Claude Lévi-Strauss
Von Michael Kauppert
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Buchvorschau
Claude Lévi-Strauss - Michael Kauppert
Klassiker der Wissenssoziologie
Herausgegeben von Bernt Schnettler
Die Bände dieser Reihe wollen in das Werk von Wissenschaftlern einführen, die für die Wissenssoziologie – in einem breit verstandenen Sinne – von besonderer Relevanz sind. Dabei handelt es sich vornehmlich um Autoren, zu denen bislang keine oder kaum einführende Literatur vorliegt oder in denen die wissenssoziologische Bedeutung ihres Werkes keine angemessene Würdigung erfahren hat. Sie stellen keinesfalls einen Ersatz für die Lektüre der Originaltexte dar. Sie dienen aber dazu, die Rezeption und das Verständnis des Œuvres dieser Autoren zu erleichtern, indem sie dieses durch die notwendigen biografie- und werkgeschichtlichen Rahmungen kontextualisieren. Die Bücher der Reihe richten sich vornehmlich an eine Leserschaft, die sich zum ersten Mal mit dem Studium dieser Werke befassen will.
»Thomas Luckmann« von Bernt Schnettler
»Marcel Mauss« von Stephan Moebius
»Alfred Schütz« von Martin Endreß
»Anselm Strauss« von Jörg Strübing
»Robert E. Park« von Gabriela Christmann
»Erving Goffman« von Jürgen Raab
»Michel Foucault« von Reiner Keller
»Karl Mannheim« von Amalia Barboza
»Harold Garfinkel« von Dirk vom Lehn
»Émile Durkheim« von Daniel Šuber
»Claude Lévi-Strauss« von Michael Kauppert
»Arnold Gehlen« von Heike Delitz
»Maurice Halbwachs« von Dietmar J. Wetzel
»Peter L. Berger« von Michaela Pfadenhauer
Weitere Informationen zur Reihe unter www.uvk.de/kw
Meiner Katze
Inhalt
Einleitung
I Zu den Quellen einer strukturalen Anthropologie
»Eine meiner beherrschendsten Interessen«
»Mir schien es dringlich, Klarheit zu schaffen«
»Ich habe wahrhaft gearbeitet«
»Extrem schwierige Bücher«
II Zur Systematik der strukturalen Anthropologie
Natur und Kultur
Primitive und Zivilisierte
Struktur und Sinn
Leitmotive
III Zur Soziologie symbolischer Ordnungen
Literatur
Zeittafel
Personenindex
Sachindex
Einleitung
Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt.
Rumänisches Sprichwort
Als sich Claude Lévi-Strauss im Oktober 1984 aufgrund einer Vortragsreihe in Kalifornien aufhält, geht er eines Abends zusammen mit seiner Frau Monique in ein Restaurant. Da sie keine Plätze reserviert haben, müssen sie zunächst auf einen freien Tisch warten. Ein Kellner erkundigt sich nach ihren Namen, um ihnen einen Platz zuweisen zu können, sobald einer frei werden sollte. Als der Kellner den Namen hört, fragt er: »The pants or the books?« Diese Namensgleichheit mit dem berühmten Jeanshersteller verfolgt Lévi-Strauss zeit seines Lebens »wie ein Phantom« (1989: 49). Nicht jeder scheint allerdings auf dem Kenntnisstand des amerikanischen Kellners zu sein, weiß also nicht, dass es neben der amerikanischen Jeansmarke auch noch einen französischen Ethnologen gleichen Namens gibt: »Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass ich nicht, im allgemeinen aus Afrika, eine Jeans-Bestellung erhalte« (Lévi-Strauss 1989: 50). Selbst an seinem Pariser Wohnort assoziieren viele Menschen den Namen Lévi-Strauss eher mit einer Modemarke als mit einem herausragenden Ethnologen: »Wenn meine Frau in Paris in irgendeinem Geschäft eine Bestellung aufgibt und man bei einem so bekannten Namen stutzt, dann immer wegen der Beinkleider, niemals wegen der Bücher« (Lévi-Strauss 1989: 50).
Vielleicht lässt sich die Spannung zwischen Wissenschaft und Lebenswelt insofern auflösen, dass sowohl der Erfinder des Beinkleids für amerikanische Goldwäscher als auch der ingeniöse Erforscher amerikanischer Mythen auf je eigene Weise zu Kulturheroen geworden sind. Der Erste ist es für die materielle Alltagskultur, der Zweite für die immaterielle Kultur von Wissenschaft und Literatur. »Es gibt […] wohl kaum einen Zweifel, dass das anthropologische 20. Jahrhundert als das Jahrhundert von Lévi-Strauss in Erinnerung bleiben wird – so sehr hat sein Denken, selbst wenn man es ablehnt, die Vorstellung, die man sich von dieser Wissenschaft, ihrem Gebiet und ihren Methoden machen kann, geprägt« (Descola 2008a: 227). Erst kürzlich ist eine Ausgabe seiner Werke in der in Frankreich renommierten Bibliothèque de la Pléiade erschienen. Es ist dies eine Reihe, in der ansonsten nur die (vorwiegend) französischen Klassiker der Literatur vertreten sind. Der Klassikerstatus ist Lévi-Strauss also gleich in mehrfacher Weise nicht mehr zu nehmen: Er ist ein Klassiker für ein Namensmissverständnis, einer für französische Literatur und ganz sicher auch einer der Ethnologie. Die Frage, die hier allerdings interessiert, ist eine andere: Ist Lévi-Strauss auch ein Klassiker der Wissenssoziologie?
