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Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus
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eBook500 Seiten5 Stunden

Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus

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Über dieses E-Book

Mehr als ein Drittel der Deutschen ist konfessionslos – Tendenz steigend. Während das Bemühen um eine interreligiöse Verständigung groß ist, findet ein Dialog zwischen Religiösen und Nichtreligiösen nur selten statt. Das Buch "Religion, Konfessionslosigkeit & Atheismus" stellt kontroverse Positionen zu Themen wie Religionspolitik, Sterbehilfe und Theodizee aus christlicher und areligiöser Perspektive dar und setzt sie zueinander in Beziehung.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum10. Mai 2016
ISBN9783451808562
Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus

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    Buchvorschau

    Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus - Verlag Herder

    419.jpg596.png

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

    ISBN (E-Book) 978-3-451-80856-2

    ISBN (Buch) 978-3-451-31135-2

    Inhalt

    Vorwort

    Einleitung

    Das naturalistische Menschenbild

    Gerhard Vollmer

    Naturalismus und Theismus

    Armin Kreiner

    Kann Theismus überzeugen?

    Bernward Gesang

    »Drum besser wär’s, dass nichts entstünde«? Streitfall »Theodizee«

    Saskia Wendel

    Das Verhältnis von Atheismus und Mystik – eine Skizze

    Alois Maria Haas

    Säkulare Mystik Technoclubs, Mittagsstille und Sternenhimmel

    Franz Josef Wetz

    ›Religion, bevor sie Religion ist‹ – Überlegungen zur Kulturhermeneutik der Moderne

    Roderich Barth

    Typisch ostdeutsch? Repräsentationen von »Religion« und »Nichtreligion«

    Daniel Cyranka

    Aktuelle Debatten

    Religion, Religionslosigkeit und Atheismus in der deutschen Gesellschaft – eine Darstellung auf der Basis sozial-empirischer Untersuchungen

    Gert Pickel

    Kooperative Laizität. Herausforderungen der deutschen Religionspolitik aus Sicht des Humanistischen Verbandes Deutschlands

    Michael Bauer

    Sterbehilfe – eine philosophische Sicht

    Dieter Birnbacher

    Die Bewahrung der Autonomie des Menschen in medizinethischen Konflikten

    Eberhard Schockenhoff

    Was hat uns das Christentum gebracht?

    Perry Schmidt-Leukel

    Was hat uns das Christentum gebracht? Eine Kritik

    Gregor Paul

    Ergebnisse, offene Problemfelder und am Ende ein Plädoyer

    Katja Thörner

    Abkürzungen

    Autorenverzeichnis

    Register

    Textnachweis

    Vorwort

    Der »Dialog aus christlichem Ursprung« mit anderen Religionen und Weltanschauungen gehört zu den zentralen Aufgaben der Eugen-Biser-Stiftung. Mit dem Thema »Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus« setzt die Eugen-Biser-Stiftung ihren dialogischen Grund­ansatz fort, mit dem sie sich in den letzten Jahren im Dialog mit Juden und Muslime sowie auf der Ebene des ökumenischen und innerkirchlichen Dialogs befasst hat.

    Eugen Biser stellte in seinen zeitdiagnostischen Deutungen seit den 1980er Jahren den »strukturellen Atheismus« als grundlegende Bestimmung unserer gegenwärtigen Gesellschaft heraus. Jüngste empirische Studien bestätigen dies: Mehr als ein Drittel der Deutschen ist konfessionslos – Tendenz steigend. Allerdings zeigen diese Studien auch, dass Konfessionslosigkeit oder Kirchenferne nicht notwendig mit Religionslosigkeit, einer atheistischen oder gar einer religionsfeindlichen Haltung einhergehen muss. Diese Veränderungen lassen aber gleichzeitig die Frage nach der Zukunft des Christentums aufkommen, womit ein Wandel des eigenen Selbstverständnisses in einer zunehmend areligiösen bzw. weltanschaulich pluralen Lebenswirklichkeit Deutschlands angezeigt ist.

    Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen zurück auf die in den Jahren 2014 und 2015 durchgeführte Veranstaltungsreihe »Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus in der gegenwärtigen Zeit«. Die Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mit jeweils einem gläubigen und nichtgläubigen Referenten im Museum Fünf Kontinente in München fanden außerordentlich großen Zuspruch und wurden zum Teil auch von ARD-alpha aufgezeichnet und in der Reihe Denkzeit ausgestrahlt. Ziel der Veranstaltungsreihe war es, der neuerlich wieder zunehmend konfrontativen Gegenüberstellung zwischen Atheisten und Christen entgegenzuwirken, indem sie den Dialog zwischen religiöser und atheistischer Weltanschauung intensiviert. Die Beiträge des Bandes zeigen einerseits ein ernsthaftes wechselseitiges Interesse, sich auf die jeweils andere Position vorbehaltlos einzulassen und einen offenen Dialog zu befördern. Andererseits legen sie die normativen Differenzen offen, die den Religionsdebatten oft unausgesprochen zugrunde liegen, und dienen der eigenen Positionsbestimmung.

    Allen Referenten und Autoren, die an der Vortragsreihe teilgenommen und zu dieser Publikation beigetragen haben, sei an dieser Stelle gedankt. Ebenso gilt der Dank Professor Dr. Martin Thurner für die wissenschaftliche Leitung des gesamten Projektes. Dieser Dank gilt insbesondere auch Frau Dr. Katja Thörner, die die Veranstaltungsreihe maßgeblich konzipiert und durchgeführt und sich als Lektorin aller Beiträge in hohem Maße verdient gemacht hat.

    Gedankt sei auch dem Museum Fünf Kontinente für die kooperative Zusammenarbeit und den Mitarbeitern und ehrenamtlichen Mitarbeitern der Eugen-Biser-Stiftung für die gelungene Organisation der Veranstaltungen.

    Ohne die finanzielle Unterstützung durch eine private Stiftung und durch die Freunde der Eugen-Biser-Stiftung wäre diese Vortragsreihe nicht zustande gekommen und ihre Veröffentlichung nicht realisierbar gewesen. Dem Verlag Herder und dem zuständigen Lektor, Herrn Dr. German Neundorfer, danken wir für die kompetente Betreuung.

    München, im Februar 2016

    Stefan Zinsmeister

    Mitglied des Vorstands der Eugen-Biser-Stiftung

    Einleitung

    Eugen Biser stellt in seinen zeitdiagnostischen Deutungen seit den 1980er Jahren den »strukturellen Atheismus« als grundlegende Bestimmung unserer gegenwärtigen Gesellschaft heraus. Die Folgen für das Selbstverständnis der Religion brachte er im einprägsamen Bild vom »obdachlosen Gott« zum Ausdruck.

    Jüngste empirische Studien bestätigen dies: Mehr als ein Drittel der Deutschen ist konfessionslos – Tendenz steigend –, und eine Wende ist derzeit nicht in Sicht. Allerdings zeigen diese Studien auch, dass Konfessionslosigkeit oder Kirchenferne nicht notwendig mit Religionslosigkeit, einer atheistischen oder gar einer religionsfeindlichen Haltung einhergehen muss. Auf die Frage, wie man es mit der Religion halte, gibt es heute eine große Bandbreite an möglichen Antworten: So kann man sich etwa ohne Weiteres als kirchenferne Christen verstehen, als religiös, aber konfessionsfrei begreifen oder auch der Frage völlig indifferent gegenüberstehen.

    Doch weder in der Religionspolitik noch im normativen Selbstverständnis der deutschen »Mehrheitsgesellschaft« wird dieser grundlegende Wandel systematisch thematisiert. Staat und Gesellschaft sind institutionell auf die beiden »Großkirchen« zugeschnitten, deren Mitgliederzahlen jedoch seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland drastisch gesunken sind. Die so entstehenden gesellschaftlichen Verwerfungen treten jedoch an verschiedenen Stellen deutlich zutage – so etwa in der Debatte um den konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, um arbeitsrechtliche und ethisch-moralische Vorgaben in Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft oder der Frage um religiöse Symbole in öffentlichen Gebäuden. Die Rechte und Privilegien der beiden christlichen Großkirchen werden mehr und mehr als »Sonderrechte« wahrgenommen, deren Legitimität verloren gegangen zu sein scheint und gegen die sich Widerstand organisiert.

    Andererseits begegnet man im Unterschied zum theoretisch begründeten und aggressiv auftretenden Atheismus der vergangenen Jahrhunderte, der unter dem Etikett »Neuer Atheismus« als mediale Inszenierung jüngst wiederbelebt wurde, heute verbreitet selbst bei dezidierten Atheisten eine Haltung der Neugierde und des Respekts gegenüber der Botschaft des Christentums wie auch anderer Religionen. Im Gegenzug zeigt sich auch seitens der christlichen Kirchen in unterschiedlichen Stellungnahmen und Initiativen ein Bewusstsein der Notwendigkeit einer »Neubegegnung mit dem Unglauben« (Eugen Biser).

    Diese geschichtliche Situation wechselseitigen Interesses hat die Eugen-Biser-Stiftung zum Anlass genommen, Religiöse und Nichtreligiöse zum Dialog über traditionelle Topoi und aktuelle Streitpunkte einzuladen. Die Beiträge dieses Bandes gehen auf Vorträge im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zum Thema »Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus in der gegenwärtigen Zeit« zurück, die die Eugen-Biser-Stiftung 2014/2015 in München durchgeführt hat.

