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Antifaschismus für alle: Manifest, Essays und Gedichte
Antifaschismus für alle: Manifest, Essays und Gedichte
Antifaschismus für alle: Manifest, Essays und Gedichte
eBook357 Seiten3 Stunden

Antifaschismus für alle: Manifest, Essays und Gedichte

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Über dieses E-Book

Gefeiert als vielversprechendster Dichter seiner Generation, kehrte Kirill Medvedev vor rund 10 Jahren dem Literaturbetrieb den Rücken. Er verweigerte öffentliche Lesungen, gab das Copyright seiner Texte auf und veröffentlichte sie fortan im Internet: "für alle", um seine "intellektuelle Souveränität wiederherzustellen". Seine radikale und kompromisslos selbst gelebte Kritik an den Umständen in Russland und dem entfesselten globalen Kapitalismus führte ihn zum politischen Aktivismus von unten. Antifaschismus für alle versammelt nun Texte aus einem Jahrzehnt – erzählende Gedichte, wütend, zärtlich, voller Gewalt und sie gleichzeitig verdammend, sowie Essays über Literatur und Politik. Seine Texte sind somit nicht nur beeindruckende Literatur, sondern auch brennendes Zeugnis des Wunsches nach Veränderung und der Überzeugung, dass diese möglich ist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Feb. 2020
ISBN9783957576491
Antifaschismus für alle: Manifest, Essays und Gedichte

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    Buchvorschau

    Antifaschismus für alle - Kirill Medwedew

    Nachbemerkungen

    Gedichte aus dem

    Almanach Awtornik

    Wenn ich der alten Concierge die leeren Flaschen bringe,

    ist sie gerührt und bietet mir an, ich könne die Gratiszeitung

    mit TV-Programm mitnehmen,

    aber ich sage ihr, dass ich so ein Heft nicht brauche,

    weil ich keinen

    Fernseher habe.

    Ich sah das Gespenst eines Baums;

    es ergab sich deshalb,

    weil einer der Bäume, die etwas entfernt standen,

    seinen Schatten auf eine Dampfsäule warf,

    die aus der Erde aufstieg;

    Trugbilder in der Wüste

    entstehen nach demselben Prinzip.

    Urgroßmutter kochte sich Lapscha, aß sie,

    dann ging sie in ihr Zimmer

    und starb;

    als man sie nach etwa einer Stunde entdeckte,

    war die Suppe noch verhältnismäßig warm;

    ich spreche

    von meiner Urgroßmutter zweiten Grades.

    Es ist schön mit Menschen zu reden,

    die an die Wissenschaft glauben.

    Aber gibt es denn Menschen, die hundertprozentig begreifen,

    dass sie restlos sterben und dass von ihnen nichts übrig bleibt?

    Es gibt sie, aber es sind sehr wenige.

    In der Regel haben sogar die, die sich für Materialisten halten,

    die Hoffnung, dass sie irgendwohin fliegen

    nach dem Tod.

    Als ich mit Gelbsucht aus dem Krankenhaus kam,

    hat man mir Buletten gemacht;

    ich erinnere mich, als ich ein Kind war, machte Mama mir Quark:

    Am Hahn hing so ein Beutel aus Mull

    mit einer mürben weißen Masse drin;

    letzten Sommer war ich in Istanbul,

    und am allerbesten dort

    war das Olivenbrot.

    Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Mitja, meinem Freund,

    ich sagte ihm, dass die Leute und alles andere nichts als

    eine einzige Scheiße seien,

    in der manchmal, ganz selten, sich winzige Inseln

    von etwas Reinem und Echtem finden;

    aber eigentlich habe ich das damals noch nicht begriffen,

    das kam mir nur so wie eine plötzliche Ahnung,

    jetzt aber begreife ich das wirklich,

    und das heißt, jede Ahnung bestätigt sich

    nach Jahren beharrlicher Arbeit.

    Als ich gestern Brei kochte,

    habe ich, um alles richtig zu bemessen,

    zuerst Wasser in ein Glas gefüllt,

    dann das Wasser aus dem Glas in den Topf gegossen,

    dann das Glas innen abgetrocknet –

    damit die Flocken nicht dran kleben bleiben,

    und dann erst die Flocken in das Glas und dann

    in den Topf geschüttet.

