück. Bereits in der Antike bemerkte Plinius der Ältere: »Aus Afrika kommt immer etwas Neues« (»Ex Africa semper aliquid quid novi«). In seiner Naturgeschichte denkt er dabei an die merkwürdigen Tiergattungen, die der Kontinent unablässig jenem römischen Reich präsentiert, das an seiner Mittelmeerflanke an ihn angrenzt. Im Zeitalter der Eroberungen veranlasst dieses mysteriöse Afrika Entdeckungsreisende und Abenteurer zu ihren originellsten und anstößigsten Fantasien. Der Wunderkontinent wird einigen zum Ventil für eine Barbarei, das die zivilisierten Länder in ihren Urzustand zurückversetzt. Man erlaubt sich dort tatsächlich alles: Plünderung, Verwüstung von Leben und Kulturen, Genozide (die Herero), Vergewaltigungen, Menschenversuche: Sämtliche Formen der Gewalt haben dort mühelos ihren Höhepunkt erreicht.

    Da sich der Wind gedreht zu haben scheint, ist in jüngerer Zeit eine Rhetorik der Euphorie und des Optimismus erblüht. Die Zukunft werde fortan afrikanisch sein. Der Kontinent mache Fortschritte in Sachen Wirtschaftswachstum und die Aussichten seien gut. Ökonomen zufolge wird Afrika das nächste Ziel der internationalen Kapitale sein, da diese dort mit höheren Profiten rechnen könnten als irgendwo sonst. Afrika werde das Zentrum eines starken Wirtschaftswachstums sein, dem heute in China und den BRICS-Staaten die Luft ausgehe. Dank der Verfügbarkeit von natürlichen Ressourcen und Rohstoffen werde der afrikanische Kontinent das zukünftige Eldorado des Weltkapitalismus sein. Eine süße Ankündigung kommenden Wohlstands in stürmischen Zeiten.

    Auch in diesem Fall handelt es sich um die Träume anderer inmitten eines nächtlichen Schlummers, bei dem die Hauptbetroffenen nicht zum kollektiven Träumen eingeladen sind. Sicher, den Wunsch nach Wohlstand teilen alle Völker. Weniger gewiss ist jedoch, ob sie auch alle jene mechanistische und rationalistische Herangehensweise an Wirtschaftsfragen teilen, die die Welt und ihre Ressourcen zugunsten einer Minderheit einer außer Rand und Band geratenen Ausbeutung unterwirft und dabei die Grundlagen menschlichen Lebens aus dem Gleichgewicht bringt.

    Wenn der afrikanische Kontinent die Zukunft ist und sein wird, dann impliziert diese Rhetorik auch, dass es ihn heute nicht gibt oder dass er in der Gegenwart als Leerstelle existiert. Die Begriffe intensivierender Kraft, mit denen man seine Zukunft beschreibt, verweisen auf einen gegenwärtigen Mangel. Tatsächlich verstetigt die Verlagerung seiner Präsenz in die Zukunft lediglich das benachteiligende Urteil über ihn. Millionen Menschen teilt man täglich auf unterschiedliche Weise mit, das Leben, das sie führen, spiele keine Rolle. Indem sie eine von Ökonomismus und statistischer Abstraktion geprägte Terminologie übernommen haben, scheinen sich einige Afrikaner dieser Sicht auf den Menschen angeschlossen zu haben: einer zum Menschen spiegelverkehrten Sicht, bei der der Quantität gegenüber der Qualität das Primat zukommt und dem Haben gegenüber dem Sein. Die Anwesenheit der Menschen auf der Erde wird nur noch vermittelt über das Bruttosozialprodukt oder die Weltmarktposition zur Kenntnis genommen.

    Die heutigen Afrikadiskurse sind von dieser Doppelbewegung beherrscht: Glauben an eine strahlende Zukunft einerseits, Bestürzung angesichts einer chaotisch wirkenden Gegenwart andererseits – einer Gegenwart, durchzogen von verschiedenen Erschütterungen.¹ In diesem Kontext stellt es eine große Versuchung dar, dem Katastrophismus zu verfallen oder aber seinem seitenverkehrten Abbild, einem seligen Optimismus. Sicher ist bei allem jedoch, dass die den afrikanischen Kontinent erschütternden Krisen Geburtswehen gleichen. Welchen Engel oder welches Ungeheuer wird er gebären? Das Chiaroscuro, in dem wir uns bewegen, erlaubt fürs Erste keine Prognose.