Auf diese Frage gibt es zwei verschiedene Antworten. Sie hängen davon ab, ob man die Zugehörigkeit von Lévi-Strauss zu diesem Feld davon abhängig macht, in ihm den Vertreter einer Grundüberzeugung zu sehen, die für die Wissenssoziologie seit ihren Anfängen verbindlich geworden ist: Dass nämlich Wissen, gleich welcher Art, einen sozialen Ursprung hat. Wenn dies die Voraussetzung dafür ist, um als ein Klassiker der Wissenssoziologie zu gelten, lautet die Antwort: Nein, Lévi-Strauss ist kein Wissenssoziologe und kann demzufolge auch keiner ihrer Klassiker sein. Ganz im Gegenteil. Er hat zu der von Durkheim und Mauss vertretenen und bis heute maßgeblichen Auffassung der Wissenssoziologie eine Anti-These vertreten: »Sociology cannot explain the genesis of symbolic thought, but has just to take it for granted in man« (Lévi-Strauss 1945: 518). Wenn man, wie hier geschehen, dennoch Lévi-Strauss in den Reigen der Klassiker der Wissenssoziologie aufnimmt, dann geht das nur, wenn man bereit ist, das Fundierungsverhältnis von Wissenssoziologie und Klassikerstatus herumzudrehen. Nicht also weil ein Autor unzweideutig Wissenssoziologe wäre, ist demnach das Kriterium für seinen Klassikerstatus, sondern umgekehrt: weil er ein klassischer Denker ist, wird er für die Wissenssoziologie relevant. Insofern kommt es im Weiteren darauf an, Lévi-Strauss als einen Klassiker ernst zu nehmen. In der Soziologie gelten Theoretiker als Klassiker, wenn sie für die Gegenwart durch die Fragen, die sie aufgeworfen haben, immer noch aktuell sind: »Klassisch ist eine Theorie, wenn sie einen Aussagezusammenhang herstellt, der in dieser Form später nicht mehr möglich ist, aber als Desiderat oder als Problem fortlebt« (Luhmann 1977: 19). Doch welches Problem hat nun Lévi-Strauss aufgeworfen, das ihn für die Wissenssoziologie der Gegenwart noch relevant macht? Es ist dies eine Anthropologie des Wissens, die, obzwar sie ihre Erkenntnisse an kulturellen Erscheinungen im 20. Jahrhundert gewonnen hat, nichtsdestotrotz für sich in Anspruch nimmt, daran ein, vielleicht sogar das Charakteristikum des menschlichen Geistes studiert zu haben: dessen symbolische Tätigkeit. Lévi-Strauss zufolge vollzieht sie sich diesseits des bewussten Denkens, aber auch jenseits der Gesellschaft. Er hält damit Philosophie und Soziologie gleichermaßen auf Abstand: Indem er einerseits die symbolische Tätigkeit als eine unbewusste Tätigkeit des menschlichen Geistes konzipiert, entzieht er deren Untersuchung der für die Spielarten des menschlichen Zeichengebrauchs traditionell zuständigen Bewusstseins- und Sprachphilosophie. Indem er aber andererseits die Forderung Durkheims bestreitet, derzufolge man »den Symbolismus als vollständig und allein den soziologischen Disziplinen zugehörig [betrachte]« (Lévi-Strauss 1973b: 683), setzt sich Lévi-Strauss auch in Distanz zur traditionellen Wissenssoziologie. Gegen beide Zugriffe auf den Symbolismus setzt Lévi-Strauss eine anthropologische These: Die symbolische Tätigkeit des menschlichen Geistes gehört für ihn zur conditio humana. Allerdings ist der Mensch für Lévi-Strauss nicht deswegen ein animal symbolicum (Cassirer), weil er von Natur aus ein Symbole erfindendes und gebrauchendes Wesen wäre. Die symbolische Tätigkeit des Menschen geht nicht darin auf, besondere, nur ihm eigene symbolische Welten und Typen symbolischer Gestaltungsweisen (Sprache, Mythos, Wissenschaft, aber auch Religion, Kunst etc.) zu erfinden, die von Haus aus dazu geeignet sind, sich durch Sinngebungsprozesse von der natürlichen Welt zu unterscheiden. Im Gegenteil, »Natur« ist, bei Lévi-Strauss sowohl das unverzichtbare Material für die symbolische Tätigkeit, als auch der Inbegriff für deren Verankerung in der organisch-stofflichen Welt. Die symbolische Tätigkeit bringt den Menschen also nicht, wie dieser Begriff aufgrund einer langen Tradition nahe legt, weg von der Natur, sondern umgekehrt: zu ihr hin. Und dieser, durchaus rousseauistische Weg führt bei Lévi-Strauss nicht über den Sinn, sondern die Struktur.