    Ich spülte ein Glas, von vollendet regel- und ebenmäßiger Form,

    an seinem Boden

    spürte mein Finger eine Wölbung –

    als ob das Glas anschwölle.

    An der Kreuzung der Pretschistenka und der Deneschny-Gasse

    steht ein rundes zweistöckiges Haus

    und mir ist irgendwie immer sehr wohl zumute,

    wenn ich an es denke;

    in Moskau gibt es noch einige Orte,

    an die ich immer sehr gern denke;

    aber es kann ja schön sein,

    an jeden beliebigen Ort zu denken.

    Man hat mich einmal mit einem Mädchen

    für Geld in ein geschlossenes Elefantenhaus gesteckt

    und wir hatten nach vielleicht zehn Minuten

    den Elefantengestank so aufgesogen,

    dass wir noch noch zwei Tage lang nach ihnen gestunken haben;

    ich übertreibe nicht.

    Zwischen den Scheiben saß lange etwas

    einem Falter Ähnliches,

    schien zu schlafen,

    und doch bewegten sich seine langen Fühler –

    wohl vom Wind,

    der durch die Fensterritzen drang.

    Es kommt vor, dass du mir nichts dir nichts

    mitten auf einer Seitenstraße stehen bleibst

    in quälender Hitze,

    wie nach einem Regen, und du erstarrst

    und hast so ein Gefühl,

    dass du mit Millionen Seelen verbunden bist,

    und dazu noch das Gefühl,

    dass jemand für dich betet

    in diesem Moment.

    Die Rote Bete gab

    einen Teil ihrer satten Farbe dem Wasser ab

    und nahm eine absolut einmalige Farbe

    fast schon wie von Perlen an.

    Von unserem Haus aus sieht man ein Haus,

    das ganz genau dem gleicht,

    in dem ich allein gewohnt habe

    vor etwa acht Jahren;

    ich verkaufte damals immer Bücher

    vor der Metrostation »Baumanskaja«

    und ernährte mich von Kartoffelpüree;

    und wenn mein Freund mit seiner Freundin vorbeikam,

    dann ging ich scheinbar »in ein Geschäft«.

    Die Mango keimte, ein dünner Stängel

    durchstieß von innen

    den riesigen flauschigen Kern

    und drang nach außen;

    das war etwas,

    das eine Zeitlang

    alle anderen Freuden verdeckte.