    Und doch ist es weniger ein Mangel an Bildern, unter dem der afrikanische Kontinent leidet, als vielmehr ein Mangel an eigenen Denkfiguren und an der Erzeugung eigener Zukunftsmetaphern. Es fehlt an einer unabhängigen und selbständig entwickelten Teleonomie,² die Ergebnis einer eigenen Reflexion über seine Gegenwart, sein Schicksal und über die eigenen Zukunftsentscheidungen wäre. Seit jeher verändern sich menschliche Gesellschaften auf organische Weise, indem sie sich ihren Herausforderungen stellen, auf diese reagieren und dann überleben oder vergehen.

    Wozu also angesichts dieser Umstände Überlegungen zu Gegenwart und Zukunft des afrikanischen Kontinents anstellen? Weil sich Gesellschaften zunächst imaginär konstituieren.³ Das Imaginäre ist das Schmiedeeisen, auf dem die Formen entstehen, die Gesellschaften sich verleihen, um das Leben zu speisen und ihm Tiefe zu verleihen, um das gesellschaftliche und menschliche Abenteuer auf eine neue Stufe zu heben. Gesellschaften entwickeln sich unter anderem deswegen, weil sie sich selbst in die Zukunft projizieren, die Bedingungen ihres eigenen Fortbestands reflektieren, zu diesem Zweck den nachfolgenden Generationen ein intellektuelles und symbolisches Kapital vermitteln, sich zu Trägern eines gesellschaftlichen und zivilisatorischen Projekts machen, ein Menschenideal entwerfen und die Zwecke des gesellschaftlichen Lebens bestimmen. Es geht also darum, sich aus einer Dialektik von Euphorie und Verzweiflung zu befreien und den Versuch einer kritischen Reflexion seiner selbst, der eigenen Realitäten sowie der eigenen Lage in der Welt zu unternehmen: sich selbst denken, sich darstellen, sich projizieren. Vorbedingung ist, den Kontinent so anzunehmen, wie er sich uns zu diesem spezifischen Zeitpunkt seiner historischen Entwicklung darstellt und wie er von Jahrhunderten der Machtverhältnisse sowie miteinander verzahnter interner und externer Dynamiken geprägt worden ist. Indem wir ihn betrachten, wie er ist, und nicht, wie er zu sein hat, offenbart er uns die Geheimnisse seiner tieferen Entwicklungen.

    Afrika denken bedeutet, eine zaghafte Morgenröte zu durchwandern, entlang eines markierten Weges, auf dem der Gehende aufgerufen ist, das Schritttempo zu erhöhen, um den Zug einer Welt zu erreichen, die bereits vor einigen Jahrhunderten abgefahren zu sein scheint. Es bedeutet, sich durch das Gestrüpp eines dichtbewachsenen und buschigen Waldes zu kämpfen, einen Weg vermessen, der von Dunst umhüllt ist; einen Ort, der mit Begriffen belegt ist, mit Aufforderungen zur Reflexion gesellschaftlicher Zwecke: einen bedeutungsschwangeren Raum.

    Leitworte wie »Entwicklung«, »wirtschaftlicher Durchbruch«, »Wachstum« und, in einigen Fällen, »Bekämpfung der Armut« sind die Schlüsselbegriffe der vorherrschenden Episteme⁴ der Epoche. Dieses rührt in erster Linie von jenem Traum her, den der Westen seit dem 15. Jahrhundert in alle Welt exportiert hat, begünstigt durch die eigene technische Überlegenheit und nötigenfalls mithilfe von Knüppeln und Kanonen. Doch hat er eine entscheidende Schlacht vor allem dadurch gewonnen, dass er seine Vorstellung von menschlichem Fortschritt in das kollektive Imaginäre der anderen eingepflanzt hat. Von diesem Platz wird man ihn vertreiben müssen, um Raum für andere Möglichkeiten zu schaffen.

    Das Offene denken bedeutet, das Leben, das Lebbare, das Gangbare anders zu denken als im Modus der Quantität und der Habgier. Es bedeutet eine Vitalität zu denken, die maximal zu erweitern ist: das gesellschaftliche Abenteuer als eines denken, das das Leben speisen, weitergeben, verbreiten sowie durch die Einordnung in eine breitere Perspektive qualitativ wachsen lassen soll. Zu Beginn der Menschheitsgeschichte haben die Afrikaner lebensfeindliche Territorien kolonisiert und durch die Schaffung dauerhafter Gesellschaften einen ersten Sieg über die Natur erzielt. Diese Gesellschaften sollten es der Menschheit fortan ermöglichen, zu überleben und fortzubestehen.⁵ Das ist ihre erste Erbschaft, noch vor dem großen Auszug aus dem Kontinent durch den Homo sapiens. Heute könnte eines vieler weiterer Vermächtnisse darin bestehen, inmitten der Sinnkrise einer technizistischen Gesellschaft eine andere Sichtweise auf das gesellschaftliche Leben zu bieten, die aus anderen mythologischen Universen hervorgegangen ist und einen gemeinsamen Traum von Leben, Gleichgewicht, Harmonie und Sinn nährt.

