Kursbuch 215: Soziale Konfliktzonen
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Dieses Kursbuch kreist um diese Konflikte. Hanna Lierses Beitrag nimmt die Persistenz sozialer Ungleichheitsstrukturen aufs Korn, Steffen Mau macht darauf aufmerksam, dass es sehr wohl soziale Konflikte in verschiedenen Feldern gibt, aber an der gerne behaupteten These der Polarisierung der Gesellschaft nichts dran ist, auch wenn sich die Ränder radikalisieren. Im Interview mit der Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger wird auf die Widersprüche und Nebenfolgen des europäischen Fluchtregimes hingewiesen.
Die Intermezzi-Frage lautet dieses Mal: Wären Sie gerne sozialer? Antworten von Marlen van den Ecker, Helmut Hochschild, Elisabeth Niejahr, Mithu Sanyal, Michael Skirl und Oliver Weber. Oliver Unverzart beantwortet unsere Frage in Bildform.
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Buchvorschau
Kursbuch 215 - Armin Nassehi
Armin Nassehi
Editorial
Soziale Konflikte sind klassischerweise Konflikte um Verteilungsfragen, also das, was seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Grundkonflikt des demokratischen Streits ist. Politische Programme und Machtkonflikte haben sich um zwei Achsen herum geordnet – die eine das Distributions-, Teilhabe- und Umverteilungsproblem, zugleich der Ausgleich zwischen (ökonomischer) Freiheit und (sozialer) Sicherheit; die andere ist der Konflikt um das, was man die gesellschaftspolitische und kulturelle Dimension nennen kann, also um ein eher progressives und eher konservatives Verhältnis zu kulturellen Liberalisierungen und Pluralisierungen. Der erste Konflikt und seine Bearbeitung waren womöglich das Erfolgsmodell des westlichen Arrangements, jenes »Goldenen Zeitalters« (Eric Hobsbawm), in dem der Zielkonflikt zwischen einem volatilen Kapitalismus und institutioneller Arrangements zur Kontinuierung von Lebensformen und sozialer Sicherheit zwar nie gelöst, aber doch als Form stabil bearbeitet werden konnte. Von einer Wiederkehr der sozialen Frage jedenfalls kann keine Rede sein, denn sie war nie weg – und das Motiv der Wiederkehr wird schon seit Jahrzehnten ähnlich geführt.
Dass materielle Konflikte zunehmen werden, die soziale Frage eine neue Dynamik erhalten wird, ist absehbar – und das liegt nicht nur daran, dass es sehr handfeste Herausforderungen gibt, die ökonomischen Folgen des Klimawandels und der Energieversorgung, die Trägheit und an vergangenem Erfolg hängende Wirtschaftszweige, die Überbürokratisierung von Genehmigungsverfahren, globale Konkurrenz usw. Es liegt auch daran, dass das politisch stabilisierende Arrangement der letzten Jahrzehnte nicht mehr wie von selbst funktioniert – womöglich auch nicht das Wissen darüber, dass dieses Arrangement nicht auf eine gewisse Weise natürlich modern ist. Es ist das Ergebnis eines speziellen Arrangements, das man etwa in den USA nicht kennt – man vergleiche die Sozialgesetzgebung Deutschlands mit der der USA, die auf disruptive Weitergabe der ökonomischen Volatilität an konkrete Lebensformen setzen, während das deutsche System auf moderierte, gebremste Weitergabe setzt. Man konnte es in der Pandemie an einem sehr sichtbaren Beispiel beobachten: Während amerikanische Arbeitnehmer während der disruptiven Unterbrechung von Wertschöpfung schlicht in großer Zahl ihren Job verloren, hat sich die deutsche Sozialpolitik Kontinuität mit Kurzarbeit als Kredit auf bessere Zeiten erkauft. Die Reaktionsmöglichkeiten westlich-moderner Institutionenarrangements sind durchaus divers, was auch bedeutet, dass sie gestaltbar und veränderbar sind.
