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Grundriss Wissenschaftsphilosophie: Die Philosophien der Einzelwissenschaften
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eBook1.167 Seiten13 Stunden

Grundriss Wissenschaftsphilosophie: Die Philosophien der Einzelwissenschaften

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Über dieses E-Book

Der Band bietet eine breite Einführung in die Wissenschaftsphilosophie, die sich (anders als die meisten verfügbaren Einführungen) nicht auf bestimmte Themen oder Diskussionslinien der allgemeinen Wissenschaftstheorie beschränkt, sondern die Philosophien der Einzelwissenschaften separat in den Blick nimmt.

Insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten sind die Philosophien der Einzelwissenschaften unter dem Dach der Wissenschaftsphilosophie zunehmend zusammengewachsen als gleichberechtigte, analog strukturierte und oft aufeinander bezogene Arbeitsfelder, die eigenständig, aber in wechselseitigem Bezug auf die allgemeine Wissenschaftsphilosophie diskutiert werden. Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass sich die wichtigsten wissenschaftstheoretischen Debatten immer stärker in den Philosophien der Einzelwissenschaften abspielen.
An diesen Stand der internationalen Diskussion schließt der Band an, der in mehrfacher Hinsicht eine Lücke füllt: Herkömmliche Überblickswerke behandeln oft theoretische Fragestellungen, die sich nur auf bestimmte Wissenschaftsgebiete beziehen lassen, wobei die wissenschaftliche Praxis oft nur als Beispielreservoir für die Theorie dient.

Demgegenüber liegt diesem Band ein breites Wissenschaftsverständnis zugrunde, das alle akademischen Arbeitsbereiche umfasst: neben den Natur- und Lebenswissenschaften etwa auch die Sozial- und Geisteswissenschaften, Rechts- und Ingenieurswissenschaften, Literaturwissenschaften, Geo- und Umweltwissenschaften, Psychologie und Ökonomie. Ausgangspunkt ist die philosophische Untersuchung der einzelnen Wissenschaften mit ihren je eigenen Methoden, Standards und Zielen.

Mit Beiträgen von Richard Bradley, Chris J.J. Buskes, Uljana Feest, Eugen Fischer, Roman Frigg, Jens Greve, Sven Ove Hansson, Catherine Herfeld, Wolfram Hinzen, Dietmar Hübner, Lara Huber, Lara Keuck, Tobias Klauk, Maarten G. Kleinhans, Tilmann Köppe, Meinard Kuhlmann, Simon Lohse, Holger Lyre, Henk de Regt, Julian Reiss, Thomas Reydon, Joachim Schummer, Katie Steele, Erica Thompson, Sven Walter, Charlotte Werndl, Torsten Wilholt, Christian Wüthrich, Benno Zabel und einem ausführlichen Index.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Okt. 2016
ISBN9783787331659
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    Buchvorschau

    Grundriss Wissenschaftsphilosophie - Simon Lohse

    I. Einführung

    1. Einleitung: Zur Ausdifferenzierung der Wissenschaftsphilosophie

    Simon Lohse und Thomas Reydon

    Hintergrund und Zielsetzung des Bandes

    Der vorliegende Band bietet eine fortgeschrittene Einführung in die Wissenschaftsphilosophie. Diese ist nicht auf spezifische Themen oder (historische) Diskussionslinien fokussiert, sondern nimmt die Philosophien der verschiedenen Einzelwissenschaften in den Blick. Dem Band liegt dabei ein Verständnis des Begriffs ›Wissenschaft‹ im deutschen Sinne des Wortes zu Grunde, nach dem Wissenschaft nicht nur die Natur- und Lebenswissenschaften umfasst (im Sinne des englischen ›science‹), sondern alle akademischen Arbeitsbereiche wie die Sozialwissenschaften, die Ingenieurwissenschaften und die Geisteswissenschaften. Dementsprechend werden in diesem Buch nicht nur gut etablierte Teilgebiete der traditionellen Wissenschaftsphilosophie berücksichtigt, die – entsprechend der angloamerikanischen philosophy of science – vor allem auf wenige Grundlagenwissenschaften wie die Physik und die Biologie zielte. Vielmehr werden auch weniger prominente bzw. bislang kaum etablierte Gebiete vorgestellt wie die Philosophie der biomedizinischen Wissenschaften, die Philosophie der Literaturwissenschaft, die Philosophie der Rechtswissenschaft oder die Philosophie der Geo- und Umweltwissenschaften.

    Mit diesem Buch soll eine Lücke in der deutschsprachigen Wissenschaftsphilosophie geschlossen werden. Verfügbare deutschsprachige Lehrbücher und Überblickswerke präsentieren die Wissenschaftsphilosophie typischerweise anhand von Betrachtungen klassischer Fragen und Diskussionen aus der allgemeinen Wissenschaftstheorie.¹ Zu denken wäre hier etwa an die Frage nach der Natur wissenschaftlicher Erklärungen, die Diskussionen um die Reduzierbarkeit der Einzelwissenschaften auf die fundamentale Physik oder um die Rationalität des Theoriewandels in den Wissenschaften, die Frage nach der Bestätigung von Theorien oder die Diskussionen um die Rolle von Naturgesetzen in den verschiedenen Wissenschaften sowie darüber, was Naturgesetze eigentlich sind. In der einschlägigen Literatur werden zwar mitunter auch besonders prominente Themen der Philosophien der Einzelwissenschaften vorgestellt wie das Interpretationsproblem der Quantentheorie oder die Frage nach der Struktur sowie dem Anwendungsbereich der Evolutionstheorie.² Dabei liegt der Fokus allerdings fast ausschließlich auf den physikalischen Grundlagenwissenschaften und der Biologie. Die meisten anderen wissenschaftlichen Disziplinen werden kaum berücksichtigt.³ Der vorliegende Band versucht dagegen eine möglichst breit gefächerte Auswahl des State-of-the-Art der Philosophien der Einzelwissenschaften systematisch vorzustellen.

    Diese Grundidee des Bandes ist vor allem durch die zunehmende Ausdifferenzierung der Wissenschaftsphilosophie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts motiviert. Zogen neben der Physik (und der Mathematik) zunächst vor allem die Biologie, die Psychologie und später Teile der Sozialwissenschaften die Aufmerksamkeit von Wissenschaftsphilosophinnen und Wissenschaftsphilosophen auf sich, so lässt sich mit der Jahrtausendwende feststellen, dass sich eine Vielzahl weiterer Wissenschaftsphilosophien in allen Bereichen der Wissenschaft ausgebildet haben bzw. gerade damit beginnen, sich auszubilden und zu professionalisieren (z. B. durch die Gründung von Forschungsnetzwerken und eigenen Fachzeitschriften). Zum Teil ist diese Entwicklung zweifellos schlicht dadurch begründet, dass sich immer mehr Forschungszweige als eigenständige Wissenschaftsbereiche mit eigenen Fachjournalen, Konferenzen usw. etablieren und somit erst als mögliche Bezugsdisziplinen in den Blick der Wissenschaftsphilosophie geraten können. Zeitgenössische Beispiele für diese Entwicklung sind die Klimawissenschaften oder auch die Kognitionswissenschaft.

    Als Ergebnis dieses Ausdifferenzierungsprozesses spielen sich wissenschaftsphilosophische Debatten zunehmend in den Philosophien der verschiedenen Einzelwissenschaften bzw. diese übergreifend ab. Diese Einwicklung wird in Einführungen und Überblickswerken der Wissenschaftsphilosophie u. E. bislang zu wenig in den Fokus gerückt. Der vorliegende Band soll die wissenschaftsphilosophische Buchlandschaft daher in diesem Punkt ergänzen und eine Orientierungs- und Konsolidierungsfunktion hinsichtlich der Wissenschaftsphilosophien der Einzelwissenschaften erfüllen.

    Dabei soll einerseits die Heterogenität der verschiedenen Wissenschaftsphilosophien gezeigt werden, etwa was spezifische Fragestellungen oder das Verhältnis zur jeweiligen Bezugswissenschaft angeht (Wissenschaftsphilosophie als begleitende Meta-Disziplin zu einer bestimmten Einzelwissenschaft vs. integrierte Wissenschaftsphilosophie). Andererseits sollen auch disziplinübergreifende Zusammenhänge sichtbar(er) gemacht werden; zu denken wäre hier etwa an die Rolle, die Fiktionalität in der Philosophie der Mathematik und der Philosophie der Literaturwissenschaft spielt, an den Stellenwert von narrativen Erklärungen in den Geowissenschaften und der Geschichtswissenschaft oder auch an Ähnlichkeiten zwischen mechanistischen Erklärungen in den Bio- und den Sozialwissenschaften. Der Band soll insofern (nicht zuletzt durch das Sachregister am Schluss) auch eine zweckmäßige Ressource für das Beitreiben von komparativer Wissenschaftsphilosophie sein, die sich u. a. als nützlich für die Gretchenfrage der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie erweisen könnte: Was eigentlich ist Wissenschaft?

    Das Buch zielt zudem auf eine Horizonterweiterung wissenschaftsphilosophischer Diskussionen. Auch weniger prominente Disziplinen, Fragen und Diskussionen sollen in den Vordergrund gerückt und dadurch sowohl für die allgemeine Wissenschaftsphilosophie als auch für die verschiedenen Philosophien der Einzelwissenschaften einsehbar gemacht werden (vgl. dazu den Eröffnungsbeitrag zur allgemeinen Wissenschaftsphilosophie und ihrem Verhältnis zu den Philosophien der Einzelwissenschaften von Meinard Kuhlmann). Generell hoffen wir durch das vorliegende Buch einen Beitrag zur Stärkung und Ausweitung der Wissenschaftsphilosophie im deutschsprachigen Raum zu leisten.

    Das Buch soll einen Überblick zum gegenwärtigen Forschungsstand der verschiedenen Philosophien der Einzelwissenschaften bieten, der sowohl für avancierte Studierende und Doktorandinnen sowie Doktoranden der Philosophie als auch für praktizierende Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler mit einem Interesse an Grundlagenfragen des eigenen Faches zugänglich ist. Die einzelnen Kapitel zielen dementsprechend nicht nur auf ein Publikum, das bereits über vertiefte Vorkenntnisse der Wissenschaftsphilosophie verfügt, sondern auch auf Leserinnen und Leser, die sich zum ersten Mal intensiver mit metatheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Themen befassen. Insofern handelt es sich hierbei um ein einführendes Überblickswerk auf fortgeschrittenem Niveau. Dadurch dass sich die einzelnen Kapitel nicht mit spezifischen Themen oder Fragen, sondern mit der Philosophie einzelner Disziplinen befassen, soll wie oben ausgeführt ein alternativer Zugang zur Wissenschaftsphilosophie geboten werden. Die Kapitel eigenen sich hierbei natürlich auch zur Ergänzung von klassischen Themensegmenten aus der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie. Darüber hinaus wird Forscherinnen und Forschern aus spezifischen Fachgebieten die Möglichkeit geboten, schnell einen Zugang zu den zentralen philosophischen Themen und Problemen ihres eigenen Faches zu bekommen und diesen über die Literaturverweise ggf. zu vertiefen.