Einer Soziologie des Wissens wird Lévi-Strauss dadurch zum Klassiker ihres schlechten Gewissens gegenüber anthropologischen Thesen, die sie in den vergangenen Dekaden weitgehend ignoriert hat. Indem sie vor allem kulturalistisch argumentierte und Sprache, Macht sowie Diskurse in den Mittelpunkt gestellt hat, ist sie im Reigen der Wissenschaften vom Menschen in den letzten Jahren ins Hintertreffen geraten. Es ist daher an der Zeit, sich darauf zu besinnen, dass eine Soziologie des Wissens nicht darin aufgeht zu fragen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln man etwas über den Menschen vorgeblich weiß. Zu einer anthropologisch informierten Wissenssoziologie gehört auch zu wissen, wie dieser selbst weiß: als ein homo symbolicus.
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil ist historischer Art. Unter der Überschrift »Quellen einer strukturalen Anthropologie« werden biografische, werkgeschichtliche und institutionelle Bedingungen und Gründe für die Entwicklung eines ethnologischen Programms genannt, das Lévi-Strauss zu dem Vater des sozial- und humanwissenschaftlichen Strukturalismus haben werden lassen. Der zweite Teil verfährt systematisch. Hier wird zunächst versucht, die theoretische und praktische Anthropologie anhand der für sie konstitutiven Unterscheidungen zu rekonstruieren. Unter dem Stichwort »Struktur und Sinn« schließt sich daran eine Diskussion methodologischer Aspekte an, ehe verdeutlicht werden soll, inwiefern die Kunst, namentlich die Musik (Leitmotive) für die strukturale Analyse von Lévi-Strauss bedeutsam sind. Der dritte Teil greift schließlich die eingangs gestellte Frage nach einer Soziologie symbolischer Ordnungen wieder auf. Im zweiten Teil des Buches greife ich zum Teil auf Überlegungen zurück, die an anderer Stelle (Kauppert 2008a, 2008b) bereits publiziert worden sind. Erst hier ist jedoch der Kontext gegeben, der ihre Partikularität aufzeigen kann.
I Zu den Quellen einer strukturalen Anthropologie
Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet.
Mythos und Bedeutung, 1980, S. 15
Im ersten Teil des Buches geht es um die Erschließung der Quellen einer strukturalen Anthropologie. Sie bestehen insbesondere aus der Biografie von Lévi-Strauss, aber auch aus zeitgeschichtlichen Hintergründen und institutionellen Kontexten. In diese Entstehungsgeschichte fließt zudem eine Werkgeschichte mit ein, in der die Frage behandelt wird, inwiefern es sich dabei um eine Anthropologie handelt, und was an ihr »struktural« ist.
»Eine meiner beherrschendsten Interessen«
Claude Lévi-Strauss wurde am 28. November 1908 in Brüssel geboren. Vater und Mutter sind Vetter bzw. Cousine zweiten Grades. Vierzig Jahre später, in seinen Elementaren Strukturen der Verwandtschaft (vgl. Teil II, 1. Kapitel), wird Lévi-Strauss die These formulieren, dass die Heirat zwischen Vetter und Cousine ersten Grades in schriftlosen Gesellschaften die Keimzelle der Interaktion zwischen sozialen Gruppen darstellt. Von Cousins ersten Grades unterscheiden sich jene, die durch zweiten Grad miteinander verwandt sind, durch eine Generation: Während Erstere gemeinsame Großeltern haben, müssen Vetter bzw. Cousinen zweiten Grades schon drei Generationen zurückgehen, d.h. zu ihren Urgroßeltern, um auf gemeinsame Ahnen zu stoßen. Im Falle von Lévi-Strauss liegen die familiären Wurzeln im Elsass. Sie sind jüdischen Ursprungs und reichen bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts zurück (vgl. Bertholet 2003: 13). Auf der väterlichen Seite sticht hier insbesondere Isaac Strauss hervor. Der Urgroßvater von Claude Lévi-Strauss, den dieser selbst nie kennengelernt hat, verlässt Straßburg im Jahr 1826, um in Paris als Musiker eine bemerkenswerte Karriere zu machen. Er arbeitet dort mit bekannten Komponisten wie Hector Berlioz (1803–1869) und Jacques Offenbach (1819–1880) zusammen. Drei Generationen später schildert Claude Lévi-Strauss die Auswirkungen dieser Kontakte so: »Offenbachs Musik kannte man in meiner Familie auswendig; sie hat meine ganze Kindheit durchtönt« (Lévi-Strauss 1989: