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Karl Mannheim
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eBook250 Seiten4 Stunden

Karl Mannheim

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Über dieses E-Book

Karl Mannheim (1893–1947) gilt gemeinsam mit Max Scheler als Begründer der Wissenssoziologie. Sein wissenssoziologischer Ansatz rückt die "Sozialverbundenheit" der Wissensproduktion von Intellektuellen ins Zentrum der Analyse. Mannheim wollte zeigen, dass nicht nur das Denken des Alltagsmenschen sozial bedingt ist, sondern dass auch Spezialisten und Wissenschaftler in ihren Forschungen und Abhandlungen bestimmten Weltanschauungen unterliegen. Er entwickelte deshalb eine eigene wissenssoziologische Methodik zur Analyse der weltanschaulichen Unterschiede zwischen Denkern verschiedener Traditionen und sozialer Standorte.

In diesem Einführungsband stellt Amalia Barboza in systematischer und allgemeinverständlicher Form das wissenssoziologische Werk Karl Mannheims vor. Sie führt dabei in Mannheims Wissenssoziologie als Methodenlehre wie auch als empirische Disziplin ein. Die Präsentation von Mannheims Forschungsarbeiten zeigt, dass der Autor sich nicht auf die Untersuchung verschiedener Denkstile beschränkte. Vielmehr verstand Mannheim es ebenso als originäre Aufgabe der Wissenssoziologie, die verschiedenen weltanschaulichen Standorte der eigenen Disziplin zu analysieren sowie auch selbst mit verschiedenen Denkstilen zu experimentieren.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Okt. 2020
ISBN9783744520331
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    Buchvorschau

    Karl Mannheim - Amalia Barboza

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Amalia Barboza

    Karl Mannheim

    Klassiker der Wissenssoziologie, 9

    Halem: Köln 2020

    2., überarbeitete Auflage

    Die Reihe Klassiker der Wissenssoziologie wird herausgegeben von Prof. Dr. Bernt Schnettler.

    Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    © 2020 by Herbert von Halem Verlag, Köln

    ISSN 1860-8647

    ISBN (Print):978-3-7445-2031-7

    ISBN (PDF):978-3-7445-2032-4

    ISBN (ePub):978-3-7445-2033-1

    Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im Internet unter http://www.halem-verlag.de

    E-Mail: info@halem-verlag.de

    EINBAND: Herbert von Halem Verlag; Susanne Fuellhaas, Konstanz

    SATZ: Herbert von Halem Verlag

    LEKTORAT: Julian Pitten

    DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

    Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.

    Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.

    Klassiker der Wissenssoziologie

    Amalia Barboza

    Karl Mannheim

    Inhalt

    Vorwort zur zweiten Auflage

    I.Einleitung

    II.Karl Mannheims Entwicklung zu einer Zentralfigur der deutschen Soziologie

    Die deutsche Soziologie um 1900

    Karl Mannheim in der deutschen Soziologie: Ein Ausblick

    Budapest: Pluralität der Weltanschauungen

    Heidelberg: Der Weg zur Wissenssoziologie er die Arbeit an den Grundlagen einer Kultursoziologie

    Mannheims Auftritt auf dem Soziologentag in Zürich

    Ideologie und Utopie:

