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Konvivialismus. Eine Debatte
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eBook397 Seiten4 Stunden

Konvivialismus. Eine Debatte

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Über dieses E-Book

Das »Konvivialistische Manifest« (2014 auf Deutsch erschienen) hat die globale Debatte um die Frage neu formatiert, wie wir das Zusammenleben angesichts von Klimakatastrophe und Finanzkrisen gestalten wollen und müssen. Die Beiträge dieses Bandes eröffnen nun die Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen des Manifests im deutschsprachigen Raum: Wo liegen seine Stärken, wo die Schwächen? Was hieße es, eine konviviale Gesellschaft anzustreben - in Politik, Kultur, Zivilgesellschaft und Wirtschaft?
Welche neuen Formen des Zusammenlebens sind wünschenswert und welche Chancen bestehen, sie durchzusetzen?
Ein Buch nicht nur für Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen, sondern auch für zivilgesellschaftliche Akteure und die interessierte Öffentlichkeit.
Mit Beiträgen u.a. von Micha Brumlik, Christian Felber, Naika Foroutan, Silke Helfrich, Claus Leggewie, Stephan Lessenich, Steffen Mau, Franz Walter und Gesa Ziemer.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2015
ISBN9783732831845
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    Buchvorschau

    Konvivialismus. Eine Debatte - Frank Adloff

    Demokratie, Politik und Staat

    Wer kann dazu schon »nein« sagen?

    Oder: die Grenzen der Demokratie

    Dirk Jörke

    Im Oktober 2013 kam es zu einem Brand in einer Textilfabrik in Bangladesch, bei dem über 100 Menschen starben. Die hohe Zahl an Toten kam nicht zuletzt dadurch zu Stande, dass Notausgänge fehlten. Wenige Monate später stürzte ebenfalls in Bangladesch das Dach einer Textilfabrik ein. Dabei kamen über 1000 Menschen zu Tode. Wie so viele andere war auch diese Fabrik ohne Baugenehmigung errichtet worden. Beide Katastrophen haben für kurze Zeit die Produktionsverhältnisse der globalen Textilindustrie in den Fokus der Nachrichten gerückt, und viele Textilfirmen haben sich in der Folge zu ethischen Standards des Produzierens bekannt. Ob es dadurch jedoch zu nachhaltigen Verbesserungen etwa hinsichtlich der Sicherheitsbestimmungen oder der Löhne gekommen ist, wird von vielen NGOs bezweifelt.

    Die irische Textilkette Primark hat in den vergangenen Jahren nach Deutschland expandiert. Mittlerweile gibt es hierzulande 16 Filialen, weitere sollen folgen. Kommt man zufällig an einer Primark Filiale vorbei, dann sieht man regelmäßig vornehmlich junge Menschen mit großen, nicht selten vollgestopften Papiertüten in den Händen. Diese enthalten extrem billige Saisonware (T-Shirts gibt es ab 2,50 Euro, Schuhe ab 5,00 Euro), die im nächsten Jahr im Müll oder in der Altkleidersammlung landet, sei es weil deren modische Halbwertszeit abgelaufen ist, sei es weil sie die erste Maschinenwäsche nicht überstanden haben. Aufschlussreich ist auch ein Besuch der Filialen. Dort fällt zweierlei auf: Zum einen, dass es in der Regel unheimlich voll ist, zum anderen liegen viele Textilien auf dem Fußboden, man macht sich nicht die Mühe, die Billigware sorgsam zu behandeln. Kurzum, es herrscht ein großes Gewimmel. Als älteres Semester – und als Angehöriger des Bildungsbürgertums – fühlt man sich fehl am Platz, und es macht sich eine ordentliche Portion Zivilisationskritik im Kopf bemerkbar.

