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Gab es 1968?: Eine Spurensuche
Gab es 1968?: Eine Spurensuche
Gab es 1968?: Eine Spurensuche
eBook230 Seiten2 Stunden

Gab es 1968?: Eine Spurensuche

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Über dieses E-Book

Keine neue Nacherzählung, sondern eine Frage, nämlich die, ob es "1968" gegeben hat, ist Gegenstand dieses Essays. Natürlich hat es das Jahr 1968 gegeben. So wie auch die damit verknüpfte Studentenbewegung stattgefunden hat. Aber war "1968" wirklich der Umschlagpunkt, der eine verkrustete, unbewegliche Welt in eine offene Zukunft geführt hat? Jedenfalls ist der Mythos "1968" ein Erzählanlass, dem auf den Grund gegangen werden muss. Denn was für individuelle Biografien gilt – dass sie sich eingängiger erzählen lassen anhand eines kritischen, alles ändernden Ereignisses –, gilt auch für die Nacherzählung von gesellschaftlichen Entwicklungen: Wenn es einen Kairos gibt, den entscheidenden Moment, durch den das chronologische Nacheinander beeinflussbar ist, lässt sich – im Nachhinein – alles erklären. Da aber auch solche vermeintlichen Plötzlichkeiten nicht einfach vom Himmel fallen, sind auch sie erklärungsbedürftig. Zu klären ist, welche gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Veränderungen "1968" möglich gemacht haben. Ob "1968" Ursache oder Effekt von Veränderungen war. Und was davon geblieben ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberkursbuch.edition
Erscheinungsdatum20. Apr. 2018
ISBN9783961960095
Gab es 1968?: Eine Spurensuche
Autor

Armin Nassehi

ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem »Mit dem Taxi durch die Gesellschaft«, in der kursbuch.edition erschien zuletzt »Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests«.

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    Buchvorschau

    Gab es 1968? - Armin Nassehi

    Impressum

    Vorwort

    Dieses Buch ist der Versuch eines Soziologen, sich einen soziologischen Reim auf »1968« zu machen – keinen politischen, auch keinen historisch akribischen, sondern einen, der die Frage stellt und beantwortet: Was können wir mit dem Blick durch die Brille der Erinnerung auf das, was mit dem schönen Erinnerungsmarker »1968« belegt wird, über die heutige Gesellschaft erfahren?

    Zu danken habe ich nicht zum ersten Mal dem außerordentlich produktiven Arbeitsumfeld meines Münchner Lehrstuhls, dessen Kolleginnen und Kollegen genau das intellektuelle Umfeld bilden, das gegenseitige Inspiration ermöglicht. Viele der hier vorgetragenen Thesen verdanke ich der seit vielen Jahren währenden Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit Irmhild Saake. Eine der Erbschaften von »1968« nenne ich in diesem Buch »Dauerreflexion«. Wenn die These stimmt, sind wir beide echte 68er! Julian Müller hat den gesamten Schreibprozess mitverfolgt und mir sehr wertvolle Hinweise gegeben, auch im Hinblick auf die Gesamtkomposition des Buches. Magdalena Göbl hat ebenfalls sehr akribisch mitgelesen und mich auf viele Aspekte hingewiesen, die den Text besser gemacht haben. Teile des Buches hat Gina Atzeni mitgelesen. Till Ernstsohn danke ich für wertvolle Recherchen.

    Dass für etwaige Eseleien und Fehler ich selbst verantwortlich bin, lässt sich nicht vermeiden. Ich schließe in meinen Dank die Lektorin Evelin Schultheiß ein, von der meine Texte sehr profitieren, sowie die Mitherausgeber der kursbuch.edition Sven Murmann und Peter Felixberger.

    Schließlich danke ich der Leiterin meines Büros Gisela Döring, die den Laden auch dann zusammenhält, wenn ich mich schlicht weigere, aus den Tiefen des Schreibens an der Oberfläche zu erscheinen.