    Auswahl der Disziplinen und Struktur des Bandes

    Bei der Auswahl der Einzelwissenschaften, die in den verschiedenen Kapiteln behandelt werden, haben wir uns grundsätzlich von zwei Überlegungen leiten lassen. Erstens haben wir versucht, ein möglichst breites Feld von Disziplinen abzudecken, das sich von den Formal- und Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften bis zu den Lebens- und Ingenieurwissenschaften erstreckt, um der Diversität des Feldes zumindest annährend gerecht zu werden. Da wir aufgrund von pragmatischen und (zeit-)ökonomischen Restriktionen nicht jede einzelne Subdisziplin hier aufnehmen konnten (s.u.), haben wir zweitens eine Mischung aus gut etablierten Wissenschaftsphilosophien (z. B. Philosophie der Physik, Philosophie der Biologie), neueren Subdisziplinen (z. B. Philosophie der Klimawissenschaften, Philosophie der biomedizinischen Wissenschaften) und auch gerade erst in Erscheinung tretenden Wissenschaftsphilosophien (z. B. Philosophie der Rechtswissenschaft, Philosophie der Politikwissenschaft) anvisiert.

    Diese beiden Zielrichtungen des Bandes haben zum einen die Konsequenz, dass einige Kapitel wie etwa dasjenige zur Philosophie der Politikwissenschaft einen stärker programmatischen Charakter haben als andere Kapitel, die eher einen einführenden Überblick über den State-of-the-Art geben. Zum anderen sind dadurch nicht alle etablierten Philosophien der Einzelwissenschaften im Buch enthalten. Wir glauben allerdings, dass einige Diskussionen innerhalb der Wissenschaftsphilosophien der letztgenannten Gruppe durchaus von Beiträgen verwandter Disziplinen in diesem Band erhellt oder bereichert werden können. Zu denken wäre hier etwa an die Debatten um Individualismus vs. Holismus, die nicht nur innerhalb der im Band vertretenen Philosophie der Soziologie eine wichtige Rolle spielen, sondern auch in der Philosophie der Kulturanthropologie; oder auch an Krankheitstheorien, die ähnlich wie im Beitrag zur Philosophie der biomedizinischen Wissenschaften in diesem Band auch in der von uns nicht eigens aufgenommenen – allerdings gut etablierten – Philosophie der Medizin diskutiert werden.

    Natürlich hat bei der Zusammenstellung der Kapitel des Bandes neben sprachlichen und zeitlichen Einschränkungen auch die Frage eine Rolle gespielt, welche Einzelwissenschaften überhaupt als Bezugsgebiete der Wissenschaftsphilosophie auftreten. Zu vielen Gebieten, die sich bislang als eigenständige Wissenschaft etabliert haben, gibt es derzeit entweder keine eigenständige Wissenschaftsphilosophie oder eine solche Wissenschaftsphilosophie befindet sich in einem so frühen Entstehungsstadium, dass noch kaum Spezialistinnen und Spezialisten zur Verfügung stehen, die als Autorinnen und Autoren eines deutschsprachigen Kapitels für das vorliegende Buch in Frage gekommen wären. Ein Beispiel der ersteren Kategorie wäre die Musikologie, zu der es unseres Wissens derzeit keine eigene Wissenschaftsphilosophie gibt. Bereiche, zu denen sich erst in der heutigen Zeit allmählich eigene Wissenschaftsphilosophien herausbilden, sind u. a. die Astrophysik, die Mikrobiologie, die Archäologie, die Pflegewissenschaft, die Computerwissenschaft und die Paläontologie. Zwar gibt es bereits erste Einführungen in diese Philosophien (zur Astrophysik: Anderl 2016; zur Mikrobiologie: O’Malley 2014; zur Archäologie: Wylie 2002; zur Pflegewissenschaft: Risjord 2010; zur Computerwissenschaft: R. Turner 2014; zur Paläontologie: D. Turner 2011), doch ist die Auswahl deutschsprachiger Autorinnen und Autoren hier eben naturgemäß begrenzt. In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass das Kapitel zur Philosophie der Geo- und Umweltwissenschaften aus dem Englischen übersetzt wurde. Dieser Sonderfall ist dem Umstand geschuldet, dass mit Thomas Reydon einer der Herausgeber dieses Bandes gute Kontakte zu den Autoren des entsprechenden Kapitels im englischsprachigen Band von Allhoff (2010) hat und wir vom Verlag dieses Bandes problemlos die Zustimmung erhielten, eine aktualisierte Fassung dieses Kapitels ins Deutsche übersetzen zu lassen und in den Band aufzunehmen.

    Der Band ist in fünf Teile gegliedert. Der einleitende Teil I enthält neben dieser Einführung der Herausgeber ein Kapitel, das den Zusammenhang von allgemeiner Wissenschaftsphilosophie und den Philosophien der Einzelwissenschaften thematisiert und ein besonderes Augenmerk auf das Zusammenspiel von Philosophie, allgemeiner Wissenschaftsphilosophie und Einzelwissenschaften innerhalb der Philosophien der Einzelwissenschaften legt. Dieses Kapitel ist einerseits als Fortführung dieser Einleitung gedacht und erfüllt andererseits eine Bindegliedfunktion zur allgemeinen Wissenschaftsphilosophie. Im II. Teil des Bandes werden die Philosophien der Formal- und Geisteswissenschaften vorgestellt. Darauf folgen Teil III zu den Philosophien der Natur- und Biowissenschaften sowie Teil IV zu den Philosophien der Ingenieur- und interdisziplinären Wissenschaften. Der Band schließt mit einem V. Teil zu den Philosophien der Sozial- und Verhaltenswissenschaften und einem integrierten Sach- und Personenregister.

    Man könnte einen naheliegenden Kritikpunkt zur Gewichtung der einzelnen Wissenschaftsphilosophien formulieren, nämlich dass für die Philosophien der Natur- und Lebenswissenschaften einzelne Kapitel aufgenommen wurden, während die Philosophie der Ingenieurwissenschaften, die ja mindestens genauso divers sind wie die Natur- und Lebenswissenschaften, in einem einzelnen Kapitel behandelt wird. Diese Entscheidung entspringt dem Umstand, dass sich zu den einzelnen Ingenieurwissenschaften, wie der Elektrotechnik oder dem Maschinenbau, bislang keine spezifischen Wissenschaftsphilosophien herausgebildet haben. Vielmehr gibt es die Technikphilosophie, die sich allerdings mit der Technik als Phänomen und nicht mit den technischen Wissenschaften befasst, und die noch sehr junge philosophy of technology, die sich als Wissenschaftsphilosophie der technischen Wissenschaften insgesamt versteht (Reydon 2012; Franssen et al. 2015).

    Da es sich bei den Beiträgen zu den Philosophien der Einzelwissenschaften um Übersichtsarbeiten handelt, sehen wir an dieser Stelle davon ab, einen Überblick über die einzelnen Kapitel zu geben. Wir wollen allerdings einige Aspekte hervorheben, die wir den Autoren der Kapitel als Orientierungspunkte mit auf den Weg gegeben hatten. Zu Beginn der Kapitel sollte ein konziser Abriss der Entwicklungsgeschichte der jeweiligen Wissenschaftsphilosophie erfolgen, bevor dann auf ontologische sowie epistemologische und methodologische Fragestellungen eingegangen wird. Die Kapitel sollten zudem anstreben, neben klassischen Themen mit aktueller Relevanz auch den aktuellen Stand der Forschung und neuere Entwicklungen im Feld zu behandeln und sich damit auf einer forschungsorientierten Ebene zu bewegen. Die Kapitel sollten schließlich mit Literaturempfehlungen der Autorinnen und Autoren enden. Wir sind davon überzeugt, dass diese groben Orientierungspunkte zur durchweg hohen Qualität und einer gewissen Vergleichbarkeit der Kapitel beigetragen haben. Gleichwohl war von uns nicht verlangt oder beabsichtigt, dass diese Punkte in jedem Fall vollständig berücksichtigt werden sollten. Vorrang hat im Zweifelsfall stets die sachliche Logik des jeweiligen Arbeitsbereiches gegeben. Ein Beispiel: Bei der noch relativ jungen Philosophie der Klimawissenschaften wäre es weder sinnvoll gewesen, auf deren geschichtliche Entwicklung einzugehen, noch möglich, umfangreiche Literaturempfehlungen zu geben.

    Danksagung

    Für wertvolle Ratschläge zur Konzeption des Sammelbandes danken wir Nils Hoppe, Till Markus, Paul Hoyningen-Huene und Torsten Wilholt. Koko Kwisda hat uns mit einer überaus gelungenen Übersetzung des Kapitels zur Philosophie der Geo- und Umweltwissenschaften unterstützt. Beim Redigieren der Texte sowie der gesamten Manuskripterstellung haben wir sehr von der stets präzisen und aufmerksamen Unterstützung durch Leon Schäfer profitiert. Unser besonderer Dank gilt auch Marcel Simon-Gadhof vom Meiner Verlag, der uns fachkundig, zuvorkommend und mit viel Geduld bei diesem »Mammutprojekt«, wie es Sven Walter so passend ausgedrückt hat, unterstützt hat. Zuletzt möchten wir uns natürlich auch bei den Autorinnen und Autoren und bei den Peer-Gutachterinnen und -Gutachtern der einzelnen Kapitel bedanken, ohne die dieser Band nicht existieren könnte.

    Literatur

    Allhoff, Fritz (Hg.) (2010). Philosophies of the Sciences: A Guide. Chichester: Wiley-Blackwell.

    Anderl, Sybille (2016). »Astronomy and astrophysics«, in: Humphreys, Paul (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Science, 652–670. New York: Oxford University Press.

    Bartels, Andreas, und Stöckler, Manfred (Hg.) (2007). Wissenschaftstheorie: Ein Studienbuch. Paderborn: Mentis.

    Franssen, Maarten, Lokhorst, Gert-Jan, und van de Poel, Ibo (2015). »Philosophy of Technology«, in: Zalta, E. N. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2015 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/fall2015/entries/technology/.

    Okasha, Samir (2002). Philosophy of Science: A Very Short Introduction. New York: Oxford University Press.

    O’Malley, Maureen (2014). Philosophy of Microbiology. Cambridge: Cambridge University Press.

    Reydon, Thomas (2012). »Philosophy of Technology«, in: Fieser, J. und Dowden, B. (Hg.): Internet Encyclopedia of Philosophy, http://www.iep.utm.edu/technolo/.

    Risjord, Mark W. (2010). Nursing Knowledge: Science, Practice, and Philosophy. Chichester. West Sussex; Ames, IO: Wiley-Blackwell.

    Turner, Derek (2011). Paleontology: A Philosophical Introduction. Cambridge: Cambridge University Press.

    Turner, Raymond (2014). »The Philosophy of Computer Science«, in: Zalta, E. N. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2014 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/win2014/entries/computer-science/.

    Wylie, Alison (2002). Thinking from Things: Essays in the Philosophy of Archaeology. Berkeley, CA: University of California Press.

    ¹ Zum Verhältnis der Label ›Wissenschaftstheorie‹ und ›Wissenschaftsphilosophie‹ zueinander siehe das Kapitel von Meinard Kuhlmann.

    ² Siehe für ein Beispiel im deutschen Sprachraum die Einführung von Bartels/Stöckler (2007) sowie für ein englischsprachiges Beispiel Okasha (2002). Die meisten Einführungen in die Wissenschaftsphilosophie sind ähnlich aufgebaut.