    Dem dialogischen Konzept der Veranstaltungsreihe entsprechend werden die einzelnen Themenkomplexe aus zwei je unterschiedlichen Positionen heraus behandelt. Der erste Themenblock widmet sich systematischen Grundfragen im Verhältnis von religiösen und nichtreligiösen Weltbildern. Grundlegend für die Neuzeit ist sicherlich der Konflikt zwischen dem naturalistischen Weltbild, das aufgrund seines immensen Erklärungsgehaltes im Laufe der Jahrhunderte das theistische Weltbild mehr und mehr zur Seite gedrängt hat. Verschiedene Wege des Umgangs des Theisten mit dem Naturalismus, wie er hier vom Physiker und Philosophen Gerhard Vollmer dargestellt wird, werden vom Fundamentaltheologen Armin Kreiner diskutiert. Ein klassischer Topos der Infragestellung des Theismus ist zudem die Frage der Theodizee, also die Frage, wie Gott bzw. der Glauben an einen guten, allmächtigen und allwissenden Gott angesichts des Leidens in der Welt gerechtfertigt werden kann. Während der Philosoph Bernward Gesang diese Möglichkeit bestreitet, unternimmt die Theologin Saskia Wendel den Versuch, dieses Dilemma unter Einbeziehung eschatologischer Überlegungen zu durchbrechen. Mystiker standen im Laufe der Geschichte nicht selten unter Verdacht, im Grunde Atheisten zu sein, und in der Tat, so zeigt der Literaturwissenschaftler Alois M. Haas, gibt es in ihren Schriften zahlreiche Aussagen, die sich wie eine Bestreitung der Existenz Gottes lesen. Diese scheinbare Nähe der Mystik zum Atheismus veranlasst den Philosophen Franz Josef Wetz dazu, der Möglichkeit einer rein säkularen, also »gottlosen« Mystik nachzugehen, indem er mystische Elemente von Ekstase und Kontemplation in der Gegenwartskultur zur Sprache bringt. Der sprachlichen wie phänomenologischen Unschärfe zwischen dem, was wir religiös, und dem was wir ­areligiös nennen, widmen sich die beiden letzten Texte des ersten Teiles. Während der Theologe Roderich Barth der Sinnhaftigkeit einer klaren Grenzziehung zwischen »Religion und Nichtreligion« nachgeht, deckt der Religionswissenschaftler Daniel Cyranka anhand der wissenschaftlichen Darstellung der religiösen Landschaft in Ostdeutschland auf, wie sehr diese Interpretationen von stillschweigenden Annahmen darüber geleitet sind, was eigentlich als »normal« zu erwarten sei.

    Eine Ausnahme von der dialogischen Grundstruktur des Bandes bilden die Beiträge zur Religionssoziologie und Religionspolitik zu Beginn des zweiten Buchabschnittes. Dem Artikel von Gert Pickel kommt dabei die Funktion zu, einführend die derzeitige religiöse Lage in Deutschland darzulegen, um die empirischen Grundlagen für die exemplarischen Debatten zu bereiten. Wie Pickel selbst offenlegt, ist die Interpretation von empirisch erhobenen Daten natürlich immer theoriegeleitet, sodass auch seine Ergebnisse diskutiert werden können. Unstreitig ist aber wohl, dass die religiöse Landschaft in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zunehmend pluralistisch geprägt und der Anteil an kirchenfernen wie auch nichtreligiösen Personen gestiegen ist. Mögliche Konsequenzen aus diesem Befund für die deutsche Religionspolitik zieht Michael Bauer aus der Sicht des Humanistischen Verbands Deutschland. Besonders heikel sind politische Entscheidungen immer dann, wenn sie den Beginn oder das Ende menschlichen Lebens betreffen, wie jüngst die Diskussion um die »Sterbehilfe« gezeigt hat. Welche ethischen Implikationen sich in dieser Frage aus einem christlichen Selbstverständnis ergeben, zeigt Eberhard Schockenhoff, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, auf. Dieter Birnbacher, Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, begründet seine Haltung dagegen aus einer rein philosophischen ­Position, die auf religiöse Grundannahmen verzichtet. Abschließend diskutieren der Theologe und Religionswissenschaftler Perry Schmidt-­Leukel und der Philosoph Gregor Paul über die Frage, was uns das Christentum nun gebracht habe.

    Katja Thörner

    Martin Thurner

    Das naturalistische Menschenbild

    Gerhard Vollmer

    Einleitung

    Eine philosophische Haltung kann man auf verschiedene Weisen kennzeichnen: Man kann ihre Hauptthesen vorstellen; man kann sie aber auch über die Behauptungen charakterisieren, die sie verneint, insbesondere darüber, wie sie einer bis dahin weithin vertretenen Auffassung widerspricht; man kann zu einem philosophischen Problem ein Spektrum von möglichen Antworten auffächern und deutlich machen, wo die fragliche Haltung in diesem Spektrum steht. Manchmal lässt sich ein bezeichnendes Schlagwort formulieren, beim Naturalismus etwa die These, überall in der Welt gehe es mit rechten Dingen zu. Die hier genannten Möglichkeiten sind weder vollständig noch schließen sie einander aus. Vor allem können sie einander ergänzen.

    Im Folgenden versuche ich zu sagen, wie der Naturalist auf bestimmte Kernfragen antwortet. Genau genommen gibt es schon in Goethes Faust zwei Gretchenfragen: »Wie hast du’s mit der Religion?« Und kurz danach: »Glaubst du an Gott?« In beiden Fällen antwortet Faust ausweichend, um Gretchen nicht zu verlieren. Auch im folgenden Text werden diese beiden Fragen gestellt und beantwortet (Kapitel 7.1 und 7.2). Doch haben wir es – anders als Faust – nicht nötig, unsere Meinung wortreich zu verbergen. Vielmehr geht es uns gerade darum, auf klare Fragen – notfalls auch auf unklare Fragen – klare Antworten zu geben.¹

    1. Abstrakte Gegenstände (Logik, Mathematik, Metaphysik)

    1.1 Was ist Metaphysik? Brauchen wir sie?

    Metaphysik ist die Lehre von den ersten und den letzten Dingen. Sie befasst sich mit Gegenständen, die der Erfahrung nicht zugänglich sind. Sie ist transempirisch, aber nicht notwendig transrational.

