Politischer Islam und Demokratie: Konfliktfelder
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Christine Schirrmacher
Christine Schirrmacher ist habilitierte Islamwissenschaftlerin und lehrt als Professorin für Islamwissenschaft an den Universitäten Bonn und Leuven. Sie studierte Islamwissenschaft, Geschichte, Germanistik und Vergleichende Religionswissenschaft in Gießen und Bonn und promovierte im Fach Islamwissenschaft an der Universität Bonn mit einer Arbeit zur christlich-islamischen Kontroverse im 19. und 20. Jahrhundert. Sie habilitierte sich dort mit einer Arbeit über die Positionierung einflussreicher muslimischer Theologen des 20. Jahrhunderts zu Religionsfreiheit, Menschenrechten und dem Abfall vom Islam. Sie unterrichtet an mehreren Hochschulen und Akademien, seit 2001 jährlich an der "Akademie Auswärtiger Dienst" (ehemals Diplomatenschule) des Auswärtigen Amtes, Berlin, sowie seit 2007 fortlaufend als Gastdozentin bei Landes- und Bundesbehörden der Sicherheitspolitik. Als Professorin für "Islamic Studies" lehrt sie seit 2005 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät (ETF) in Leuven, Belgien, sowie seit 2012 als Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Bonn. 2013 übernahm sie eine Gastprofessur an der Universität Erfurt und vertrat den dortigen Lehrstuhl für Islamwissenschaft, 2013/14 lehrt sie als Gastprofessorin an der Universität Tübingen am Institut für Humangeographie (Schwerpunkt Politische Geographie und Konfliktforschung). Sie veröffentlichte rund 15 Bücher zum Thema Islam und ist Mitglied mehrerer gesellschaftspolitischer Beratergremien wie etwa dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie ist auch wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Islamfragen der Evangelischen Allianz in Deutschland, Österreich, Schweiz
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Politischer Islam und Demokratie - Christine Schirrmacher
Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7295-0 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5655-4 (Lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
© der deutschen Ausgabe 2015
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de · E-Mail: info@scm-verlag.de
Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
INHALT
Vorwort
Teil I Islam in Deutschland
Kapitel 1 Islam und Islamismus
Islam in Deutschland
Islamismus in Deutschland
Entstehung und Kennzeichen des Islamismus
Islamistische Meinungsführer und ihr Einfluss auf Europa
Konfliktfeld Religionsfreiheit
Konfliktfeld Frauenrechte
Kapitel 2 Muslime in Deutschland: Erhebungen zu Integration, Demokratie, Rechtsstaat und Gewalt
Zielgruppen der Studie
Ergebnisse
Fazit
Kapitel 3 Konversion und Radikalisierung: Ursachen – Problemanzeigen
Islam in Europa – eine Bedrohung?
Muslime in Deutschland – Fremde geblieben?
Toleriert Europa Religiöse?
Konversionen zum Islam als Bewältigung der Moderne?
Wege in die Radikalität
Fazit
Teil II Islam und Rechtsstaatlichkeit
Kapitel 4 Islam und Demokratie – ein Widerspruch?
Unverzichtbare Bestandteile einer Demokratie
Der Kampf um die »ideale« islamische Ordnung
Islam und Demokratie damals und heute
Demokratie und Schariarecht
Positionen islamischer Intellektueller zur Demokratie heute
Fazit
Kapitel 5 Schariarecht: Anspruch auf Gesellschaft und Politik
Bedeutung des Begriffs der »Scharia«
Die Scharia als »Weg zur Tränke«
Grundlagen der Scharia
Die Auslegung des Schariarechts
Scharia – auch in Deutschland?
Kapitel 6 Zwangsehen erlaubt? Die Praxis der Zwangsverheiratung – ist sie »definitiv unislamisch«?
Die Quellenlage
Kulturelle Aspekte: Hat die Braut die Möglichkeit zur Ablehnung der Eheschließung?
Eheschließungen in islamisch geprägten Gesellschaften in der Geschichte – Schlaglichter
Freiwillige Eheschließung oder Zwangsehe? Ein Blick auf die heutige Praxis
Das Menschenrecht auf eine freiwillige Eheschließung
Kapitel 7 Friedensrichter und Schariagerichtshöfe
Schariarichter und Schariagerichtshöfe – worum dreht sich die Diskussion?