    München, im März 2018

    Einstieg

    Am besten, ich sage es gleich am Anfang: Was wir mit der Chiffre »1968« verbinden, steht für eine Liberalisierung der Kultur und Pluralisierung sozialmoralischer Orientierungen, für eine stärkere Beteiligung zuvor marginalisierter Gruppen und sozialen Aufstieg, für Demokratisierungserfahrungen und optimistische Entwürfe der Gestaltbarkeit der Gesellschaft, für Individualisierung und Befreiung aus allzu starken Bindungen, für Inklusionsoptimismus. All das stimmt und all das hat es gegeben, und auch als Narrativ funktioniert es hervorragend, übrigens auch in modo negativo, also durch diejenigen, die all das eher beklagen würden. Auch das Beklagen ist eine Form der Anerkennung. Ich will hier also nicht über Unstrittiges verhandeln – und ich will vor allem weder Partei dafür noch dagegen ergreifen – aus zwei Gründen. Man wird erstens kaum gute Gründe nennen können, die gegen die angedeuteten Entwicklungen sprechen. Und zweitens wissen wir alle, dass all diese Entwicklungen neben Nutzen auch Kosten verursacht haben. Also noch mal: Es soll nicht über Unstrittiges gestritten werden.

    Worum dann? Nun, die Streitigkeiten fangen schon an, wenn wir uns fragen, worüber wir eigentlich reden, wenn von »1968« die Rede ist. Gemeint sein kann mindestens zweierlei: entweder die Ereignisse der sogenannten Studentenrevolte, die in Deutschland ungefähr von Mitte 1967 bis Mitte 1969 gedauert hat; oder eine Generationslage, die ihren Namen von diesen Ereignissen bekam und bis heute andauert, weil Teile der Kohorte noch am Leben sind. Es wird hier um beides auch in seiner Verbindung gehen, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf der Generationslage samt ihren erheblichen Auswirkungen auf die kulturelle und gesellschaftliche Lage in der Bundesrepublik liegen wird. Dabei wird sich meine Argumentation in erster Linie auf Deutschland beziehen, auch wenn es Ende der 1960er-Jahre genauso in den USA, in Frankreich, in afrikanischen und südamerikanischen Ländern, in Polen und der Tschechoslowakei oder in Japan zu Protestbewegungen gekommen ist.¹

    Was mich im Folgenden interessiert, ist, die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen nachzuzeichnen, die »1968« hervorgebracht und ermöglicht haben, und den Folgen auf den Grund zu gehen, die diese Veränderungen nach sich gezogen haben. Weder werde ich es also historisch detailgetreu nachzeichnen noch eine schlüssige Erzählung des Geschehenen abliefern, sondern der Frage nachgehen, was »1968« für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung bedeutet und worauf sich diese bezieht. Es ist also keine politische Bewertung von »1968« zu erwarten, viel weniger noch eine Entscheidung darüber, welche Teile der Erbschaften von »1968« wir annehmen, welche aber lieber ablehnen sollen.

    Im ersten Kapitel »Warum 1968?« werde ich zunächst in Beantwortung der Frage, worüber wir sprechen, wenn wir von »1968« sprechen, »1968« zunächst als einen Erinnerungsgenerator darstellen, der die Geschichte der Bundesrepublik erzählbar macht. Dass dies Kritiker wie Anhänger von »1968« einschließt, weist schon darauf hin, dass »1968« nur als ein Generationszusammenhang zu begreifen ist, wie ich mit Karl Mannheim darstellen werde. Auf der Suche nach den Bedingungen, die zu »1968« geführt haben, stoße ich auf Inklusionsschübe als einen wichtigen gesellschaftlichen Trend, der immer mehr Menschen in Bildungskarrieren, zu sozialem Aufstieg und zur Teilhabe an öffentlichen Diskursen bringt und politisiert. Diese Inklusionsschübe sind sowohl Auslöser wie Folge des Syndroms »1968«.

    Im zweiten Kapitel »Eine linke Bewegung?« werde ich für die Beantwortung der scheinbar redundanten Frage eine Unterscheidung zwischen einer explizit und einer implizit linken Form vornehmen. Das explizit Linke an 1968 betrifft die sichtbare Seite der 68er, die revoltenhafte, revolutionäre, tatsächlich extrem linke, antibürgerliche, zum Teil auch antidemokratische Bewegungsform der relativ kleinen, aber lauten studentischen Bewegung, die spätestens mit dem Ende der Großen Koalition schon wieder zu Ende war. Wäre allein das »1968«, würde man es heute allenfalls als Fußnote der bundesdeutschen Geschichte betrachten. Entscheidender ist das implizit Linke, das die gesellschaftliche Realität radikal umgekrempelt hat. Die erheblichen Inklusionsschübe haben eher linke Ziele gewissermaßen mit der Gesellschaft versöhnt und die institutionelle Ordnung der Gesellschaft stark verändert. Implizit links handelten bisweilen sogar die, die sich selbst niemals als »links« bezeichnen würden. Das ist ein bleibendes Erbe dessen, was mit »1968« assoziiert wird.

