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Stumme Medien: Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft
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eBook350 Seiten4 Stunden

Stumme Medien: Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft

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Über dieses E-Book

Der digitale Wandel der Gesellschaft wird von konzeptlosen Politikern und gewinnorientierten Unternehmern diskussionslos durchgewunken und vorangetrieben. Die gelegentliche Kritik an Fake News, Filterblasen und dem Verlust der Privatsphäre trifft nur die Symptome einer viel grundsätzlicheren Gefahr für das Fortbestehen unserer Demokratie. Auch die Schulen und Universitäten entziehen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, wenn sie nur vermitteln, wie man die neuen Medien sicher nutzen und effektiv in der Forschung einsetzen kann, statt auch die kulturstiftende Funktion des Computers zu betrachten. Roberto Simanowski plädiert in seiner Streitschrift für eine neue Medienbildung, die kritisch operiert statt affirmativ. Nicht allein die Anwendungskompetenz muss im Zentrum der Bildung stehen, sondern die Frage, wie die neuen Medien unser Leben und unsere Weltwahrnehmung ändern.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. März 2018
ISBN9783957575913
Stumme Medien: Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft

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    Buchvorschau

    Stumme Medien - Roberto Simanowski

    Roberto Simanowski

    Stumme Medien

    Vom Verschwinden der Computer

    in Bildung und Gesellschaft

    Inhalt

    Einleitung

    1. Tatort digitale Medien

    2. Das Verschwinden der Computer

    3. Überblick

    I. Medien und Gesellschaft

    1. Das Ende der Experten

    2. Disruptive Innovationen

    3. Paradoxien der Gegenwart

    II. Medien und Schule

    1. Medienkompetenz und Halbbildung

    2. Bildung 4.0

    3. Digitale Immigranten

    III. Medien und Universität

    1. Digital Humanities

    2. Kulturgut Lesen

    3. Die Ethik des Machens

    Schluss

    1. Erziehung zur Mündigkeit

    2. Streit der Fakultäten

    3. Kritik als Tugend

    Anmerkungen

    Bibliografie

    Einleitung

    Willkommen in einer Welt, in der Katzenvideos

    die Menschen glücklich machen, während ihre Daten

    gestohlen und Rechner lahmgelegt werden.

    Willkommen im Internet.

    (Das Netzmagazin, B5 aktuell, 2017)

    Donald Trump war nur die Probe aufs Exempel gewesen. Wie Zuckerberg kam Trump als Nichtexperte mit starken Sprüchen und vagen Versprechungen ins Amt, tat dies aber noch ganz aus dem Geist des alten Jahrhunderts. Er war bekannt als TV-Entertainer, Zuckerberg hingegen war über die Landesgrenzen hinaus mit Millionen von Menschen verbunden. Während Trump auf Mauern und Konfrontation setzte, warb Zuckerberg mit Links und Freundschaftsanfragen. Während Trump die Medien zum Erzfeind erklärte, entwaffnete Zuckerberg sie durch die Umzingelung mit Meldungen aus dem Privatleben seiner Facebook-Gemeinde.

    Die Visualisierung der Kommunikation durch Facebook Live und Facebook 360 gehörte – das wurde vielen erst später bewusst – bereits zu Zuckerbergs Programm, den Menschen als sprachliches und politisches Wesen zu überwinden. Denn anders als Trump, dessen konfrontatives Motto »America first« ohnehin bloß einen Teil der Amerikaner meinte, zielte Zuckerberg nicht nur auf das ganze Land, sondern auf die ganze Welt. Sein Rezept war die Verschiebung der Kommunikation vom rational-sprachlichen Bereich in den emotionalvisuellen und von den politischen Kontroversen zu den Freuden des Alltags. Geheime Experimente auf Facebook hatten gezeigt, dass Menschen glücklicher sind, wenn sie mehr positive als negative Inhalte zu sehen bekommen. Auf diese Weise gelang es Zuckerberg, abseits aller Identitätspolitik – gleich ob politisch, sozial, kulturell oder religiös motiviert – eine globale, affirmative Gemeinschaft zu schaffen.

