Erving Goffman
Von Jürgen Raab
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Jürgen Raab
Jürgen Raab ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau und Mitglied im Vorstand der DGS-Sektion Wissenssoziologie.
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Erving Goffman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenQualitative Forschung auf dem Prüfstand: Beiträge zur Professionalisierung qualitativ-empirischer Forschung in den Sozial- und Bildungswissenschaften Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
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Buchvorschau
Erving Goffman - Jürgen Raab
Klassiker der Wissenssoziologie
Herausgegeben von Bernt Schnettler
Die Bände dieser Reihe wollen in das Werk von Wissenschaftlern einführen, die für die Wissenssoziologie – in einem breit verstandenen Sinne – von besonderer Relevanz sind. Dabei handelt es sich vornehmlich um Autoren, zu denen bislang keine oder kaum einführende Literatur vorliegt oder in denen die wissenssoziologische Bedeutung ihres Werkes keine angemessene Würdigung erfahren hat. Sie stellen keinesfalls einen Ersatz für die Lektüre der Originaltexte dar. Sie dienen aber dazu, die Rezeption und das Verständnis des Œuvres dieser Autoren zu erleichtern, indem sie dieses durch die notwendigen biografie- und werkgeschichtlichen Rahmungen kontextualisieren. Die Bücher der Reihe richten sich vornehmlich an eine Leserschaft, die sich zum ersten Mal mit dem Studium dieser Werke befassen will.
»Thomas Luckmann« von Bernt Schnettler
»Marcel Mauss« von Stephan Moebius
»Alfred Schütz« von Martin Endreß
»Anselm Strauss« von Jörg Strübing
»Robert E. Park« von Gabriela Christmann
»Erving Goffman« von Jürgen Raab
»Michel Foucault« von Reiner Keller
»Karl Mannheim« von Amalia Barboza
»Harold Garfinkel« von Dirk vom Lehn
»Émile Durkheim« von Daniel Šuber
»Claude Lévi-Strauss« von Michael Kauppert
»Arnold Gehlen« von Heike Delitz
»Maurice Halbwachs« von Dietmar J. Wetzel
»Peter L. Berger« von Michaela Pfadenhauer
Weitere Informationen zur Reihe unter www.uvk.de/kw
Für Hans-Georg Soeffner, meinen Lehrer
Inhalt
Einleitung
I Erving Goffman: ›Marginal Man‹ und ›Key Sociological Thinker‹
II Prägungen und Einflüsse
III Methodologie und Methode
IV Die sozialen Situationen und das Selbst
V Normalität und ihre Rahmungen
VI Rezeption und Wirkung
Literatur
Zeittafel
Personenindex
Sachindex
Einleitung
Zu Lebzeiten waren Erving Goffmans Status als soziologischer Theoretiker und der Stellenwert seines Œuvres durchaus umstritten. Doch schon bald nach seinem Tod im Jahre 1982 galt er vielen als »one of the leading post-World War II American sociologists« (Manninghart 2000: 285). Im Rückblick erkennen manche in ihm sogar »one of the twentieth century’s most remarkable practioniers of social sciences« (Smith 2006a: 1), wenn sie ihn nicht gleich in den Rang des »most significant American social theorist of the twentieth century« erheben (Fine & Manning 2000: 481).