    Im dritten Kapitel »Dauerreflexion« behandle ich die vielleicht entscheidende Bezugsgröße von »1968« und widme mich dazu der religionssoziologischen Abhandlung Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? von Helmut Schelsky – ohne Zweifel also kein 68er. An dem Text von 1957 lässt sich aber die Antezedenzbedingung der gesellschaftlichen Umwälzungen der 1960er- und 1970er-Jahre sehr deutlich zeigen. Weil man, so Schelsky, nicht mehr auf stabile Institutionen, also feste Strukturen setzen könne, werde, wie er am Beispiel der Veränderung des Religiösen demonstriert, Reflexion, Dauerreflexion unvermeidlich und dadurch das Gespräch das Medium, durch das die Menschen nun sozialisiert werden, nicht mehr einfach durch Zugehörigkeit zu Schichten, Milieus oder Konfessionen. Jürgen Habermas hat das später kommunikative Verflüssigung genannt. Dauerreflexion als Kommunikationsexplosion war wohl das Signum der Generationslage der 1960er- und 1970er-Jahre.

    Im vierten Kapitel »Dauermoralisierung« beschäftige ich mich mit der Frage, die sich von heute aus – auch damaligen Protagonisten – immer wieder stellt, nämlich der starken Moralisierung des Tons. Moralisierung meint hier die Etablierung geradezu unbedingter Standpunkte, aus Binnensicht zurückführbar auf das von mir so genannte »Sympathieparadox der Linken«, aus einer analytischen Perspektive auf das »Technologiedefizit« der Inklusionsstrategien der 1970er-Jahre. Die starke Pädagogisierung und Politisierung der Inklusionsstrategien und der öffentlichen Diskussion entlastet sich gewissermaßen in stark idealisierten Selbstbildern vom eigenen Technologiedefizit.

    Das fünfte Kapitel »Entdeckung und Unterschätzung der ›Gesellschaft‹« ist ein Exkurs zu einer gegenläufigen Entwicklung, die einerseits die Gesellschaft als einen gestaltbaren Raum entdeckte, darin andererseits auf die Widerständigkeit der Gesellschaft stieß, die sich den inklusionspolitischen Maßnahmen auch entzogen hat.

    Das sechste Kapitel »Dauerberieselung« nimmt die dritte bleibende Erbschaft von »1968« auf, nämlich die Popkultur, insbesondere in Form der Popmusik, ohne die eine Interpretation der Generationslage von »1968« unvollständig bliebe – eingedenk der ästhetischen Funktion und Bedeutung von Popkultur für diese Generation: Auch hier geht es um Entlastung von der Dauerreflexion und der Dauermoralisierung, gleichzeitig auch um Ermöglichung von Gegenwartsorientierung. Konsequenzfreies Popkulturelles kann dabei als Gegenentwurf und Protest auftreten, durch seine serielle Struktur aber auch mit dem Kapitalismus und seiner Konsumkultur versöhnen.

    Im abschließenden siebten Kapitel »Dauerpose – nach 68« untersuche ich die Frage, was von »1968« geblieben ist. Die These lautet, dass sich in der heutigen Alltagskultur, Kritikform und den akademisierten Debatten die Erbschaften amalgamieren: Dauerreflexion und Dauermoralisierung gehen in einer Form auf, die sich vor allem der popkulturellen Pose verdankt. Inzwischen geht es nicht mehr um die befreienden Perspektiven der Reflexion und der Inklusionsschübe, sondern um Anerkennungsgerechtigkeit bis hin zur Pose des Authentischen – übrigens sowohl in kulturlinken als auch in neorechten Szenen. Womit nicht gesagt ist, dass nun alle Rechte seien, sondern dass der Grundkonflikt sich nicht mehr wie in den 1970ern an den implizit linken Fragen universalistischer Inklusion und pluralistischer Liberalität entzündet, sondern an den implizit rechten Fragen der Zugehörigkeit, der Anerkennungsgerechtigkeit und der Wiederentdeckung des Eigenen als letzter Bedeutung.

    Bevor es losgeht, noch ein Hinweis auf Anführungsstriche. Im Text ist sowohl 1968 als auch »1968« zu lesen. Die Jahreszahl ohne Anführung nennt schlicht ein Datum, die in Anführung zwar auch, aber kein zeitliches, sondern ein systematisches. Mit »1968« erscheint also das Symbol für das, was mit dieser Jahreszahl assoziiert wird. Dass es mitunter an Eindeutigkeit in der Unterscheidung zwischen 1968 oder »1968« fehlt, ist ein Hinweis darauf, worum es in diesem Buch geht.

    Anmerkung

    1 Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. Aktualisierte und um ein Postskriptum erweiterte Neuausgabe, München 2017, S. 151 ff.; Carole Fink, Philipp Gassert, Detlef Junker (Hrsg.): 1968. The World Transformed. Cambridge 1998; Martin Klimke: »1968 als transnationales Ereignis«, http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/51984/68-transnational?p=all#footnodeid3-3

    Warum 1968?

    »Bei vielen Menschen ist es bereitseine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.«

    Theodor W. Adorno, 1951

    »Wozu noch Ich sagen?«

    Botho Strauß, 2013

    Die Frage »Gab es 1968?« dürfte vielleicht schon jetzt weniger naiv klingen, als sie auf den ersten Blick erscheint. Dass es das Jahr 1968 gab, ist einsichtig. Es ist schlicht das Ergebnis einer Zählung. In der Geschichtswissenschaft ist man sich inzwischen ziemlich einig über eine notwendige Entmythologisierung des Geschehens ² – nur hilft das auch nicht recht weiter, ist es doch nur ein Indiz dafür, dass es zu Mythologisierungen kam und kommt. Tatsächlich ist »1968« ein Mythologem, eine Chiffre, ein Symbol für ein Ereignis, in dessen Folge nichts mehr war wie zuvor, eine Chiffre dafür, Erinnerung strukturieren zu können. »1968« ist ein Erinnerungs- und damit auch ein Erzählanlass. Dass es sich gerade jetzt als Erzähl- und Erinnerungsanlass anbietet, liegt selbstverständlich daran, dass das Geschehen sich zum 50. Mal jährt und sein »rundes« Jubiläum in die Erinnerungsökonomie einfließt, die sich auf dem Markt um Aufmerksamkeit und Interesse wiederfindet.

    Erinnern und Vergessen

    Erinnern ist eine Funktion der Gegenwart. Das Vergessen auch. Wie alles andere findet Erinnern in einer Gegenwart statt, deren Vergangenes nur als gegenwärtige Vergangenheit existiert, nicht als vergangene Gegenwart. Man nennt das die Modalität der Zeit. Vergangenheiten und Zukünfte sind stets aus der Gegenwart herausscheinende Vergangenheiten und Zukünfte. Noch niemand hat etwas in der Vergangenheit – und niemals etwas in der Zukunft bewerkstelligt. Wir sind operativ an die operativen Gegenwarten unseres Tuns und Lassens gebunden.³ Diese Zeitmodalität ist konstitutiv für die Geschichtswissenschaften, für alle historischen Perspektiven, aber auch für unsere je individuellen Formen der Selbstbeschreibung. Wir kennen das von uns selbst: Wie wir unsere eigene Vergangenheit beschreiben, wie und was wir geworden sind, hängt prinzipiell ab vom Anlass der Beschreibung und vom Adressaten. Das Bezugsproblem einer historischen Beschreibung liegt also zeitlich gesehen in der Gegenwart, sozial gesehen im Anlass und Adressaten und sachlich gesehen in der Auswahl der Erinnerungsstücke.

    Wer etwa in einer Liebesbeziehung lebt, wird im Status der Zufriedenheit anders und anderes erinnern als im Horizont des Scheiterns der Beziehung. An solchen Beispielen kann man übrigens auch lernen, dass Erinnern vom Vergessen abhängt. Man kann nur konsistent erinnern, wenn man das meiste vergisst, also für nicht relevant hält, und zwar für so irrelevant, dass es nicht einmal als irrelevant thematisiert wird.⁴ Dabei können aus der Erinnerung über ein und dasselbe faktische Geschehen von ein und demselben Beobachter sehr unterschiedliche Geschichten erzählt werden, von denen keine wirklich falsch sein muss, selbst wenn sie sich widersprechen. Die Vergangenheit ist nicht nur in ihrer Vollständigkeit unerreichbar, sondern auch in ihrem inneren Sinn, in ihrem inneren Zugzwang. Womöglich, nein, wahrscheinlich haben Erzählungen über die Vergangenheit mehr Zugzwang als das Geschehen selbst, das ja immer auch gleichzeitig mitbeobachtet wird.

    Biografische Erzählungen sind deshalb niemals buchhalterische Berichte und Protokolle des Geschehenen, sondern immer selektive Zugriffe auf – ja worauf eigentlich? Auf den ersten Blick hört es sich so an, als sei es ein selektiver Zugriff auf die vergangenen Ereignisse, es ist aber eher ein selektiver Zugriff auf das, was man über das Vergangene auch hätte erzählen können. Da die vergangenen Ereignisse immer schon vermittelt sind durch die Erinnerung, kann die Erinnerung gar nicht genau prüfen, ob sie richtig erinnert, weil sie zugleich vergessen muss, besser: immer schon vergessen haben muss. Nicht dass wir beliebig erinnern, Vergangenheiten vollständig erfinden und uns frei vorstellen können oder Erinnern sich nicht auf die Vergangenheit bezieht, worum es geht, ist, dass Erinnern und Erinnertes miteinander verwoben sind, dialektisch könnte man sagen, unhintergehbar und nur analytisch trennbar.

    Im Alltag erinnern wir zumeist wenig reflexiv. Wir gewöhnen uns an unsere eigenen Geschichten über das Vergangene und glauben das, was wir uns darüber erzählen. Je öfter wir Geschichten unseres eigenen Lebens zum Besten gegeben haben, desto mehr wird die grundlegende Differenz zwischen Geschehen und Erinnerung beziehungsweise Geschehen und Beschreibung unsichtbar. Das ist keine Täuschung, sondern eher eine Habitualisierung. Um die Erinnerung kommunikabel zu machen, braucht es eine konsistente Geschichte, man könnte auch sagen: Die erzählte Geschichte muss aufgehen.

    Die Sentenz Die Geschichte muss aufgehen enthält bereits die Doppelbedeutung dessen, was das Erinnern zu einem so komplexen Geschehen macht: Die Geschichte im Sinne des Historiografischen, also des erzählten Beschriebenen muss aufgehen, womit dann auch die Geschichte im Sinne des Geschehenen aufgeht. Wer je eine Geschichte erzählt hat, wird feststellen, dass ihr kommunikativer Sinn nur dann erfüllt wird, wenn sie einen Zugzwang der Konsistenz erzeugt, wenn sie in sich anschlussfähig wird. Sie kann Brüche enthalten, auch Widersprüche und Disparates, aber auch dies muss innerhalb der Struktur sichtbar werden. Es muss einen Clou geben, eine innere Logik, einen Sinn.

    1968 als Erinnerungsgenerator

    »1968« ist ein, vielleicht der Erinnerungsmarker in der Geschichte der Bundesrepublik. Was ich oben über das biografische Erinnern gesagt habe, gilt für erinnernde Einheiten generell: für Gruppen, für Staaten, für soziale Systeme. Auch solche Einheiten greifen selektiv auf die eigene Geschichte beziehungsweise auf die vielen Möglichkeiten der Bezugnahme auf die eigene Vergangenheit zu – und sie tun es stets in einer Gegenwart. Wer oder was solche Einheiten sind, lässt sich nicht immer genau sagen – aber der proof of the pudding ist die Anschlussfähigkeit, will heißen: Klingt die Geschichte plausibel, fühlt sich jemand/etwas angesprochen, ist sie ein Erzählanlass?

    Von dem Soziologen Alois Hahn stammt der schöne Ausdruck Biografiegeneratoren.⁶ Gemeint sind damit Anlässe und Konstellationen, die erinnernden Selbstbeschreibungen wie – im religiösen Bereich – die Beichte oder auch das Tagebuchschreiben, Krisen, Krankheiten, freudige Ereignisse, Katastrophen usw. wirken als Biografiegeneratoren, sind damit Anlässe, verzeitlichte Geschichten über sich selbst anzufertigen, anlass- und adressatenbezogen. »1968« ist im weitesten Sinne ein solcher Biografiegenerator und eignet sich hervorragend zu einer verzeitlichten Selbstbeschreibung. Übliche Aussagen sind etwa: 1968 habe die Bundesrepublik von der bleiernen Schwere der Adenauerzeit befreit. 1968 sei eine Kulturrevolution gewesen, die das Leben freier, pluralistischer und kosmopolitischer gemacht habe. Zugleich ist »1968« auch eine

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