    Flankiert wurde das Programm der Visuellen Empathie (PVE) durch die Verbreitung eines Weltbildes, für das es lediglich Herausforderungen technischer Art gibt. Zuckerberg pries den Fortschritt der Forschung durch Big Data, beschwor die Segnungen der künstlichen Intelligenz, prophezeite die Ausrottung gefährlicher Krankheiten und die Erschließung neuer Ressourcen für ein gutes Leben aller. Er vermittelte wie kein anderer das Gefühl, in der (bisher) besten aller Zeiten zu leben, und verkörperte nach dem ausgebliebenen Change unter Obama und der chauvinistischen Nostalgie-Rhetorik Trumps die Alternative, auf die alle gewartet hatten.

    Was den Ausschlag für Zuckerbergs Kandidatur gab, ist umstritten. Manche sagen, es sei ein Besuch in Madrid gewesen, als Zuckerberg im Prado in Diego Velázquez’ Gemälde des jungen Königs von Spanien, Philipp IV. (1605–1665), sich selbst erkannt haben soll. Andere sehen in Trumps Wahlsieg den Auslöser, den Zuckerberg unter dem damals ominösen Titel »Feeling hopeful« kommentiert hatte, weil ihm klar geworden war, wie weit man es in der modernen Gesellschaft auch im Bereich der Politik bringen kann, sobald man die Medien beherrscht.

    Die Erklärung selbst kam wenig überraschend. Politische Motive hatte man schon hinter Zuckerbergs beispielloser Philanthropie vermutet, zumal als er frühere Wahlkampfmanager von Barack Obama und George W. Bush ins Boot holte und immer selbstverständlicher auf der politischen Bühne auftrat: 2015 vor der UN, 2016 auf der APEC, 2017 mit seiner PR-Tour durch verschiedene Bundesstaaten der USA und als Harvard-Commencement-Redner. Spätestens nachdem er Ende 2016 vom Atheismus abgerückt und somit mehrheitsfähig geworden war, gab es entsprechende Vermutungen. Niemand war überrascht, als Zuckerberg in Trumps letztem Amtsjahr seine Connect!-Kampagne ausrief, die von Anfang an mehr Likes erhielt als all seine Kontrahenten zusammen. Der Rest ist Geschichte.

    Wird man so oder ähnlich irgendwann Mark Zuckerbergs Wahl zum Präsidenten der USA kommentieren? Auch wenn er selbst die Gerüchte um seine Präsidentschaftskandidatur vorerst abwehrt, auszuschließen ist sie keineswegs. Unsere Zeit ist voller Überraschungen; warum sollte jemand wie Zuckerberg nicht Präsident der USA werden können, nachdem jemand wie Trump es geworden ist? Die Tatsache, dass Zuckerberg mehr Zustimmung erhält (48 %) als sein Unternehmen (32 %), bei dem viele die eigenen Daten nicht sicher wähnen, zeigt, dass die Trennung der Person von ihren Taten, die schließlich auch Trump ins Amt verholfen hat, schon stattfindet. Dass Facebook nichts anderes ist als Zuckerberg, der sich durch juristische Schachzüge die alleinige Entscheidungsmacht im Unternehmen selbst ohne Aktienmehrheit sicherte, scheint vielen so wenig bewusst zu sein wie der Umstand, dass Facebook unter Zuckerbergs Aufsicht per Newsfeed-Filter mit Formen des social engineering und der »emotionalen Ansteckung« experimentiert, was auch in einer Wahlkampagne seine Dienste leisten kann.¹