    Was hat dieser kurze Ausflug in die Abgründe der kapitalistischen Konsum(un)kultur mit dem konvivialistischen Manifest im Allgemeinen und dessen demokratietheoretischen Überlegungen im Besonderen zu tun? Zweierlei: Erstens zeigt es als ein Beispiel von unzähligen, wie berechtigt und notwendig die dort artikulierte Kulturkritik ist. Zweitens weist es aber auch darauf hin, dass es sich beim Konvivialismus um ein sehr elitäres Projekt handelt, womit es notwendig in Widerspruch zu der ebenfalls im Manifest artikulierten Forderung nach einer »Demokratisierung der Gesellschaft« (S. 66) geraten muss, zumindest dann, wenn damit ein zivilgesellschaftliches Verständnis verbunden wird, das nicht exklusiv geraten soll.

    Im Folgenden möchte ich etwas näher auf den zweiten Aspekt eingehen und zeigen, inwieweit die demokratietheoretischen Ausführungen des Manifests nicht zu überzeugen vermögen. Meine kritischen Gedanken stehen unter zwei Vorbehalten. Zum einen möchte ich damit nicht die Berechtigung der kultur- und kapitalismuskritischen Gehalte des Konvivialismus bestreiten. Ganz im Gegenteil, gerade die explizite Kritik am vorherrschenden und immer weiter expandierenden Utilitarismus und der Wachstumsideologie ist ein wichtiger Aspekt, und es ist zu hoffen, dass er nicht in den üblichen akademischen und zivilgesellschaftlichen Milieus verbleibt, sondern weitere Kreise der Gesellschaft erreicht und vielleicht auch zunehmend das Denken und Handeln der politischen Eliten zu bestimmen vermag. Zum anderen kann ich trotz aller Kritik am konvivialistischen Manifest keine normativ überzeugende Alternative formulieren. Meine Kritik verbleibt daher in gewisser Weise negativ. Ich denke aber, dass die so häufig in derartigen Texten zur Weltverbesserung vorkommende quasi-religiöse – und damit meine ich: bekenntnishafte-demokratische – Emphase eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist.

    Die Ausführungen des Manifestes zu Politik und Demokratie sind sehr allgemein und verbleiben zumeist im Unverbindlichen, etwa wenn mit guten Gründen für die Einführung eines Höchsteinkommens plädiert wird, über dessen Höhe jedoch folgende Aussage gemacht wird: »Dieses Niveau kann relativ hoch sein, darf jedoch nicht über das hinausgehen, was der Anstand gebietet« (S. 66). Oder, wenn die Verfasser wenig später sich für das »rechte Gleichgewicht« zwischen privaten und öffentlichen Gütern aussprechen. Oder, wenn es drei Seiten später heißt, der »Markt und das Streben nach monetärer Rentabilität sind völlig legitim«, wenn sie denn die »Postulate der gemeinsamen Menschheit« (S. 69) beachten würden. Diesen und zahlreichen ähnlichen Formulierungen ist anzumerken, dass es sich bei dem konvivialistischen Manifest um ein Konsenspapier handelt und dass sich die Autoren sehr – und m.E. viel zu sehr – darum bemühen, möglichst niemanden vor dem Kopf zu stoßen. Das ist jedoch wenig zielführend. Der Forderung nach einem anständigen Höchsteinkommen werden nur wenige – etwa Investmentbanker in den globalen Finanzmetropolen oder auch die Spitzenmanager multinationaler Unternehmen – widersprechen, wenn überhaupt, werden diese Personen doch wahrscheinlich die Auffassung vertreten, dass ihr Gehalt angesichts ihrer exorbitanten Leistungen durchaus »anständig«, wenn nicht gar vergleichsweise niedrig ausfällt. Wer, mit anderen Worten, soll also festlegen, was »anständig« meint oder auch, wo genau die Grenze zwischen öffentlichen und privaten Gütern verlaufen soll? Und auf welche Weise soll das geschehen? Die Antwort, die sich eher zwischen den Zeilen im Manifest hierzu findet, lautet, dass dies unbedingt auf demokratische Weise zu erfolgen hat. Das kommt etwa in der Formulierung zum Ausdruck, »das Beste ist der Wunsch, weltweit wirklich demokratische, zivilisierte und konvivialistische Gesellschaften zu errichten« (S. 72). Dem kann man nicht widersprechen. Aber man fragt sich, wie wir dorthin kommen. Etwas konkreter wird es eine Seite später mit dem Verweis auf die »partizipative Demokratie« und die »Erfahrungen der weltweiten Sozialforen« (S. 73). Zudem betonen die Autoren die Legitimität von Konflikten, solange diese nicht in Hass umschlagen, auch der »Mobilisierung der Affekte und Leidenschaften« (S. 72) wird das Wort geredet.