    Alles ist schlecht

    ich bin es leid zu übersetzen

    mit dem Übersetzen werde ich mich

    wohl nicht mehr beschäftigen

    mir scheint diese Beschäftigung lohnt sich

    nur dann

    wenn man ganz und gar

    mit dem Autor

    verschmelzen kann

    jede seiner Zeilen

    unterschreiben kann

    seinen Schrei

    auffangen und verstärken kann

    so war es zum Beispiel

    als ich einen Amerikaner

    übersetzte

    einen Charles Bukowski

    Schriftsteller und Dichter

    als ich ihn übersetzte

    wollte ich unbedingt

    dass ihn möglichst viele Menschen

    kennen lernen

    und ein wenig von dem verstehen

    was er

    wie mir schien

    verstanden hatte

    als ich ihn übersetzte

    schien mir

    dass niemand ihn so versteht

    wie ich

    obwohl es zwischen uns

    nichts Gemeinsames

    gibt und gab

    weder äußerlich noch innerlich

    auch biografisch nicht

    und Charles Bukowski ist beileibe nicht mein Ideal

    darum scheint mir

    dass ich nicht mit

    seiner Stimme sprach

    und es war auch nicht so als würde da etwas untergeschoben

    wie das oft bei Übersetzern der Fall ist

    die mit fremdem Mund sprechen

    mangels einer eigenen Stimme

    mir scheint es gab

    einen echten Kontakt zwischen uns –

    wie wenn zwei völlig unterschiedliche Menschen

    plötzlich einander zu verstehen beginnen

    ein solcher Kontakt ist meiner Meinung nach

    ein echtes Ereignis

    in der Kunst und im Leben

    ich habe einen Roman Bukowskis ganz übersetzt

    und viele seiner Gedichte

    mir scheint ich habe beides

    sehr gut übersetzt

    ich weiß nicht wie es mit dem Roman im Ganzen ist

    aber da gibt es einfach einige geniale Stellen

    davon bin ich überzeugt

    das gilt finde ich auch für die Gedichte

    als ich die Gedichte von Charles Bukowski

    übersetzte

    schien es mir

    als ob ich die beste

    zeitgenössische Dichtung in russischer Sprache mache

    ehrlich gesagt scheint mir das

    auch jetzt noch so

    ich weiß leider nicht

    wann das veröffentlicht wird

    vielleicht sogar

    niemals

    und ich habe ehrlich gesagt

    schon keine Hoffnung mehr

    weil ich weiß

    dass mir jemand mit dem Roman

    zuvorkommen

    und ihn in einer anderen Übersetzung veröffentlichen kann

    und gar nicht unbedingt

    in einer schlechten

    doch ohne diese echten Durchbrüche

    vielleicht aber auch

    in einer blamablen;

    ich übersetze jetzt einen Kriminalroman

    für die Zeitschrift »Inostrannaja literatura«

    das ist ein Roman für eine neue Serie

    von Beilagen zu dieser Zeitschrift

    die glaube ich

    »Das Buch für die Reise« heißt

    ich habe das Gefühl

    dass ich jetzt

    in Diensten der Bourgeoisie stehe

    diesen Kriminalroman schrieb John Ridley

    ein schwarzer amerikanischer Autor

    er ist 32 Jahre alt

    es ist ein sehr spannender Roman

    er ähnelt irgendwie den Filmen Quentin Tarantinos

    er enthält eine Satire auf Hollywood

    und eine Kritik der Sitten des Establishments

    von Hollywood

    aber zugleich verwendet er

    genau die alten Hollywood-Tricks,

    trotzdem gibt es in diesem Roman

    einige gute Stellen

    aber im Großen und Ganzen ist er

    glaube ich

    schlicht eine gelungene Fälschung

    ich glaube Übersetzer sind

    mit wenigen Ausnahmen

    Vampire

    sie leben

    von fremdem Blut

    denn eine Übersetzung

    ist ein süßer Traum

    künstlerisches Schaffen aber

    das ist eine Qual

    und darum

    werde ich mich wahrscheinlich nicht mehr

    mit dem Übersetzen beschäftigen

    ich glaube ich spürte

    den Sinn der Leere,

    als ich kürzlich

    den Roschdestwenski-Boulevard entlangging

    an den Häusern vorbei

    und plötzlich spürte ich

    so eine Leere,

    die sich mir eröffnete

    in den Lücken zwischen den Häusern;

    ich spürte sofort,

    dass es diese Leere an dieser Stelle

    vorher nicht gegeben hatte,

    doch ich konnte lange

    nicht verstehen,

    was vorher an dieser Stelle

    gewesen war;

    dann erinnerte ich mich

    daran dass

    hier

    neben einem Kloster

    vor zwei Tagen

    Mönche Bäume gefällt hatten,

    aber zunächst hatte ich dem keine Beachtung geschenkt

    und war geradewegs

    unter einem Baum hergegangen,

    den sie schon angesägt hatten

    und der

    jeden Moment

    auf den Bürgersteig fallen musste; und dann,

    als ich schon fast vorbeigegangen war, schaute ein Mönch,

    der ein wenig abseits stand,

    mich an

    und schüttelte den Kopf,

    weil der Baum, den sie sägten, mich hätte

    erschlagen können;

    und nun

    als ich an dieser Stelle

    vorbeikam

    spürte ich

    diese Leere

    die sich von dort auf mich zu bewegte,

    ich spürte

    so eine bannende Bresche

    an der Stelle der Bäume,

    und in dem Moment

    hatte ich eine sehr klare Vorstellung von den Bäumen,

    die dort gestanden hatten

    und denen ich

    keine Beachtung geschenkt hatte

    als ich vorbeigegangen war,

    und im selben Moment spürte ich

    ihr Geräusch und ihren Geruch –

    und ich dachte,

    damit

    sich etwas ereigne

    (ein Erlebnis, eine innere

    Erschütterung,

    ein Bersten

    eine Schieflage,

    ein seelischer Krampf,

    ein Stoß,

    vielleicht

    ein Höllensprung),

    müsse sich zuvor etwas anderes

    ereignen –

    offensichtlich muss zuerst eine Leere

    aufblitzen

    wie eine Halluzination,

    mir scheint, dass sich zuerst

    etwas öffnen

    und schmerzend einbrechen muss

    weil

    der menschliche Geist

    (die Maschinerie des menschlichen Geistes,

    seine kapriziöse platzraubende

    Maschinerie)