    Geschichtsphilosophisch betrachtet ließe sich Trump tatsächlich als die notwendige Vorbereitung für Zuckerberg verstehen: als dialektische Unterbrechung im Lauf der Geschichte; unvermeidbar, wenn auch nicht zukunftsfähig. Eine Verschnaufpause im Prozess der disruptiven Innovation, die Neoliberalismus, Globalisierung und Digitalisierung seit Ende des 20. Jahrhunderts für nahezu alle Facetten des individuellen und gesellschaftlichen Lebens bedeuten: von Arbeitsplätzen über Identitätsbildung bis hin zu Freundschaftsbeziehungen und Kommunikationsformen. Trumps Versuch, den Lauf der Geschichte aufzuhalten, wäre nicht mehr als eine notwendige Episode, um der Welt die Gefahr eines solchen Versuchs vor Augen zu führen. Das Alte lässt sich nicht auf Dauer vor dem Neuen retten – diese Einsicht gehört zu den Axiomen der Moderne und wäre, käme alles wie eingangs vorgestellt, das Hauptargument für Zuckerbergs Präsidentschaftskandidatur. Man kann nicht zurück zum Nationalismus des 19. Jahrhunderts oder zum Gesellschaftsmodell der guten alten 1950er Jahre, wie Trump in den USA, Le Pen in Frankreich und andere anderswo es fordern. Die Losung des 21. Jahrhunderts ist nicht der geschlossene Handelsstaat, sondern die offene Gesellschaft, die Zuckerbergs Manifest »Building Global Community« im Februar 2017 verspricht.

    Facebook ist eines der mächtigsten Symbole des Neuen, das die disruptive Innovation ironischerweise unter der Losung des Verbindens vorantreibt. Das Herstellen von Verbindungen, so zeigt die Mediengeschichte, hat jedoch Unterbrechungen zur Folge: Das Flugzeug bringt Menschen sehr schnell von A nach B, ohne dass sie dem begegnen, was dazwischenliegt; GPS lässt den Raum nur noch mit den Augen einer App wahrnehmen; Google Books trennt die Lektüre von der Bibliothek und Googles Suchfunktion das Wissen von der Lektüre; Facebook und seine Tochterfirmen Instagram und WhatsApp schaffen Kommunikationsformen jenseits physischer Begegnung. Was dies für die Beziehung zwischen Freunden bedeutet, ist bekannt und oft genug Gegenstand der Klage. Wichtiger – und zumal für den Fall einer Präsidentschaftskandidatur Zuckerbergs – ist jedoch, wie Facebook die Beziehung zwischen den Nachrichtenmedien und ihrem Publikum verändert. Auch hier kommt es zu einer Trennung der ursprünglichen Verbindungen, als Leserinnen* noch Zeitungen kauften oder die Website eines Nachrichtensenders besuchten. Stattdessen findet man heute vor allem über die Empfehlungen der Facebook-Freunde den Weg zu journalistischen Beiträgen, die ihrerseits als Instant Article zunehmend im Machtbereich von Facebook erscheinen.

    Die politische Konsequenz dieser Rekonnektion liegt darin, dass man, mit den ›rechten‹ Freunden, eher Falschmeldungen und Verschwörungstheorien als seriöse Berichte und ausgewogene Analysen zu sehen bekommt. Dieser Umstand war nach Trumps Wahlsieg unter dem Stichwort Filterblase breit diskutiert worden: als Produkt von Facebooks Algorithmus, der die Beiträge im Newsfeed nach der vermuteten Interessenlage filtert, sodass schließlich alle mehr oder weniger in Echokammern gefangen sind – oder eben geborgen. Die aufgeregte Debatte zur Rolle von Falschmeldungen und Filterblasen in Trumps Wahlkampf unterstellte den neuen Medien zwar jenen Einfluss auf die Gesellschaft, den sie tatsächlich haben, die Analyse blieb jedoch zumeist an der Oberfläche, statt sich eingehender mit der Funktionsweise sozialer Netzwerke und ihren längerfristigen politischen Folgen zu beschäftigen. Man beließ es bei Erste-Hilfe-Maßnahmen zur Aufdeckung und Verhinderung von Falschmeldungen, empfahl das Installieren von Enttarnungssoftware und sinnierte über die Schaffung eines staatlichen »Abwehrzentrums für Desinformation«, was unbehagliche Erinnerungen an die Forderung staatlicher Internet-Souveränität und die Errichtung von Wahrheitsministerien in totalitären Systemen und dystopischen Romanen wachrief.