    ³ Das gilt auch für englischsprachige Werke. Die einzige uns bekannte Ausnahme, die uns auch als Inspiration für den vorliegenden Band gedient hat, ist das Buch Philosophies of the Sciences: A Guide (Allhoff 2010).

    2. Allgemeine Wissenschaftsphilosophie und die Philosophien der Einzelwissenschaften

    Meinard Kuhlmann

    1 Einleitung

    Zunächst werde ich das Verhältnis der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie zu den heute florierenden Philosophien der Einzelwissenschaften genauer beleuchten. Die allgemeine Wissenschaftsphilosophie behandelt übergreifende Themen wie Erklärungen, Naturgesetze und Idealisierungen; Philosophien der Einzelwissenschaften sind z. B. Philosophie der Physik, der Biologie und der Ökonomie. Anschließend werde ich einen groben vergleichenden Überblick über die Hauptarbeitsgebiete der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie und der Philosophien der Einzelwissenschaften geben. Schließlich werde ich an zwei Beispielen veranschaulichen, wie sich in den Philosophien der Einzelwissenschaften Philosophie, allgemeine Wissenschaftsphilosophie und Einzelwissenschaften aufeinander beziehen. Ein Ergebnis wird sein, dass es keine kurze Antwort auf die Frage gibt, was Philosophien der Einzelwissenschaften ausmacht, sondern dass sowohl ihre Tätigkeitsfelder als auch ihr Verhältnis zu anderen Bereichen vielfältig und komplex sowie oft wechselseitig gewinnbringend sind.

    2 Rolle der Philosophien der Einzelwissenschaften in der Wissenschaftsphilosophie

    Der Sache nach wird Wissenschaftsphilosophie seit der Antike betrieben, mit herausragenden Arbeiten von Aristoteles, Bacon, Descartes und Mill. Eine gesonderte Disziplin gibt es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gleichwohl nicht. Trotz der großen Wertschätzung, die Aristoteles der erfahrbaren Welt entgegenbrachte, steht er am Anfang einer langen Tradition, nach der gesicherte Erkenntnis ein stabiles Fundament im Denken braucht. Bacon und die späteren britischen Empiristen brachen insofern mit dieser Tradition, als sie dieses Fundament nicht mehr im Denken, sondern in den Beobachtungsdaten sahen. Was aber beide Richtungen eint, ist der Glaube daran, dass es überhaupt ein sicheres Fundament gibt, das sich zum Aufbau von Kategoriensystemen bzw. Begrifflichkeiten sowie weiteren Erkenntnissen eignet. Dies sollte sich im 20. Jahrhundert grundlegend ändern und stellt einen wesentlichen Unterschied zwischen den klassischen Empiristen und den logischen Empiristen des Wiener Kreises dar, welche die moderne Wissenschaftsphilosophie begründen: In der sogenannten Protokollsatzdebatte lässt die Mehrheit der Mitglieder des Wiener Kreises den epistemischen Fundamentalismus schließlich hinter sich.¹ Selbst Beobachtungssätze sind prinzipiell fallibel. Der Anti-Fundamentalismus des Wiener Kreises kommt besonders schön in Neuraths Bild zum Ausdruck, in dem er Wissenschaftler mit Seeleuten vergleicht, die ihr Schiff auf hoher See reparieren müssen, ohne es je in einem Trockendock zerlegen und aus den besten Stücken neu aufbauen zu können (Neurath 1932/33, 206). Gleichwohl behalten Beobachtungssätze im logischen Empirismus epistemisch eine herausragende Position, was den empiristischen Kern dieser Richtung ausmacht, die bis in die 1960er Jahre die Wissenschaftsphilosophie entscheidend prägt. Gleichzeitig ist er die Grundlage für die hohe Wertschätzung, die die logischen Empiristen den empirischen Wissenschaften entgegenbringen. Quines (1953) stichelnde Bemerkung »Philosophy of science is philosophy enough« bringt dies später schön auf den Punkt, auch wenn er ansonsten einer der schärfsten Kritiker des logischen Empirismus ist.² Bezüglich der Erkenntnisgrenzen der Philosophie vertraten die logischen Empiristen eine sehr strikte Position: Philosophie verhandele keine Sachfragen, sondern ihr Geschäft beschränke sich auf die Klärung der begrifflichen und methodischen Grundlagen der Wissenschaften. Aus eigener Kraft könne die Philosophie kein sachhaltiges Wissen gewinnen.³ Philosophie kann also nicht zur Wissensgenerierung beitragen, sie kann nur analytisch ergründen, was Wissenschaft tut und welche begrifflichen Grundlagen Wissenschaft implizit verwendet. Philosophie wird zur »Wissenschaftslogik« – so die von Carnap präferierte Bezeichnung.

    Obwohl die Wissenschaftsphilosophie als Disziplin schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit ersten Lehrstühlen institutionell vertreten ist, bleiben die Bezeichnungen für das Gebiet sowie ganz konkret die Denominationen der entsprechenden Lehrstühle lange sehr uneinheitlich, so etwa »Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften« (Mach) oder »Philosophie der exakten Wissenschaften« (Schlick).⁴ Eine einheitliche Bezeichnung der Disziplin als »Philosophy of Science« prägt sich erst im Zuge ihrer Internationalisierung ab den 1930er Jahren aus.⁵ Im Deutschen wird dagegen der Bezeichnung »Wissenschaftstheorie« der Vorzug gegeben, was auch der mitunter explizit »anti-philosophischen« (Pulte 2004, 977) Einstellung der früheren Vertreter geschuldet sein mag.

    In den letzten Jahren hat sich jedoch die Bezeichnung »Wissenschaftsphilosophie« zunehmend durchgesetzt. Oft wird sie ohne weitere Diskussion synonym zur früher vorherrschenden Bezeichnung »Wissenschaftstheorie« verwendet und ist dann primär Ausdruck einer terminologischen Angleichung an das angelsächsische »Philosophy of Science«. Mitunter wird wohl auch mehr oder weniger bewusst das Wörtchen »Theorie« vermieden, was teils sachlich (Abkehr von Theorienfokussiertheit), teils strategisch (»Wissenschaftsphilosophie« klingt heute einfach ansprechender und inklusiver als »Wissenschaftstheorie«) motiviert sein mag. Mir scheinen mit dem Wandel der Bezeichnungen jedoch noch weiter gehende inhaltliche Veränderungen in der Sicht auf das Fachgebiet sowie von dessen Inhalten und Schwerpunkten verbunden zu sein. Diese Veränderungen haben insbesondere mit der enorm gestiegenen bzw. der nach dem Ende der Dominanz des logischen Empirismus wiedererlangten Bedeutung der Philosophien der Einzelwissenschaften zu tun, was sich auch in ihrem aufgewerteten Verhältnis zur allgemeinen Wissenschaftsphilosophie wiederspiegelt.⁶ Dies gilt natürlich ebenso für die angelsächsische Philosophy of Science – die beiden Communities sind heute ja weniger getrennt denn je – nur konnte es dort keine entsprechende terminologische Änderung geben.

    Sachlich sind viele Diskussionen, die heute in Philosophien der Einzelwissenschaften betrieben werden, zwar mindestens ebenso alt wie die allgemeine Wissenschaftsphilosophie, sie wurden jedoch weitgehend separiert betrieben und waren an verschiedenen Stellen der allgemeinen Philosophie verankert, zunächst weil es die Wissenschaftsphilosophie als separate Disziplin einfach noch nicht gab. Insbesondere in den letzten etwa zwei Jahrzehnten sind die Philosophien der Einzelwissenschaften unter dem Dach der Wissenschaftsphilosophie zunehmend zusammengewachsen als gleichberechtigte, analog strukturierte und oft aufeinander bezogene Arbeitsfelder, die eigenständig in wechselseitiger Kollaboration mit der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie bearbeitet werden. Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass die Musik immer mehr in den Philosophien der Einzelwissenschaften spielt.⁷ Die meisten Wissenschaftsphilosophen haben heute einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Schwerpunkt in einer der Philosophien der Einzelwissenschaften. Wiederum eine Folge hiervon ist, dass die Qualität der in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie diskutierten Beispiele deutlich gestiegen ist, da es eine wachsende Anzahl von Wissenschaftsphilosophen mit sehr soliden einzelwissenschaftlichen Kenntnissen gibt. Die positive Rückwirkung dieser Entwicklung auf die allgemeine Wissenschaftsphilosophie verschafft den Philosophien der Einzelwissenschaften dann auch naheliegender Weise nachhaltig Rückenwind.

    Die Philosophien der Einzelwissenschaften haben wohl vor allem deshalb an Bedeutung gewonnen, weil – wie viele Untersuchungen gezeigt haben – die Wissenschaften einfach zu unterschiedlich sind, als dass man sie über einen Kamm scheren könnte. Während sich beispielsweise in der fundamentalen Physik fast alles um Naturgesetze zu drehen scheint, ist es in der Biologie fraglich, ob es überhaupt Naturgesetze im engeren Sinne gibt. Andererseits sind Mechanismen in der Biologie von überragender Bedeutung, wohingegen sie in der fundamentalen Physik keine Rolle zu spielen scheinen.⁸ Auch Kausalitätstheorien bieten oft sehr verschiedene Antworten, abhängig davon, ob der Fokus z. B. auf Physik, Biologie oder Ökonomik liegt.⁹ Ähnliches gilt für die Debatte um den Erklärungsbegriff: Während das Covering-law-Modell, nach dem wissenschaftliche Erklärungen in der Subsumption unter relevante Gesetze bestehen, in der Physik prima facie eine hohe Plausibilität hat, spielen in der Biologie und den Sozialwissenschaften z. B. mechanistische und funktionale Erklärungen eine mindestens ebenso große Rolle.¹⁰ Diese Unterschiede legen es nahe, der eigenständigen philosophischen Untersuchung von Einzelwissenschaften den Stellenwert zuzumessen, den sie heute auch haben. Zweifellos gibt es viele Gemeinsamkeiten. Es gibt aber nicht die eine richtige oder paradigmatische Wissenschaft beziehungsweise das eine Ideal von Wissenschaftlichkeit, sondern diverse Wissenschaften mit ihren je eigenen Methoden, Standards und Zielen.¹¹

    Im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass es zu Fehlentwicklungen in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie führen kann, wenn Einzelwissenschaften primär als Anschauungsmaterial für generelle Thesen herhalten und nicht hinreichend ernsthaft eigenständig untersucht werden. Das vielleicht wichtigste Beispiel hierfür ist die notorische Theorienfokussiertheit der aus dem logischen Empirismus hervorgegangenen klassischen Wissenschaftstheorie, welche die (theoretische) Physik weitgehend unhinterfragt als Goldstandard von Wissenschaftlichkeit angesehen hat. Der Eindruck scheint nicht ganz unberechtigt zu sein, dass die Begrenztheit einer Wissenschaftstheorie, die sich ganz auf Theorien konzentriert, insbesondere dadurch befördert wurde, dass – pointiert formuliert – vorgefertigte Vorstellungen an die Einzelwissenschaften herangetragen wurden und dabei gezielt nach passenden Beispielen gesucht wurde, anstatt ergebnisoffen danach zu schauen, was Einzelwissenschaften tatsächlich tun. So wurden auf der dogmatischen Grundlage der durch den logischen Empirismus geprägten Wissenschaftstheorie lange Zeit ganze Wissenschaften weitgehend ignoriert, in denen es nicht primär um die Formulierung von Naturgesetzen und Theorien geht, wie insbesondere die Biologie.¹²

    Aber selbst im Umgang mit der Paradedisziplin Physik wurde durch die einseitige Herangehensweise – Einzelwissenschaften als Beispielvorrat – vieles verkannt. So spielen etwa Modelle nicht nur für die Didaktik eine Rolle, sondern sind ein integraler Bestandteil von Wissenschaft, und zwar auch in der Physik.¹³ Und es ist sogar bestreitbar, dass universelle Naturgesetze typisch für die Physik sind.¹⁴ Schließlich wurde die experimentelle Seite der Wissenschaften nicht mit der nötigen Eigenständigkeit untersucht.¹⁵ Anders als beim ersten Punkt – der Diversität der Einzelwissenschaften – gilt der zweite Punkt also bereits für eine bestimmte Wissenschaft wie die Physik: Philosophie einer Einzelwissenschaft ist nicht einfach Anwendung der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie, sondern der Informationsfluss geht in beide Richtungen. Die Ergebnisse der Philosophien einer Einzelwissenschaft sind in gleichem Maße für die allgemeine Wissenschaftsphilosophie relevant wie anders herum (s. a. Abschnitt 3.1).