Geführt werden solche Konflikte aber nur begrenzt als klassische soziale Konflikte, gewissermaßen in einem sozialdemokratischen Paradigma, wenn man es in ein politisches Koordinationssystem einordnen möchte. Die folgenreichsten sozialen Konflikte spielen sich derzeit eher auf Feldern ab, die Identitäts- und Zugehörigkeitsfragen ins Zentrum um Geltungsansprüche geschoben haben. Dass diese beiden Seiten zwei Seiten einer Medaille sind, dass das eine gar nicht ohne das andere diskutiert werden kann, ist einer der Ausgangspunkte dieses Kursbuchs um soziale Konfliktzonen. Verteilungsfragen, klassische Konflikte um soziale Ungleichheit und Sachfragen im Hinblick auf Problemlösungs- und Steuerungspotenziale sind keineswegs verschwunden, auch wenn diese bisweilen von der Frage um das legitime Sprechen und um die Anerkennung von Lebensformen überlagert werden. Freilich ging es darum tatsächlich stets, wenn über Ungleichheit verhandelt wird.
Die Beiträge kreisen um diese Fragen. So haben wir Dietmar Dath gebeten, die soziale Frage aus der Perspektive einer ML-Lesart zu erkunden – aus der Perspektive des Marxismus-Leninismus. Seine Antwort zeigt, dass selbst diese Perspektive nicht eindeutig durchhalten kann, was man ihr und sie sich selbst zurechnet.
Stephan Schad nimmt sich die soziale Konfliktzone des Genderns vor – einerseits im Hinblick auf das faktische Konfliktpotenzial, andererseits bezogen auf die merkwürdige Antinomie, dass sich das Anliegen sprachlich nicht wirklich darstellen lässt, auch weil die Sprache ihren Eigensinn hat. Das überraschende Ergebnis ist, dass manche besonders gut gemeinten Formen eine patriarchale Form geradezu verlängern. Das Schöne an dem Beitrag ist, dass er sich nicht in die oberschlauen Nachweise der Illegitimität und des Unsinns sprachlicher Ausdrucksformen von Geschlechtlichkeit einreiht, wie man es immer wieder lesen muss, sondern ganz im Gegenteil detailliert auf beabsichtigte Formen und unbeabsichtigte Nebenfolgen blickt.
Hanna Lierses Beitrag nimmt die Persistenz sozialer Ungleichheitsstrukturen aufs Korn, Steffen Mau macht darauf aufmerksam, dass es sehr wohl soziale Konflikte in verschiedenen Feldern gibt, aber an der gerne behaupteten These der Polarisierung der Gesellschaft nichts dran ist, auch wenn sich die Ränder radikalisieren. Mein eigener Beitrag geht der These nach, inwiefern die gegenwärtigen sozialen Veränderungs- und Transformationsprozesse eine besondere Herausforderung für konservative Politikformen sind. Es wird der Versuch unternommen, ein konservatives Bezugsproblem herauszuarbeiten, das weit über als konservativ geltende politische Akteure hinausgeht.
Im Interview mit der Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger gehen wir der besonderen sozialen Konfliktzone der Fluchtmigration nach. Kohlenberger weist auf die Widersprüche und Nebenfolgen des europäischen Fluchtregimes hin.
Wieder haben wir Autorinnen und Autoren gebeten, eine Frage zu beantworten, deren Antworten wir in Form von sieben Intermezzi dokumentieren. Die Frage lautete: Wären Sie gerne sozialer? Und wieder sind die Antworten ebenso vielfältig wie lesenswert, diesmal von Marlen van den Ecker, Helmut Hochschild, Elisabeth Niejahr, Mithu Sanyal, Michael Skirl und Oliver Weber. Olaf Unverzart beantwortet unsere Frage in Bildform. Seine Fotografien beschreiben das Soziale als halbanonyme oder halbvertraute Begegnungsform zwischen Fremden, die auch Gäste oder schlicht Passierende, Passanten sein können.