    Die bloße Symptombekämpfung im Top-down-Verfahren mag vorerst plausibel und unvermeidbar erscheinen, verfehlt aber die Sachlage und den Ernst der Situation. Man kann auf die Probleme der neuen Medien nicht mit alten Modellen antworten und anstelle der alten Gatekeeper – deren Absetzung ein zentrales und oft gepriesenes Merkmal des Internets ist – neue installieren: Algorithmen, die unerwünschte Informationen herausfiltern oder (wie Googles Jigsaw bei Suchanfragen zu IS-Rekrutierung) im Redirect-Verfahren entschärfen, und mehr oder weniger unqualifizierte, schlecht bezahlte Diskurspolizisten von der Straße. Eine nachhaltige Lösung muss unten ansetzen: beim Publikum der Falschmeldungen, bei den Sendern der Hassreden, beim Individuum. Man muss fragen, warum Falschmeldungen so populär und Hassreden so allgegenwärtig sind. Man muss klären, inwiefern Falschmeldungen eher ein ästhetisches als ein ideologisches Phänomen sind. Man muss sich die Kommunikationskultur in sozialen Netzwerken genauer ansehen, ihren Beitrag zur politischen Meinungsbildung, ihren Anteil an deren Niedergang.²

    Um die Bestimmung der Ursachen, die Aufklärung der Betroffenen und den Auftrag, den die Bildungsinstitutionen in dieser Hinsicht haben, geht es in diesem Buch. Es geht um die Notwendigkeit, die Funktionsweise der sozialen Netzwerke, der neuen Medien und der digitalen Technologien zu verstehen und deren vermutete gesellschaftliche Folgen zu diskutieren. Die Ausgangsthese in dieser Auseinandersetzung lautet, dass der Umgang der Bildungsinstitutionen mit den neuen Medien nicht nur von erschreckender Unkenntnis geprägt ist, sondern auch von enttäuschender Fantasielosigkeit, übertriebener Angst und beträchtlichem Opportunismus.³

    1. Tatort digitale Medien

    Man kann mit einfachen Tatsachen beginnen: mit dem Hinweis, dass kurz nach Trumps Wahlsieg post-truth zum Wort des Jahres gekürt wurde und kurz nach seiner Inauguration der Begriff alternative facts in die Welt trat. Wie konnte das Internetzeitalter ein solches Wort des Jahres und einen solchen Wahlsieger hervorbringen? Müsste es mit seinen unerschöpflichen Archiven und leistungsfähigen Suchmaschinen nicht ein Hort der Wahrheit sein statt ein Sumpf der Lüge? Hatte man sich vom Hypertext nicht die Beförderung einer kritischskeptischen Grundhaltung versprochen? Und hätte die Überwindung der einseitigen Sender-Empfänger-Beziehung nicht zu einer generellen Emanzipation der gesellschaftlichen Kommunikation führen müssen? Was ist da falschgelaufen und wer trägt die Schuld?

    Diese Fragen werden die Digital Immigrants eher stellen können als die Digital Natives, die noch das ABC sangen, als jene schon fleißig E-Mails schrieben. Immerhin haben diese ›Eingewanderten‹ die Netz-Euphorie der 1990er Jahre selbst erlebt, haben noch selber mühsam Webseiten gebaut und nächtelang getüftelt, wie sich ein JavaScript aus dem Internet für die eigenen Zwecke umschreiben lässt. Sie erinnern sich noch an die Identitätsexperimente in Second Life, das viele der ›Eingeborenen‹ nicht einmal dem Namen nach mehr kennen. Dieser Vorschuss an Erfahrung macht die ›Eingewanderten‹ sensibel für die Frage, wann das Internet vom richtigen Pfad abkam. Er macht sie misstrauisch genug für den Verdacht, die Demokratisierung, die das Internet mit sich bringt, könnte zugleich die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft zerstören. Er qualifiziert sie dazu, über die Entwicklung und Wirkung der neuen Medien zu reden, statt sich mit vorauseilender Angst vom Mehrwissen der Natives über die aktuellsten Apps, Memes und Online-Stars einschüchtern zu lassen. Ein aufschlussreiches Beispiel für das dialektische Dilemma des Internets und den möglichen didaktischen Heimvorteil der zumeist eingewanderten Lehrerinnen und Lehrer ist dabei gerade das Problem, das derzeit auch die Eingeborenen intensiv beschäftigt: Falschmeldungen.

