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Mit dem Taxi durch die Gesellschaft: Soziologische Storys
Mit dem Taxi durch die Gesellschaft: Soziologische Storys
Mit dem Taxi durch die Gesellschaft: Soziologische Storys
eBook267 Seiten5 Stunden

Mit dem Taxi durch die Gesellschaft: Soziologische Storys

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Über dieses E-Book

Armin Nassehi ist viel unterwegs. Auf Bahnhöfen und Flughäfen, in Hörsälen und bei Vorträgen auf Tagungen und Konferenzen. In seinen wunderbaren soziologischen Storys geht er der Frage nach: Wie gehen die Menschen um mit der Perspektivenvielfalt der modernen Welt? Nassehi ist Flaneur, Nomade, reisender Beobachter. Im Alltagsdickicht deutscher Wirklichkeiten sucht er begehbare Pfade, die immer schwerer auffindbar sind. Er entlarvt nicht von oben herab, aber er schärft den Blick und öffnet die Augen für die Besonderheit und Merkwürdigkeit des scheinbar Normalen und Banalen. Bildlich in einem Taxi reist Nassehi durch die Gesellschaft und stürzt sich ins Getümmel produktiver Missverständnisse, paradoxer Erkenntnisfährten und rhetorischer Sackgassen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Feb. 2010
ISBN9783867741019
Mit dem Taxi durch die Gesellschaft: Soziologische Storys
Autor

Armin Nassehi

ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem »Mit dem Taxi durch die Gesellschaft«, in der kursbuch.edition erschien zuletzt »Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests«.

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    Buchvorschau

    Mit dem Taxi durch die Gesellschaft - Armin Nassehi

    Armin Nassehi

    Mit dem Taxi durch die Gesellschaft

    Soziologische Storys

    Inhalt

    Einstieg

    Perspektiven

    Fremdheit

    Wille

    Abwesenheit

    Entscheidung

    Wandel

    Kompetenzen

    Krise

    Verdoppelungen

    Ausstieg

    Dank

    Über den Autor

    Impressum

    Einstieg

    In diesem Buch werde ich viel unterwegs sein – nicht nur in Taxis, sondern auch per Bahn und Flugzeug, sogar auf einem Schiff, an allerlei Orten, auf Tagungen, Meetings, Vernissagen, im Krankenhaus und im Museum. Selbst das Schreiben habe ich nicht nur zu Hause am Schreibtisch absolviert, sondern auch unterwegs, auf einer Terrasse in der toskanischen Maremma etwa, einiges in einem Hotel etwas nördlicher, in der Versilia. Viele Teile sind tatsächlich beim Fahren oder Fliegen entstanden. Ein halbes Kapitel habe ich sogar in der Wartehalle eines Flughafens geschrieben.

    Was sieht man, wenn man unterwegs ist? Man bewegt sich im Raum, kommt von hier nach dort, und auf dem Weg verändert sich die Welt. Wollte man den Raum definieren, wäre er nichts Anderes als die Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen. Im gesellschaftlichen Raum sehen wir stets Unterschiedliches. Das ist das Spannende an der Gesellschaft, sie besteht aus unterschiedlichen Kontexten, die irgendwie aufeinander bezogen sind. Die Metapher des Taxis passt dafür sehr gut – schon weil das Taxi nicht bloß eine Metapher ist. Die Wagen fahren überall herum, und sich in ein Taxi zu setzen ist geradezu der Eintritt in diese Erfahrung von Modernität: mit Unterschiedlichem konfrontiert zu werden. Im Taxi wird die Schwelle der Kommunikation sehr tief gehängt – man weiß, dass die Beziehung zwischen Fahrer und Passagier begrenzt bleibt –, und das erhöht die Freiheitsgrade für Kommunikation. Das Auto ist geschlossen, niemand hört zu. Wenn man so will, ist es ein Kontext aller Kontexte.