    Eine wesentliche Funktion der beiden Fallstudien am Ende des Kapitels ist es, genau diese wechselseitige Bedeutung an einer Reihe von konkreten Themen herauszustellen. Ein Beispiel ist der anscheinend unverzichtbare Einsatz mitunter sehr unrealistischer Modelle in der Ökonomie, dem man nicht gerecht wird, wenn man Modelle als Veranschaulichungen oder als vorübergehende bzw. im Prinzip vermeidbare Vereinfachungen versteht. Es ist also erforderlich, umfassender zu untersuchen, worin die Funktion von Modellen besteht. Dabei hat sich gezeigt, dass die frühere Wissenschaftstheorie die Komplexität der Thematik weit unterschätzt hat. Da diese Entwicklung ohne eine eigenständige Untersuchung von Einzelwissenschaften eventuell noch lange auf sich hätte warten lassen, macht dieses Beispiel deutlich, wie die allgemeine Wissenschaftsphilosophie und die Philosophien der Einzelwissenschaften wechselseitig voneinander profitieren können.

    Ein dritter wesentlicher Faktor für den Bedeutungsgewinn der Philosophien der Einzelwissenschaften ist schließlich die Rehabilitierung und wachsende Bedeutung metaphysischer Unter-suchungen, da diese wesentlich mit den Inhalten der einzelnen Wissenschaften und nicht nur mit ihren Methoden zu tun haben. Im Fahrwasser des logischen Empirismus ging es der Wissenschaftsphilosophie lange Zeit ausschließlich oder zumindest primär um erkenntnistheoretische Fragen, wie etwa das Verhältnis von Theorie und Beobachtung oder den Begriff wissenschaftlicher Erklärungen. Die früher gängigere Bezeichnung »Wissenschaftstheorie« schien dafür passend zu sein: So wie physikalische Theorien bestimmte Wirklichkeitsbereiche beschreiben, beschreibt die Wissenschaftstheorie, wie Wissenschaft »funktioniert«. Während diese Charakterisierung für viele erkenntnistheoretisch orientierte Themen in der Wissenschaftsphilosophie auch heute noch angemessen ist, stößt sie insbesondere bei metaphysischen Fragen bezüglich der Einzelwissenschaften an ihre Grenzen. Die Metaphysics of Science beschreibt nicht, wie Wissenschaft funktioniert. Stattdessen versucht sie herauszufinden, welches Bild von der Welt zu den Ergebnissen der jeweiligen Einzelwissenschaften passt, wobei es oft um die Erarbeitung und Bewertung rivalisierender Interpretationen geht.

    Man greift also zu kurz, wenn man sagt, die Aufgabe der Philosophien der Einzelwissenschaften bestehe darin zu beschreiben, wie Einzelwissenschaften im Detail funktionieren, so wie die allgemeine Wissenschaftsphilosophie beschreibt, wie Wissenschaft generell funktioniert¹⁶ – zumindest wenn dies als erschöpfende Charakterisierung gemeint ist.

    Es gibt also insbesondere drei Gründe für den Bedeutungsgewinn der Philosophien der Einzelwissenschaften sowie ihr aufgewertetes Verhältnis zur allgemeinen Wissenschaftsphilosophie. Wie wir sahen, sind diese Gründe erstens ein gestiegenes Bewusstsein für die methodische Diversität der Einzelwissenschaften, zweitens, eng damit verbunden, das Erkennen von Defiziten einer allgemeinen Wissenschaftsphilosophie, die Einzelwissenschaften bloß als Vorrat von Anwendungsbeispielen betrachtet, und drittens die gewachsene Bedeutung metaphysischer Untersuchungen, welche die Inhalte der einzelnen Wissenschaften in den Blick nehmen und abhängig von der jeweils betrachteten Einzelwissenschaft stark divergieren. Diese Gründe lassen sich in drei Thesen zuspitzen. Erstens gibt es nicht die eine paradigmatische Wissenschaft, sondern in vielen Hinsichten verschiedene Wissenschaften, die in den Philosophien der Einzelwissenschaften eigenständig untersucht werden. Zweitens besteht die Philosophie einer Einzelwissenschaft nicht einfach in der Anwendung der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie. Und drittens ist für die Metaphysik der Wissenschaft eine detaillierte Beschäftigung mit den Inhalten der einzelnen Wissenschaften nötig.

    3 Allgemeine Wissenschaftsphilosophie und Philosophien der Einzelwissenschaften: Vergleich der Arbeitsfelder

    Im Folgenden möchte ich für zwei Frageperspektiven etwas eingehender erörtern, in welchem Verhältnis die Philosophien der Einzelwissenschaften zur allgemeinen Wissenschaftsphilosophie stehen.

    3.1 Methodologie und Erkenntnistheorie

    Während die allgemeine Erkenntnistheorie die Begriffe Wissen und Wahrheit, das Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit sowie die Zuverlässigkeit und die Grenzen des Wissens ganz allgemein untersucht, thematisiert die Wissenschaftsphilosophie erkenntnistheoretische Fragen, die sich spezifisch bezüglich der Wissenschaften stellen.¹⁷ Dies kann sich wiederum auf die Wissenschaften generell oder auf bestimmte Einzelwissenschaften beziehen, während die allgemeine Erkenntnistheorie in der Regel eher die Erkenntnis von Alltagsgegenständen betrachtet. So werden etwa in der generellen wissenschaftsphilosophischen Realismusdebatte Argumente für und wider den Realismus formuliert, die sich z. B. aus der Wissenschaftsgeschichte ergeben. So zieht etwa das Argument der pessimistischen Metainduktion (Laudan 1981) aus der faktischen Falschheit fast aller bisherigen Theorien den pessimistischen Schluss auf die hoch wahrscheinliche Falschheit der heutigen Theorien.

    Was die Realismusdebatte zu einem typischen Thema der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie macht, ist die Art der Argumente. Es geht nicht um irgendwelche speziellen Theorien oder Wissenschaften, sondern die Argumente stützen sich in der Regel auf die Betrachtung von Theorien und Wissenschaften über die Jahrhunderte hinweg. Es gibt aber auch spezielle wissenschaftsphilosophische Realismusdebatten, die sich auf bestimmte Einzelwissenschaften beziehen. Beispielsweise in der Debatte zum ontischen Strukturenrealismus geht es (zumindest bisher) fast ausschließlich um die Philosophie der Physik, insbesondere die Quantenphysik.¹⁸ Wir werden einige Argumente zugunsten dieser Position im zweiten Beispiel – zur Ontologie der Quantenphysik – kennenlernen.

    Neben der Realismusdebatte gibt es viele weitere erkenntnistheoretische beziehungsweise methodologische Themen, die sowohl in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie als auch in den verschiedenen Philosophien der Einzelwissenschaften behandelt werden und jeweils eine eigenständige Ausprägung haben. Bei den eng zusammenhängenden Themen Idealisierung und Modelle lässt sich dies besonders gut beobachten. Einerseits gibt es in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie ausführliche Debatten dazu, welchen Grundtypen von Idealisierungen es gibt und welche Funktionen Modelle haben können. So besteht etwa eine Hauptform von Idealisierung in nur temporären Vereinfachungen, um komplexe Probleme rechnerisch handhabbar zu machen. Daneben gibt es aber auch Idealisierungen, die nicht nur vorübergehend sind, sondern Faktoren ausblenden, die bezüglich des Erklärungsziels irrelevant sind. Diese allgemeine Debatte degradiert Untersuchungen zu Idealisierungen in bestimmten Einzelwissenschaften jedoch keineswegs zu bloßen Anwendungen. Beim Homo-Oeconomicus-Ansatz der Wirtschaftswissenschaften etwa, nach dem Menschen in Ihrem Handeln als rationale Nutzenmaximierer mit vollständiger Kenntnis der Handlungsalternativen, klarer Präferenzordnung und unbeschränkten Rechenkapazitäten modelliert werden, ist der Status der Idealisierungen hoch umstritten. Es ist weder unmittelbar klar, um welchen Typ von Idealisierung es sich handelt, noch, ob die gemachten Idealisierungen legitim sind. Da die Idealisierungen in vielen real verwendeten ökonomischen Modellen nur sehr schwer in die Taxonomie der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie einzuordnen sind, ist es unverzichtbar, Idealisierungen und Modelle auch spezifisch mit Blick auf die Wirtschaftswissenschaften zu untersuchen. Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, profitieren die allgemeine Wissenschaftsphilosophie und die verschiedenen Philosophien der Einzelwissenschaften hierbei in vielfältiger Weise voneinander, ohne dass die allgemeine und die spezifische Perspektive einander überflüssig machten. Ähnliches ließe sich bei Themen wie Theorienbestätigung, wissenschaftliche Erklärungen und Simulationen zeigen.¹⁹

    Unter anderem profitieren die Philosophien der Einzelwissenschaften dadurch von der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie, dass letzterer ein viel größeres Arsenal von Wissenschaften zur Verfügung steht. Hierdurch kann sich etwa der Vorteil ergeben, dass sich Taxonomien schärfer fassen lassen, da es wahrscheinlicher ist, bestimmte Typen z. B. von Idealisierungen in Reinform anzutreffen. So kommt es der Philosophie der Wirtschaftswissenschaften erheblich zugute, dass sich Typen von Idealisierungen in der Physik oft leichter erkennen lassen und Grundlage für die Begriffsbildung in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie sind. In diesem Fall profitiert also die Philosophie einer Wissenschaft von der Philosophie einer anderen Wissenschaft vermittelt über die allgemeine Wissenschaftsphilosophie.²⁰ Aber es fließt auch Gewinn in die andere Richtung: Die erheblichen Probleme bei der Frage, ob und gegebenenfalls wodurch Idealisierungen in den Wirtschaftswissenschaften gerechtfertigt sind, sowie die Ansätze, mit diesen Problemen umzugehen, können ihrerseits zu einem Überdenken der allgemeinen Thematik führen. Es ist kein Zufall, dass Nancy Cartwright oft Wirtschaftswissenschaften und Physik in ein und demselben allgemeinen Zusammenhang diskutiert, seien dies Kausalität, Naturgesetze oder Modelle. Oft gerät hierbei eine weithin akzeptierte wissenschaftsphilosophische Theorie, die ursprünglich aus der Physik abstrahiert wurde, bei den Wirtschaftswissenschaften an ihre Grenzen und führt dazu zu hinterfragen, wieweit die angestammte Theorie bei ihrem Paradebeispiel Physik tatsächlich zutreffend ist. Ein Prozess genau dieser Art hat dazu beigetragen, dass heute ceteris paribus Gesetze nicht mehr als Ausnahme, sondern als Regel angesehen werden, und zwar auch in der Physik. Ohne das Wechselspiel von allgemeiner Wissenschaftsphilosophie und verschiedenen Philosophien der Einzelwissenschaften wäre dies eventuell nicht oder nicht so schnell passiert.