Das Interesse an Goffmans Werk überschritt schon früh nicht nur die Grenzen der USA, sondern auch diejenigen der Fachdisziplin und darüber hinaus – was wohl am meisten erstaunt – die für gewöhnlich kaum zu überwindenden Gräben und Sperranlagen zwischen den soziologischen Paradigmen. So präsentiert sich Goffman heute, »auch wenn er zwangsläufig ›nur‹ ein Klassiker der zweiten Generation sein kann«, doch unübersehbar als »Soziologe von klassischer Statur« (Hettlage 1991a: 437). Kaum eine breit angelegte Einführung in die Soziologie, kaum eine Überblicksdarstellung zu ihren Hauptvertretern oder Hauptwerken, die es sich leisten könnte, Goffman zu übergehen. Auch seine Schriften erfreuen sich anhaltender Popularität: Sie sind in viele Sprachen übersetzt, erscheinen in wiederholten Auflagen und führen weltweit die soziologischen Bestsellerlisten an. Was kaum verwundert, werden sie doch, wie die Texte nur weniger anderer Fachvertreter, auch außerhalb der Disziplin – und sogar von einem breiten nicht-wissenschaftlichen Publikum – mit großem Interesse wahr- und aufgenommen (vgl. Didra 2010). Zudem gibt es kaum Sozialwissenschaftler, gleich welcher theoretischen Couleur oder methodischen Ausrichtung, die nicht von Goffmans scharfer Beobachtungsgabe, von den luziden Beschreibungen und originellen Begriffsbildungen, von seiner geradezu außerordentlichen analytischen Begabung oder doch wenigstens vom ausgesprochen hohen Anschauungs- und Unterhaltungswert seiner Darstellungen angetan sind.
Zum Anlass dieser Einführung
Die unaufhörlich steigende Zahl der um eine systematische Aufarbeitung von Goffmans Œuvres bemühten Überblicks- und Einführungswerke macht gleichwohl auf ein nach wie vor virulentes Problem aufmerksam (vgl. Castel et al. 1989, Fine & Smith 2000, Hettlage & Lenz 1991, Bovone & Rovati 1992, Lemert & Branaman 1997, Jakobsen & Kristiansen 2002, Treviño 2003, Nizet & Rigaux 2005, Smith 2006a, Österreichische Gesellschaft für Soziologie 2007, Jacobson 2010): Goffman ist wegen seiner theoretisch unbelasteten, klaren Sprache zwar eingängig zu lesen und scheint aufgrund seiner stets anschaulichen Beispiele leicht verständlich. Seine Schilderungen und Einsichten lassen sich häufig anhand eigener Beobachtungen unmittelbar nachvollziehen und in der Alltagserfahrung überprüfen – mit dem oft überraschenden Effekt, dass das Vertraute plötzlich ein anderes Gesicht bekommt: Goffmans außergewöhnliche Fähigkeit, das Nichtgesehene und Undurchschaute vor Augen zu führen und es dabei zugleich zu ›ordnen‹, lässt uns augenblicklich das Vertraute und Gewöhnliche ungewohnt erscheinen, und es schleicht sich die Ahnung ein, dass auch das vermeintlich Selbstverständlichste im menschlichen Zusammenleben offenbar nur wenig selbstverständlich ist. Aber nicht nur angehenden Sozialwissenschaftlern, auch eingeübten Vertretern der Fachdisziplin gibt sich der größere Zusammenhang des Werkes oft nur schwer zu erkennen. Manchem erweist sich der Zugang zur inneren Systematik als derart holprig und sperrig, dass sie nicht selten von vornherein in Abrede gestellt und Goffman als unsoziologisch, wenn nicht gar unwissenschaftlich disqualifiziert wird (vgl. Joas 1978: 38) – ein Schicksal, das Goffman mit Georg Simmel teilt, einem seiner einflussreichsten Vordenker.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Schon innerhalb der einzelnen, vornehmlich essayistisch angelegten Schriften wirken die Ausführungen häufig ausschweifend, gelegentlich ausufernd und die Kategorien und Konzepte scheinen impressionistisch gewonnen. Dieser Wahrnehmung mag sich verstärken – und um den Eindruck der Inkompatibilität und Inkohärenz ergänzen –, wenn über die Einzeluntersuchungen hinweg die sozialen Kontexte, aus denen die empirischen Fallbeispiele gewählt sind, scheinbar beliebig wechseln, und wenn Goffman ausnehmend selten auf zuvor von ihm entwickelte Begriffe und Konzeptionen zurückgreift. Darüber hinaus bemüht er sich nicht einmal im Ansatz darum, auf die Traditions- und Entwicklungslinien seiner Arbeiten zu reflektieren, um mögliche Verbindungen wenigstens anzudeuten, die ihn zu seinen theoretischen Überlegungen und empirischen Arbeiten anregten. Hinzu gesellt sich ein zumindest vordergründiges Desinteresse an makrosoziologischen Themen wie etwa Macht, Ungleichheit und Sozialstruktur, mit denen dem Leser wenigstens grobe Wegweisungen durch das Werk an die Hand gegeben wären. Dieses Bild vervollständigt schließlich Goffmans zeitlebens bekundetes Widerstreben, sich den disziplinären Paradigmen zuzurechnen.