    Und genau darum wird es in diesem Buch gehen: um Kontexte. Was ich hier schreibe, ist weder eine wissenschaftliche Analyse der modernen Gesellschaft noch ein politisches Pamphlet mit klaren Forderungen und eindeutigen Konzepten. Das Buch präsentiert einen Ton, der auf die wissenschaftliche Stringenz ebenso verzichtet wie auf die Eindeutigkeit des Forderns und Wegweisens. Es ist eher ein Zwischenton – der die Unmöglichkeit klarer und eindeutiger Aussagen, Forderungen und Programme eindeutig und klar auf den Begriff bringt.

    Es ist auch ein Buch über die Krise. »Über welche Krise?«, mögen Sie fragen. Das ist letztlich egal. Es geht in diesem Buch darum, die unvermeidliche Krisenhaftigkeit der modernen Gesellschaft zu betonen. Deshalb weist dieses Buch, anders als die meisten anderen, weder einen Weg aus der Krise, noch macht es bestimmte Leute für die Krise verantwortlich. Es geht mir eher darum, zu zeigen, dass in unserer Art von Gesellschaft der Ausnahmezustand der Normalfall ist – und zwar in dem prinzipiellen Sinne, dass nichts je zu einem Ende kommen kann. Diese Gesellschaft ist so schnell, sie hat so viele Kontexte, dass es immer auch noch einen anderen, einen weiteren Blick gibt, der jeglichen Schlusssatz konterkariert. Der Klassiker für Schlusssätze ist die vatikanische Formel dafür, dass es keine Widerworte mehr geben darf: Roma locuta, causa ­finita – Rom hat gesprochen, und damit ist der Fall erledigt. Mit dem Gestus des Roma locuta treten immer noch viele auf, aber ­causa finita – das geht schon lange nicht mehr.

    Es geht mir um einen Blick für Blicke. Warum erscheint die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen so unterschiedlich? Warum verfangen wir uns in unseren eigenen Sichtweisen? Warum erscheint uns diese Gesellschaft als nie abgeschlossen, nie fertig, nie stillstehend, nie sicher? Mir geht es bei meinen Beschreibungen der Gesellschaft darum, erst einmal Distanz zu den geradezu inflationär auftretenden Versprechen zu halten, dass sich die Probleme und Herausforderungen schon lösen und bewältigen lassen, wenn man nur die richtige Strategie kennt.

    Autoren neigen – nachgerade naturwüchsig – dazu, die eigenen Lösungen, die eigenen Vorschläge für die geeignetsten zu halten. Ich unterbreite hier keine Lösungsvorschläge. Ich mache eher darauf aufmerksam, wie unterschiedlich Lösungsvorschläge aus unterschiedlichen Perspektiven aussehen. Was mich interessiert, ist die Frage, wie Perspektiven zustande kommen, wie Menschen in ihre Perspektiven, Beschreibungen, Praktiken verstrickt sind. Und die Hoffnung, die das Buch machen soll, speist sich nicht aus dem obercoolen Blick eines Soziologen, der nun simuliert, er habe die Perspektive aller Perspektiven.

    Auch dieses Buch tut nur, was es tun kann – aber es will praktisch Ernst machen mit der theoretisch leicht formulierten Einsicht, dass unterschiedliche Kontexte auch unterschiedliche Welten hervorbringen. Und es will dies nicht nur einfach beschreiben, sondern schöpft daraus wenigstens die Ahnung einer Hoffnung – die Hoffnung darauf, dass sich mit der praktischen Wendung dieser Einsicht ein Verständnis dafür gewinnen lässt, warum diese unterschiedlichen Welten in der einen Welt aufeinandertreffen und dabei unweigerlich in Konflikt geraten. Dieses Buch will diesen Konflikt nicht vermeiden, sondern entfalten. Es ist dabei in einem besonderen Sinne liberal – nicht lediglich in dem vordergründig politischen Sinne, unterschiedliche moralische Standpunkte oder Lebensweisen zu tolerieren und voreinander zu schützen.

    Dieses Buch ist entschieden liberal, indem es Verständnis dafür aufbringt, dass unterschiedliche Weltzugänge nicht zufällig auf­treten. Und Verständnis meint hier ein Doppeltes: es überhaupt zu verstehen einerseits; sich in die unterschiedlichen Sprecherposi­tionen verstehend hineinzuversetzen andererseits. Das bedient nicht den Wunsch nach starken Lösungsversprechen und klaren Handlungsanweisungen. Es hört sich deshalb vielleicht nicht aufregend an – das ist es aber. Denn in dieser Einsicht steckt ein enormes Potenzial.