    Wissenssoziologie als Experimentieren mit Denkstilen

    Mannheims soziologisches Seminar in Frankfurt: Konkurrenz und Kooperation

    Tagung der Soziologiedozenten in Frankfurt

    Die Wissenssoziologie angesichts des Aufstiegs des Nationalsozialismus

    Mannheims Wissenssoziologie als ›Innovationstendenz‹

    III.Mannheims Kultur- und Wissenssoziologie als Methode

    Immanente und genetische Betrachtung

    Die dokumentarische Interpretation

    Die dokumentierte Weltanschauung

    Die erweiterte Stilanalyse und die Verklammerungsproblematik

    Sinngemäße, faktische und soziologische Zurechnung

    Seinsverbundenheit: Klassen, Stile, Generationseinheiten

    IV.Die wissenssoziologische Analyse konservativer und liberaler Denkstile

    Die Entstehung des Konflikts zwischen liberalem und konservativem Denkstil

    Die Analyse der Denkstile

    V.Ideologie und Utopie: Das Experiment mit Denkstilen

    Die relativistische Lösung: Der totale Ideologiebegriff

    Die harmonisch-synthetische Lösung: Synthese und freischwebende Intelligenz

    Die aktivistisch-utopische Lösung

    Die Kontroverse um Mannheims Wissenssoziologie

    VI.Der Denkstil der Distanzierung und die Regressionen

    Die Einstellung der Distanzierung

    Distanzierung als soziologisches Verfahren

    VII.Wirkungen

    Norbert Elias

    Mannheims Studentenkreis im Exil

    Mannheims Wissenssoziologie im Exil

    Die dokumentarische Interpretation

    Kultursoziologie und soziologische Ästhetik

    Denkstile

    Generation

    Die freischwebenden Intellektuellen

    Relationismus: eine selbstreflexive Soziologie

    Wissenssoziologie als Experiment mit Denkstilen

    Wissenschaftssoziologie

    Literatur

    Primärliteratur

    Weiterführende Literatur

    Sekundärliteratur

    Zeittafel

    Personenregister

    Sachregister

    Vorwort zur zweiten Auflage

    Als die erste Auflage dieses Buches erschien, war es mir wichtig, Mannheims Wissenssoziologie als ein konkretes Forschungsprogramm vorzustellen: als Analyse der Pluralität und der Konkurrenz von Denkstilen, von Ideologien und Utopien. Ich bin weiterhin der Meinung, dass es das größte Verdienst von Mannheims Wissenssoziologie ist, uns im Feld der Sozialwissenschaft auf die Standortgebundenheit des Denkens und auf die Dynamiken der Konkurrenz in der wissenschaftlichen Wissensproduktion gezielt und methodisch aufmerksam gemacht zu haben. Durch seinen wissenssoziologischen Ansatz ist die Selbstreflexion in der Wissenschaft zu einem wichtigen Desiderat geworden. Man darf aber nicht vergessen, dass Mannheim sich nicht nur mit der wissenschaftlichen Produktion von Wissen beschäftigte, sondern auch in seiner Kultursoziologie, sich mit weiteren ›Gebieten des Geistes‹ befasste und die Wechselwirkungen (Verklammerungen) zwischen diesen ebenso zum Forschungsgegenstand machte. Die Dynamik der Produktion des Wissens lässt sich deshalb nicht nur innerhalb der etablierten wissenschaftlichen Disziplinen beobachten, sondern auch in den Beziehungen und Verhandlungen, die mit anderen Bereichen der Wissensproduktion stattfinden. Alle Felder, würde Pierre Bourdieu sagen, oder alle ›Gebiete des Geistes‹, wie Mannheim diese bezeichnet, sind weder statisch noch geschlossen, sondern in ständiger Dynamik und Erweiterung ihrer Grenzlinien. Und so wie es im Kunstfeld Bestrebungen zur Entgrenzung des eigenen Bereiches gibt – bis hin zum Apell der Aufhebung des Unterschieds zwischen Kunst und Leben –, so gibt es auch in der Wissenschaft viele Tendenzen, den institutionellen Rahmen der Disziplin zu überschreiten, um sich anderen Wissenspraktiken anzunähern (z.B. nichteuropäischen, alltäglichen, magischen, religiösen, politischen oder künstlerischen Wissenspraktiken). In diesen Grenzüberschreitungen finden immer wieder Verhandlungen und Gelegenheiten statt, um erneut die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen zu anderen Feldern, wie die Kunst oder die Politik, zu überdenken.

    Karl Mannheim war immer geneigt, sich in diesen Grenzzonen zu bewegen. Heute würde man sagen, dass er ein Musterbeispiel dafür war, was interdisziplinäres Forschen und Wissenstransfer verlangt. Er gehörte zu verschiedenen interdisziplinären Kreisen, zunächst zum literarisch-künstlerischen Sonntagskreis in Budapest, dann zu einem politischtheologisch-philosophischen Kränzchen in Frankfurt am Main, und schließlich zum literarisch-theologischen Moot-Kreis im Londoner Exil. Aus all diesen Kreisen schöpfte er für ein Weiterdenken der eigenen Fragestellungen und Methoden.

    Es wäre heute wichtig, die Relevanz dieser ›Exkursionen‹, in die Grenzzonen zu betonen. Man würde dabei allerdings schnell den engeren Forschungsbereich der Wissenssoziologie innerhalb der Disziplin verlassen. Da diese Publikation Teil einer Einführungsreihe zu Klassikern der Wissenssoziologie ist, wurde zusammen mit dem Verlag entschieden, den Inhalt des Buches, so wie ursprünglich veröffentlicht zu belassen. Nur einige formale Änderungen wurden unternommen.

    Mit diesem Vorwort zur zweiten Auflage möchte ich die LeserInnen dennoch darauf aufmerksam machen, dass Mannheims Wissenssoziologie auffordert, uns zu anderen Ufern außerhalb der eigenen Disziplin zu bewegen. Gerade in diesen Erweiterungen werden zur Zeit Mannheims wissenssoziologische Prämissen relevant: Sein Apell für eine Wissenssoziologie, die nicht nur die Pluralität der Denkstile reflektiert, sondern auch für eine selbstreflexive Analyse der eigenen Perspektivität plädiert, erlebt heute in den Diskussionen über das »situierte Wissen« (Donna J. Haraway),a die Auto-Ethnologie oder das Phänomen der Multiperspektivität eine breite disziplinübergreifende Diskussion. Mannheims Wissenssoziologie könnte in diesem Forschungsfeld dazu beitragen, mehr Klarheit in den methodischen Zugängen zu erlangen, um diese Situiertheit (oder Standortgebundenheit) zu analysieren. Die Wissenssoziologie fordert uns auf, nicht nur der eigenen Situiertheit bewusst zu werden, sondern diese auch in ihrem sozialen, kulturellen oder politischen Ursprung bzw. Ursprüngen aufzudecken.

    Interessant für die aktuellen Debatten über das situierte Wissen ist außerdem Mannheims Ansicht zur Frage der Funktion bzw. des Nutzens dieses selbstreflexiven Unternehmens. Die Funktionen sind schließlich ebenso plural und kontextabhängig: In der Weimarer Republik sah Mannheim in der Analyse der Pluralität der Denkstile und in der Selbstreflexion eine Möglichkeit zur Dynamisierung des eigenen Standortes und eine Bereitschaft zum Perspektivenwechsel. Er hoffte dabei, in einer demokratischen Gesellschaft totalitäre Absolutismen und die faschistische Welle überwinden zu können. In der Wissenssoziologie sah er, so wie auch Max Scheler, eine Agentin bei der Verhandlung von Konkurrenzen, in der Hoffnung, in einem »Zeitalter des Ausgleichs« (Scheler) angekommen zu sein. Mit der Ankunft des Nationalsozialismus konnte Mannheim nicht mehr an ein solches Zeitalter glauben. Deswegen wandte er sich Fragen der Planbarkeit und der Erziehung zu, um eine Basis für eine künftige demokratische Gesellschaft aufzubauen. Heute wäre es wichtig zu untersuchen, inwieweit eine Wissenssoziologie auch in dieser letzten Phase von Mannheims Werk implizit vorhanden ist, auch wenn er nicht mehr explizit über Wissenssoziologie schrieb. Es ließe sich überzeugend argumentieren, dass ein Zeitalter des Umbaus, wie Mannheim sein Buch, das er auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus veröffentlichte, betitelte,b eine andere Wissenssoziologie verlangt, die gezielt danach sucht, den Zerfall der Gesellschaft zu beenden. Es handelt sich dann nicht mehr um eine Wissenssoziologie, welche die Pluralität von Denkstilen untersucht und für einen Ausgleich der Unterschiede plädiert. Statt des Ausgleichs ist jetzt, so Mannheims Auffassung, Umbau und Planung notwendig. Das Buch Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus handelt von dem Übergang von einer »laisser-faire-Einstellung« und »planloser Regulierung«, die seine erste Wissenssoziologie charakterisiert, zu einer Wissenssoziologie im Dienst der Planung, um die Lebensfähigkeit der Demokratie gewährleisten zu können. Mannheim verlangte nach einer »freiheitlichen Planung«, die anders aussehen sollte, als die Planung in einer Diktatur: Eine Planung, die nicht »auf unsere wahren Freiheiten oder auf das Prinzip der demokratischen Selbstbestimmung« verzichtet.c

    Interessant wäre es heute, Mannheims Reflexionen über ein Zeitalter des Umbaus mit den Diskussionen über das Projekt einer Radikalen Demokratie (Laclau und Mouffe) zusammen zu denken.d In den Debatten des Postmarxismus wird nach einer Demokratie verlangt, welche nicht durch totalitäre und hierarchische Strukturen zusammengehalten wird, sondern durch die Bildung beweglicher Artikulationen, welche die Pluralität von Positionen und die Antagonismen und die damit verbundenen Konflikte aushalten.

    Eine Wissenssoziologie im Dienste der Planung für eine radikale Demokratie würde sich der politischen und erzieherischen Aufgabe zuwenden, in der Pluralität von Positionierungen bewegliche Artikulationen zu entwerfen. Mannheims Experiment mit Denkstilen, wie er es in seinem Buch Ideologie und Utopie durchführte, könnte als eine hilfreiche Methode verwendet werden, um in einer pluralen Demokratie Übungen in der Kunst des Perspektivenwechselns und der Multiperspektivität zu entwickeln.

    In diesem Feld der Planung und der Intervention bewegt sich die Wissenssoziologie Karl Mannheims sicherlich außerhalb des engeren Rahmens der Disziplin, aber sie erreicht Anwendungsmöglichkeiten, die heute mehr denn je Aktualität bekommen.

    aDonna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14, 3, 1988, 575-599. Über Mannheims Selbstreflexion und seine Aktualität siehe: Amalia Barboza, Karl Mannheim’s Sociology of Self-Reflexivity, in: David Kettler/Volker Meja (Hrsg.), The Anthem Companion to Karl Mannheim, Anthem Press, London/New York 2018, S. 174-198.

    bKarl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Sijthoff, Leiden 1935.

    cEbd.: 7.

    dErnesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Passagen-Verlag, Wien 2012

    I.Einleitung

    In der Reihe Klassiker der Wissenssoziologie sind vor diesem Buch über Karl Mannheim bereits diverse andere Autoren vorgestellt worden. Die Serie zeigt damit, dass die Richtungen, aus denen Wissenssoziologie betrieben werden kann, überaus zahlreich und vielfältig sind. Alle diese Autoren vertreten eigene Ansätze und gehören unterschiedlichen Schulen an. Ihre jeweilige Position entfalten sie dabei in Anlehnung, mitunter aber auch in Konflikt und durch proklamierte Abgrenzung zueinander oder sogar in der beabsichtigten Überwindung vorangehender Programmatiken. So entwickeln zum Beispiel die sogenannten zweiten Klassiker der Wissenssoziologie Thomas Luckmann und Peter L. Berger ihren wissenssoziologischen Ansatz in Abgrenzung von den Begründern der Wissenssoziologie Max Scheler und Karl Mannheim (BERGER/LUCKMANN 1966). Auch die Frankfurter Schule mit dem Institut für Sozialforschung positioniert sich in der Landschaft soziologischer Traditionen, indem sie sich zu bestimmten Traditionen bekennt und sich zugleich anderen entgegenstellt. Karl Mannheims Wissenssoziologie spielt für die Frankfurter Schule die Rolle eines Gegners, der entweder als idealistischer und unkritischer (HORKHEIMER 1930; ADORNO 1953, 1998 [1937], 1998 [1955]) oder als relativistischer Ansatz (HORKHEIMER 1937) bekämpft wird (vgl. BARBOZA 2007b; JAY 1981, 1974; HUKE-DIDIER 1985).