    Der Afrotopos ist jenes andere Afrika, dessen Ankunft beschleunigt werden muss, damit seine günstigen Potenziale verwirklicht werden können. Eine Utopie zu begründen heißt gerade nicht, sich einer süßen Träumerei hinzugeben. Es geht vielmehr darum, Räume des Reellen zu konzipieren, die dann denkend und handelnd herbeizuführen sind; die Anzeichen und die ersten Keime dieses Reellen sind in der Gegenwart auszumachen, damit sie befördert werden können. Afrotopia ist eine aktive Utopie, die es sich zur Aufgabe macht, die gewaltigen Möglichkeitsräume innerhalb der afrikanischen Wirklichkeit aufzustöbern und sie fruchtbar werden zu lassen.

    Die Herausforderung besteht also darin, ein Denken zu artikulieren, das das Schicksal des afrikanischen Kontinents zum Gegenstand hat und dabei das Politische, das Wirtschaftliche, das Gesellschaftliche, das Symbolische und die künstlerische Kreativität in den Blick nimmt, gleichzeitig aber jene Orte bestimmt, an denen sich neue Praktiken, neue Diskurse ankündigen, an denen das kommende Afrika Gestalt annimmt. Es wird darum gehen, die sich entfaltenden Dynamiken zu entschlüsseln, das Hervortreten eines radikal Neuen zu erspähen, den Inhalt gesellschaftlicher Projekte zu ersinnen, die Rolle der Kultur innerhalb dieser Veränderungen zu analysieren, eine zukunftsgerichtete Reflexion anzustellen. Zugleich ist es darum zu tun, ein Zivilisationsprojekt zu denken, das den Menschen in den Mittelpunkt seiner Erwägungen stellt, indem es ein besseres Gleichgewicht der verschiedenen Ordnungen vorschlägt: der wirtschaftlichen, der kulturellen und der spirituellen. Dies beinhaltet die Artikulation eines anderen Verhältnisses von Subjekt und Objekt, arché und Neuem, Geist und Materie. Dass neue Horizonte eröffnet werden können und etwas zur positiven Transformation der afrikanischen Gesellschaften beigetragen wird, hängt vom Gelingen dieses Unterfangens ab, das die wichtigste Aufgabe der afrikanischen Intellektuellen, Denker und Künstler darstellt. In diesem Essay sollen die Grundzüge eines solchen Projekts umrissen werden.

    Gegen den Strom

    Jedes weitertreibende Nachdenken über den afrikanischen Kontinent muss dem Anspruch einer absoluten intellektuellen Souveränität genügen. Es geht darum, dieses in Bewegung befindliche Afrika ohne die gängigen Worthülsen wie »Entwicklung«, »wirtschaftlicher Durchbruch«, »Milleniums-Entwicklungsziele«, »nachhaltige Entwicklung« … zu denken, die bisher dazu gedient haben, Afrika zu beschreiben, vor allem aber, die Mythen des Westens auf die Entwicklungsverläufe afrikanischer Gesellschaften zu projizieren. Diese Vokabeln haben es nicht vermocht, den Dynamiken des afrikanischen Kontinents gerecht zu werden oder die tiefgreifenden Veränderungen zu fassen, die sich dort abspielen. Dazu bleiben sie zu sehr einem westlichen Begriffskosmos verhaftet, der ihre Deutung der Wirklichkeit bestimmt. Indem sie die Entwicklung der afrikanischen Gesellschaften in eine Teleologie mit universellem Anspruch einschreiben, haben diese Kategorien, die in ihrer Prätention einer Bewertung und Beschreibung gesellschaftlicher Dynamiken Hegemonie beanspruchen können, die besondere Kreativität Afrikas ebenso verleugnet wie dessen Fähigkeit, Metaphern des eigenen Zukunftspotenzials zu formulieren. Diese Begriffe kollidierten mit der kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Komplexität der afrikanischen Gesellschaften und haben fremden mythologischen Universen ihr Interpretationsraster aufoktroyiert.

    Eines der grundlegendsten Defizite dieser Begriffe rührt von dem her, was man ihre quantophrenische Schieflage nennen könnte, also vom Zwang,

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