    Einer der ersten Leser des Manuskripts hat diesen Ton einen fatalistischen Optimismus genannt. Fatalistisch erscheint er vielleicht, weil er auf die Verstrickungen verweist, in denen wir uns immer schon befinden. Optimistisch ist er aber darin, dass diese Verstrickungen stets positiv gewendet werden. Denn es wäre gnadenlos naiv, zu glauben, dass wir ohne sie auch nur einen Satz hervorbringen könnten. Sie sorgen zwar für unsere Begrenzungen, versorgen uns aber auch mit dem Material und den Möglichkeiten, aus denen sich überhaupt erst sagbare Sätze machen lassen.

    Was tun wir eigentlich, wenn wir von verschiedenen Standpunkten aus miteinander reden, wenn wir unseren ganz normalen Alltag leben, wenn wir Führungsaufgaben übernehmen, wenn wir uns entscheiden müssen, wenn wir mit Krisen konfrontiert werden, wenn wir die Gesellschaft verändern wollen? Solche konkreten Situationen stehen jeweils im Mittelpunkt der folgenden Storys. Und sie werden oft verblüffend anders ausgehen, als man zunächst womöglich erwartet.

    Mein Programm ist nicht die Verstärkung und damit Selektion konkreter Forderungen. Mein Programm ist ein zugleich distanzierter und engagierter Blick auf Perspektiven. Meine Perspektive sind die Perspektiven. Das wirkt unspektakulär. Aber es richtet den Blick auch darauf, dass das Spektakel eben – im Wortsinne – nur ein Schauspiel ist. Ich lenke den Blick auf die unterschiedlichen Schauspiele, die überall aufgeführt werden. Auf die Schauspiele professioneller Sicherheiten, auf die Schauspiele des Entscheidens und der Behauptung von Wille und Vorstellung, auf die Schauspiele der Krisenkritik und der Medienereignisse. All diese Welten spielen etwas vor. Und auch ich behaupte keineswegs, dass ich kein Bühnenspektakel vorführe. Auf meiner Bühne aber sollen die anderen Bühnen als Bühnen vorkommen. Ich inszeniere dieses Buch deshalb als eine Beschreibung von Beschreibungen, die damit auf den ersten Blick womöglich abgewertet werden. Aber vielleicht nimmt man sie in ihrer Begrenztheit damit ernster. Wie auf Bühnen eben, auf denen sich folgende Paradoxie entfaltet: Es wird die ganze Welt gezeigt, alles Andere aber wird ausgeklammert.

    Diese Inszenierung wird keinen großen Lärm veranstalten. Denn vielleicht müssen Überraschungen in einer so lauten Welt eher leise daherkommen. In diesem Anspruch übrigens ist dieses in seiner ganzen Form geradezu unpolitische Buch wirklich politisch: Es entfaltet ein Programm zur leisen, aber darin überraschenden Beschreibung einer Gesellschaft, die so viel Unterschiedliches über sich weiß, dass sie fast nichts mehr über sich wissen kann. Und vielleicht gelingt es mir ja, nicht nur eine weitere Variante hinzuzufügen, sondern das Beschreiben selbst einsichtig zu machen. Ich lade die Leserin und den Leser jedenfalls ein, mit mir auf eine Reise zu gehen, auf der wir alltägliche Akteure treffen, die sich in ihren Verstrickungen redlich abmühen und denen es in ihren Begrenzungen immer wirklich um etwas geht.