    Die Vielfalt der Theorieansätze sowie ihre Konkurrenz untereinander tritt nicht nur innerhalb der Wissenssoziologie hervor. Jeder, der zum ersten Mal mit der Soziologie als Disziplin in Kontakt kommt, wird schnell feststellen, dass sie keineswegs von allen Soziologen gleich verstanden wird. Ungeduldige Studierende werden zu Recht nervös, wenn sie von der Disziplin ein klares Programm erwarten, während das Fach sie mit höchst unterschiedlichen Denktraditionen, divergierenden Begrifflichkeiten und stark voneinander abweichenden Auffassungen konfrontiert. Man könnte versuchen, Studierende mit einem künstlich hergestellten kohärenten Kanon in die Soziologie einzuführen. Aussichtsreicher wäre aber stattdessen, Studierenden von Anfang an klar zu machen, dass man in dieser Disziplin zahlreiche Traditionen und Schulen vorfindet und nicht nervös werden sollte, wenn gegensätzliche Auffassungen auftauchen. Man kann aus diesen Unterschieden vielmehr eine Lehre ziehen: Eine Erkenntnis der Wissenssoziologie besteht genau darin, dass es auch in den wissenschaftlichen Disziplinen Konkurrenz und Freundschaft gibt und diese Beziehungsaspekte für die Werke alles andere als belanglos sind. Die Wissenssoziologie fordert dazu heraus, sich von Anfang an auf diese Komplexität einzulassen und die Landschaft der verschiedenen Ansätze der Disziplin mit soziologischem Blick zu erfassen. Zur Entwicklung eines solchen wissenssoziologischen Blicks auf das eigene Fach verhilft Mannheims Wissenssoziologie. Mit seiner Wissenssoziologie machte er Konkurrenz und soziale Unterschiede in den wissenschaftlichen Diskussionen des eigenen Faches zum Gegenstand. Deswegen ist er zu einer für die Soziologie polemischen Figur geworden. Wer sich mit Mannheims Wissenssoziologie beschäftigt, wird rasch mit einem Sturm von Vorwürfen und leidenschaftlichen Ablehnungen, aber ebenso mit begeisterter Zustimmung konfrontiert. Seine Kritiker werfen ihm vor, mit seiner Wissenssoziologie Verwirrungen und Unsicherheiten gestiftet zu haben. Eine solche Wissenssoziologie bringe nur Relativismus mit sich und verunmögliche objektive Erkenntnis. Andere hingegen zeichnen Mannheims Wissenssoziologie als konsequente Haltung aus, welche alle Soziologen annehmen sollten, um der sozialen Perspektivität des eigenen Standpunkts bewusst zu werden. In diesem Rahmen hat sich die Auseinandersetzung um Mannheims Wissenssoziologie hauptsächlich bewegt und mündet oft zu einem Streit über die epistemologischen Grundlagen der Sozialwissenschaften.

    Im vorliegenden Buch wird also eine Wissenssoziologie vorgestellt, die sich besonders auf eine soziologische Analyse der Wissensproduktion des Fachwissens der Sozial- und Geschichtswissenschaften spezialisiert hat. Die zweiten Klassiker der Wissenssoziologie Thomas Luckmann und Peter L. Berger trennen sich von der Mannheim’schen Wissenssoziologie an genau diesem Punkt. Sie kritisieren eine Wissenssoziologie, die sich auf das Wissen des eigenen Faches konzentriert und plädieren in ihrem programmatischen Buch Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit für eine ›neue‹ Wissenssoziologie, die sich mit dem Alltagswissen beschäftigt. Für Berger und Luckmann ist die ›alte‹ Wissenssoziologie Erkenntnistheorie oder Methodenlehre, aber keine Soziologie des Wissens (BERGER/LUCKMANN 1966). Sie betrachten die erkenntnistheoretischen Implikationen einer Soziologie der eigenen Wissensproduktion als eine Art Last, welche die erforderliche Analyse der Strukturen des Wissens im Alltag ausspart. Deshalb entwerfen sie die Grundlagen einer anderen, ›neuen‹ Wissenssoziologie, die nicht auf der Soziologie Mannheims oder Schelers gründet, sondern auf der Phänomenologie von Alfred Schütz und der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners und Arnold Gehlens.

    Was von Berger und Luckmann als Last bezeichnet wurde, kann heute dennoch als Gewinn betrachtet werden. Denn mit einer solchen Wissenssoziologie wird es möglich, eine soziologische Lektüre der Soziologiegeschichte und der soziologischen Theorien zu entwerfen – mithin eine Soziologie der Soziologie. Mannheims Wissenssoziologie muss aber nicht allein als eine Wissenssoziologie sozialwissenschaftlicher Denkstile rezipiert werden. Seine wissenssoziologische Methode lässt sich ebenso auf die Denkstile des Alltagslebens anwenden. Mannheims in den 1920er-Jahren skizziertes Programm einer

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