    3.2 Interpretation und Ontologie

    Um ontologische (oder »metaphysische«) Untersuchungen in der Wissenschaftsphilosophie zu charakterisieren, sind zunächst zwei Abgrenzungen nötig, und zwar einerseits gegen die allgemeine philosophische Disziplin Ontologie und andererseits gegen die jeweiligen Einzelwissenschaften selbst. Anders als die Erkenntnistheorie beschäftigt sich Ontologie mit den Inhalten unseres Wissens, und zwar bezüglich der allgemeinsten Strukturen des Seienden. Die Ontologie sucht insbesondere nach den fundamentalen Kategorien, in die alles, was existiert, eingeordnet werden kann. Dabei geht es seit Aristoteles’ Schrift Kategorien traditionell zunächst einmal darum, aufzulisten, welche Kategorien es überhaupt gibt und wie diese zu charakterisieren sind. Aristoteles hatte als erster Philosoph klar gesehen, dass es eine ganze Reihe verschiedener Typen von Seiendem gibt und dass man (wie einige Vorsokratiker) in Widersprüche gerät, wenn man einfach alles in einen Topf wirft. Einige der wichtigsten Kandidaten von Kategorien des Seienden sind Dinge oder »Substanzen«, Eigenschaften, Relationen und (in der modernen Diskussion) Sachverhalte. Aristoteles unterschied aber nicht nur verschiedene Typen des Seienden, sondern er argumentierte auch dafür, dass Dinge bzw. »Substanzen« vor Seiendem aus allen anderen Kategorien ausgezeichnet sind. Nur Substanzen sind in dem Sinne zu eigenständiger Existenz fähig, dass sie auf nichts (bestimmtes) anderes angewiesen sind. Anders sehe dies etwa bei Eigenschaften aus, die immer Eigenschaften von etwas sind und nicht alleine existieren können. Auch heute noch stellen sich ontologische Fragen vom Typ her ganz ähnlich wie bei Aristoteles, und dies gilt sowohl für die allgemeine Ontologie als auch für speziellere bzw. bereichsspezifische Fragen in der Wissenschaftsphilosophie. Eine zweite wesentliche Aufgabe der Ontologie besteht darin zu klären, in welchem Verhältnis die Kategorien zueinander stehen. Sind Eigenschaften Teile von Dingen? Oder lassen sich die konkreten Vorkommnisse von Eigenschaften gar nicht anders fassen als über die Dinge, an denen sie auftreten? Sind Sachverhalte wie das Kochen eines Topfes Wasser nur Komposita aus Dingen und ihrem jeweiligen Verhalten oder sind Sachverhalte evtl. sogar die fundamentalen Bestandteile der Welt?

    Die bisherige Charakterisierung bezieht sich auf Ontologie bzw. Metaphysik ganz allgemein. Bezogen auf Wissenschaften sehen die Fragen etwas anders aus. Meist sind sie spezifischer. Dies muss jedoch nicht immer der Fall sein. Gelegentlich kommen in der Wissenschaftsphilosophie auch sehr grundsätzliche ontologische Fragen bzw. Ansätze auf, wie etwa beim oben bereits erwähnten Strukturenrealismus. »Metaphysik der Wissenschaft«²¹ – so eine heute sehr gängige Bezeichnung für die ontologischen Bereiche der Wissenschaftsphilosophie – kann sich einerseits auf generelle Themen beziehen, wie Kausalität, Naturgesetze oder natürliche Arten, und ist dann Teil der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie. Andererseits gibt es auch zahllose metaphysische Fragen zu bestimmten Einzelwissenschaften, wie etwa die Unterscheidbarkeit und Individualität von Quantenobjekten²², die Frage, ob Gene materielle Einzeldinge sind²³ oder der ontologische Status sowie die kausale Rolle von sozialen Gruppen²⁴. Daher wäre es auch nicht angemessen, die Ontologie nur in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie zu verorten (wie in Scholz 2013). Tatsächlich werden klassische ontologische Fragen wie etwa die Individualität von Dingen oder das Verhältnis von Dingen und Eigenschaften in den Philosophien der Einzelwissenschaften sogar häufiger behandelt als in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie.

    Wenn es sich bei den betrachteten Einzelwissenschaften um Naturwissenschaften handelt, spricht man heute im Deutschen auch oft von »moderner Naturphilosophie«.²⁵ In der modernen Naturphilosophie geht es an erster Stelle darum, die Ergebnisse der Naturwissenschaften ontologisch zu erfassen und zu interpretieren.²⁶ Typische Fragen der modernen Naturphilosophie sind dabei von der folgenden Art²⁷:

    – Von welcher Art sind die Grundbausteine der Welt laut Theorie T?

    – Existieren Raum und Zeit bzw. Raumzeitpunkte als unabhängige »Gegenstände« oder sind sie lediglich konzeptionelle Werkzeuge, um die Relationen von materiellen Dingen zu erfassen?

    – Unter welchen Voraussetzungen kann man sagen, dass die Entstehung von Leben mit Physik und Chemie erklärbar ist?

    – Sind Bewusstsein, Absichten und Gefühle auf neurobiologische Vorgänge reduzierbar?

    Anders als die allgemeine philosophische Disziplin Ontologie untersucht die moderne Naturphilosophie die Ontologie bezüglich bestimmter Teilbereiche der natürlichen Welt. Genau genommen betrachtet die moderne Naturphilosophie diese Teilbereiche allerdings nicht direkt, sondern mittels der Ergebnisse, die in den jeweiligen Einzelwissenschaften erzielt wurden, also z. B. in der Physik, der Biologie, den Neurowissenschaften oder der Psychologie. Die moderne Naturphilosophie steht damit insofern in der sprachanalytischen Tradition, als ihr unmittelbarer Gegenstand nicht die Welt selbst ist, sondern unsere Sprache beziehungsweise unsere Theorien. Und aus eben diesem Grunde gibt es oft wichtige Zusammenhänge zwischen Überlegungen in der modernen Naturphilosophie und solchen in der allgemeinen Wissenschaftstheorie, wenn es z. B. darum geht, die relevanten wissenschaftlichen Theorien richtig einzuordnen.

    Ein wichtiges Beispiel ist die Reduktionsdebatte, genauer die Reduktionsdebatten. Auf der wissenschaftstheoretischen Seite gibt es die Debatte um die Theorienreduktion, die im Wiener Kreis als die primäre und tendenziell einzig sinnvolle Debatte angesehen wurde.²⁸ Dabei geht es einerseits um die Frage, ob innerhalb einer Wissenschaft eine Theorie T1 auf eine andere Theorie T2 reduzierbar ist, indem sie entweder deduktiv aus dieser ableitbar ist oder unter bestimmten Näherungen als Spezialfall aus dieser hervorgeht. Vieldiskutierte Beispiele für das Paar T1 / T2 sind Thermodynamik/Statistische Physik sowie klassische Mechanik/spezielle Relativitätstheorie. Die Theorien T1 und T2 müssen aber nicht aus derselben Wissenschaft stammen, sondern man kann andererseits auch die Frage stellen, ob etwa die Biologie auf die Organische Chemie oder die Chemie auf die Quantenphysik reduzierbar ist. Während z. B. das Verhalten von Kochsalz (NaCl) zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitunter als Paradebeispiel für »emergentes« Verhalten²⁹ galt, da seine Bestandteile, also das Metall Natrium und das Gas Chlor, ja offensichtlich völlig andere Eigenschaften haben als Salz, wurde es mit der Quantenchemie schließlich möglich, die chemische Theorie, die das Verhalten von Kochsalz beschreibt, komplett auf die Quantenchemie zu reduzieren. Hier hat also eine Theorienreduktion eine ontologische Frage gelöst, nämlich die Frage, ob das Verhalten von Kochsalz ein Fall emergenten Verhaltens ist.

    Wie Nagel jedoch gezeigt hat, sind bei Theorienreduktionen oft sogenannte Brückengesetze unverzichtbar, welche eine Reduktionsbeziehung zwischen Theorien, die mit ganz unterschiedlichen Begrifflichkeiten arbeiten, überhaupt erst ermöglichen. Wie die folgende Diskussion gezeigt hat, können es diese Brückengesetze aber in sich haben. Es sind keine harmlosen terminologischen Setzungen, sondern in ihnen können ontologische (Identitäts-)Behauptungen stecken, die von entscheidender Bedeutung für die Frage ontologischer Reduzierbarkeit sind, womit wir zu einer genuin naturphilosophischen Thematik vorstoßen.

    Bei ontologischer Reduzierbarkeit geht es nicht um formallogische Beziehungen zwischen Theorien, sondern um die Frage, ob gegebene Entitäten oder Bereiche oder Ebenen von anderen Entitäten oder Bereichen oder Ebenen vollständig bestimmt sind.³⁰ Natürlich können die betreffenden Entitäten durch bestimmte Theorien beschrieben sein, wie etwa Thermodynamik und Statistische Physik, so dass die Frage der Theorienreduktion eng mit der der ontologischen Reduzierbarkeit zusammenhängen kann. Dies muss aber nicht der Fall sein, z. B. dann nicht, wenn die fraglichen Entitäten gar nicht durch Theorien beschrieben werden, die eine Form haben, die die Untersuchung formallogischer Beziehungen zu anderen Theorien überhaupt zulässt.

    Eine Grundlage für die Behauptung ontologischer Reduzierbarkeit könnte z. B. darin bestehen, dass eine enge Korrelation zwischen zunächst wesensverschieden erscheinenden Vorgängen festgestellt wird. Beispiele hierfür lassen sich finden im Zusammenhang mit bildgebenden Verfahren in der Neurowissenschaft, wie der Magnetresonanztomographie (MRT). Wenn festgestellt wird, dass bestimmte Hirnregionen immer und nur dann aktiv sind, wenn sich eine Person an etwas erinnert, dann scheint es nahezuliegen, die funktionale Einheit »Gedächtnis« mit dem so lokalisierten Hirnareal zu identifizieren. Dies könnte ein Beispiel für eine ontologische Reduktion ohne Theorienreduktion sein, denn eine Vorstellung davon, wie das Gedächtnis funktioniert, liefert die MRT ja überhaupt nicht und erst recht keine ausgefeilte Theorie, die als Basis einer Theorienreduktion fungieren könnte.

    Als Zwischenfazit soll an dieser Stelle ausreichen, dass die Debatte um die Theorienreduktion eine große Relevanz für die Frage ontologischer Reduzierbarkeit haben kann, aber nicht haben muss. Und dies ist eine generische Feststellung für das Verhältnis von allgemeiner Wissenschaftsphilosophie und ontologischen Untersuchungen in den Philosophien der Einzelwissenschaften. Überlegungen der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie können eine große Bedeutung für diese Spezialbereiche haben, ob dies tatsächlich der Fall ist, hängt aber oft vom Einzelfall ab.