    Perspektiven

    Warum wir dieselbe Welt so unterschiedlich sehen

    »Patient sind Sie aber nicht, oder?«, fragte mich der Taxifahrer, der mich vom Hauptbahnhof in die Klinik fahren sollte. Ich war in Eile, da mein Zug aus München mehr als eine Stunde Verspätung hatte. Der Fahrer wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern begann gleich zu erzählen. Seine Frau habe lange in dem Klinikum gelegen, sie sei schwer krank – eine unheilbare Krebserkrankung. Inzwischen sei sie zu Hause und werde dort versorgt, es sei ein Graus, und er sei jeden Abend froh, wenn sie einigermaßen über den Tag gekommen seien. Es gebe so viel zu bedenken – Medikamente müssten genommen, Ausscheidungen kontrolliert, Werte gemessen und die Schmerztherapie abgestimmt werden. Lange könne es so nicht mehr weitergehen. Für ihn, meinen Fahrer, sei das schon schwer, ihn überfordere das alles, manchmal wisse er wirklich nicht weiter. Und was solle man sagen, wenn man nach über dreißig Ehejahren gesagt bekomme, dass sie froh wäre, wenn es endlich vorbei wäre?

    Der Taxifahrer, ein vielleicht 65-jähriger beleibter Mann, hatte sich richtig in Rage geredet – auch wenn er die Geschichte mit seiner Frau, die medizinischen Details wie seine Ratlosigkeit, sicher nicht zum ersten Mal erzählte. Ich bekam das Gefühl, dass er mich fast vergessen hatte. Jedenfalls erschrak er ein wenig, als er sich wieder an meine Gegenwart zu erinnern schien. Wenn ich schon kein Patient war und auch nicht aussah wie ein Geschäftsreisender, lag nur eines nahe: »Was für ein Arzt sind Sie denn?« Ich betonte, kein Mediziner zu sein, und irgendwie war der Fahrer erleichtert: »Oh, ich dachte schon …«

    Ich fragte nach. Und wieder folgte eine ausführliche, sehr emotionale Schilderung. Niemand habe Zeit für ihn gehabt, kein Mensch sich wirklich für ihn und seine Frau interessiert, von jedem seien immer nur Teilantworten gekommen. Der behandelnde Arzt habe immer wieder auf den Oberarzt verwiesen, der sei immer nur für wenige Minuten greifbar gewesen, man werde aber alle nötigen Infos an den Hausarzt weitergeben. Die Stationsschwester habe irgendwie überlastet gewirkt. Die Einzige, die mal ein wenig Zeit gehabt habe, sei die evangelische Krankenhauspfarrerin gewesen, aber mit der Kirche hätten er und seine Frau es nicht so.

    Aus allem, was der Mann sagte, klang eine tiefe Enttäuschung darüber, dass es keine verbindlichen Gesprächspartner gab, dass niemand ihm sagen konnte, wie es weiterging und was getan werden müsse. Niemand sei so recht zuständig gewesen, manchmal hätten sich die Aussagen sogar widersprochen. »Es ist, glaube ich, besser, kurz und schnell zu sterben, am besten, man kriegt nix davon mit – und Andere auch nicht.« Und dann sagte er einen Satz, der mich nachhaltig berührt hat: »Machtloser als in so einem Krankenhaus sind Sie auch nicht, wenn Sie tot sind.« Der Satz hatte eine philosophische Schwere – und wir sind beide ein bisschen darüber erschrocken –, der Taxifahrer lachte, wohl um die Beklommenheit ein wenig aufzulockern …

    Als ich ihm eröffnete, dass ich ein Soziologe sei, der das Ethik-Komitee der Klinik besuchen wollte, nahm der Mann das als Aufforderung zu einer erneuten, sehr engagierten Rede über die Zustände in Krankenhäusern. Er habe ja das Gefühl, dass dort die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. »Versuchen Sie einmal, einen Arzt auf das festzunageln, was ein anderer Arzt gesagt hat, da werden Sie verrückt! Diese Doktoren, die sehen doch nur sich selbst, die sehen gar nicht, wie es um die Leute wirklich steht. Wenn's da­rum ging, dass meine Frau diese oder jene Pille bekommt, waren sie auf Zack, aber wenn es darum ging, wie es weitergehen soll und wie das alles zu Hause funktionieren soll, da wusste keiner Bescheid. Da hat doch keiner 'ne Ahnung vom Anderen.«

    Wie in einem Brennglas hat der Taxifahrer formuliert, wofür ich mich als Soziologe interessiere. Krankenhäuser sind für mich nicht nur Anstalten zur Krankenbehandlung, sondern auch eine Parabel darauf, wie das moderne Leben funktioniert: schnell und multiperspektivisch, kaum steuerbar und doch permanent unter Regulierungsdruck, befasst mit lebenswichtigen Entscheidungen und doch irgendwie ohne ein Zentrum, von dem her sich das Ganze erschließt. Ich hatte freilich nicht viel Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn wir waren am Klinikum angekommen, und ich musste das Taxi bezahlen. Der Fahrer fragte mich, ob ich anschließend zum Bahnhof zurückwolle, und wir machten einen Zeitpunkt aus, an dem er mich wieder abholen sollte.