    genau dort

    zu arbeiten beginnt,

    wo man dem Menschen

    etwas genommen hat –

    d. h., im Prinzip, an einem leeren

    Ort

    (es wäre zu wünschen, dass man ihm etwas,

    dem er keinen Wert gab, genommen hat,

    oder besser noch etwas

    wovon er überhaupt

    nichts wusste)

    nach diesem Erlebnis,

    das mit der Leere verbunden war,

    die sich mir eröffnet hatte

    an der Stelle der gefällten Bäume,

    verstand ich, so scheint mir,

    ziemlich gut

    den Sinn der Leere

    noch ein wenig über die Literatur:

    mich hat immer ein bestimmter

    Typ von Dichter sehr interessiert

    das ist ein ziemlich bekannter Typ:

    diese blonden Burschen

    die nach Moskau kamen

    schon seit den 1930er Jahren

    am Literaturinstitut aufgenommen wurden

    und im Wohnheim des Literaturinstituts

    Krach schlugen

    das waren

    sehr harte Burschen aus der Peripherie

    Meister der Nostalgie

    und mysteriöse Laien

    mir scheint dass

    die Nachfrage nach ihnen gewaltig war

    weil

    sie etwas repräsentierten,

    das lebende Gewissen

    der in ihrem ewigen Komplex vor dem Volk

    befangenen greisen Dichter der Hauptstadt;

    mir scheint

    dass sie unbedingt

    die vakante Nische

    des in der Stadt sich plagenden

    Dorfsängers einnehmen wollten;

    ich glaube,

    dass sie auch sehr gern

    Lels¹ Maske aus Gips anprobieren wollten

    Dutzende von ihnen

    verloren den Verstand

    viele verwandelten sich

    in Stadtstreicher

    und betteln

    bis heute

    auf dem Strastnoj Boulevard

    (ich habe dort zwei Mal

    verwilderte Kerle gesehen

    die die Bänke entlanggehen

    Gedichte lesen

    und sagen sie hätten

    am Literaturinstitut studiert)

    einige von ihnen

    haben sich aufgehängt

    die anderen verschwanden spurlos;

    am berühmtesten von allen wurde

    wie man weiß

    Nikolai Rubzow

    man weiß aber auch

    dass Rubzow kein ganz einfacher Fall war

    dass er eine Zeitlang in Pieter lebte

    in der Gesellschaft Petersburger Ästheten

    und dass er alle möglichen

    formalistischen Dinge ausprobierte

    dass ihm Brodski gefiel

    und so weiter

    ich glaube

    allen ist bekannt

    dass ihn nach seiner Ankunft in Moskau

    diese Bienenzüchter

    aus dem Literaturinstitut umgarnten

    mir scheint

    sie haben ihn

    in ein Klischee

    in einen Mythos des Verrufenen gepresst

    und haben ihn ausgestellt

    als Strohpuppe im Pantheon

    dort gibt es

    auch jetzt noch

    solche Burschen

    vorletzten Sommer

    habe ich mich in Berlin verirrt

    das geschah

    im Bezirk Tiergarten

    ich kam

    auf einen absolut leeren Platz

    der von Wald umstanden war

    und er war menschenleer

    da erblickte ich einen jungen Mann

    auf seinem Fahrrad

    und lief zu ihm

    und fragte ihn auf Englisch –

    wie ich zum Zentrum komme;

    er freute sich sehr über mich

    weil er wie sich herausstellte

    ein russischer Emigrant war;

    er stieg vom Fahrrad

    und begann sehr ausführlich

    den Weg zum Zentrum zu erklären;

    die ganze Zeit während er es mir erklärte

    benahm sich sein widerwärtiger Sohn

    der vielleicht fünf Jahre alt war

    und in einem am Gepäckträger festgemachten

    Eisensitz saß

    abscheulich –

    er jammerte zappelte strampelte

    und schrie

    zog mich am Ärmel

    warf den Kopf in den Nacken

    und verdrehte

    die Augen;

    (ich dachte daran, dass man in Russland über solche Kinder sagt:

    »den juckt’s im Arsch«)

    dem Kleinen war sichtbar langweilig

    er verstand nichts

    von unserem Gespräch

    und wiederholte die ganze Zeit bockig

    einen Satz auf Deutsch

    (immer diesen einen

    Satz)

    ich habe dann später verstanden

    was das für ein Satz war

    mir scheint

    es war der Satz

    »warum sprecht ihr nicht Deutsch?«

    d. h.