    Auch für den Naturalisten ist Metaphysik unverzichtbar; schon der Realismus, wonach es eine Welt »da draußen« gibt, ist eine metaphysische Hypothese. Da wir jedoch an wahren Aussagen interessiert sind und Irrtümer aufdecken und beseitigen möchten, bevorzugen wir prüfbare oder wenigstens kritisierbare Aussagen. Deshalb gilt für den Naturalisten: So wenig Metaphysik wie möglich!

    Wir unterscheiden gute (kritisierbare) und schlechte (unkritisierbare, dogmatische) Metaphysik. Man kann mit Hilfe dieser Alternativen ein ganzes Spektrum von Metaphysiken aufspannen: Je klarer und durchsichtiger ein metaphysisches System ist, desto besser ist es kritisierbar und desto leichter kann sich der Naturalist damit anfreunden. Der Realismus, den wir im Allgemeinen voraussetzen, ist dafür ein Beispiel. Die Annahme einer realen Außenwelt ist zwar letztlich metaphysisch, weil nicht empirisch prüfbar; sie ist aber sehr wohl kritisierbar: Ich könnte eines Morgens aufwachen und den Eindruck haben, ich sei ganz allein auf der Welt. Es sind also Erfahrungen denkbar, die meinen metaphysischen Realismus in Frage stellen. In diesem Sinne gehört der Realismus jedenfalls zur guten Metaphysik.

    2. Der Aufbau der Welt

    2.1 Was sind Naturgesetze?

    Der Begriff ist schwer zu definieren; eine in jeder Hinsicht befriedigende Explikation gibt es bisher nicht. In einem ersten Schritt sagen wir: Naturgesetze sind (Beschreibungen von) Regelmäßigkeiten im Verhalten realer Systeme. Im zweiten Schritt sagen wir etwas genauer: Naturgesetze sind universelle, bedingte, synthetische, relationale Aussagen, die als wahr akzeptierbar sind, irreale Konditionalsätze stützen können und Notwendigkeitscharakter tragen.

    2.2 Warum gelten Naturgesetze?

    Dazu gibt es viele Ansätze, einig ist man sich nicht, auch nicht unter Naturalisten.

    Ein praktisches Problem liegt darin, dass wir nur einen Kosmos haben; da ist es sehr schwer, zwischen Naturgesetzen und Rand- und Anfangsbedingungen zu unterscheiden.

    Ein theoretisches Problem ist der unvermeidlich drohende unendliche Regress: Mit Warum-Sätzen fragen wir oft nach Erklärungen; um diese Fragen zu beantworten, stützen wir uns meist auf Naturgesetze. Zwar kann man viele Naturgesetze mit Hilfe anderer, allgemeinerer Naturgesetze erklären; eine Frage werden wir trotzdem nicht los: Selbst wenn wir sogar die Geltung von Naturgesetzen mit Hilfe eines noch allgemeineren Naturgesetzes erklären könnten – warum gilt denn dann dieses allgemeine Gesetz? Eine letzte Antwort auf die Geltungsfrage gibt es deshalb nicht.

    2.3 Was ist Zufall? Gibt es Zufall?

    Es ist zweckmäßig, verschiedene Arten von Zufall zu unterscheiden. Ein Ereignis ist subjektiv zufällig, wenn wir begründet vermuten, dass es keine Ursache hat. Es ist objektiv zufällig, wenn es tatsächlich keine Ursache hat.

    Der Naturalist geht davon aus, dass es objektiven Zufall gibt. Hier unterscheiden wir noch absoluten und relativen Zufall:

    Absoluter Zufall steht beim Beginn einer neuen Weltlinie. Diesem Beginn geht also nichts voraus, was die neue Weltlinie kausal hervorgerufen hätte; aber sie muss natürlich möglich gewesen sein.

    Relativer Zufall steht am Zusammentreffen vorher unverbundener Kausalketten (oder Weltlinien). Die Kausalketten selbst können dabei in sich völlig determiniert sein.

    Relativer Zufall ist die häufigste Art von Zufall; ihn finden wir überall. Beispiele finden sich schon bei Aristoteles: Ich treffe auf dem Markt zufällig einen alten Freund. Jeder von uns war in seinem Verhalten determiniert, das Zusammentreffen jedoch nicht. Absoluten Zufall finden wir vor allem in der Mikrowelt, insbesondere in der Quantenphysik.

    Dem Naturalisten liefert der absolute Zufall ein Argument gegen einen allwissenden Schöpfer. Denn wie sollte dieser Schöpfer vorauswissen, was erst über absoluten Zufall wirklich wird? Er müsste dann nicht nur ewig, sondern irgendwie zeitlos sein. So etwas gibt es in der Erfahrungswissenschaft nicht; damit würde man den Rahmen rationaler Diskussion verlassen.

    3. Kosmologie

    3.1 Wie ist die Welt entstanden?

    Diese Frage führt uns in ein Dilemma: Einerseits erhoffen wir bei dieser Frage mindestens eine Beschreibung, besser noch eine kausale Erklärung für die Entstehung der Welt. Kausale Erklärungen aber erklären einen Zustand aus anderen Zuständen, die zeitlich vorhergehen und den Folgezustand gesetzmäßig nach sich ziehen.