    Wegen meiner Verspätung wurde ich an der Pforte schon erwartet. Ich war zu einer Sitzung des Klinischen Ethik-Komitees eingeladen, da ich in einem langjährigen Forschungsvorhaben über die Arbeitsweise solcher Gremien geforscht habe. An diesem Tag sollte es darum gehen, wie das Krankenhaus mit suizidären Patienten umgeht. Eine Mitarbeiterin brachte mich zum Konferenzraum, wo die Sitzung bereits in vollem Gange war. Jedenfalls machten die Leute, die um einen ovalen Tisch herum saßen, den Eindruck, dass sie durch meinen Auftritt unterbrochen wurden. Man spürte geradezu die Spannung, gegen die auch der Vorsitzende des Gremiums, ein Anästhesist im Ruhestand, den ich bereits von einem früheren Treffen her kannte, nichts ausrichten konnte. Allein der Takt, den die Situation erforderte, hinderte die Beteiligten offensichtlich da­ran, weiter zu debattieren – zumindest erschien es mir so.

    Der Vorsitzende begrüßte mich, und es folgte eine kurze Vorstellungsrunde. An der Sitzung nahmen der Verwaltungsleiter der Klinik teil, Seelsorger, mehrere Ärztinnen und Ärzte, darunter auch ein Palliativmediziner und ein Psychiater, ein Jurist, zwei Vertreterinnen des Pflegepersonals und eine Patientenfürsprecherin. Bereits in der Vorstellungsrunde kam es zu kleinen Spitzen der Anwesenden gegeneinander. Vor allem zwischen dem Psychiater und dem Juristen waren die Spannungen unübersehbar.

    Schon die Vorstellungsrunde machte deutlich, dass die Versammelten hier durchaus ein gemeinsames Interesse zusammenführte, dass die Gemeinsamkeit aber aus sehr unterschiedlichen Perspektiven gespeist wurde. So stellte sich der Verwaltungsleiter selbstironisch als derjenige vor, »der stets nur die glatte und kalte Perspektive des Geldes vertritt, also der unethische Part in diesem Ethik-Komitee«. Was mir als Außenstehendem wie ein gut einstudierter Scherz erschien, sorgte bei den anderen Beteiligten für genervte Gesichter. Ein Hinweis darauf, dass die Bemerkung eine längere gemeinsame Geschichte hatte.

    Es folgten ein Oberarzt der Inneren Medizin, der sich nur sachlich mit Namen und Funktion vorstellte, eine leitende Krankenschwester ebenso, wie auch der Psychiater, der sich dafür bedankte, dass mal jemand von außen der ganzen Sache »auf die Finger schaut«. Die beiden Seelsorger, ein etwas älterer katholischer ­Priester und eine junge, dynamische evangelische Pastorin, kamen aus ganz unterschiedlichen Welten – stellten sich aber beide als Partner aller Seiten vor. Sie seien »für die Menschen« da, auch für die, die im Krankenhaus »Dienst tun«, »Dienst am Menschen« nämlich.

    Es folgte ein junger Assistenzarzt, dessen ganzer Tonfall zweierlei demonstrierte: Er war einerseits sehr engagiert und interessiert, andererseits im Habitus eher gehemmt und vorsichtig. An seiner Haltung materialisierte sich irgendwie die strenge Hierarchie eines Klinikums mit ihren klaren Oben-unten-Strukturen und Weisungsbefugnissen. Auch wenn solche Institutionen Teil von Universitäten sind, herrscht in ihnen eine völlig andere Kultur als in anderen Fakultäten.