    »почему вы говорите не по-немецки?«

    mich hat diese Geschichte

    mit dem russischen Emigranten

    sehr berührt

    mir kam da der Gedanke: »dieser arme Emigrant

    er kann mit niemandem auf Russisch reden

    sein Sohn ist ein Deutscher!«

    ich glaube

    dass diese Geschichte

    mich damals sogar mehr ergriffen hat

    als die wilden Kaninchen

    die ich einige Zeit später

    im Zentrum Berlins sah

    (und ich liebe

    Kaninchen)

    sie ergriff mich weit mehr

    als das Mädchen Anna Hennig

    das über mich in der Zeitung »Berliner Spiegel«

    geschrieben hatte

    und als das ganze großartige Berlin –

    diese riesige ununterbrochene Baustelle

    in einem Gespräch

    hatte ich erwähnt,

    dass ich mich ganz schön unsicher fühle

    in dieser Welt,

    und wir redeten dann über einen Menschen,

    der wohl mit beiden Beinen im Leben steht

    und sich ganz schön sicher fühlt

    in dieser Welt;

    es stellte sich heraus,

    dass dieser

    (noch ganz junge)

    Mann

    schon ungefähr 320 Liebhaber hatte,

    und da dachte ich

    (das war so eine Passage

    im Geiste meines geliebten Dichters

    Charles Bukowski)

    da dachte ich: »also

    stellt sich

    heraus,

    dass man mehr als dreihundert Leute vögeln muss

    (oder es so einrichten muss,

    dass sie einen nehmen),

    um sich gut, sicher

    zu fühlen, mit

    beiden Beinen im Leben zu stehen« –

    an so etwas hatte ich noch nie gedacht,

    im Gegenteil, ich konnte

    immer nur Mitleid empfinden,

    ich konnte nie an etwas anderes

    denken, mir scheint, dass du,

    wenn einmal Schluss ist mit dem,

    was zwischen euch lief,

    dass du dann beginnst,

    Mitleid für den betreffenden Menschen zu empfinden –

    und es ist nicht wichtig, was genau

    vorgefallen ist,

    ich glaube, es hat absolut keine Bedeutung,

    wer sich wie benommen hat

    und wer und wie

    mit wem

    zu tun hatte

    (und wer mit wem wie

    letztendlich umgegangen ist) –

    die Hauptsache ist, dass man danach,

    wenn alles zu Ende ist,

    es mit sich nimmt

    (erst recht wenn du eine

    solche Menge von Liebhabern hast –

    man kann sich vorstellen,

    wie unsäglich traurig

    das in jedem einzelnen Fall

    ist)

    und man wird es in sich tragen bis zum Ende, wie eine Frucht

    oder wie eine Strafe

    oder wie sonst noch etwas;

    vielleicht

    kann man

    alles vergessen;

    es gelingt dir vielleicht sogar

    sein Gesicht zu vergessen, und eventuell sogar seinen

    (oder ihren) Namen,

    doch das Mitleid mit ihm

    wird wahrscheinlich doch

    in dir bleiben;

    ich weiß nicht,

    in mir ist es jedenfalls

    immer geblieben;

    es war für mich immer

    die stärkste Erschütterung

    und übertraf

    alle anderen

    Eindrücke des Lebens,

    darum kann ich,

    ehrlich gesagt,

    nicht verstehen,

    wie man so viele

    Liebhaber haben kann

    oder Liebhaberinnen

    und dabei nicht nur nicht verrückt werden,

    sondern sich auch noch

    ganz schön sicher fühlen kann

    in dieser Welt,

    mir scheint dass

    wenn ich so viele Liebhaber hätte,

    mich das Mitleid

    schon längst zerstört hätte,

    es hätte mich verwüstet, mich von innen ausgebrannt,

    ich wäre an ihm erstickt

    eine Zeitlang gingen

    mein Freund Wanja und ich

    gern in einem Bezirk Moskaus

    spazieren;

    es ist der Bezirk hinter

    dem Theater der sowjetischen Armee;

    dort ist ein Freiluftmuseum

    für Militärtechnik

    und ein Teich;

    wir

    trafen uns gewöhnlich auf dem Zwetnoi Boulevard

    tranken Bier und rauchten Gras und liefen

    lange in diesem Bezirk umher;