Vor diesem Hintergrund versteht sich das vorliegende Buch als Einladung und Hinführung zu den Schriften Erving Goffmans. Es kann und will deren Einzellektüre nicht ersetzen, sondern soll zum Verständnis vor allem des inneren und äußeren Zusammenhangs seiner wichtigsten Arbeiten beitragen. Aus diesem Anspruch leitet sich die hier verfolgte Darstellung und Argumentation ab. Der Band setzt nicht die Ende der 1980er-Jahre entfachte und noch bis weit in die 1990er-Jahre hineingetragene Diskussion um die Zurechenbarkeit Goffmans zu den soziologischen Schulen und Paradigmen fort (vgl. Drew & Wootton 1988, Riggins 1990, Hettlage & Lenz 1991, Hitzler 1991, Burns 1992, Manning 1992, Reiger 1992, Chriss 1995b). Auch betrachtet er keine seiner Schriften als Schlüsselwerk, durch das alle anderen gleichsam wie durch eine Folie zu lesen und zu verstehen wären (vgl. Hazelrigg 1992, Willems 1997a, Reckwitz 2000). Vielmehr wird ein Zugang gewählt, den Goffman selbst nahe legt, der bislang jedoch erst in Ansätzen für eine systematische Darstellung seines Werkes genutzt wurde.
Die Interaktionsordnung als Leitmotiv und Generalthema
Die hier vorgeschlagene Lesart nimmt das zum Leitmotiv, woran sich Goffmans Interesse zu Beginn seiner akademischen Laufbahn entzündete und was er dann in einer über 30 Jahre währenden, überaus regen und produktiven wissenschaftlichen Tätigkeit entfaltete: jenes Forschungsfeld und Forschungsprogramm, das er selbst die ›Interaktionsordnung‹ (the interaction order) nannte. Der Terminus erscheint erstmals im zusammenfassenden Schlusskapitel seiner Dissertationsschrift (Goffman 1953a, vgl. Lenz 1991a: 27, Manning 2000: 284, Smith 2003: 646), und er wird schließlich jenem Text den Titel geben, an dem Goffman bis kurz vor seinem Tod arbeitete und der posthum zur Veröffentlichung kam: die vielen Interpreten heute als sein Vermächtnis geltende Antrittsrede zur Präsidentschaft der American Sociological Association (ASA) (Goffman 1983b, dt. 1994b).
Bemerkenswerterweise verwendet Goffman den Begriff ›Interaktionsordnung‹ ausschließlich an diesen beiden, das Werk einklammernden und rahmenden Stellen. Doch die weit gediehene Goffman-Forschung vertritt inzwischen fast einhellig die Meinung, dass Goffman auf diese Weise gleichsam die Klammern seines Forschungsprogramms setzte und die innere Geschlossenheit seiner Arbeit markierte (vgl. Drew & Wootton 1988, Hettlage 1991a, 2000, Lenz 1991a, Knoblauch 1994, 2000, 2006, Knoblauch et al. 2005 und Willems 1997a: 27ff.). Deshalb spreche ich im Folgenden von Goffmans Theorie- und Forschungsprogramm als der »Soziologie der Interaktionsordnung«.