    »Sie sollten nicht so bescheiden sein«, sagte darauf der neben ihm platzierte Herr, der schon die ganze Zeit eher unruhig auf seinem Stuhl saß. »Sie dürfen ruhig erwähnen, dass Sie auch Philosophie studiert haben und ein echter Ethik-Experte sind.« Fast wurde der junge Mann rot, doch die Aufmerksamkeit wechselte nun auf jenen Herrn, der sich als Professor der Jurisprudenz, Strafrecht, vorstellte und kurz bemerkte: »In normativen Fragen reicht die Philosophie dann doch nicht.«

    Der Letzte in der Reihe war der Chefarzt der palliativmedizinischen Station des Krankenhauses, die zehn eigene Betten zur Verfügung hat und ansonsten konsiliarisch für andere Abteilungen des Hauses zuständig ist. Das Ganze hat vielleicht gute fünf Minuten gedauert – die Spannung vom Anfang war immer noch zu spüren. Ich habe dann selbst nach bravem Dank für die Einladung einige kurze Bemerkungen dazu gemacht, dass ich mich als Soziologe für solche Gremien interessiere, mich aber sehr kurz gehalten, mit der Bemerkung, dass die Sitzung ja bereits in vollem Gange gewesen sei und ich das Gefühl hätte, eine engagierte Diskussion unterbrochen zu haben.

    Der Vorsitzende des Gremiums wiegelte ab: »Nein, nein, wir sollten nun tatsächlich dazu kommen, dass wir ein wenig über unsere Arbeit berichten …« »Nein, unser Gast hat schon recht, wir haben bereits über einen schwierigen Fall diskutiert, und ich muss gestehen, dass ich immer noch ganz erschrocken darüber bin, wie das gelaufen ist«, traute sich der junge Assistenzarzt und Philosoph aus der Deckung und forderte damit offenbar den Juristen heraus.

    Der Vorsitzende nahm die Sache in die Hand. »Sie müssen wissen, dass es in unserem Haus vor einigen Wochen einen dramatischen Suizid eines Patienten gegeben hat, was uns seitdem nicht mehr loslässt, weil wir nicht wissen, ob wir Fehler gemacht haben, denn es hat durchaus Warnsignale gegeben, die wir hätten ernst nehmen müssen. Doch darüber, wie man sich hätte richtig verhalten sollen, ist nur schwer Einigkeit zu erzielen. Wir haben vor Ihrer Ankunft über diesen Punkt gesprochen, und vor allem zwischen dem psychiatrischen Kollegen und unserem Rechtsexperten hat es dabei erhebliche Differenzen gegeben.«

    Es folgte eine sachliche Beschreibung des Falls durch den psychiatrischen Kollegen. Der Patient, um den es gehe, habe bereits einige Tage vor seinem Suizid Andeutungen darüber gemacht, dass er seinem Leben ein Ende setzen wolle. Der Tumorpatient sei keineswegs in unmittelbarer Lebensgefahr gewesen, vielleicht habe ihn deshalb niemand wirklich ernst genommen. In der Summe seien die Hinweise eindeutiger zu interpretieren gewesen, aber mit seinen jeweiligen Bemerkungen seiner Krankenschwester, seiner Ehefrau und seinem Sohn gegenüber, aber auch an die Adresse des behandelnden Oberarztes habe er jeweils letztlich nicht die Schwelle der Aufmerksamkeit erreicht, die nötig gewesen wäre. Das sei letztlich der Anlass, über das eigene Verhalten im Krankenhaus genauer nachzudenken.

    Es war dem psychiatrischen Kollegen gut gelungen, ein wenig Dampf aus der Situation zu nehmen. Irgendwie wirkte die Atmosphäre auf einmal etwas entspannter. Dennoch interessierte mich, was der Anlass für die vorherige Stimmung gewesen war. Auf meine Nachfrage hin fuhr der Psychiater fort: »Ich habe heute zu Beginn unserer Sitzung nur bemerkt, dass man sensibler auf solche Bemerkungen achten muss, dass bereits die kleinsten Anzeichen deutliche Hinweise darauf sein könnten, dass solche Patienten nicht mehr Herr ihrer Lage sind. Man muss sie dann vor sich selbst schützen. Ich hätte es gut gefunden, wenn man

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