    Iwan und ich konnten lange nicht begreifen

    was uns

    in diese Gegend zog;

    schließlich fiel uns auf

    dass diese Orte

    keine Spur von Aktualität

    besaßen:

    es gab dort zum Beispiel

    keine Reklameschilder

    es gab keine Stände

    man spürte dort überhaupt nicht diesen schweinischen

    geschäftig-geilen Geist

    an dem man im Zentrum Moskaus

    manchmal fast erstickt

    zum Beispiel

    auf der Gorki-Straße

    (obwohl es dort

    auch ganz schön sein kann)

    aber in dieser Gegend

    war alles

    wie vor zwanzig

    oder fünfundzwanzig

    Jahren –

    in der Zeit als Iwan und ich gerade

    geboren worden waren;

    einmal lernten wir

    im Zentrum Moskaus

    zwei englische Mädchen kennen

    die uns am nächsten Tag

    in einem Club treffen wollten

    aber wir sind nicht zu dem Treffen gegangen

    und sind lieber in diese Gegend gegangen

    um spazieren zu gehen;

    einerseits war dort alles sehr bodenständig

    alles war

    durchdrungen

    von Alltäglichkeit

    weil es dort

    diese fetten Tanten gab

    in ihren bunten aufgeschlagenen Kitteln,

    Männer in Trainingsanzügen

    die unter Autos lagen

    und immer war ein Radio eingeschaltet

    oder ein Kassettenrekorder

    meistens ein Radio

    (übrigens

    habe ich einen Nachbarn, der drei Jahre jünger ist als ich

    er hat ein Auto

    und er liegt jetzt auch

    oft darunter

    und repariert irgendetwas

    und dabei hat er das Radio angestellt

    oder ein Tonbandgerät –

    es ist schon erstaunlich

    wie sich all diese Gewohnheiten

    fortsetzen)

    einerseits also

    war alles dort

    sehr bodenständig

    andererseits aber

    spürten wir sehr deutlich

    die starke

    mystische Spannung

    und dichte

    metaphysische Gärung

    dieser Gegend –

    vielleicht lag es

    daran

    dass wir auch eine literarische

    Wahrnehmung dieser Gegend hatten

    (weil zum Beispiel

    der Schriftsteller Mamlejew

    den ich damals sehr gern las

    dieses gesamte verkrüppelte Kolorit

    sehr gut eingefangen hat

    wie mir scheint)

    mir kam es immer so vor dass

    es eigentlich darum geht

    dass eben in diesem –

    fleischigen, zähflüssigen,

    tierischen

    (zähflüssigen,

    fleischigen)

    und gleichsam

    von irgendwelchen Verdauungsgesetzen

    begrenzten –

    Dasein

    ein gewaltiges

    metaphysisches Potenzial liegt

    weil das

    etwas ist das

    nicht verloren geht,

    etwas das

    da bleibt;

    das ist so ein ewiger Nebel des Nirwana

    der in dieser Gegend hängt;

    die Menschen sterben

    und an ihre Stelle

    und auf eben diese Höfe

    kommen neue

    und wenn man in diese Gegend gerät

    dann fällt man für eine gewisse Zeit

    aus den gewohnten

    Normen

    und Rhythmen

    des Daseins

    und es kommt mir so vor

    als könne man in diesen Bezirk

    zum Beispiel

    auch nach dem Tod geraten

    ich erinnere mich

    dass es mir oft so vorgekommen war

    in dieser Gegend

    ich glaube dass

    in der Luft solcher Gegenden

    ein süßlicher und beruhigender

    Geist schwebt

    (vielleicht ist das der Geist der Verdammnis,

    des Misserfolgs)

    der sich dort vermischt

    mit dem Geruch der Kommunalküchen

    und es hat uns aus irgendeinem Grund

    immer dorthin gezogen

    ich weiß nicht warum wir uns so wohlfühlten

    in diesen Gegenden

    1998

    arbeitete bei der Zeitschrift »Medwed«

    ein gewisser Waleri;

    das war

    ein ganz eigenartiger Mensch;

    er war krank

    ich glaube er hatte Zerebralparese

    (oder wie heißt das

    wenn man nur mit großer Anstrengung gehen kann

    dauernd zuckt

    und kaum sprechen kann?)

    er gefiel

    mir sehr;

    er schien mir

    die einzige

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