    Abschließen möchte ich mit einer kurzen Bemerkung zur Rolle von ontologischen Überlegungen in Philosophien nicht-naturwissenschaftlicher Einzelwissenschaften. Obwohl die Philosophie der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wie auch die Philosophie der Geschichte im Prinzip gleichberechtigt zur Wissenschaftsphilosophie gehören wie auch die Philosophie der Physik oder der Biologie, ist es zumindest bisher ein Faktum, dass in Zeitschriften für Wissenschaftsphilosophie oder Philosophy of Science deutlich weniger zu diesen Feldern erscheint.³¹ Ontologische Fragen – wie zur Sozialontologie – werden auch in der allgemeinen Philosophie behandelt statt nur in der Wissenschaftsphilosophie beziehungsweise der Philosophie der Sozialwissenschaften; ganz im Gegensatz zur Ontologie der Naturwissenschaften, die einen erheblichen Teil der aktuellen Publikationen in den Philosophien der Einzelwissenschaften ausmacht und auch primär dort thematisiert wird.

    Nachdem wir nun ontologische Untersuchungen in den Philosophien der Einzelwissenschaften gegen die allgemeine philosophische Disziplin Ontologie abgegrenzt haben, bleibt zu klären, worin der Unterschied zu dem besteht, was die jeweiligen Einzelwissenschaften selbst tun. Kurz gesagt, ist der Fragentyp in den Philosophien der Einzelwissenschaften in zwei Hinsichten anders als in den Einzelwissenschaften selbst. Erstens sind die Fragen sehr grundsätzlich und zweitens sind sie im Normalfall nicht oder zumindest nicht unmittelbar empirisch entscheidbar. Was dies im Einzelnen bedeutet, werde ich im folgenden Hauptabschnitt untersuchen, in dem es allgemein um das Verhältnis der Philosophien der Einzelwissenschaften zu den Einzelwissenschaften geht.

    4 Verhältnis der Philosophien der Einzelwissenschaften zu den Einzelwissenschaften

    Es gibt mindestens zwei verschiedene Sichtweisen zum Verhältnis der Philosophien der Einzelwissenschaften zu den Einzelwissenschaften. Einerseits werden Philosophien der Einzelwissenschaften als Fortsetzung der Einzelwissenschaften eingeordnet und zwar in dem Sinne, dass kein grundsätzlicher Unterschied zwischen beiden besteht. Abhängig davon, wie diese Fortsetzung gesehen wird, gibt es einige verschiedene Ansätze, die ich als »Kontinuitätsthesen« bezeichne. Andererseits gibt es die wohl gängigere Sicht, dass Philosophie und mithin Wissenschaftsphilosophie grundsätzlich andere Fragen haben als die Einzelwissenschaften. Ich bezeichne die verschiedenen Ausgestaltungen dieser Sichtweise als »Differenzthesen«.

    4.1 Kontinuitätsthesen

    Der wohl prominenteste Vertreter einer Kontinuitätsthese ist Quine, nach dessen Naturalisierungsprojekt – »philosophy is continuous with natural science« – es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Philosophie und Erfahrungswissenschaften gibt.³² Diese These ist ausdrücklich dem logischen Empirismus entgegengesetzt, welcher die Wissenschaftsphilosophie als rein analytisches Metageschäft sieht, das sich nicht mit Dingen und Sachverhalten in der realen Welt, sondern mit sprachlichen Entitäten, spezieller: wissenschaftlichen Theorien beschäftigt. Quines Kontinuitätsthese liegt in seiner bekannten Kritik am logischen Empirismus begründet: Da es keine klare Trennung von analytischen und synthetischen Urteilen gebe³³, sei es auch nicht angemessen, (angeblich) synthetische, weil empirische Erkenntnisse der Einzelwissenschaften von (angeblich) analytischen, weil nur die Sprache bzw. Theorien der Wissenschaften zergliedernde Erkenntnisse der Wissenschaftsphilosophie zu unterscheiden. Zugeschnitten auf unsere Thematik ist die These also folgende:

    Kontinuitätsthese 1: Es gibt keine scharfe Grenze zwischen den Philosophien der Einzelwissenschaften und den Einzelwissenschaften selbst, da dies eine klare Unterscheidung von analytischen Metabetrachtungen einerseits und synthetischem Erfahrungswissen andererseits voraussetzen würde.

    Kontinuitätsthese 1 bezieht sich aufgrund ihrer sehr grundsätzlichen Begründung auf alle Bereiche der Wissenschaftsphilosophie. Hasok Chang (1999) vertritt ebenfalls eine Kontinuitätsthese, jedoch ist er weniger radikal als Quine, da er nur für ein Tätigkeitsfeld der Wissenschaftsphilosophie ein Kontinuum von den Philosophien der Einzelwissenschaften zu den entsprechenden Einzelwissenschaften sieht, auch wenn Chang dieses Tätigkeitsfeld anscheinend für das wichtigste hält. Chang argumentiert, dass die Wissenschaftsphilosophie in ihrem »komplementären Modus« dieselben Typen von Untersuchungen durchführt wie in den Einzelwissenschaften.³⁴ Der Unterschied sei, dass die Fragen, die die Wissenschaftsphilosophie bearbeitet, gegenwärtig in den Einzelwissenschaften nicht verfolgt werden, da diese primär an einem oder wenigen Paradigmen arbeiten:

    »…HPS in its complementary mode is not about science. Instead, its aims are continuous with the aims of science itself, although the specific questions that it addresses are precisely those not addressed by current science.« (S. 420)

    Als »komplementär« bezeichnet Chang diesen Modus deswegen, da er einen Ausweg aus dem Dilemma darstellt, dass Wissenschaften einerseits nur effektiv funktionieren, wenn sie in den Phasen, die Kuhn normal science nennt, das herrschende Paradigma unhinterfragt akzeptieren und gegen Kritik abschotten, andererseits bei diesem dogmatischen Vorgehen potentiell kostbare Alternativansätze absterben lassen. Genau hier kann Wissenschaftsphilosophie unterstützend oder »komplementär« wirken, indem sie bedrohte Alternativansätze weiter kultiviert und untersucht. Philosophien der Einzelwissenschaften wären danach eine Fortsetzung der Einzelwissenschaften, so dass Philosophie der Einzelwissenschaften und Einzelwissenschaften ein Kontinuum bilden würden:

    Kontinuitätsthese 2: Philosophien der Einzelwissenschaften in ihrem »komplementären Modus« gleichen dem, was Einzelwissenschaften in revolutionären Phasen tun. Dabei beschäftigen sie sich mit den Theorien, die mit den gegenwärtig bestimmenden Paradigmen der Einzelwissenschaften nicht verträglich sind und eine effektive normalwissenschaftliche Arbeit stören würden.

    Chang weist zwar ausdrücklich darauf hin, dass es neben dem »komplementären Modus« der Wissenschaftsphilosophie noch diverse andere Modi gibt. Hier interessiert aber eher die Frage, ob es überhaupt einen fließenden Übergang zwischen Philosophien der Einzelwissenschaften und Einzelwissenschaften gibt, und sei es auch nur in bestimmten Feldern oder Hinsichten.

    Eine weitere Art von Kontinuitätsthese besagt, dass ein wesentlicher Teil der Philosophien der Einzelwissenschaften mit Grundlagenfragen bezüglich der Einzelwissenschaften befasst ist, die in gleicher Weise auch in den betreffenden Wissenschaften selbst faktisch verfolgt werden (und nicht nur verfolgt werden könnten wie in Changs Sicht). Danach gäbe es einen Überschneidungsbereich von gemeinsamen Themen, wobei es weitgehend bedeutungslos ist, ob diese Themen von jemandem behandelt werden, der offiziell z. B. als Philosoph der Sozialwissenschaften angestellt ist oder als Sozialwissenschaftler. Damit wären Ergebnisse der Philosophien der Einzelwissenschaften auch unmittelbar für die Einzelwissenschaften selbst relevant. Tatsächlich ist die Abgrenzung von Philosophien der Einzelwissenschaften und den entsprechenden Einzelwissenschaften auch wesentlich weniger trennscharf als die zwischen allgemeiner Wissenschaftsphilosophie und den Wissenschaften.

    Kontinuitätsthese 3: Philosophien der Einzelwissenschaften beschäftigen sich u. a. mit Grundlagenfragen bezüglich der Einzelwissenschaften, die teilweise auch in den betreffenden Wissenschaften selbst untersucht werden. Auch wenn die Philosophien der Einzelwissenschaften dabei mitunter etwas anders vorgehen als die Einzelwissenschaften, sind die Ziele weitgehend dieselben.

    Neben dem berühmten Feld der Grundlagen der Quantenmechanik gibt es seit wenigen Jahren z. B. auch im Bereich der Klimaforschung interessante Beispiele. So verwendet Frigg (2015, Sektion 6) eine philosophische Diskussion des »principle of indifference«, um zu zeigen, dass gewisse Grundannahmen, die in den Berechnungen gängiger Weise gemacht werden, nicht haltbar sind (↑ Philosophie der Klimawissenschaften).

    Eine vierte Spielart der Kontinuitätsthese besagt, dass heute ein fließender Übergang zwischen Philosophien der Einzelwissenschaften und den entsprechenden Einzelwissenschaften besteht, da Philosophien der Einzelwissenschaften in vielen Bereichen stark spezialisiert sind, was mit formal anspruchsvolleren Arbeitsweisen einhergeht, die genau so auch in den Einzelwissenschaften selbst eingesetzt werden – wie etwa Reiss (2013, 2–6) argumentiert. So werden in der Philosophie der Wirtschaftswissenschaften heute oft spieltheoretische Methoden eingesetzt und in der Philosophie der Physik formale Beweise geführt.

    Kontinuitätsthese 4: Philosophien der Einzelwissenschaften sind heute so stark spezialisiert und benutzen formal so fortgeschrittene, oft mathematische Methoden, dass eine scharfe Grenze zu den betreffenden Einzelwissenschaften nicht mehr gezogen werden kann.

    Es spricht also einiges dafür, die Arbeit in den Philosophien der Einzelwissenschaften und in den Einzelwissenschaften selbst als Kontinuum zu sehen, und zwar sowohl in den Inhalten/Fragestellungen wie auch in den Methoden. In einigen Teilbereichen ist dies auch zweifellos ein Faktum. Die Frage ist allerdings, ob Kontinuität eher die Regel oder die Ausnahme ist. Während wohl die Mehrheit der PhilosophInnen der Einzelwissenschaften eine Kontinuitätsthese für richtig hält (oft These 3), würden allgemeine WissenschaftsphilosophInnen wahrscheinlich mehrheitlich eine Differenzthese unterschreiben. Worin die Differenz gesehen wird, schauen wir uns nun genauer an.

    4.2 Differenzthesen

    Wie bereits aus Quines oben erläuterter Kritik an den logischen Empiristen klar wurde, vertraten Letztere dezidiert eine Differenzthese. So schreibt Carnap (1934):

    »Philosophie ist Wissenschaftslogik, d. h. logische Analyse der Begriffe, Sätze, Beweise, Theorien der Wissenschaft, […]« (S. 111) »[…] sie ist formale Strukturtheorie der Wissenschaftssprache« (S. 115).