    Obwohl es bei diesen eher knappen Hinweisen bleibt, wird die Nähe zur Demokratietheorie von Chantal Mouffe, die auch zu den Erstunterzeichnerinnen gehört, deutlich. Mouffe gehört ohne Zweifel zu den derzeit am meisten diskutierten Theoretikerinnen der Demokratie. In zahlreichen Schriften hat sie seit nunmehr fast 30 Jahren Bausteine zu einer alternativen Konzeption der Demokratie formuliert, die sie als agonistisch bezeichnet. Es ist hier nicht der Ort für eine ausführliche Rekonstruktion von Mouffes Demokratietheorie. Wenige Stichworte müssen daher genügen.

    Mouffe hat ihre Demokratietheorie vornehmlich in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt, in denen sie sich mit grundlegenden Strömungen der gegenwärtigen politischen Theorie auseinandersetzt. In den Fokus ihrer Kritik sind dabei sowohl kontextualistisch argumentierende Autoren kommunitaristischer Provenienz wie auch Vertreter universalistischer Positionen geraten. Ihre Kritik dieser beiden Grundpositionen normativer Demokratietheorie ist dabei spiegelbildlich. Stimmt sie mit kontextualistischen Autoren darin überein, den Anspruch liberaler Theorien auf Neutralität zurückzuweisen und ein ethisches Fundament der Demokratie einzufordern, so lehnt sie die substantialistische und tendenziell exklusive Ausbuchstabierung dieses Fundaments, wie sie für die meisten kommunitaristischen Ansätze charakteristisch ist, ab. Dem Universalismus folgt sie hingegen – bei aller Kritik am Begründungsprogramm – weitgehend in der Befürwortung von Pluralität und Toleranz.

    Ihre Kritik am Neutralitätsanspruch deliberativer Demokratietheorien entfaltet Mouffe in Auseinandersetzung mit John Rawls und Jürgen Habermas. Auch wenn sie durchaus die Differenzen zwischen beiden Konzeptionen betont, vertreten ihr zufolge beide insofern einen gemeinsamen Ansatz, da sowohl Rawls als auch Habermas den Nachweis zu erbringen versuchen, dass politische Institutionen, Normen und Regelungen, die keine Gesellschaftsmitglieder systematisch benachteiligen, vorstellbar und rational rechtfertigbar sind. Dieses Vorhaben muss ihr zufolge jedoch scheitern, da beide die differentia specifica des Politischen verkennen würden. »Das Politische« ist für Mouffe gekennzeichnet durch Konflikte und Antagonismen; es besteht ein ständiger Kampf um die Vormachtstellung im »Feld der Diskursivität«. Diese Auseinandersetzung ist niemals abgeschlossen; es kann lediglich partielle Verfestigungen geben, die sich dann teilweise als Unter drückungsverhältnisse erweisen. Aber auch diese sind nicht völlig stabil, sondern werden immer wieder sukzessive aufgelöst. Gerade diesen Aspekt des permanenten Konfliktes um die Einrichtung des Sozialen verkennen nach Mouffe deliberative Demokratietheorien, die »das Politische« moralphilosophisch einzuhegen trachten.