Das Generalthema prägte sein Arbeitsprogramm. Fast ein Dutzend Monografien sind Ausdruck und Beleg einer geradezu erstaunlichen Beständigkeit und Beharrlichkeit in der letztlich doch unvollständig gebliebenen Anstrengung, das Regelwerk sozialer Interaktionen aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Brennweiten zu erforschen. Dabei richtet die Soziologie der Interaktionsordnung ihr Augenmerk auf jene Sphären zwischenmenschlichen Alltagshandelns, in denen wir körperlich kopräsent und mit potenziell all unseren fünf Sinnen füreinander wahrnehmbar sind. Solche sozialen Situationen werden aufgrund der in der sozialen Wahrnehmung vorherrschenden Prävalenz des Auges häufig als Begegnungen von Angesicht zu Angesicht, als Face-to-face-Situationen oder Vis-à-vis-Interaktionen bezeichnet. Ihr Spektrum erstreckt sich von flüchtigen Begegnungen, in denen wir in der Regel kaum mehr als kurze Blicke zur gegenseitigen Identifikation und Orientierung untereinander wechseln – wie etwa beim Durchqueren einer Fußgängerzone – bis hin zu mehr oder minder umfassenden Konversationen, die sich durch größere zeitliche Ausdehnung auszeichnen und verbunden sind mit einer stärkeren räumlichen Dichte, einem entsprechend intensiveren Austausch von Blicken, Berührungen, Worten und Gesten sowie straffere rituelle und zeremonielle Regelungen aufweisen – wie etwa Familienfeste, Business-Meetings und Gerichtsprozesse, wissenschaftliche Kongresse oder die Treffen von Außenministern.
Goffman erkannte die gesellschaftliche Bedeutung dieses noch weitgehend unbearbeiteten Gegenstandsbereichs soziologischer Forschung und Theoriebildung. In Anschluss an Émile Durkheim begriff er ihn sogar als ›Realität sui generis‹. Denn als Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei die Interaktionsordnung ein gesonderter Erfahrungs- und Untersuchungsbereich neben anderen gesellschaftlichen Wirklichkeiten, wie etwa der Sozialstruktur, zu denen sie allenfalls ›Schnittstellen‹ (interfaces) und ›lose Koppelungen‹ (loose couplings) aufweise (Goffman dt. 1981b: 16, dt. 1994a: 149, dt. 1994b).
Dabei ließen es die Reichweite sowie die außerordentliche Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Teilbereichs gesellschaftlicher Wirklichkeit notwendig erscheinen, die Schlagbäume zwischen den soziologischen Theorieentwürfen und die sorgsam gehütete Insularität methodischer Verfahren zu überwinden. Nur jenseits der von ihm immer wieder als künstlich angeprangerten disziplinären Schließungen und Positionskämpfe sah Goffman die Chance, die Interaktionsordnung in ihrer Spannbreite und Variabilität, vor allem aber in ihren Zusammenhängen zu erkunden: von der Untersuchung der Organisation menschlicher Alltagserfahrungen über die Beobachtung der Bauformen interpersonaler Alltagsrituale bis hin zur Analyse der Strukturprinzipien institutioneller Ordnung wie beispielsweise formaler Organisationen.
So präsentiert jedes seiner Bücher nicht nur einen neuen Forschungszugang zur Soziologie der Interaktionsordnung. Von Untersuchung zu Untersuchung entfaltet sich darüber hinaus ein hochgradig bewegliches und anschlussoffen bleibendes Repertoire an Metaphern und Analogien, Begriffen und Konzepten: ›Selbst‹ und ›soziale Situation‹, ›Rahmen‹ und ›Modulation‹, ›Normalität‹ und ›Stigma‹, ›Theater‹ und ›totale Institution‹, ›Vorderbühne und ›Hinterbühne‹, ›Ritual‹ und ›Image‹, ›Rollenspiel‹ und ›Rollendistanz‹, ›zentrierte‹ und ›nicht-zentrierte Interaktion‹. Die von Goffman zum Aufspüren und zur Beschreibung der Interaktionsordnung vorgelegten Begriffe und Konzepte verweisen auf die spezifische Qualität des für die Erforschung jenes Gegenstandsbereichs sui generis erforderlichen Vokabulars. Sie geben aber auch bereits zu erkennen, wie spannungsreich Goffman das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft begreift.
