Die Durcheinanderwelt: Irrwege und Lösungsansätze
Von Kaspar Villiger
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Buchvorschau
Die Durcheinanderwelt - Kaspar Villiger
Kaspar Villiger
Die
Durcheinanderwelt
Irrwege und Lösungsansätze
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 3. Auflage 2017 (ISBN 978-3-03810-250-5)
Lektorat: Sigrid Weber, Freiburg
Titelgestaltung: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN E-Book 978-3-03810-340-0
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Den Sozialisten aller Parteien
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Durcheinanderwelt:
Wenn eine Weltordnung in eine Weltunordnung umschlägt
I. Auf der richtigen Seite war’s im Kalten Krieg gar nicht so schlecht!
II. Die Krise der Marktwirtschaft oder die Rückkehr des Primats der Politik
III. Die Krise der Demokratie und das Scheitern ihres Exports
IV. Die Dominanz der Interessen über die Werte
V. Die Krise der Europäischen Union
VI. Migration, Terrorismus, Cyber-Kriminalität, Social Media, Digitalisierung, Umweltbelastung, Demografie und Zufall, oder was die Lage sonst noch komplizieren wird
VII. Versuch einer Synthese
VIII. Was jetzt geschehen müsste und vermutlich nicht geschehen wird
IX. Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?
Blüte und Siechtum von Nationalstaaten
I. Das Sozialmodell
II. Es gibt kein einheitliches Welt-Sozialmodell
III. Sozialmodelle leben!
IV. Die Zersetzung guter Sozialmodelle
V. Einwanderung: Fluch oder Segen?
VI. Fazit
Skizze eines neuen Europa.
Ein Zehnpunkteprogramm wider den Zeitgeist
I. Nichtspieler Maul halten?
II. Misserfolg oder nur starke Grippe?
III. Die Krankheit
IV. Was ist eigentlich dieses Europa?
V. Sechs strategische Leitplanken
VI. Ein Zehnpunkteprogramm zur Revitalisierung der EU
VII. Schlussbemerkungen
Etüden zur Freiheit
Anmerkungen
Der Autor
Vorwort
Plagiate können nicht nur zu Doktortiteln verhelfen, sondern auch Politikerkarrieren beenden. Wer noch etwas werden will, sollte sich deshalb vor ihnen hüten. Ich befinde mich in der privilegierten Lage, das zu werden Anzustrebende schon gewesen zu sein und mithin nichts mehr werden zu müssen. Ich könnte mir deshalb einige versteckte Plagiate ohne allzu grosse Risiken leisten. Trotzdem will ich Transparenz schaffen und zwei Plagiate vorsorglich offenlegen. Beim Titel dieser Schrift habe ich mich, wie Literaturfreaks sofort bemerkt haben werden, von Friedrich Dürrenmatt inspirieren lassen. In seinem Roman Durcheinandertal bildet er mit grotesk überzeichneten Figuren die verwirrenden Verflechtungen unserer unübersehbaren chaotischen Welt ab. Mir schien es deshalb plausibel, seine Bezeichnung für das Bergtal auch gleich als Bild für eine komplexe, interdependente und zurzeit krisengeschüttelte Welt zu verwenden. Des Weiteren habe ich die Widmung dieser Publikation, «Den Sozialisten aller Parteien», von Friedrich A. von Hayek kopiert, der sein Buch Der Weg zur Knechtschaft mit dieser Widmung versah. Sie hat für mich eine doppelte Symbolik: Erstens zeigt sie, dass die permanente Auseinandersetzung der liberalen mit den interventionistischen politischen Kräften eine wirtschaftspolitische Konstante zu sein scheint, die weder durch den offensichtlichen Erfolgsausweis der Marktwirtschaft noch durch den Kollaps der Sowjetunion beendet worden ist. Vielleicht spiegelt diese Auseinandersetzung ja etwas sehr Grundlegendes wider, nämlich die Doppelnatur des Menschen als Individuum und zugleich Teil eines Kollektivs. Deshalb mag es immer politische Kräfte geben, die eher das Individuum oder eher das Kollektiv in den Mittelpunkt stellen. Das ist auch nicht zu kritisieren, denn beide Aspekte müssen in die Politik einfliessen.