Kommen Scharianormen in deutschen Gerichtssälen zur Anwendung?
Schariagerichtshöfe auch in Deutschland?
Streitschlichter und Friedensrichter in Deutschland
Fazit
Kapitel 8 Ehrenmorde zwischen Migration und Tradition
»Ehre« und »Schande« im nahöstlichen Kontext
Die Verletzung der Ehre und ihre Folgen
Opfer und Täter – in derselben Familie
Männer als Mit-Gefangene des Systems
Wurzeln des Ehrenmordes
Strafverfolgung und Strafmilderung
Ehrenmorde im westlichen Kontext
Teil III Islam und Freiheitsrechte
Kapitel 9 Der Karikaturenstreit und die Frage der Gewalt
Der Karikaturenstreit
Die Muhammadkarikaturen und ihre Folgen
Kennt »der Islam« überhaupt ein Bilderverbot?
Die Anwendung des Bilderverbots in der Moderne: Schlaglichter der Diskussion
Fazit
Die Frage der Gewalt: Interview anlässlich der Attentate auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, Paris, Januar 2015
Kapitel 10 Pro und kontra Menschenrechte
Die Bedeutung der Menschenrechtsdiskussion
Islamische Menschenrechtserklärungen
Islamisch definierte Menschenrechte in der apologetischen Debatte
Muslimische Stimmen abseits der offiziellen islamischen Menschenrechtserklärungen
Bemühungen um die Verbesserung der Menschenrechtssituation in islamischen Ländern
Menschenrechtsarbeit – wohin?
Der Einfluss der Schariathematik auf die Menschenrechtsdiskussion
Kapitel 11 Apostasie und Religionsfreiheit
Folgen des Abfalls vom Islam
Die Blasphemiegesetze in Pakistan und ihre Opfer
Gründe für die Ablehnung voller Religionsfreiheit im Islam
Koran, Überlieferung und islamische Theologen über die Apostasie
Wer ist ein Apostat?
Apostasie im 20. Jahrhundert: Bekenntnis gilt als Umsturzversuch
Religionsfreiheit nach Definition des Iran
Das Thema Religionsfreiheit gehört auf die Tagesordnung internationaler Politik und Diplomatie
Anmerkungen
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VORWORT
Was macht den Kern des Islam aus: Ist er vor allen Dingen Religion – oder sogar ausschließlich Religion –, umfasst er auch Gesellschaft und Politik oder muss er in jedem Fall in Gesellschaft und Politik, Recht und Gesetz umgesetzt werden, um vom einzelnen Gläubigen überhaupt praktiziert werden zu können?
Diese Frage nach dem »eigentlichen« Kern des Islam stellte sich in den vergangenen Jahrhunderten in den nahöstlichen Gesellschaften mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, die ohnehin keinen »Staat« (geschweige denn einen Rechtsstaat) im modernen Sinne kannten, weitaus weniger. Sie erhält aber in den europäischen Gesellschaften mit muslimischen Minderheiten ganz neue Bedeutung.
Hinzu kommt, dass der Islam seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von politischen Bewegungen hervorbrachte, die eine Reduzierung des Islam auf Ethik und Glaube dezidiert als Unglaube und Abfall vom Islam verurteilten und eine Durchdringung der Gesellschaft mit dem Islam und politische Umsetzung des Islam einfordern.
Diese Aufsatzsammlung behandelt die sich aus diesem politischen Islam ergebenden Konfliktpunkte mit der demokratisch-freiheitlichen Gesellschaft. Die einzelnen Artikel sind in den vergangenen Jahren an verschiedenen Orten publiziert worden – die genaueren Angaben finden sich am Ende jedes Artikels – und werden hier leicht bearbeitet zusammengefasst.