    Entscheidend für Mouffe ist nun, dass bei aller Betonung der Konfliktualität und der Rolle von Affekten die Auseinandersetzung in demokratischen Bahnen verbleibt. Das heißt konkret, dass die jeweiligen Kontrahenten als Gegner, nicht jedoch, im Sinne Carl Schmitts, als Feinde betrachtet werden sollen. Mouffe unterscheidet hier zwischen einem antagonistischen und einem agonistischen Verständnis von politischen Konflikten. Voraussetzung für das agonistische Modell ist die wechselseitige Anerkennung als Angehörige einer demokratischen Gemeinschaft. Dazu gehört nicht zuletzt die Bereitschaft, mit den Widersachern politisch zu streiten, sich dann aber auch geschlagen zu geben, wenn die eigene Position nicht mehrheitsfähig – oder mit Mouffe gesprochen – nicht hegemonial ist. Was damit ausgeschlossen werden soll, ist jedoch nicht nur das Umschlagen des Konfliktes in einen gewalttätigen Kampf, sondern auch die Ersetzung der politischen Auseinandersetzung durch die moralische Abwertung der generischen Partei. Was Mouffe damit zu Recht kritisiert, lässt sich gegenwärtig, in der Art und Weise wie die Mehrheitsgesellschaft dem Rechtspopulismus zu begegnen versucht, gut beobachten. In der Etablierung eines cordon sanitaire würden sich zwar die anständigen BürgerInnen ihres moralisch überlegenen Standpunktes vergewissern, auf der politischen Ebene bleibe das Problem jedoch ungelöst. Im Gegenteil, durch die Moralisierung würden die Anhänger des Rechtspopulismus aus dem demokratischen Raum ausgeschlossen, was eine politische Auseinandersetzung verunmöglicht. In der Konsequenz stehen sich dann zwei Lager gegenüber, die sich immer weniger als Gegner, sondern vielmehr als Feinde wahrnehmen.

    Mouffes Kritik am Umgang mit Rechtspopulisten verweist aber auch auf ein Problem. Ihr agonistisches Modell ist sehr anspruchsvoll und setzt eine Form demokratischer Sittlichkeit voraus, die in Gesellschaften, die nicht nur durch ein hohes Maß an Pluralität, sondern ebenso durch das auch im konvivialistischen Manifest kritisierte Vordringen betriebswirtschaftlichen Denkens und den damit einhergehenden »Kampf aller gegen alle in einer Logik verallgemeinerter Gier« (S. 40) charakterisiert sind, schlichtweg nicht im ausreichenden Umfang existiert. Wenn denn diese Diagnose tatsächlich zutreffen sollte, ergibt sich eine nicht unerhebliche Kluft zwischen Sein und Sollen und man fragt sich, wie diese Kluft überwunden werden kann.

    In den Schriften von Mouffe, aber auch im konvivialistischen Manifest findet sich an dieser Stelle der Hinweis auf globalisierungskritische Bewegungen und internationale NGOs, die als Avantgarde einer neuen demokratischen »Weltzivilgesellschaft« (S. 73) angesehen werden. Doch damit zehrt das Modell einer agonistischen oder auch konvivialistischen Demokratie wesentlich von den Praktiken und Werten jener Menschen, die sich in sozialen Bewegungen engagieren, politisch weit links eingestellt sind und in der Regel über höhere Bildungsabschlüsse verfügen. Sozio-strukturell sowie habituell unterscheiden sich die Aktivisten von Attac oder auch der Occupy-Bewegung somit erheblich vom Rest der Bevölkerung.

    Die Idee des konvivialistischen Manifestes scheint nun darin zu bestehen, dass sich die Einstellungen und Praktiken dieser zivilgesellschaftlichen Elite immer weiter ausbreiten sollen, um auf diese Weise gleichsam eine soziale Basis der partizipativen Demokratie und der Weltzivilgesellschaft zu etablieren. Die Frage ist, wie dies geschehen soll. Gerade wenn man die im Manifest formulierte Gesellschaftsdiagnose ernst nimmt, oder die Zeitung aufschlägt (Anfang 2015 bestimmten die Pegida-Demonstrationen in Dresden die innenpolitische Debatte, und es gab in Paris einen Terroranschlag auf ein Satiremagazin und einen jüdischen Supermarkt), oder sich eben in die Shoppingmalls verirrt, wird deutlich, dass hier eine enorme theoretische wie letztlich auch praktische Lücke klafft. Anders ausgedrückt, die Therapievorschläge im konvivialistischen Manifest passen schlichtweg nicht zur Krankheitsdiagnose, es ist so, als ob man einem Querschnittsgelähmten ein ausgiebigen Fitnesstraining auf dem Laufband verordnete.

    Die Illusion dieses Manifestes wie auch so vieler ähnlich argumentierender sozialwissenschaftlicher wie zeitdiagnostischer Beiträge besteht mithin in dem Glauben, der als erforderlich angesehene Wandel könne auf demokratischem Wege erfolgen. Das ist insofern verständlich, als man damit ja normativ auf der richtigen Seite steht. Wer kann schon gegen Demokratie sein, vor allem wenn sie ganz zivilgesellschaftlich-partizipativ sein soll? Allerdings sind damit (mindestens) zwei Probleme verbunden. Zum einen steht die normative Selbstvergewisserung in einer nicht unerheblichen Spannung zu den Aussichten, die geforderten konvivialistischen Strukturen und Praktiken auf einem demokratischen Weg zu etablieren. Zum anderen ist der Lobgesang auf die partizipative Demokratie aus demokratietheoretischer Perspektive zu hinterfragen. Ich werde zunächst auf den zweiten Punkt eingehen, um dann abschließend die Grenzen der »Sakralisierung der Demokratie« (H. Joas) zu thematisieren, ohne freilich eine normativ überzeugende Lösung anbieten zu können.

    Was ist problematisch an der »partizipativen Demokratie«? Zunächst einmal scheinen die Aussichten für eine partizipative Erneuerung der Demokratie gar nicht so schlecht zu sein. Ist es hierzulande doch in den vergangenen zwanzig Jahren geradezu zu einer Explosion neuer Beteiligungsverfahren jenseits der repräsentativen Demokratie gekommen. Zu erwähnen sind hier Mediationsverfahren, Bürgerforen oder Konsensuskonferenzen. Auch wurden in den Kommunen und Bundesländern im wachsenden Umfang Referenden durchgeführt, etwa zum Stuttgarter Hauptbahnhof, zum Nichtraucherschutz in Bayern, zur Schulpolitik in Hamburg oder auch zur Bebauung des Tempelhofer Feldes in Berlin, um nur die prominentesten Beispiele zu nennen. Hinzu treten Formen des Konsumboykotts oder eines politischen Konsums, durch den Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidungen zu beeinflussen trachten. Demokratische Beteiligung erfolgt mithin immer mehr in unterschiedlichen Kanälen und beschränkt sich nicht länger auf traditionelle Formen des Wählens und des Engagements in Parteien. Zu beobachten ist eine Ausdifferenzierung, die von verfassungsrechtlich gerahmten Formen wie Referenden über Mediationsverfahren unter Beteiligung staatlicher Repräsentanten bis hin zu informellen Praktiken wie der Mitarbeit in Bürgerinitiativen, der Beteiligung an Demonstrationen und eben auch einem politisch bewussten Konsum reicht. Zielten formalisierte Verfahren direkt auf die Entscheidungsfindung des Staates, so richten sich die neuen Beteiligungsformen mehr auf eine bürgergesellschaftliche Aneignung des Politischen.

    Allerdings deutet eine Reihe von neueren Studien darauf hin, dass diese neuen Kanäle politischer Beteiligung vornehmlich von Angehörigen der Mittelschichten, die zudem zumeist über eine überdurchschnittliche Schulbildung verfügen, genutzt werden. Der zunehmende Trend, dass sich die Unterschichten aus den Kanälen der demokratischen Beteiligung zurückziehen, gilt somit nicht nur für Wahlen. In stärkerem Maße lässt er sich bei den erwähnten unkonventionellen Formen der Beteiligung wie Bürgerkonferenzen, runden Tischen oder Konsensuskonferenzen beobachten. Denn nicht alle Bürgerinnen und Bürger verfügen über jene Ressourcen, derer es für die erfolgreiche Partizipation an argumentativen Verfahren bedarf. Hierzu zählen neben Zeit und einer zumindest rudimentären Sachkenntnis eben auch rhetorische Fähigkeiten und ein selbstbewusstes Auftreten. Gerade letztere sind in spätmodernen Gesellschaften jedoch ungleich verteilt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn diese neuen Formen der Beteiligung vornehmlich von den gut ausgebildeten Mittelschichten dominiert werden. Diese Prozesse sind mithin alles andere als frei von Macht, und wer über das entsprechende Geschick verfügt, weiß diese Mikromacht entsprechend einzusetzen. Insofern in deliberativen Verfahren und zivilgesellschaftlichen Protestformen besonders die Kompetenzen und Wertvorstellungen gut ausgebildeter Mittelschichtsangehöriger honoriert werden, wohnt dem partizipativen Demokratieverständnis, wenn schon nicht in der Theorie, dann aber in ihrer praktischen Umsetzung innerhalb kapitalistischer Gesellschaften ein elitärer Bias inne.

    Das kann zu zwei Effekten führen. Zum einen, und das ließ sich etwa bei den Volksabstimmungen zum Nichtraucherschutz in Bayern, zur Schulpolitik in Hamburg oder auch zur geplanten, aber dann verhinderten Wohnungsbebauung auf dem Tempelhofer Feld in Berlin beobachten, führt die soziale Selektivität zu Entscheidungen, die den Interessen derjenigen, die sich beteiligt haben, stärker entsprechen dürften als derjenigen der bildungsfernen Milieus. Damit verschärft sich aber eine Entwicklung, die bereits bei konventionellen demokratischen Verfahren zu beobachten ist: die Orientierung der Parteien an der Mitte. Zum anderen droht Demokratie zu einer Spielwiese zu verkommen, insofern nämlich zu fragen ist, was überhaupt durch die alternativen Beteiligungsformen entschieden werden kann und was nicht. So besitzen viele deliberative Verfahren lediglich einen empfehlenden Charakter, bei Bürgerhaushalten geht es oftmals um vergleichsweise kleine Beträge, wenn nicht – wie in Solingen, deren Beteiligungsprogramm 2011 mit dem »European Public Sector Award (2011) für erfolgreiches Verwaltungshandeln in Europa« ausgezeichnet wurde – das Ziel sogar darin besteht, Haushaltskürzungen scheindemokratisch absegnen zu lassen. Zur Auswahl steht dann etwa, ob das Schwimmbad oder das lokale Theater geschlossen werden soll. Wirklich relevante Fragen sind freilich der direkten Mitbestimmung durch die Bürgerinnen und Bürger entzogen. Zu denken ist hier insbesondere an die diversen Maßnahmen zur »Eurorettung«. Aufschlussreich war in diesem Kontext die Reaktion der europäischen Entscheidungseliten auf das Vorhaben des ehemaligen griechischen Ministerpräsidenten Papandreou, die griechischen Bürgerinnen und Bürger über das »Euro-Rettungspaket« abstimmen zu lassen. Papandreou musste bekanntlich kurz darauf zurücktreten.

    Nun lässt sich an dieser Stelle gegen meine Argumentation einwenden, dass es ja das Ziel des konvivialistischen Manifestes ist, diese schein- oder postdemokratischen Verhältnisse zu transformieren. Doch dafür spricht nicht viel. Folgt man der sicherlich zugespitzten Zeitdiagnose von Ingolfur Blühdorn (2012, 2013), ist das jedoch insofern wenig überraschend, als gerade in jenen sozialen Schichten, die sich in den partizipativen Verfahren engagieren, ein neues Wertmuster beobachten lasse. Vorherrschend seien nicht mehr emanzipatorische Orientierungen oder die Sorge um das Gemeinwohl, sondern als Konsequenz einer »Emanzipation zweiter Ordnung« hätten sich viele Menschen von den damit einhergehenden Zumutungen befreit. Das politische Engagement stelle heutzutage eher eine Art »postdemokratische Performanz« dar, mit der zwar auf der einen Seite demokratische Selbstbilder bestätigt würden, auf der anderen Seite dies jedoch nicht damit einhergehe, Ziele der Selbstverwirklichung, und das heißt in der postmodernen Welt, vor allem Karriere und Konsum, opfern zu müssen: »Konkret geht es bei der postdemokratischen Performanz wohl darum, demokratische Rechte, Normen und Verfahrensweisen in einer solchen Weise zu implementieren, dass einerseits die Gültigkeit demokratischer Werte erlebbar und demokratische Erwartungshaltungen bedient werden, andererseits aber systemische Notwendigkeiten, administrative Effizienz sowie die postdemokratischen Wertpräferenzen und Selbstverwirklichungsansprüche moderner Bürger möglichst nicht beeinträchtigt werden« (Blühdorn 2012: 87). Kurzum, es komme vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren und politisch engagierten Bürgerinnen gar nicht mal so ungelegen, dass sie sich zwar auf diverse Weisen zu demokratischen Werten bekennen können, es sich dabei aber erstens eher um ein sporadisches Engagement oder auch nur den Einkauf im Biomarkt handelt und zweitens die eigene konsum- und karriereorientierten Lebensweisen dadurch nicht in Frage gestellt werden. Um diese Diagnose zuzuspitzen: Wenn es denn zum Konvivialismus gehört, sich gelegentlich mit Freunden zu einem gemeinsamen Essen zu treffen und die Zutaten hierfür aus dem Biomarkt stammen, so passt eine konvivialistische Lebensweise perfekt zur »postdemokratischen Performanz«. Wenn dazu aber der Verzicht auf die nächste Urlaubsreise nach Ostasien oder die Aufgabe der Bildungsprivilegien der eigenen Kinder gehören sollte, dann sollte man es mit dem Konvivialismus lieber nicht übertreiben.

    Doch selbst wenn man sich dieser abgeklärten Zeitdiagnose von Blühdorn nicht anschließen möchte und stattdessen davon ausgeht, dass viele derjenigen, die sich gegenwärtig zivilgesellschaftlich engagieren, zu einem weitergehenden Wandel ihrer Lebensweise bereit sind oder bereits nach konvivialistischen Prinzipien leben, so bleibt doch die Frage, wie all jene davon überzeugt werden sollen, die ihr Leben – etwa ihre Konsummuster – eben nicht ändern wollen. Dieses Problem stellt sich umso schärfer, als die Verfasser des konvivialistischen Manifestes zu Recht auch in globalen Zusammenhängen denken. Die Attraktivität eines Lebensstils, der nun nicht unbedingt konvivialistischen Werten entspricht, scheint ja in den vergangenen Jahren global eher zugenommen zu haben. Man denke etwa an die Beliebtheit deutscher Luxusautos in Ostasien.

    An einer Stelle ist die Rede von einer »Weltversammlung«, in der sich die Vertreter der »Weltzivilgesellschaft« neben Philosophen und Sozialwissenschaftlern, aber auch Vertretern »der verschiedenen ethischen, spirituellen und religiösen Strömungen« zusammen finden sollen, allerdings nur jene, die »sich in den Prinzipien des Konvivialismus wiedererkennen« (S. 74). Was ist aber mit all jenen, die sich nicht oder vielleicht auch nur noch nicht zum Konvivialismus bekannt haben? Sollen diese ausgeschlossen werden? Wäre eine derartige Versammlung noch als »demokratisch« zu bezeichnen? Wer entscheidet darüber, ob jemand oder eine Gruppe zur »Weltversammlung« zugelassen wird? Soll die Versammlung repräsentativen Prinzipien genügen? Wie sollen die internen Abstimmungsprozesse aussehen? Herrscht das demokratische Mehrheitsprinzip oder doch der Zwang zum deliberativen Konsens, der ressourcenstarke oder autoritäre Minderheiten begünstigt? Diese und viele weitere Fragen mögen auf den ersten Blick etwas pedantisch wirken. Allerdings ist einer politikwissenschaftlichen Perspektive zu entnehmen, dass institutionelle wie prozedurale Fragen immer auch Fragen nach Macht und Herrschaftsausübung

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