    Im Grunde sind Falschmeldungen nichts anderes als das logische Resultat der Beseitigung aller Gatekeeper, die vormals – in Redaktionsstuben und Rundfunkstationen – den Zugang zur Öffentlichkeit kontrollierten. Die Demokratisierung des Zugangs demokratisierte auch die Qualitätskontrolle, die nun nicht mehr in den Händen weniger liegt, sondern aller, die durch Tags (Schlagworte) und Likes (Zahlen) das Schicksal eines Beitrages in der Öffentlichkeit mitbestimmen. Mit social bookmarking, folksonomy und Ranking treten an die Stelle der alten Meinungselite eine Unzahl anonymer Meinungen, die zumeist argumentationsfrei und emotionsgetrieben vorgetragen werden. Dass dabei das Spannende und Sensationelle zumeist beliebter ist als das Sachliche und Nuancierte, erstaunt niemanden, der die Natur des Menschen kennt und um die erhitzte Debatte zur Massenkultur seit dem 18. Jahrhundert weiß. Die Sachlage verschärft sich, wenn dieser Vorgang unter den Kommunikationsbedingungen von Facebook erfolgt: dem dualistischen Reaktionsschema der Likes oder Dislikes, dem begründungslosen Populismus der Zahl, dem Zeitdruck, unter dem Beiträge angesehen, bewertet and empfohlen werden. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Kontext der Urteilsfindung und Weiterempfehlung geradezu Gewächshausbedingungen für das Sensationelle, Eingängige und Unterhaltsame schafft, statt dem Seriösen, Komplexen und Komplizierten zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen.

    Diese kurze Überlegung zeigt bereits, dass man es nicht bei Hinweisen zur Identifizierung und Vermeidung von Falschmeldungen belassen kann. So unverzichtbar solche Hilfen zur Gefahrenvermeidung auch sind, ebenso wichtig ist die Erkundung der Ursachen und Wirkungen dieser Gefahren. Die Verbindung von Medien und Bildung, um die es in diesem Buch geht, will genau dies: eine informierte und kritische Diskussion der Medien, die über die Vermittlung von zweckrationalem Verfügungs- und handlungsorientiertem Nutzungswissen hinausgeht. Eine solche Medienbildung zielt auf Medienreflexion und schreitet dazu schon in der ihr zugrundeliegenden Fragestellung vom bloßen Ich-Bezug zur Gesellschaft voran: von der Frage »Wie kann ich die neuen Medien effektiv und sicher nutzen?« zur Frage »Was machen die Medien mit uns?«. Um diesen Schritt von der Nutzung der Medien zu ihrer Kritik, um diesen Wechsel der Sorge vom Ich zum Wir geht es im vorliegenden Buch.