Der politische Islam ist nicht »der Islam«, sondern ein Ausschnitt aus einem sehr diversen Spektrum an Auffassungen innerhalb der islamischen Theologie und unter Muslimen. Mit der Behandlung von Themen wie Zwangsehe, Demokratieverträglichkeit oder Karikaturenstreit soll nicht der Eindruck vermittelt werden, dass alle Muslime diese hier erläuterten Auffassungen teilen – im Gegenteil. Auch ist nicht alles »islamisch« oder wird von Koran und Sunna vorgeschrieben, was gesellschaftlich vielleicht so wahrgenommen wird, wie etwa das Phänomen der Zwangsehe. Gerade, um eine Sachdebatte führen zu können, ist jedoch eine faktenorientierte Auseinandersetzung mit politischen, geschichtlichen, kulturellen, traditionellen und religiösen Wurzeln und Ursachen für die hier erläuterten Konfliktpunkte zwischen einem Islam, der einen dezidiert politischen Anspruch vertritt und einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar.
Bonn, im Juli 2015
Christine Schirrmacher
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TEIL I | ISLAM IN DEUTSCHLAND
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KAPITEL 1
Islam und Islamismus
Der Islam ist mittlerweile die zweitgrößte Religion in Deutschland. Dieser Umstand rückte erst spät, vor allem nach dem 11. 9. 2001, vollends ins gesellschaftliche Bewusstsein. Das zeigte nicht zuletzt die hitzig geführte Debatte über die Äußerung des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit aus dem Jahr 2010: »Der Islam gehört zu Deutschland.« Während seine Aussage als die eines hochrangigen Repräsentanten des deutschen Staates für die einen ein wohltuendes öffentliches Bekenntnis zur Zugehörigkeit von Muslimen zur deutschen Gesellschaft darstellte, war sie für die anderen ein historisch nicht belegbarer und für die Gegenwart in seiner Allgemeingültigkeit zumindest disputabler Anspruch auf Mitbestimmungsrechte und religionsrechtliche Parität. ¹
Wer hätte nach Kriegsende, in der Geburtsstunde der deutschen Demokratie, den Gründervätern der Bundesrepublik die heutige Entwicklung vorhersagen können? Mit Sicherheit niemand. Nur wenige Jahrzehnte später ist der Islam mit einer Vielfalt unterschiedlicher Gruppierungen mit bis zu 4,4 Millionen Menschen muslimischen Glaubens ² unumkehrbar Teil der deutschen Gesellschaft geworden.
Islam in Deutschland
Die Geschichte des Islam in Deutschland beginnt bereits mit dem Jahr 1961, als die Bundesrepublik Deutschland die ersten Anwerbeverträge mit Arbeitnehmern aus der Türkei, vor allem aus Anatolien, schloss. Wichtiger als eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung war vor der Einreise der Gesundheitstest – einschließlich einer Überprüfung der Zahngesundheit. Viele Menschen kamen als ungelernte Arbeitskräfte – ja, manche sogar als Analphabeten –, um im Bergbau, in der Stahl- und Baubranche oder in den Fertigungshallen der Automobilindustrie das ungeheure Wirtschaftswachstum in Nachkriegsdeutschland voranzutreiben, für das bei Vollbeschäftigung keine weiteren Arbeitsmarktreserven innerhalb der europäischen Grenzen mobilisiert werden konnten. Viele Männer kamen ohne Familie, als »Gastarbeiter«, mit der erklärten Absicht, nach einigen Jahren in die Heimat zurückzukehren. ³ Das entsprach auch der Zielvorgabe aufseiten der deutschen Politik.
Weder die Zuwanderer noch die Aufnahmeländer Europas rechneten ursprünglich mit einem dauerhaften Zusammenleben. Beide Seiten gingen zunächst von wenigen Jahren aus. Jahre später erschien die wirtschaftliche und teilweise auch die politische Lage in der Türkei wenig vielversprechend, und als 1973 die Bundesrepublik einen Anwerbestopp erließ – es lebten damals 910 500 Türken in der Bundesrepublik ⁴ –, den Familiennachzug aber weiter ermöglichte, kam es nicht zur erwarteten Rückkehrbewegung: Ehefrauen und Kinder zogen nach, die zweite Generation muslimischer Migranten in Deutschland wuchs nun in Deutschland auf. Durch eine im Vergleich zur deutschen Bevölkerung höhere Geburtenrate, durch Flüchtlinge und Zuwanderer aus verschiedenen islamisch geprägten Ländern (neben der Türkei vor allem Bosnien-Herzegowina, dem Iran, Afghanistan, Pakistan und einigen arabischen Ländern wie dem Irak, Libanon, Syrien, Tunesien oder Marokko), durch Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge, durch Studenten und später auch durch die gezielte Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte und eine wachsende Zahl von deutschen Konvertiten zum Islam wuchs die Zahl der Muslime in Deutschland auf heute – allein aus der Herkunft hochgerechnete und daher weiterhin lediglich geschätzte – 4,2 bis 4,4 Millionen Menschen an. Die meisten Muslime in Deutschland sind Sunniten (über 70 %), kleinere Gruppen stellen in Deutschland Schiiten, Aleviten (die sich zu Teilen als eigene Religionsgemeinschaft, zu Teilen als liberale Muslime verstehen) oder Ahmadiya-Anhänger dar (die sich selbst als die einzigen rechtgläubigen Muslime verstehen, von Sunniten und Schiiten jedoch gar nicht als Muslime anerkannt werden). ⁵
Die Geschichte des Islam in Deutschland umfasst also bereits einen Zeitraum von über 50 Jahren, wurde aber zunächst nur unter der Überschrift einer »vorübergehenden Präsenz« betrachtet: Bis mindestens 1980 gingen im Großen und Ganzen politische Entscheidungsträger, aber auch die Bevölkerung von der Annahme aus, dass die muslimischen »Gastarbeiter« baldigst in die Türkei zurückkehren würden. Auch wenn das über die Jahrzehnte für viele Familien zutraf, kam es doch nie zu den erwarteten großen Rückkehrbewegungen – leider setzte sich diese Erkenntnis nur sehr mühsam durch und es ergaben sich daher nur wenige Konsequenzen für konkretes politisches Handeln zur Bewältigung der Integration derjenigen, die dauerhaft in Deutschland leben würden.
Unvorbereitet auf diese Situation trafen jedoch nicht nur die deutsche beziehungsweise europäischen Gesellschaften, sondern auch die Menschen aus den verschiedenen islamisch geprägten Herkunftsländern. In Abhängigkeit von der Bindung an die eigene Religion mussten in der westlich-säkularisierten Gesellschaft neue theologische und politisch-gesellschaftliche Standortbestimmungen vorgenommen werden. Wie kann der islamische Glaube in westlichen Gesellschaften gelebt werden? Welche Regeln sind unaufgebbar, welche treten in ihrer Bedeutung zurück? Darf zum Beispiel das von Nichtmuslimen geschlachtete (nicht geschächtete) Fleisch von Muslimen verzehrt werden (eine Situation, die in islamisch geprägten Ländern kaum je auftreten wird)? Dürfen Mädchen mit Jungen am gemeinsamen Schwimmunterricht teilnehmen oder auf Klassenfahrt gehen? Darf der eigene Sohn eine deutsche, nicht muslimische Frau heiraten oder sogar die muslimische Tochter einen nicht muslimischen Ehemann? Dies ist ein Fall, der im herkömmlichen islamischen Recht abgelehnt wird, da die Kinder einer gemischten Ehe in jedem Fall religionsrechtlich Muslime sein müssen, es aber nicht wären, wenn der Vater nicht muslimischen Glaubens ist. Manche Familien begannen in dem Wunsch, ihre kulturellen Wurzeln zu bewahren, erstmals in der Diaspora, ihre Religion im eigentlichen Sinne zu praktizieren, andere beachteten die Vorschriften strenger als im Herkunftsland. Dadurch wurde in Teilen besonders des türkischen Islam in Deutschland eine konservative Religiosität »konserviert«, die sich in der heutigen Türkei, insbesondere der Westtürkei, erheblich fortentwickelt, ja zu guten Teilen säkularisiert hat.
Mit dem Nachzug der Familien kam es erstmals zu einer sichtbaren Ausprägung muslimischen Lebens in Deutschland: Türkische Geschäfte wurden eröffnet, religiöse Feste wurden in türkisch geprägten Stadtvierteln gefeiert und die (teilweise dörflich geprägten) Traditionen nun vor allem von den Frauen an die nachfolgende Generation vermittelt, Kulturzentren und mehr Moscheen (und diese nicht mehr nur in Hinterhöfen und Fabrikhallen) wurden eröffnet, teilweise wurde um den lautsprecherverstärkten Gebetsruf oder die Höhe des Minaretts prozessiert ⁶ und in manchen, besonders bildungsfernen Familien Töchter jung und ohne Mitspracherechte in die Türkei verheiratet.
Noch in den 80er-Jahren ging man mehr oder weniger unausgesprochen davon aus, dass die Integration derer, die bleiben würden, sich quasi von selbst vollzöge und keines besonderen Augenmerks bedurfte. Ja, noch in den 90ern vertraten Verantwortungsträger die These, dass Zuwanderer einer muslimisch geprägten Kultur in der zweiten, spätestens dritten Generation ihre religiös-kulturellen Werte so der säkular geprägten, pluralistisch-postmodernen Gesellschaft untergeordnet haben würden, dass ihre spezifische Herkunft und religiöse Prägung nicht mehr ins Gewicht fiele, ja schon bald nicht mehr erkennbar sei. Für den Zeitraum der ersten Jahrzehnte der Migration ist daher Günther Lachmann zuzustimmen, wenn er schreibt: »Die meisten Deutschen lehnten es in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren ab, die Immigranten als dauerhaft festen Bestandteil der Gesellschaft zu begreifen.« ⁷ Wenn die »andere Kultur« überhaupt wahrgenommen wurde, dann wurde sie entweder kritiklos bewundert oder aber ignoriert und abgelehnt. Fundiertes Wissen über den Islam als Religion sowie eine faktenbasierte Auseinandersetzung mit dem politischen Islam wurde viel zu lange vernachlässigt.
Es bleibt daher bis heute eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Sprach- und Integrationsschranken weiter abzubauen, Bildungs- und Berufsoptionen für Migranten nachdrücklich zu fördern und sich für ein gelingendes Miteinander nachhaltig einzusetzen. Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund einer Religionszugehörigkeit, Pauschal- und Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Die Globalisierung von Information und Mobilität hat das Gesicht Europas nachhaltig verändert und eine multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft hervorgebracht, die immer diverser wird. Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen, die ihr ganzes Leben in Deutschland zugebracht haben, aber dennoch das Gefühl haben, weiter als »Ausländer« angesehen zu werden und nicht zur deutschen Gesellschaft dazugehören zu dürfen, tragen zudem nachgewiesenermaßen – verstärkt durch Brüche in der eigenen Biografie wie der plötzlichen Verpflanzung in eine andere Kultur oder persönliche Katastrophen wie Scheidungen oder Tod von Angehörigen – in manchen Fällen zu einer Radikalisierung bei. Hier geht es um Menschen, die sich der deutschen Gesellschaft so stark entfremdet haben, dass sie zwar mit den Füßen noch in Deutschland leben, sich mit dem Kopf und vor allem mit dem Herzen jedoch längst abgewandt haben; einige von ihnen haben sogar den Entschluss gefasst, diese Gesellschaft zu bekämpfen. ⁸
Im 21. Jahrhundert sollte alles dafür getan werden, damit Migranten, unter denen viele aus islamisch geprägten Herkunftsländern stammen, sich in Deutschland zu Hause fühlen und sich mit Land, Leuten und dem deutschen Rechtsstaat identifizieren können. Es besteht viel Nachholbedarf darin, mit gläubigen Muslimen, die keinerlei staatsgefährdende politische Zielsetzung verfolgen, sondern als friedliche Bürger in diesem Land leben, in Selbstverständlichkeit umzugehen und sie nicht als mögliche Sympathisanten von Terror und Islamismus zu verdächtigen. Viele der sich aus der Zuwanderung von Menschen aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens ergebenden Herausforderungen betreffen Bereiche wie Bildungs- und Sprachförderung, die Anerkennung von Schul- und Berufsqualifikationen, kulturelle Fragen sowie die Bereitschaft zu Dialog, Gespräch und Begegnung. Diese Probleme sind nicht über Nacht zu lösen, sie sind jedoch lösbarer Natur; nicht die Tatsache, dass ein Teil der Migranten muslimischen Glaubens ist, macht die eigentliche Herausforderung für Deutschland aus. Diese liegt vielmehr im politischen Islam, seiner Weltanschauung sowie seiner Protagonisten:
Islamismus in Deutschland