Zweitens ist es offensichtlich nicht so, wie häufig behauptet wird, dass sich der Liberalismus zu Tode gesiegt habe, weil seine Ideen Gemeingut aller Parteien geworden seien. Zwar stimmt es, dass viele liberale Grundsätze heute für fast alle demokratisch gesinnten Parteien links und rechts selbstverständlich geworden sind. Das ist mit ein Grund dafür, dass langfristig betrachtet die Menschheit in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht so enorme Fortschritte gemacht hat. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Klar identifizierbare Elemente sozialistischen Gedankenguts, etwa in Form des Glaubens an umfassende staatliche Machbarkeit, an interventionistische wirtschaftspolitische Massnahmen oder an übertriebene Umverteilung, sind auch in Programme bürgerlicher Parteien eingesickert. Man denke nur etwa an die deutliche «Sozialdemokratisierung» der deutschen CDU unter Angela Merkel. Wie die wirtschaftliche Entwicklung der meisten Industrieländer zeigt, frommt das vielen Ländern nicht. Deshalb ist es für mich klar: Wir brauchen eine Revitalisierung des Liberalismus, nicht «more of the same». Das möchte ich in dieser Schrift begründen.
Als praktizierender Patriot, als den ich mich empfinde, habe ich mich in meinen Vorträgen und Schriften bisher vornehmlich mit der Schweiz, ihrem politischen System und ihrer Wirtschaft auseinandergesetzt. Als Kleinstaat ohne Macht und ohne Bodenschätze, dessen Wohlstand allein auf dem Welthandel beruht, ist sie allem ausgesetzt, was auf dieser Welt geschieht. Es muss uns also interessieren, was auf diesem Planeten los ist, auf dem wir bloss ein kleines Mosaiksteinchen sind. Viele Schweizerinnen und Schweizer wissen das. So ist der Auslandteil unserer Zeitungen auch wesentlich umfangreicher als etwa der amerikanischer Zeitungen (sofern es ihn dort überhaupt gibt). Deshalb wollte ich für einmal den Fokus auf das Geschehen ausserhalb der Schweiz richten. Dabei habe ich den grössten Teil dieser Schrift nicht im Hinblick auf eine Publikation geschrieben. Es war vielmehr der Versuch, Ordnung in meine eigenen Gedanken zu bringen und ganz für mich allein das Geschehen auf dieser Welt besser zu verstehen. Dass wenige Freunde dann befanden, das Ergebnis dieser privaten Beschäftigungstherapie könnte aber doch da und dort auf Interesse stossen, hat mich gefreut.
Das wirft natürlich die Frage auf, ob es in der Kakofonie der Weltanalysen von Universitätsinstituten, Thinktanks, Parteien, Expertenkommissionen, Nobelpreisträgern, Kolumnisten, Bloggern, Chefredaktoren, Sachverständigenräten und Direktionsstäben wirklich noch die Stimme pensionierter Politiker braucht. Natürlich braucht es sie nicht, und sie wird die Welt auch nicht messbar verändern. Zwei Aspekte sind indessen zu bedenken. Erstens ist wissenschaftlich belegt, dass die meisten Prognosen auch von Experten falsch sind.¹ In dieser Hinsicht fällt der pensionierte Politiker wahrscheinlich nicht ab. Zweitens gibt es ja noch so etwas wie Lebenserfahrung, deren Auswertung auch nicht immer nur zu Fehlschlüssen führt. Als ehemaliger Unternehmer weiss ich beispielsweise, auf der Basis welcher Beurteilungen Unternehmen eine Investition tätigen oder eben nicht. Das Achtelprozent Zinsreduktion, mit dem etwa Notenbanker die Wirtschaft stimulieren wollen, ist nicht dabei. Dass bei gar keinem Zins aber die Versuchung wächst, die falsche Investition zu tätigen, ist auch nicht zu bestreiten. Wenn man die abnehmende Wirkung der aktuellen Geldpolitik betrachtet, kann man durchaus zur Einsicht kommen, dass Lebenserfahrungen nicht unbedingt schlechtere Prognosen als ausgeklügelte Modelle des Federal Reserve Systems (Fed) oder der Europäischen Zentralbank (EZB) ergeben müssen. Oder wer als Finanzminister im Parlament stundenlang zuhören musste, wie Politiker simple Geschenke an ihre Wählerschaft als ganz zentrale Voraussetzung des Gemeinwohls rühmten, der mag durchaus Erkenntnisse gewonnen haben, die für die Beurteilung finanzpolitischer Zusammenhänge relevant sind.
Die noch wichtigere Frage ist natürlich, ob die Komplexität der Welt und die Wirkungsmacht des Zufalls überhaupt zuverlässige Aussagen zum Funktionieren der Weltpolitik und der Weltwirtschaft zulassen. Jede Aussage beruht auf Überlegungen, die Modellcharakter haben und die zahlreiche auch noch vorhandene Phänomene und Einflüsse ausblenden müssen, um überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen. Aus der Erfahrung mag sich eine Art Intuition entwickeln, die Lücken im Wissen zu überbrücken vermag. Aber klar: Jede Analyse ist auch Spekulation, und die im Grunde langfristig positive Entwicklung der Welt zeigt, dass sich im Widerstreit von Meinungen und Analysen immer wieder Lösungen herausschälen, die die Menschheit weiterbringen. Aber für all das braucht es Freiheit: Freiheit im Denken, Freiheit zur Versuch-Irrtum-Methode, Freiheit, etwas zu unternehmen. Wenn von meinen Überlegungen nur diese Botschaft bleibt, haben sie ihren Zweck erfüllt!