    Andererseits setzt die Frage schon mit dem Wort ›entstanden‹ einen Anfangszustand voraus, aus dem sich alles Weitere entwickelt haben müsste. Aber schon der Begriff ›Anfang‹ setzt unweigerlich Zeit voraus. Nach dem Standardmodell der Kosmologie, das auf Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie beruht, entsteht jedoch auch die Zeit erst mit Raum und Materie; ein Vorher gibt es dann nicht. Dann kann es auch keine kausale Erklärung für den Anfang der Welt geben, insbesondere nicht für den Urknall.

    Allerdings gibt es außer dem Standardmodell auch andere Modelle, nach denen der Urknall keine Singularität darstellt und es eine Zeit vor dem Urknall gegeben haben könnte. Doch bieten diese Nichtstandardmodelle bisher keine prüfbaren Aussagen über die Frühzeit oder gar die Vorzeit des Kosmos.

    Einen Weltenschöpfer für die Existenz und die Eigenschaften der Welt verantwortlich zu machen, hilft nicht weiter; denn das führt unweigerlich zu der Folgefrage, wie dieser Schöpfer entstanden sein könnte. Da es auf diese Frage keine vernünftige Antwort gibt, wird der Naturalist auf eine solche phantasievolle, aber nutzlose These verzichten und lieber gleich zugeben, dass er für die Entstehung der Welt keine Erklärung hat.

    3.2 Wie steht der Naturalist zum anthropischen Prinzip?

    Die Physik findet universelle Naturkonstanten wie Newtons Gravitationskonstante oder die Lichtgeschwindigkeit. Sie findet auch allgemeine Naturgesetze wie Newtons Gravitationsgesetz oder Einsteins berühmte Gleichung E = mc², welche die Äquivalenz von Energie und Masse ausdrückt.

    In den letzten Jahrzehnten hat man entdeckt, dass viele Züge unserer Welt ganz anders oder gar nicht da wären, wenn die Naturkonstanten oder die Naturgesetze nur ein wenig anders wären. Das führt auf die Frage, warum unsere Welt gerade so beschaffen ist, dass es Galaxien, Sterne (also selbstleuchtende Himmelskörper), Planeten (also Begleiter von Sternen), Monde (also Begleiter von Planeten), langfristig stabile Planetenbahnen, Pflanzen, Tiere und Menschen geben kann und tatsächlich gibt. Eine Teilantwort gibt das anthropische Prinzip, das allerdings in mehreren Varianten auftritt. Wir behandeln das schwache und das starke anthropische Prinzip. Mit dem Naturalismus ist allerdings nur das schwache Prinzip vereinbar.

    Nach dem schwachen anthropischen Prinzip ist die Welt so, wie wir sie vorfinden, weil es uns in einer deutlich anderen Welt gar nicht geben könnte. (Dann gäbe es allerdings auch niemanden, der die genannte Warum-Frage stellen, und erst recht niemanden, an den man sie richten könnte.)

    Hier ist Vorsicht geboten: Es handelt sich dabei nicht um ein kausales, sondern um ein epistemisches Weil: Ich weiß, dass die Welt in einigen Zügen so sein muss, wie sie ist, weil ich weiß, dass ich andernfalls nicht existieren würde.

    Nach dem starken anthropischen Prinzip ist die Welt so, wie wir sie vorfinden, damit es uns geben kann. Diese Antwort ist offenbar teleologisch: Danach gab es einen Weltgestalter, der bestimmte Absichten und Ziele hatte und die Welt nach diesen Zielen entstehen und sich entwickeln ließ.

    Der Naturalist lehnt teleologische Erklärungen ab. Absichten und Ziele schreibt er nur Menschen und einigen höheren Tieren zu. Deshalb kann er das starke anthropische Prinzip nicht für richtig halten, sondern allenfalls das schwache. Eine kausale Antwort auf die genannte Warum-Frage (Warum ist unsere Welt gerade so beschaffen, dass Planeten, Lebewesen und Menschen möglich sind?) steht dann allerdings immer noch aus. Vertreten werden – auch von Naturalisten – drei deutlich verschiedene Antworten:

    •Es ist reiner Zufall.

    •Es gibt irrsinnig viele, z. B. 10⁵⁰⁰ verschiedene mögliche Welten, so viele, dass wenigstens in einigen von ihnen Leben entstehen konnte oder sogar musste.

    •Denkbar ist aber auch eine künftige Kosmophysik, durch die weitere bekannte Größen als notwendig erkannt und aus anderen erklärt werden könnten. Allerdings wird man auch hier, insbesondere bei der Weltentstehung, den Bereich des Unerklärten nie ganz zum Verschwinden bringen.

    3.3 Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?