    Am Abend des 18. Dezember 2016 brach die digitale Gesellschaft unerwartet und beängstigend in das deutsche Wohnzimmer ein. Im Frankfurter Tatort »Wendehammer« ging es um Kontaktlinsen mit eingebauter Kamera, die bei Erregung (zum Beispiel während eines Mordes) das, was man erlebt, aufnehmen und direkt in die Cloud speichern. Es war nicht der erste Tatort des Jahres über die Schattenseiten der Digitalisierung: im Stuttgarter »HAL« vom 28. August ging es um Überwachungssoftware und im Bremer »Echolot« vom 30. Oktober um künstliche Intelligenz, die mit Todesfolge das Steuerungssystem eines Autos hackt. Ein Großteil des Tatort-Publikums wird angesichts der beschriebenen Gefahren ratlos auf den Bildschirm geblickt haben oder einfach von der konstruierten Handlung und den vielen technischen Begriffen genervt gewesen sein. Dabei verarbeitete »Wendehammer« bloß ein inzwischen relativ altes Thema. Die innere Aufzeichnung und äußere Wiedergabe von Erlebnissen wurde in den USA schon 1995 in Kathryn Bigelows Film Strange Days behandelt und kam in Großbritannien 2011 mit »The Entire History of You«, der dritten Episode der TV-Serie Black Mirror, auf den Tag genau fünf Jahre vor »Wendehammer« in die Wohnzimmer. Selbst deutsche Filmregisseure nahmen sich des Themas früh an, etwa Wim Wenders mit Bis ans Ende der Welt im Jahr 1991 über die Aufzeichnung von Träumen – an dessem düsteren Ende alle nur noch auf ihre Bildschirme schauen, beschäftigt mit ihrer unterbewussten Vergangenheit. Natürlich gibt es auch Science-Fiction in Buchform, die die technische Reproduktion sinnlicher Erlebnisse mit all ihren Konsequenzen durchspielt, wie Benjamin Steins Roman Replay aus dem Jahr 2012, oder die Vermessung des Individuums zum Exzess führt, wie Juli Zehs Roman Corpus Delicti aus dem Jahr 2009 – um nur zwei deutsche Beispiele zu nennen.

    Die Aufklärung über die Untiefen digitaler Technologien im Gewand der Unterhaltung wird gelegentlich auch durch Politiker-Appelle flankiert. Ende 2015 forderte der damalige Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz eine Charta der digitalen Grundrechte mit »Leitplanken«, um »etwaige Fehlentwicklungen auszuschließen beziehungsweise bereits existierende falsche Weichenstellungen wieder zu korrigieren«. Natürlich ging es dabei nicht um Technologien zur totalen Erlebnisarchivierung. Aber schon die Forderung nach einem »Minderheitenschutz« für jene, die sich der Bereitstellung persönlicher Daten entziehen, ist politischer Sprengstoff angesichts der Kritik der Kanzlerin Angela Merkel an dem, wie sie sagt, veralteten Modell der »Datensparsamkeit«. Wäre es möglich, dass irgendwann – wenn die Kontaktlinsen aus dem Tatort marktfähig sind – eine Pflicht zur Aufzeichnung der eigenen Erlebnisse besteht, so wie schon jetzt gelegentlich Angestellte und Versicherungsnehmerinnen angehalten sind, Self-Tracking-Apps zu nutzen? Wird es dann noch ein »Recht auf eine analoge Welt« geben, das Justizminister Heiko Maas Ende 2015 für Menschen forderte, die keine digitalen Dienstleistungen und Kontrollmechanismen nutzen wollen? Wird die Antwort davon abhängen, welche Partei an der Macht ist? Oder wird die Technik ohnehin stärker sein als die Politik?

    Schulz und der Tatort geben einem Unbehagen Ausdruck, das kaum jemand teilt, der sich nicht näher mit der Situation beschäftigt. Die allgemeine Zufriedenheit der Deutschen – mit ihrer wirtschaftlichen Lage, mit ihrer politischen Führung und mit dem Internet – ist kein guter Resonanzboden für die Gefahren, die nicht nur in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht mit der voranschreitenden Digitalisierung auf sie zukommen. Gerade deswegen aber stehen die Universitäten und Schulen in der Pflicht – als Orte, von denen man neben Verfügungs- auch Orientierungswissen erwartet. Sie sind der Raum, in dem die künftigen Folgen aktueller Entwicklungen – auch und gerade neuer Technologien – ausführlich und kontrovers bleuchtet werden können. Dieser Vorgang wird zu einem bestimmten Maß spekulativ sein müssen und darf durchaus auch fantasievoll sein, zumal in der Schule, wo es primär nicht darum geht, gesellschaftspolitische und geschichtsphilosophische Fragen zu klären, sondern erst einmal überhaupt das Interesse an einer solchen Klärung zu wecken. Lehrer, die dafür auf Fernsehserien wie Tatort oder Black Mirror zurückgreifen, dürfen sich der Aufmerksamkeit der meisten Schüler sicher sein.