    Das, was für ihn von naturphilosophischen, also ontologischen Fragen überhaupt verbleibt, sieht Carnap (1950) als rein sprachinterne Untersuchungen. Die Differenzthese des Wiener Kreises einerseits und Quines Kontinuitätsthese andererseits sind die beiden unversöhnlichen Antipoden in unserer Debatte. Der generellen Sicht des Wiener Kreises darauf, wie sich Wissenschaftsphilosophie von den Wissenschaften selbst unterscheidet, dürften auch heute noch viele Wissenschaftsphilosophen zustimmen – trotz aller Kritik in vielen anderen Hinsichten. Nach dieser Sicht sind Philosophien der Einzelwissenschaften also Metatheorien. Sie stellen keine unmittelbaren Behauptungen über die Welt auf, sondern wählen einen »Zugang zweiter Stufe« (Carrier 2007, 15), d. h. vermittels der Reflektion auf die Methoden und Ergebnisse der Wissenschaften. Nach dieser Sicht sind die Fragen, die Vorgehensweise und die Ziele der Wissenschaftsphilosophen prinzipiell anders als die der Einzelwissenschaftler und treten daher auch in keine Konkurrenz.

    Man könnte nun annehmen, dass die Wissenschaftler doch am besten angeben können müssten, was sie tun und was ihre Ergebnisse uns über die Welt sagen. Tatsächlich ist dies aber nicht der Fall, auch wenn Wissenschaftler das mitunter ganz anders sehen. Ein kurzer Blick auf analoge Arten von Metabetrachtungen macht jedoch klar, dass diese Behauptung weder ehrabschneiderisch noch erstaunlich ist. Auch Fußballspieler und Künstler sind nicht (zumindest nicht qua Fußballspieler und Künstler) am besten befähigt, über Ihre Arbeit zu sprechen, sie müssen sie nur gut beherrschen. Wissenschaftsphilosophie reflektiert über die Methoden, Begriffe und Inhalte der Wissenschaften und verschafft so der Gesellschaft Klarheit darüber, was Wissenschaft tut und welches Bild von der Welt sie zeichnet. Dies mag auch für den einen oder anderen Wissenschaftler von Interesse sein, nur in wenigen Fällen jedoch für den Wissenschaftler qua Wissenschaftler.³⁵ Formulieren wir die erste Differenzthese, die ihren Ursprung im Wiener Kreis hat, nochmal spezifisch mit Blick auf unsere Thematik:

    Differenzthese 1: Philosophien der Einzelwissenschaften befinden sich auf einer Metaebene bezüglich der jeweils betrachteten Einzelwissenschaften. Anders als Letztere streben Philosophien der Einzelwissenschaften kein Sachwissen über die Welt an, sondern reflektieren in analytischer Weise über die Methoden, Begriffe und Inhalte der Wissenschaften.

    Solange es um die Methoden der Wissenschaften geht, ist es wohl noch relativ unkontrovers, dass jemand, der Methoden analysiert, nicht in direkter Konkurrenz steht zu jemandem, der die Methoden professionell anwendet. Die jeweiligen Ziele sind offensichtlich unterschiedlich: Während der eine auf eine Sache zielt, die mit Hilfe bestimmter Methoden erschlossen werden soll, geht es dem anderen um die Explikation und Evaluation dieser Methoden selbst. Aber wie sieht es aus, wenn der Wissenschaftsphilosoph die Inhalte der Wissenschaften in den Blick nimmt, was insbesondere in den Philosophien der Einzelwissenschaften detailliert geschieht? Ist dann wirklich noch so klar zu sagen, was Philosophie und was Einzelwissenschaft ist? Geht es nicht beispielsweise sowohl der theoretischen Physikerin wie der Philosophin der Physik darum herauszufinden, was unsere Theorien uns über die Beschaffenheit der Welt sagen? Auch die meisten theoretisch arbeitenden Einzelwissenschaftler suchen ja nicht nach neuen Theorien, sondern sie versuchen zu entschlüsseln, was die bestehenden Theorien uns über die Welt sagen. Und was anderes tut der Philosoph der Einzelwissenschaften, der sich über die Ontologie der betreffenden Einzelwissenschaften Gedanken macht?

    So gesehen besteht in Hinsicht auf ontologische Fragen eine gewisse Kontinuität von Einzelwissenschaften und Philosophien der Einzelwissenschaften. Dennoch sind die jeweiligen Fragen unterscheidbar. Grob gesagt nimmt die Ontologie allgemein wie auch ontologische Untersuchungen in den Philosophien der Einzelwissenschaften eine grundsätzlichere Perspektive ein als die jeweils betrachteten Einzelwissenschaften. Die Ontologie fragt nicht, welche Dinge beziehungsweise speziellen Typen von Dingen (z. B. Elektronen oder Quarks) es in der Welt gibt, welche Eigenschaften sie haben oder welche Sachverhalte bestehen. Stattdessen fragt die Ontologie etwa, was eigentlich ein Ding, eine Eigenschaft oder ein Sachverhalt ist und in welchen Abhängigkeits- und Reduktionsbeziehungen diese Typen von Entitäten gegebenenfalls zueinander stehen. Weiter fragt die Ontologie, ob Dinge überhaupt als fundamentale Art des Seienden, als ›Kategorie‹, angenommen werden sollen oder ob es nicht angemessener ist, z. B. nur Eigenschaften oder Relationen als fundamental anzunehmen und Dinge als zusammengesetzte Entitäten.

    Ontologische Untersuchungen in den Philosophien der Einzelwissenschaften bauen oft auf diesen allgemeinen philosophischen Überlegungen auf und bringen Sie in Kontakt mit einzelwissenschaftlichen Ergebnissen. Sie erfüllen damit eine entscheidende Mittlerfunktion, die sowohl der allgemeine Ontologe als auch der Einzelwissenschaftler nicht erfüllen kann: der allgemeine Ontologe nicht, da ihm in aller Regel die Fachkenntnis bezüglich der Einzelwissenschaften fehlt, und der Einzelwissenschaftler nicht, da er mit der abstrakten Perspektive der Ontologie nicht vertraut ist und sie ihm für seine Arbeit normalerweise auch nicht hilfreich wäre. Gehen wir die Mittlerfunktion der Philosophien der Einzelwissenschaften noch einmal etwas genauer von beiden Seiten an.

    Beginnen wir mit der Frage, welche Relevanz die Einzelwissenschaften für die allgemeine Ontologie haben und wieso die Philosophien der Einzelwissenschaften entscheidend sind, um das, was an den Einzelwissenschaften für die allgemeine Ontologie relevant ist, mit der nötigen Fachkenntnis zu identifizieren. In der Ontologie ist die Ansicht heutzutage sehr gängig, dass die Ontologie als formale Disziplin den Einzelwissenschaften zwar begrifflich vorgeordnet ist, sich an diesen aber letztlich auch bewähren muss. David Armstrong (1989, S. xi) spricht hierbei von empirical metaphysics. Eine auch für die allgemeine Ontologie wesentliche Frage ist daher beispielsweise, ob die gemäß der Quantenphysik fundamentalen Dinge (oder »Substanzen«) überhaupt als Individuen im Sinne von raumzeitlich unterscheidbaren Entitäten aufgefasst werden können.³⁶ Die Antwort auf diese Frage hat grundlegende Konsequenzen für die allgemeine Ontologie, da nach der traditionellen aristotelischen Sicht Dinge (oder »Substanzen«) die primäre Kategorie bilden. Wenn diese Sicht aber inkompatibel mit der besten verfügbaren wissenschaftlichen Theorie der materiellen Welt sein soll, muss eine Ontologie, die die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften ernst nimmt, reagieren.

    In der anderen Richtung geht es um die Frage, auf welche Weise Philosophien der Einzelwissenschaften eine Mittlerfunktion zwischen Einzelwissenschaften und allgemeiner Ontologie wahrnehmen. Auch Einzelwissenschaftler stellen sich mitunter die Frage, mit welchem generellen Typ von Gegenständen sie es eigentlich zu tun haben. Sie können sich beispielsweise bezüglich Genen, Elektronen oder Nutzen interessante ontologische Fragen stellen. Haben wir es mit konkreten raum-zeitlichen Entitäten zu tun, sogar mit Individuen, oder eher mit Abstrakta? Sind sie einer der vertrauten Kategorien zuzuordnen, wie etwa Dingen, Eigenschaften und Relationen? Solche Einordnungen erfordern eine abstrakte Perspektive, mit der Einzelwissenschaftler in der Regel nicht vertraut sind. Für ihre konkrete Arbeit mögen diese Fragen auch keine große Rolle spielen, aber zumindest beim Kaffee oder in abendlicher Runde kommen solche Fragen auch unter Einzelwissenschaftlern nicht selten doch auf. Und wenn dann zufällig ein Philosoph der Einzelwissenschaften vor Ort ist, können sie auch in diese Richtung hilfreich sein. Dies führt uns zu einer zweiten Differenzthese, die einerseits von der metaphysikkritischen Haltung des logischen Empirismus abrückt, andererseits aber die Grundeinstellung teilt, dass empirische Wissenschaften von größter Bedeutung für die Philosophie sind:

    Differenzthese 2: Wenn Philosophien der Einzelwissenschaften die Inhalte von Wissenschaften untersuchen, so geht es nicht bloß um theorieinterne Analysen, sondern es wird auf empirisch informierte Weise Ontologie betrieben. Im Vergleich zu den Einzelwissenschaften tun sie dies jedoch auf eine abstraktere Weise, die eine direkte Anbindung an allgemeine ontologische Überlegungen hat. Sie erfüllen dabei eine unverzichtbare Mittlerfunktion zwischen allgemeiner Ontologie und Einzelwissenschaften.

    Abschließend möchte ich für eine Sichtweise plädieren, die den Gegensatz von Kontinuitätsthesen und Differenzthesen überwindet. In revolutionären Umbruchphasen, wie etwa der Entstehungszeit der Quantenphysik, lässt sich kaum bestreiten, dass es oft ein Kontinuum von Einzelwissenschaften und Philosophien der Einzelwissenschaften gibt. Dies liegt aber im Wesentlichen daran, dass sich Einzelwissenschaftler sozusagen in ihrer Not Gedanken machen, die sich sonst nur Wissenschaftsphilosophen machen. Sobald sich die Wogen geglättet haben, indem sich ein neues Paradigma durchgesetzt hat, verfliegt der philosophische Eifer der Einzelwissenschaftler in der Regel jedoch wieder. Nicht selten zieht dann sogar eine regelrecht philosophiefeindliche Stimmung ein.³⁷

    Ich hielte es jedoch für eine unnötige und deskriptiv schlicht falsche Engführung, wenn man Philosophien der Einzelwissenschaften vom Typ her auf das einschränken wollte, was Einzelwissenschaftler in revolutionären Phasen tun.³⁸ Die Tatsache, dass Einzelwissenschaftler in bestimmten Phasen ähnliche Überlegungen anstellen wie Wissenschaftsphilosophen, bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass Wissenschaftsphilosophen nur oder wenigstens primär das machen, was Einzelwissenschaftler in Umbruchphasen tun.