Jan Schwochows Grafiken zeigen diesmal, was passiert, wenn man eine Pyramide (die in diesem Fall gar keine mehr ist) zum Kippen bringt – man sieht anderes und mehr. Es geht um die Frage, wie sich die Bevölkerung in den nächsten Jahren entwickeln wird und wie sich das Verhältnis von Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen darstellt.
Wir freuen uns über das nunmehr achte »Islandtief« von Berit Glanz – diesmal über simulierte und analoge Sehenswürdigkeiten und deren Realitätsverschiebungen, -einschränkungen und -erweiterungen. Den Abschluss des Kursbuchs 215 bildet Peter Felixbergers »FLXX. Schlussleuchten«. Peter zeigt, dass sich nicht einmal mehr Protest und Widerstehen auf konkurrenzlose, eindeutige Formen verlassen kann. Die Formen changieren zwischen Streik, Nichtstun, Gegengewalt, Sorge um andere, Ruhe und gute Geschäfte. Und, so könnte man hinzufügen, Kursbücher schreiben und herausgeben.
Jan Schwochow
Eine Quelle, zwei Grafiken
Deutschland vor großen Herausforderungen
Das Statistische Bundesamt ist seit 75 Jahren eine vertrauensvolle Quelle für eine Vielzahl von Daten und Informationen. Es ist ein wichtiger Bestandteil unserer Demokratie, denn anhand von wissenschaftlich gesicherten Daten können wir selbst – oder noch besser unsere Regierung – wichtige Informationen extrahieren, um auf deren Basis wichtige politische Entscheidungen zu treffen. Doch selbst mir als erfahrenem Infografiker fällt es oft schwer, in dem Datendschungel die richtigen Tabellen herauszusuchen. Das ist oft ein stundenlanger Prozess, und wenn man dann eine Tabelle in Excel aufmacht, fragt man sich, was all die Zahlen und die Begriffe bedeuten und wie sie zusammenhängen. In meinem Fall wollte ich wissen, wie sich unsere Bevölkerung in den nächsten 15 Jahren entwickeln wird. Ich wollte erfahren, wie viele Menschen bald in den Ruhestand gehen werden und wie viele Deutsche tatsächlich arbeiten. Schnell stolperte ich über irritierende Begrifflichkeiten wie Erwerbstätige aus Hauptwohnsitzhaushalten, Nichterwerbspersonen, Arbeitskräfte, Erwerbslose. Dann suchte ich vergeblich nach den Selbständigen und fragte mich, ob diese in den Erwerbstätigen enthalten sind? Ein Besuch auf der Homepage der Agentur für Arbeit brachte die Erkenntnis, dass Erwerbspersonen sich aus Erwerbstätigen und Arbeitslosen (hier nicht Erwerbslose) zusammensetzen – also sind auch Selbständige in den Erwerbspersonen enthalten. Alles in allem wirklich sehr verwirrend und nicht besonders User-freundlich. Am Ende habe ich mich bemüht, diese Zahlen in zwei Grafiken so darzustellen, dass wir uns gemeinsam einen ausreichenden Blick der Lage erlauben und uns eine Meinung bilden können. Normalerweise werden zur Gestaltung der Demografiedaten sogenannte Bevölkerungspyramiden herangezogen. Da ich aber die Aufteilung nach Geschlecht für nicht relevant hielt, addierte ich beide Werte und drehte die Balkengrafik um 90 Grad, sodass wir auf der x-Achse eine Art Zeitleiste erhalten. Wir sehen sehr anschaulich, wie sich unsere Bevölkerung zusammensetzt und wie sie sich laut einer Schätzung des Bundesamtes in den nächsten 15 Jahren weiterentwickeln wird. Ich war erstaunt, wie deutlich sich das Problem visuell und in Zahlen abzeichnet. Es überrascht nicht, dass zu wenig Kinder geboren werden. Umso erschreckender der Ausblick, dass uns in den nächsten 15 Jahren rund fünf Millionen Erwerbspersonen fehlen werden, da die Babyboomer bald in Rente gehen.
Steffen Mau
Fliegt bald alles auseinander?
Zur Konstruktion gesellschaftlicher Spaltungsdiagnosen ¹
Diagnosen der Spaltung
Wenn heutzutage in der Öffentlichkeit über die Lage der Gesellschaft nachgedacht wird, ist die Spaltungsdiagnose zumeist nicht weit. Immer wieder kann man in politischen Kommentaren, den Feuilletons oder auf politischen Podien von den »zementierten Spaltungen«, dem »neuen Kulturkampf« oder dem »großen Graben« hören und lesen. Die einen wollen dies, die anderen genau das Gegenteil, Lagerbildung allerorten, die Konsensressourcen scheinen aufgezehrt. Mit Besorgnis registriert man soziale und politische Fliehkräfte, sieht Konflikte als Ausdruck einer zunehmenden Spaltung und fragt sich, ob bei allem Gegeneinander überhaupt noch Gemeinschaft und Zusammengehen möglich sind. Der Begriff der Polarisierung ist in den vergangenen Jahren so zu einer wirkmächtigen Chiffre gesellschaftlicher Selbstdiagnose geworden – eine Art niederschmetternder Krankheitsbefund, den man sorgenvoll in Augenschein nimmt. Fliegt bald alles auseinander?
Trotz der jüngsten Prominenz dieser These ist das Bild eines Auseinanderfallens der Gesellschaft und der intensivierten Konflikthaftigkeit natürlich nicht neu. Es gehört schon lange in das Repertoire kapitalistischer Zeitkritik, wenn man etwa an Marx’ Vorstellung antagonistischer Klassen und der Klassenkämpfe denkt. Ohne die Zentralität der Klassen, aber ebenso mit strukturellem Fokus entwickelte sich ab den späten 1960er-Jahren in der Politikwissenschaft ein eigener Forschungsstrang zu gesellschaftlichen Konfliktstrukturen: die Cleavage-Theorie.² »Cleavages« – zu Deutsch »Spaltungslinien« – bezeichnen historisch relativ stabile Konfliktkonstellationen, die sich aus der Teilung von Bevölkerungsgruppen entlang sozialer Interessen und Identitäten ergeben. Die Gesellschaft wird nicht als homogen und unstrukturiert angesehen, sondern als segmentiert, mit klar voneinander zu unterscheidenden Gruppierungen.
Die klassische Cleavage-Forschung versuchte zu erklären, warum verschiedene Parteiensysteme Westeuropas ähnlich strukturiert sind, etwa durch das Neben- und Gegeneinander von Sozialdemokraten und Konservativen. Entsprechend ihrer leitenden Metapher zeichnet die Theorie ein Bild der Sozialstruktur und der politischen Orientierungen als durch Gräben geprägt, die sich in langen historischen Prozessen aus »tektonischen Verwerfungen« ergeben. Für einen Cleavage müssen grundsätzlich drei Elemente zusammenkommen und sich verstärken: erstens ein struktureller Interessengegensatz zwischen Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Stellung zu Gewinnern oder Verlierern gesellschaftlicher Transformationsprozesse werden, zweitens ein Gruppenbewusstsein in Form eines Zusammengehörigkeitsgefühls, geteilter Werte und einer kollektiven Identität im weiteren Sinne und drittens eine Form der institutionalisierten politischen Interessenvertretung durch politische Parteien oder andere korporative Akteure. Die Kernvorstellung besagt, dass im Parteiensystem Konflikte ihren Ausdruck finden, die auf der tieferen Ebene der Sozialstruktur und sozialer Identitäten angelegt sind.