Ich muss die allfällige Leserin oder den allfälligen Leser noch auf zweierlei aufmerksam machen. Weil zufällige und unerwartete Ereignisse grossen Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen können – Beispiele sind etwa Fukushima oder der Einfall der Russen in die Krim – und weil sich ohnehin alles ständig verändert, kann zwischen der Redaktion einer Studie und deren Drucklegung einiges geschehen, das auch noch hätte berücksichtigt werden müssen. Ein Autor muss aber irgendwann – in meinem Fall Mitte November 2016! – eine Art Redaktionsschluss verfügen. Sollten also beispielsweise bis zur Drucklegung die Briten den Brexit-Entscheid unerwarteterweise widerrufen oder käme das Freihandelsabkommen TTIP trotz wachsenden Widerstands dagegen doch noch rasch zustande, bitte ich um Entschuldigung. Ich hätte es nicht vorausgesehen. Ich nehme aber an, dass die grundsätzlichen Gedanken, um die es mir geht, trotzdem noch richtig sind. Das ist das eine. Nun das andere: Weil die Aufsätze dieser Schrift je für sich allein sollen gelesen werden können und weil teilweise gleiche Einflussfaktoren für verschiedene Themen relevant sind, kommt es zu Duplizitäten. Sie sind aus diesen Gründen gewollt. Ich habe aber versucht, solche Faktoren – etwa die Krise der Demokratie – nur einmal ausführlich, beim zweiten Mal eher summarisch zu beschreiben.
Ich bin mir bewusst, dass ich mit meinen sehr liberalen wirtschaftspolitischen Überzeugungen gegen den aktuellen politischen Mainstream schwimme. Mit Verweisen auf Schriften renommierter Wissenschaftler will ich belegen, dass auch andere Kommentatoren die Dinge ähnlich sehen. Ich weiss aber natürlich, dass sich auch zahllose Belege für gegenteilige Meinungen finden. Das beeindruckt mich allerdings nicht sonderlich. Es gibt auch in der Ökonomie bisweilen eine Art Herdentrieb, der dazu führt, dass hervorragende Wissenschaftler mit eindrücklichen Leistungsausweisen in die falsche Richtung mitrennen. Diesen Eindruck habe ich zurzeit vor allem bei einigen linken amerikanischen Ökonomen. Ein kleiner Beleg dafür, dass auch unbestritten fähige Ökonomen von unverständlichen kognitiven Verzerrungen heimgesucht werden können, mag Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sein, der 2007 bei einem Besuch Venezuelas die Wirtschaftspolitik Hugo Chávez’ über den grünen Klee lobte und als zukunftsweisend beurteilte.² Wir alle haben aber zusehen müssen – und es war wirklich vorauszusehen! – wie gerade diese Politik dieses Land mit seinen enormen Erdölreserven nachhaltig ruiniert hat.
Als Unternehmer und Mitglied einer Exekutive konnte ich es notgedrungen nie bei Analysen bewenden lassen, sondern musste Lösungen entwickeln, die sich in der Praxis zu bewähren hatten. Das geht mit der Zeit irgendwie in Fleisch und Blut über. So beschäftigt mich nicht nur, wie es zur Krise der Marktwirtschaft oder der Demokratie kommen konnte, sondern auch, wie dem konkret zu begegnen wäre. Die Krise der Europäischen Union ist gerade für die Schweiz der intensiven mannigfachen Verflechtungen wegen von besonderer Relevanz. Das ist der Grund dafür, dass ich mit einem Zehnpunkteprogramm einen doch recht konkreten Strategiewechsel zu skizzieren versuche. Gewiss, das ist eine Art Reissbrettskizze (neudeutsch «Blueprint»), deren Umsetzung eine politische Herkulesarbeit wäre. Meine Skizze basiert nicht nur auf einigen ökonomischen Prinzipien, sondern auch auf konkreten Erfahrungen mit dem schweizerischen und auch amerikanischen Föderalismus. Acemoğlu und Robinson haben gezeigt, dass oft kleine Veränderungen in den Anreizstrukturen der Institutionen langfristig grosse Wirkungen entfalten können.³ Ein Beispiel ist die bekannte Agenda 2010 in Deutschland, die nicht enorm mutig war, sich aber als segensreich erwiesen hat. Leider gilt diese Erkenntnis über die Bedeutung kleiner Veränderungen für beide Richtungen, der positiven und der negativen. Übertragen