    Man kann nicht nur nach den Eigenschaften der Welt fragen, sondern auch nach der Existenz der Welt. Die Frage, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, gilt zwar als Grundfrage der Metaphysik oder sogar der gesamten Philosophie und deshalb als besonders tiefsinnig. ­Viele Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz, Friedrich W. J. Schelling, ­Arthur Schopenhauer, Martin Heidegger, Hannah Arendt haben sich mit ihr befasst. Wie alle Fragen stellt man sie in der Hoffnung, dass es eine Antwort gibt, also eine Erklärung für die Existenz der Welt. Dazu müsste es jedoch etwas geben, was die Welt beschlossen und geschaffen, mindestens aber verursacht bzw. bewirkt hat. Dies kann aber nichts Innerweltliches sein, da nichts Innerweltliches sich selbst erschaffen kann. Es müsste also etwas Außerweltliches sein. Aber Außerweltliches kann es schon aus begrifflichen Gründen nicht geben; denn die Welt umfasst ja schon alles, was es gibt. Die Frage ist also entweder sinnlos oder unbeantwortbar. Das ist aber so leicht zu sehen, dass es sich dabei nicht wirklich um eine tiefe Frage handelt und dass deshalb auch keine tiefe Antwort zu erwarten ist.

    4. Evolution

    4.1 Welche Rolle spielt die Evolution?

    Der moderne Naturalismus ist evolutionär: Er anerkennt das evolutionäre Gewordensein für alle realen Systeme, mit einiger Vorsicht auch für den Kosmos als Ganzes. Er betrachtet die Entwicklung der Welt, insbesondere die biologische Evolution, als erklärbar und in weiten Teilen als geklärt. Der Urknall selbst, wenn es ihn denn gab, ist damit allerdings nicht erklärt. Die biologischen Evolutionstheorien (Lamarck, Darwin, Huxleys Synthetische Theorie und ihre modernen Nachfolger) erklären, wie aus Lebewesen neue und mehr Lebewesen entstehen, nicht dagegen, wie die ersten Lebewesen entstanden sind. Tatsächlich ist auch die Entstehung des Lebens bisher unerklärt.

    Eine wichtige Folgerung aus dem allgemeinen Evolutionsgedanken ist die Einsicht, dass alle realen Systeme aus einfacheren hervorgegangen sind – auch der Mensch mit allen seinen Eigenschaften und Fähigkeiten. Um das zu betonen, sprechen wir heute von einem Evolutionären Naturalismus.

    4.2 Wie erklären wir die Zweckmäßigkeit in der Natur? Teleologie oder Teleonomie?

    Die Zweckmäßigkeit in der belebten Natur ist unverkennbar. Dem Theologen William Paley (1743–1805) diente sie als Argument für die Existenz eines Planers, eines Schöpfers, also für den so genannten teleologischen Gottesbeweis. Der Physiker Max Planck (1858–1947) stand dieser Auffassung nahe, und auch heute noch benützen einige Theologen das Argument vom Intelligent Design, etwa der Wiener Kardinal Christoph Schönborn seit 1997.

    Teleologie ist die (Lehre von der) Zielgerichtetheit einiger oder aller Prozesse. Eingeführt wurde das Wort von dem Leibniz-Schüler Christian Wolff (1679–1754). Teleonomie ist gen-erhaltende Zweckmäßigkeit aufgrund eines evolutiv entstandenen (inneren, genetischen) Programms (und nicht als Werk eines zwecksetzenden Wesens). Diesen Begriff hat der Biologe Colin Pittendrigh 1956 eingeführt, um den metaphysisch-religiösen Beigeschmack abzuschütteln, der in der Regel mit teleologischem Denken und Sprechen verbunden ist. Der Naturalist anerkennt die Zweckmäßigkeit der Organismen, hält diese Zweckmäßigkeit aber für erklärbar und bereits weitgehend erklärt durch die Evolutionstheorie, insbesondere durch die Prinzipien der natürlichen Auslese. Er akzeptiert also Teleonomie, jedoch keine allgemeine Teleologie.

    4.3 Hat das Universum, das Leben, der Mensch, die Evolution, die Geschichte einen Sinn?

    Was meinen wir mit Sinn? Hier meinen wir Zweck, Bestimmung, Aufgabe, Funktion. Wir könnten also auch fragen: Ist das Universum für irgendetwas gut? Da wir ohne unser Universum nicht existieren würden, liegt es nahe, den Sinn (oder Zweck) des Universums im Menschen zu sehen. Das ist aber kein gutes Argument, da ohne das Universum überhaupt nichts existieren würde; dann müsste man also alles, was es überhaupt gibt, als Sinn des Universums ansehen.

    Der Naturalist hat auf diese Frage eine einfache Antwort: Einen objektiven Sinn gibt es nicht. Aber wir können unserem je eigenen Leben einen Sinn geben. Diesen privaten Sinn anderen zu vermitteln, ist allerdings recht schwierig, was sich insbesondere auf die intersubjektive Akzeptanz moralischer Normen auswirkt.

    5. Leib-Seele-Problem

    5.1 Wie steht der Naturalist zum Leib-Seele-Problem?

    Das Leib-Seele-Problem besteht aus mindestens zwei Fragen: Wie viele Seinsebenen oder Substanzen gibt es? Wenn nur eine, wie der Monist meint, wie kommt es dann zu dem jeweils anderen Aspekt? Wenn aber zwei oder gar mehr, wie Dualisten vermuten, wie können diese Seins­ebenen dann miteinander wechselwirken?