    Man nehme zum Beispiel die Black Mirror-Episode »Hated in the Nation«, in der Autonomous Drone Insects (kleine Roboter mit Kamera) nicht nur die Bestäubungsarbeit der ausgestorbenen Bienen übernommen haben, sondern zugleich vom staatlichen Geheimdienst als Überwachungskameras mit Gesichtserkennungssoftware eingesetzt werden. Der Tatort »HAL« greift dieses Thema der Verquickung von Softwareproduzenten und Regierungsbehörden auf, wenn er die Firma, die an einem ausgeklügelten Überwachungssystem arbeitet, mit dem Landeskriminalamt kooperieren lässt, das sich für predictive policing interessiert. Sind das Übertreibungen dystopischer Science-Fiction oder nehmen sie vorweg, was unvermeidlich kommen wird, wenn man nicht rechtzeitig beginnt, darüber zu sprechen? Der Ehrgeiz einer gesellschaftlichen Problematisierung zeigt sich in diesem Fall schon in den popkulturellen Bezügen, denn der Titel erinnert natürlich an den aufsässigen Computer HAL in Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey aus dem Jahr 1968 und der Stockwurf am Filmanfang zitiert den berühmten Knochen bei Kubrick, der, von einem Menschenaffen in die Luft geschleudert, zu einem Raumschiff im Weltall mutiert.

    Ein fast noch beunruhigenderes Beispiel ist die Black Mirror-Episode »Nosedive« über eine Gesellschaft des sozialen Rankings, in der sich Menschen permanent gegenseitig bewerten und erst mit einem entsprechenden Durchschnittswert Zugang zu bestimmten öffentlichen Räumen und Dienstleistungen erhalten. Die spannende Frage für das Unterrichtsgespräch könnte lauten, ob auf diese Weise alle Menschen netter zueinander sind und ob etwas daran auszusetzen wäre, wenn sie es nur vortäuschten. Beunruhigend ist dieses Beispiel, weil in diesem Fall der Wechsel von der Fiktion zur Realität schon Gestalt annimmt in Chinas Sozialkredit-System, das bis zum Jahr 2020 im ganzen Land Punkte für vorbildliches soziales und politisches Verhalten verteilen oder bei Zuwiderhandlungen eben abziehen soll und so mithilfe digitaler Technologien eine Sozialutopie der Ordnung aufzubauen hilft, die weder Tommaso Campanella noch Ernst Bloch sich hätten vorstellen können. Die Zukunft ist näher, als man denkt – so könnte das Motto der Stunde mit der Frage für die Gruppendiskussion lauten: Was wärest du bereit zu tun, um deinen Score zu erhöhen? Anspruchsvoller und herausfordernder lautet das Motto Ex oriente lux und die Frage: Ist China das Zukunftsmodell auch für demokratische Gesellschaften? Denn soziale Angepasstheit und Kontrollierbarkeit sind keineswegs nur ein Wert für die Politiker, Sicherheitsbehörden und Verwaltungsangestellten Chinas. Dass es in Deutschland kaum eine Diskussion zum chinesischen Beispiel als möglicherweise notwendige Folge der gesellschaftlichen Digitalisierung und Datafizierung gibt, macht durchaus misstrauisch. Dass auch hier Phänomene wie Sicherheits- und Gesundheitsscreening immer populärer werden und viele durch Bewertungen nicht nur bei Uber oder Airbnb sich bereits am Aufbau eines Sozialkreditsystems beteiligen, lässt nicht vermuten, dass wir außer Gefahr sind.

    Film und Fernsehen – das weiß man nach Adorno und seit der Lindenstraße – sind, wenn man geschickt wählt, verlässliche Gehilfen für die Erziehung der Gesellschaft. Die Unterrichtsgespräche und Aufsatzthemen, die sich aus solchen Sendungen ergeben, können Fantasie mit Reflexion verbinden, wenn sie die Frage »Wie werden wir leben?« mit der Frage danach verknüpfen, wir wir leben wollen. Zukunftsszenarien, die das eigene Leben betreffen, dürften das Interesse der Schülerinnen wecken, zumal wenn man deren kreative Imagination anspricht und dazu einlädt, im wechselnden Rollenspiel das Für und Wider bestimmter Entwicklungen gegeneinander vorzubringen. Die Erkenntnis der eigenen ambivalenten Verwicklung in die Ängste und Hoffnungen, die mit der Digitalisierung der Gesellschaft verbunden sind, wäre Unterrichtsziel und zugleich Ausgangspunkt für weitere Diskussionen: Wer wünscht sich nicht, dass smarte Dinge einem das Leben erleichtern und mitdenkend Entscheidungen abnehmen? Wer würde ihnen dazu nicht die erforderlichen Informationen und Vollmachten geben? Wo ist die Grenze? Wie erkennt man sie? Wann ist es dafür zu spät?

    Die Bälle, die die sogenannte Kulturindustrie und gelegentlich auch die Tagesmeldungen den Lehrerinnen und Lehrern zuspielen, lassen sich leicht von der persönlichen auf eine prinzipielle Ebene heben: Hat der Fahrzeughersteller ein Recht auf die Daten meines Fahrverhaltens, um seine Autos wettbewerbsfähiger und umweltfreundlicher zu machen? Gibt es in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland eine Alternative zur Losung »mit Daten Werte schaffen«? Darf man sich der ökologischen Wende der Industrie und der digitalen Wende des Gesundheitswesens in den Weg stellen? Gehören meine Daten mir allein oder schulde ich sie der Gesellschaft, wie gelegentlich schon zaghaft angemahnt wird?

    Der Interessenkonflikt, den diese Fragen ansprechen, verläuft zwischen Tradition und Innovation und ist im Kern auch ein Generationskonflikt. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die erwähnten Tatort-Filme, wo reifere Polizisten auf junge, coole Start-up-Hipster treffen und, verunsichert von deren Aktivitäten, ratlos nach einem Paragraphen suchen, mit dem sie diesen das Handwerk legen könnten. Der Konflikt ist von geschichtsphilosophischer Dimension, was sich schon an den Fragen zeigt, die Start-ups bewegen: »Was ist möglich?« und »Warum nicht?« statt »Was ist nötig?« und »Warum?«. Entrepreneure beziehen ihre Legitimation aus der gerade in der IT-Branche beliebten Logik, dass in einer Welt, die sich rasant ändert, das höchste Risiko darin besteht, kein Risiko einzugehen. Aus der Mahnung, nicht stehenzubleiben, wird dann leicht die Erlaubnis, nichts stehenzulassen. Disruption ist das Lieblingswort der Branche, gern in Befehlsform und immer mit dem Versprechen verbunden, die Welt zu verbessern. Fortschritt als Alibi für die Zerstörung bestehender Strukturen. Und stimmt es etwa nicht, dass wir ohne solche Zerstörung noch immer Briefe mit Pferdekutschen befördern würden!?

    Sowenig es überrascht, dass Technikphilosophen Fortschrittsrhetorik und Erneuerungsobsession misstrauisch betrachten, so wenig erstaunt es, dass die Politik im Großen und Ganzen mit der Wirtschaft schwärmt: vom Internet der Dinge, von Industrie 4.0, von smarten Objekten und künstlicher Intelligenz. Man bestätigt sich gegenseitig, in den technischen Entwicklungen kein Problem zu sehen, sondern das Mittel zur Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme. Das funktioniert nicht zuletzt deswegen, weil die Konstellation weniger dramatisch und eindeutig zu sein scheint als etwa im Fall der Nuklearspaltung. Denn wenn auch bestimmte Folgen (Transparenz, Überwachung, Cybermobbing) Besorgnis erregen, man kann weder daran sterben, noch sind sie umweltschädlich. Es handelt sich zunächst einfach nur um eine, wenn auch grundsätzliche, Umwälzung der Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Oder? Könnte es sein, dass die Menschen, wie manche Sicherheitsexperten und Computerwissenschaftlerinnen warnen, gerade dabei sind, Opfer ihrer eigenen Erfindungen zu werden? Sind die zunehmenden Hacking-Attacken auf Industrieanlagen und öffentliche Einrichtungen bereits der Vorgeschmack

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