    Sie tun dies zweifellos auch, sonst ergäbe die erste Aussage ja auch keinen Sinn, aber Wissenschaftsphilosophen tun noch vieles andere, was nichts mit revolutionärem Theorienwandel zu tun hat. Man kann sogar sagen, dass es in der Wissenschaftsphilosophie eine gewisse Tradition gibt, sich wissenschaftlichen Theorien erst dann umfassend zu widmen, wenn sie eine gewisse Reife und entsprechend Akzeptanz erlangt haben. Es ist kein Zufall, dass es bisher kaum Philosophen der Physik gibt, die sich mit der hoch umstrittenen Stringtheorie beschäftigen, und wenn, dann eher aus einer methodologischen Perspektive. Dies bringt mich zu einer letzten wertenden Aussage, dass es meines Erachtens wünschenswert wäre, wenn Philosophinnen und Philosophen der Einzelwissenschaften sich mehr in das einmischten, was dort geschieht, wo die Theorien von morgen entstehen. Ein Beispiel hierfür werden wir im Kapitel zur Philosophie der Physik kennenlernen, in dem es insbesondere auch um aktuelle wissenschaftsphilosophische Untersuchungen zu Quantengravitationstheorien geht, also um Theorien, die eines Tages die heute beherrschende Quantenfeldtheorie ablösen oder zumindest wesentlich ergänzen könnten. Man tut wohl gut daran, den Wert der Wissenschaftsphilosophie nicht an ihrer Nützlichkeit für die Wissenschaften selbst zu bemessen, aber dies bedeutet nicht, dass es so einen Nutzen gelegentlich geben kann und auch geben sollte, und zwar sowohl was die Methoden als auch was die Inhalte der Wissenschaften betrifft.

    5 Zwei Beispiele

    Bei methodologischen Fragen in den Philosophien der Einzelwissenschaften ist primär das Verhältnis bzw. die Abgrenzung zur allgemeinen Wissenschaftsphilosophie interessant. Anders sieht dies bei ontologischen Fragen in den Philosophien der Einzelwissenschaften aus. Im Verhältnis zur allgemeinen Wissenschaftsphilosophie liegt eine relativ klare Arbeitsteilung vor: Die Interpretation einzelwissenschaftlicher Ergebnisse ist Aufgabe der Philosophien der Einzelwissenschaften, die Beschäftigung mit allgemeinen metaphysischen Themen wie Kausalität und Naturgesetze ist Aufgabe der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie (sofern es nicht spezifisch z. B. um Kausalität in der Physik geht). Dagegen ist die Abgrenzung ontologischer Untersuchungen in den Philosophien der Einzelwissenschaften von den betreffenden Einzelwissenschaften selbst weniger offensichtlich. In den folgenden beiden Beispielen – Modellierung von Märkten und Ontologie der Quantenphysik – soll daher insbesondere die jeweils weniger triviale und damit interessantere Abgrenzung etwas detaillierter im Einzelfall untersucht werden.

    Interessanterweise ist es beim ersten Beispiel so, dass methodologische Fragen in den Wirtschaftswissenschaften, »obwohl« es sich um klar philosophische Fragen handelt, oft von den Wirtschaftswissenschaftlern selbst untersucht werden. Während in der Frühphase der Quantenphysik Entsprechendes zu beobachten war, beschäftigen sich heute überwiegend Philosophen mit methodologischen Fragen der Physik. Dieser Unterschied liegt höchstwahrscheinlich daran, dass die methodologischen Grundlagen ihrer Disziplin unter Physikern vergleichsweise wenig umstritten sind, wohingegen bei Wirtschaftswissenschaftlern (wie auch Soziologen, Historikern u. v. m.) oft grundlegende Differenzen bei der Frage bestehen, wie überhaupt wissenschaftlich sauber vorgegangen werden soll – was angesichts der großen Vielfalt an verfügbaren Methoden auch wenig erstaunlich ist. Aus diesem Grunde stammen einige der Argumente im Folgenden von Wirtschaftswissenschaftlern selbst, da es nicht sinnvoll wäre, diese Beiträge von denen der Fachphilosophen zu trennen. Es handelt sich um dieselben philosophischen Fragen.

    5.1 Methoden der Marktmodellierung

    Märkte sind ein, wenn nicht das zentrale Thema der Wirtschaftswissenschaften.³⁹ Sie sind in einer freien Wirtschaft von entscheidender Bedeutung dafür, zu welchen Preisen Produkte, Dienstleistungen und Wertpapiere gehandelt werden. Wie in kaum einer anderen Wissenschaft gibt es in der Ökonomie einen seit vielen Jahrzehnten dominierenden Erklärungsansatz, die sogenannte neoklassische Ökonomik.⁴⁰ Ein zentraler Bestandteil der neoklassischen Ökonomik ist der Homo oeconomicus, ein absolut zweckrationaler Mensch, der eine vollständige, transitive Präferenzordnung hat, immer das tut, was seinen Nutzen am besten befördert, dafür alles Relevante weiß und in der Lage ist, alle notwendigen Berechnungen anzustellen, um herauszubekommen, was die für ihn beste Handlung ist. In einem freien Markt stellt sich schließlich der Preis ein, der in einer Gruppe von anbietenden und nachfragenden Nutzenmaximierern das Gleichgewicht darstellt.

    Offensichtlich ist der homo oeconomicus eine Fiktion. Niemand weiß alles und kann alles berechnen und kein Mensch handelt immer zweckrational mit unveränderlichen Präferenzen. Wieso also klammern sich die Wirtschaftswissenschaften an dieses Erklärungsmodell? Einerseits gibt es natürlich leicht erkennbare wissenschaftssoziologische Gründe. Die meisten Wissenschaftler geben ein Paradigma ungern auf, mit dem sie groß geworden sind, das sie beherrschen und mit dem ihre eigenen Erfolge verbunden sind. Auch mögen Ökonomen tendenziell konservativ und übermäßig von der Ubiquität zweckrationalen Verhaltens überzeugt sein. Aber dies sind nicht die einzigen Gründe und unter Umständen nicht einmal die wichtigsten. Es gibt auch ganz berechtigte Gründe dafür, mit unrealistischen Modellen zu arbeiten. An dieser Stelle tritt die Philosophie der Wirtschaftswissenschaften auf den Plan. Dabei geht es nicht darum, wissenschaftliche Theorien zu interpretieren (wie beim nächsten Beispiel, der Quantenphysik), sondern es geht darum, die Methodologie der Wirtschaftswissenschaften zu untersuchen. Es geht also um ein Kerngeschäft der Wissenschaftsphilosophie.

    Es gibt eine ganze Reihe wissenschaftsphilosophischer Hauptthemen, die für die Bewertung der neoklassischen Ökonomik einschlägig sind. Am umfassendsten ist die Frage, was überhaupt eine Erklärung ist.⁴¹ Spezieller, aber auch noch wichtiger sind die Themen Idealisierung und Modelle. Beide Themen sind erst in den letzten beiden Jahrzehnten ins Zentrum der Wissenschaftsphilosophie gerückt, was nicht zuletzt mit ihrer Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaften zu tun hat.⁴² Dabei ist erstens klar geworden, dass Modelle ein integraler Bestandteil von Wissenschaft sind,⁴³ und zweitens, dass Idealisierungen, die ja definitionsgemäß unrealistische und daher falsche Annahmen über die Welt machen, keinesfalls per se die Güte der betreffenden Theorie beziehungsweise des betreffenden Modells beschädigen.⁴⁴ Schon lange bevor dies in der Wissenschaftsphilosophie zu einem Thema wurde, argumentierte Milton Friedman (1953) in einer der meistdiskutierten Arbeiten zur Methodologie der Wirtschaftswissenschaften, dass die Güte einer Theorie einzig durch ihren Vorhersageerfolg bestimmt ist und nicht dadurch, wie realistisch ihre Annahmen sind. Daran hat sich eine umfangreiche und sehr kontroverse Debatte angeschlossen, die im Grunde bis heute anhält.

    Die auf dem Homo-oeconomicus-Erklärungsansatz beruhende neoklassische Ökonomik scheint allerdings nicht nur auf die harmlose Weise unrealistisch zu sein wie fast alle Theorien, die mit Idealisierungen arbeiten, um berechenbare Ergebnisse zu liefern, die im gewünschten Rahmen auch annährend richtig sind. Dies zeigt sich besonders eklatant, wenn es um Finanzmärkte geht. Nach dem Homo-oeconomicus-Ansatz werden Crashs immer nur durch dramatische äußere Ereignisse hervorgerufen. Es gibt aber immer wieder Crashs, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, wie etwa am 19. Oktober 1987, dem »Schwarzen Montag«, als der amerikanische Leitindex Dow Jones an einem Tag fast ein Viertel seines Wertes verlor. Da solche Crashs nicht durch plötzliche Veränderungen der Randbedingungen, wie etwa finanzpolitische Entscheidungen, Naturkatastrophen oder Kriege erklärt werden können, muss es interne Gründe geben, warum die Händler an diesem Tag unbedingt 600 Mio. US-Aktien auf einmal verkaufen wollten.

    Da es nach dem Homo-oeconomicus-Ansatz genau eine Weise gibt, im Sinne einer Nutzenmaximierung rational zu handeln, gibt es auch nur einen Grundtypen von Marktteilnehmern, einen »repräsentativen Robinson Crusoe« (Lux/Westerhoff 2009). In diesem Robinson-Crusoe-Modell spielt die Wechselwirkung mit anderen Akteuren keine wesentliche Rolle. Jeder berechnet ganz für sich alleine, welche Handlung angesichts der wirtschaftlichen Rahmendaten den größten Nutzen verspricht, ohne Notiz davon zu nehmen, wie sich andere Markteilnehmer verhalten. Und alle tun dies auf die gleiche Weise.

    Seit einigen Jahren gibt es nun eine sowohl in den Wirtschaftswissenschaften als auch in der Philosophie der Wirtschaftswissenschaften immer intensiver werdende Debatte darum, ob der Homo-oeconomicus-Ansatz eventuell nicht nur unvermeidbare Idealisierungen macht, sondern entscheidende Aspekte von Finanzmärkten systematisch falsch modelliert. So gibt es insbesondere verschiedene Typen von Händlern, die nicht unbeeindruckt davon sind, wie erfolgreich ihre Kollegen sind und wie diese sich jeweils entscheiden. Wenn die eigenen Strategien nicht mehr gut funktionieren, wird die Strategie schließlich geändert, wobei es sich bei den Markteilnehmern nicht einmal um emotionale Menschen, sondern auch um Computer handeln kann. Dies kann nun dazu führen, dass auch ohne größere Änderungen der Randbedingungen kaskadenmäßig ein sehr schnell wachsender Anteil der Markteilnehmer auf dieselbe Strategie einschwenkt und immer mehr andere mitzieht, mit dem Effekt, dass sich die Aktienkurse auf eine Weise entwickeln, die mit dem klassischen Ansatz des in seinem Verhalten statischen repräsentativen Nutzenmaximierers nicht erklärbar ist.

    Abgesehen davon, dass diese Überlegungen für die Wirtschaftswissenschaften selbst von unmittelbarer Bedeutung sind, ist es aus wissenschaftsphilosophischer Sicht besonders reizvoll, dass es strukturell ähnliche Dynamiken auch z. B. in der Physik gibt, wenn es um die Entstehung von Phasenübergängen geht. Insbesondere diese Einsicht ist Grundlage der sogenannten Econophysics, einer relativ neuen Disziplin, die ökonomische Themen mithilfe von Modellen und Analyseverfahren aus der Physik untersucht.

    5.2 Ontologie der Quantenphysik

    Wie auch beim vorherigen Beispiel geht es bei

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