    Der Naturalist ist Monist und neigt zur Identitätstheorie: Geist, Seele, Bewusstsein sind Funktionen eines natürlichen Organs, des Gehirns. Die Identitätstheorie ist monistisch-materialistisch und benützt ein projektives Modell, wonach Innen- und Außenaspekt verschiedene Projektionen von Gehirnvorgängen sind. Dass diese Projektionen so unterschiedlichen Charakter haben, sogar inkommensurabel zu sein scheinen, liegt an den völlig verschiedenen Zugängen von innen und von außen, führt jedoch nicht auf einen Widerspruch.

    Was spricht für die Identitätstheorie? Zunächst einmal die Ontogenese, die Entstehung eines Individuums: Aus einem Zellverbund, der nach allem, was wir zu wissen glauben, kein Bewusstsein hat, wird in nahezu kontinuierlicher Weise ein Wesen mit Bewusstsein. Was liegt näher, als hier ein Heranreifen neuer Eigenschaften zu vermuten? – Ein weiteres, weitgehend strukturgleiches Argument liefert die Phylogenese, die Stammesgeschichte. Auch in der biologischen Evolution sind Systeme mit Bewusstsein ganz allmählich entstanden, ohne dass es einen größeren Sprung gegeben haben müsste. – Schließlich ist es für den Identitätstheoretiker nicht erstaunlich, dass Verletzungen des Gehirns – durch Unfall, Operation, Tumor, Krankheiten, Drogen – zu mentalen Veränderungen führen, während der Dualist, insbesondere der Interaktionist, hierfür ganz ominöse Wechselwirkungen annehmen muss, die bisher in keiner Weise präzisiert oder gar empirisch nachgewiesen werden konnten.

    Auch im Hinblick auf die gewünschte und vom Naturalisten verlangte Kritisierbarkeit schneidet die Identitätstheorie besser ab: Nach der Identitätstheorie ist jeder mentale Vorgang mit einem neuronalen Vorgang verbunden, letztlich ja sogar mit ihm identisch. (Die Umkehrung gilt nicht: Die meisten neuronalen Vorgänge sind uns nicht bewusst.) Diese identitätstheoretische Behauptung ist im Prinzip empirisch prüfbar: Fände sich ein mentaler Vorgang, dem nachweislich kein neuronaler Vorgang entspricht, so wäre die Identitätstheorie widerlegt.

    5.2 Gibt es eine unsterbliche Seele?

    Die Unsterblichkeit der Seele, wie auch immer sie definiert sein mag, setzt jedenfalls den Dualismus voraus, also die Existenz einer von der materiellen Basis weitgehend unabhängigen Seinsweise.

    Der Naturalist lehnt den Dualismus ab, damit auch die Unsterblichkeit der Seele. Für Unsterblichkeit gibt es viele Hoffnungen und einige Befürchtungen; einen belastbaren Hinweis auf Unsterblichkeit oder auch nur an ein Weiterleben nach dem Tode gibt es nicht. Im Gegenteil: Bisher hat sich alles Lebendige als sterblich erwiesen. Und einen Nachweis für Unsterblichkeit kann und wird es deshalb auch nie geben.

    5.3 Wie ist das Bewusstsein entstanden?

    Dass es einen Innenaspekt gibt, dem Wahrnehmung, Bewusstsein, Ichgefühl, Qualia, Intentionalität zu verdanken sind, ist nicht zu bestreiten; wie er entstanden ist und wie er arbeitet, ist jedoch bisher nicht geklärt. Selbst der Naturalist, im Hinblick auf künftige Erkenntnisse sonst eher optimistisch, muss einräumen, dass hier noch keine befriedigende Antwort in Sicht ist. Der evolutionäre Naturalist ist allerdings überzeugt, dass Bewusstsein eine späte Errungenschaft der Evolution ist, dass insbesondere eine bestimmte Mindestkomplexität des Zentralnervensystems, vor allem des Gehirns, erforderlich ist, um Qualia entstehen zu lassen. Und mit Sicherheit gibt es auch hier keinen plötzlichen Sprung, sondern eine lange Entwicklung mit vielen Teilschritten.

    Ordnet man die Rätsel des Lebens auf einer Härteskala, so ist die Entstehung des Lebens zwar bisher ungeklärt, doch scheint die Hoffnung auf eine künftige Klärung durchaus realistisch. Auch die ungeheure Zunahme an Komplexität im Laufe der Evolution wird man wohl nicht nur beschreiben, sondern auch erklären können. Dagegen könnte es sein, dass wir dem »Welträtsel« des Bewusstseins nicht auf die Spur kommen. Um aber herauszufinden, ob es nicht doch lösbar ist, bleibt gar nichts anderes übrig, als seine Lösung hartnäckig zu verfolgen. Dabei können zahlreiche Disziplinen hilfreich sein: Studien der Ontogenese (Individualentwicklung), Studien der Phylogenese (Stammesgeschichte), Psychologie, Verhaltensforschung, insbesondere der Artvergleich, sowie Computer- und Robotertechnik.

    5.4 Gibt es Künstliche Intelligenz? Kann es sie geben?

    Für unsere Zwecke genügt es zu sagen: Die Leistung eines Artefakts oder das Artefakt selbst ist intelligent, wenn ein Mensch Intelligenz braucht, um eben diese Leistung zu erbringen. Da für den Naturalisten das Gehirn und seine Leistungen völlig natürlich und in der Evolution entstanden sind, hält er auch künstliche Intelligenz für möglich. Bisher gibt es sie allerdings nur in Teilbereichen. So ist der Schachcomputer, der den Schachweltmeister besiegt, intelligent. Soweit allerdings Intelligenz an Bewusstsein gebunden ist, sieht er vorerst keine Möglichkeit, künstliche Intelligenz zu schaffen. Dazu wissen wir noch zu wenig über das Zustandekommen des Innenaspekts, der Qualia. Wie weit reicht diese Art künstlicher Intelligenz?