Die Soziologie der Interaktionsordnung will diese Spannungsverhältnisse über ein in weiten Teilen noch zu entwickelndes analytisches Gerüst und ein geeignetes methodisches Verfahren angehen. Goffman teilt zwar die Überzeugung, dass soziale Interaktionen und soziale Ordnung insgesamt auf sinnhaft aufeinander bezogenen Handlungen beruhen. Doch diese Handlungen sind weder ausschließlich noch vornehmlich aus den Orientierungen der Akteure an den gesellschaftlich auferlegten Verhaltenserwartungen mit ihren Fakten, Normen und Zwängen zu erklären, wie dies etwa Talcott Parsons, Robert K. Merton oder George C. Homans annahmen. Vielmehr muss soziales Handeln auch – so der Goffman’sche Kerngedanke – über die Analyse des konkret beobachtbaren, also situationsspezifischen, prozesshaften und schöpferischen Umgangs der Akteure mit dem Gegebenen und Notwendigen gedeutet und verstanden werden.
Erving Goffman und die ›neue‹ Wissenssoziologie
Auf den ersten Blick mag die Einreihung Goffmans in den Kanon wissenssoziologischer Klassiker nicht unbedingt nahe liegen. Er selbst hätte – vgl. unten, Kapitel II – ihr sicherlich die größten Vorbehalte entgegengebracht. Sie erhält jedoch mit dem zuletzt angesprochenen Aspekt durchaus Plausibilität.
Wissenssoziologische Ansätze in der Nachfolge von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969, vgl. auch Tänzler et al. 2006a, 2006b) teilen im Grundsatz die Überlegung, dass jenes Denkgebilde, das sie ›Gesellschaft‹ nennen, jedem Menschen in zwei einander nur scheinbar widersprechenden Erscheinungs- und Erfahrungsformen gegeben ist.
Erstens begreifen sie Gesellschaft als historisch vorgegebene und kulturell vorgefundene, vom Einzelnen nicht mehr beeinflussbare, objektive Faktizität: als ›soziale Tatsache‹ (fait sociale) (Émile Durkheim). In Gestalt von Normen, Rollen und Institutionen ergreift sie vom Einzelnen Besitz, zwingt ihm einen fremden Willen auf, fordert Anpassungsleistungen ein, verlangt seine Unterordnung. »I believe, of course«, so Goffman, »that the social environment is largely socially constructed […]. But […] I don’t think the individual himself or herself does much of the constructing. He rather comes to a world, already in some sense or other, established« (in: Verhoeven 1993b: 324).¹ Handlungspraktisch kann der Einzelne die vielfältigen gesellschaftlichen Wirklichkeiten, in denen er sich bewegt, also nicht konstruieren. Sie liegen ihm als in weiten Teilen bereits vorgefertigtes, ›soziohistorisches Apriori‹ voraus (Luckmann 1980: 127), und er bekommt sie im Zuge seiner Sozialisation vermittelt – in den Worten Goffmans: »Sie werden dem Neophyten eingetrichtert, wenn er stubenrein wird« (Goffman dt. 1971b: 86).
Zweitens ist wissenssoziologischen Ansätzen die Einsicht gemein, dass Gesellschaft in Prozessen ›sozialer Wechselwirkung‹ (Georg Simmel) vom Einzelnen in Besitz genommen und so im ›sinnhaften Handeln‹ (Max Weber) fortwährend wiederhergestellt, aktualisiert, neu ausgestaltet und verändert wird.
Aus diesem ›Doppelcharakter‹ sozialer Realität leitet sich die Aufgabe der von Berger und Luckmann begründeten ›neuen Wissenssoziologie‹ her. Sie besteht in der »Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« (Berger & Luckmann 1969: 20). Das Forschungsprogramm entfaltet sich in eben jenem Spannungsfeld von Gesellschaft als Zwang ausübender, objektiver Faktizität einerseits und Gesellschaft als Freiheits- und Möglichkeitsraum sinnhaften sozialen Handelns, also der Kreativität, aber auch der Umgehungen und Abweichungen, andererseits. Dabei gehört zum wissenssoziologischen Grundtenor, dass es nur im empirischanalytischen