    5.5 Ist der Mensch dem Computer, allgemeiner jeder Maschine überlegen?

    Nach Kurt Gödel kann der Mensch zu jeder Maschine einen Satz konstruieren, den er als wahr erkennen kann, die Maschine aber nicht. Einige haben daraus geschlossen, der Mensch sei der Maschine überlegen. Dieses Argument ist jedoch nicht schlüssig. Denn es gilt auch umgekehrt: Wenn das menschliche Gehirn algorithmisch arbeitet, dann kann nach Gödel auch der Computer zu jedem Menschen einen Satz konstruieren, den die Maschine als wahr erkennen kann, der Mensch aber nicht! Hier herrscht also völlige Symmetrie.

    Auch und gerade für den Naturalisten bleibt also herauszufinden, welche Besonderheiten das Gehirn befähigen, eben solche Leistungen zu erbringen, die wir der Maschine vorläufig nicht zutrauen, und zu prüfen, ob man diese Besonderheiten nicht doch einer Maschine vermitteln kann. Einen Grund, warum das auf Dauer unmöglich sein sollte, sieht der Naturalist nicht.

    6. Willensfreiheit?

    6.1 Hätte ich auch anders handeln können?

    Ich habe etwas getan. Hätte ich – unter denselben Naturgesetzen, Rand- und Anfangsbedingungen – auch anders handeln können? Die Antwort ist, auch und gerade im Zusammenhang mit der heutigen Hirnforschung, höchst umstritten. Der Libertarier sagt: Ja, manchmal (oft, immer). Der Determinist sagt: Nein, nie.

    Der Naturalist verneint diese Frage ebenfalls. Auch Zufall schafft keine Willensfreiheit. Der Naturalist ist also zwar im Rahmen der Naturphilosophie kein Determinist, da er sowohl relativen als auch absoluten Zufall anerkennt. (Dazu Kap. 2.3) In der Frage der Willensfreiheit ist er jedoch Determinist oder besser Antilibertarier, da er die Möglichkeit bestreitet, trotz identischer Bedingungen anders zu handeln, als man tatsächlich handelt.

    6.2 Wenn nein: Kann der Determinist dann überhaupt noch von Willensfreiheit reden?

    Im obigen alternativistischen Sinne (»ja, ich hätte anders handeln können«) nicht; denn was es anerkanntermaßen nicht gibt, darüber lohnt es sich auch nicht zu reden. Ist das einmal geklärt, so kann man auf den Begriff der Willensfreiheit gänzlich verzichten. Im Sinne einer eindeutigen Redeweise wäre das nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert.

    Unsere Alltagssprache ist jedoch mit libertarischen Sprechweisen durchsetzt, in denen von freiem Willen, freien Entscheidungen, freien Handlungen die Rede ist, und es ist sicher schwer oder sogar ganz unmöglich, diesen Sprachgebrauch zu vermeiden oder wirksam zu verbieten. Um diese Redeweisen beibehalten zu können, versuchen viele, Willensfreiheit in einem kompatibilistischen Sinne zu definieren, also so, dass sie mit dem oben dargestellten Determinismus vereinbar wird. Dazu gibt es viele Vorschläge. Unter den diskutierten Möglichkeiten gefällt mir am besten die Formulierung von Wolfgang Büchel: Willensfreiheit ist Dominanz des rationalen Steuerungssystems über das triebhaft-instinktive. Danach dürfen wir dann von Willensfreiheit sprechen, wenn unsere Entscheidung auf rationaler Ebene gefallen ist oder als solche rekonstruiert werden kann. In dieser Explikation ist der deterministische Charakter der verschiedenen Steuerungssysteme, auch des rationalen, und der getroffenen Entscheidung noch spürbar – wie es um der Klarheit willen ja auch sein soll.

    6.3 Was ist dann Verantwortung?

    In einer Maximalexplikation (die viele Forderungen stellt) könnten wir sagen: Verantwortung ist der gesellschaftliche Auftrag und die Fähigkeit, bewusst, freiwillig, mit Gründen und entsprechend der persönlichen Werteordnung sich für (oder gegen) eine Handlung zu entscheiden, sich die Handlung und ihre Folgen zurechnen zu lassen und für die voraussehbaren Folgen einzustehen. Wie das Adverb freiwillig verrät, würde man hiernach freien Willen voraussetzen.

    Die Minimalexplikation (besonders wenige Forderungen) ist hier kursiv gesetzt: Verantwortung ist der gesellschaftliche Auftrag, sich eine Handlung zurechnen zu lassen. (Noch kürzer wäre: Verantwortung ist Zurechenbarkeit.) Hier wird keine Willensfreiheit vorausgesetzt; offenbar kann man aber trotzdem noch von Verantwortung sprechen. Der Determinist muss, der Naturalist kann sich mit einem solchen etwas weiteren Verantwortungsbegriff zufriedengeben.

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