In Bezug auf die Bedeutung und den Einfluss des politischen Islam und seine Vertreter, politische Parteien, Ideologien, Theologen und Bewegungen aus den islamischen Herkunftsländern, die teilweise großen Einfluss auf die muslimische Gemeinschaft in Deutschland ausüben, muss die Diskussion in Deutschland noch viel mehr vertieft werden. Dieser Einfluss vollzieht sich auch über TV-Sender, Ratgeber- und Informationsseiten im Internet, Literaturverbreitung und Predigten muslimischer Rechtsgutachter (Muftis) und Theologen, die sich häufig in besonderer Weise an muslimische Jugendliche wenden. ⁹
Beim politischen Islam geht es nicht notwendigerweise um die Frage von Gewalt und Terror. Der gewaltbereite Extremismus ist nur ein Flügel des politischen Islam und insgesamt ein zahlenmäßig kleines Spektrum. Zum politischen Islam rechnet man auch jenen Bereich des Islamismus, der seine Ziele mit rechtsstaatlichen Mitteln, mit Strategie, zum Teil aus dem Ausland stammenden Finanzquellen und gut geschultem Personal, aber nicht weniger entschlossen verfolgt. Der politisch motivierte Islam übt seinen Einfluss über Privatpersonen und Vereine, über Moscheen und Dachorganisationen aus und dies in zweifacher Weise:
Zum einen erklärt er sich als organisierter Islam zum Sprachrohr »der« Muslime in Deutschland und verwendet dabei Titel wie »Zentralrat der Muslime«, obwohl gerade der »Zentralrat« vielleicht nur 1 Prozent der Muslime in Deutschland vertreten dürfte. Insgesamt gehören vielleicht 25 Prozent aller Muslime hierzulande einem Moscheeverein oder islamischen Organisationen an. ¹⁰ Dennoch formuliert der politisch organisierte Islam öffentliche Stellungnahmen und erhebt Forderungen im Namen »des Islam«. Da die muslimische Gemeinschaft weder eine den Kirchen vergleichbare Mitgliedschaft noch Hierarchie kennt, ernennt sich der organisierte Islam damit selbst zum Dialogpartner für die Kirche und zum Ansprechpartner für den Staat, obwohl doch eine Mehrheit von rund 75 Prozent aller Muslime in Deutschland von keinem der vier etablierten islamischen Dachverbände – DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.), IR (Islamrat), VIKZ (Verband Islamischer Kulturzentren) und ZMD (Zentralrat der Muslime in Deutschland) – vertreten wird.
Vertreter des Islamismus suchen Einfluss in Gesellschaft, Universität und Politik, fordern die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes und Gleichstellung mit den christlichen Religionsgemeinschaften, ohne allerdings bisher wesentliche Voraussetzungen dafür zu erfüllen. Vorrangiges Ziel ist für seine Vertreter zunächst die gleichberechtigte Anerkennung des Islam, die Durchsetzung von Sonderrechten für Muslime, die Bekanntmachung und Durchdringung der westlichen Gesellschaft mit islamischen Werten und Normen mit Betonung des Anspruchs, ihrer Islaminterpretation Allgemeingültigkeit zuzusprechen. Zudem aber wirkt der politisch organisierte Islam auch in die muslimische Gemeinschaft hinein in dem Bemühen, Muslime als die dauerhaft »Anderen« an die Einhaltung eines strikt ausgelegten Islam in Deutschland und Europa anzuhalten.
Die Beschäftigung mit den Hintergründen des politischen Islam ist daher kein abwegiges intellektuelles Tätigkeitsfeld, sondern für Deutschland und Europa von größter Bedeutung. Weder Panikmache noch Verharmlosungen noch Verallgemeinerungen sind am Platz. Nüchterne Bestandsaufnahmen sind gefragt. So wenig auf der einen Seite demokratiegesinnte muslimische Mitbürger des Extremismus oder der Demokratiefeindlichkeit verdächtigt werden sollten, so wenig sollte auf der anderen Seite die notwendige inhaltliche Auseinandersetzung mit dem politischen Islam ausgeblendet werden.
Entstehung und Kennzeichen des Islamismus
Wenn hier vom »politischen Islam« oder von »Islamismus« die Rede ist, so wird damit eine Herrschaftsideologie bezeichnet, die sich zu ihrer Legitimierung auf die Frühzeit des Islam beruft, auf die Zeit Muhammads und seiner Prophetengefährten sowie die ersten vier Kalifen, auf die alleinige Geltung von Koran und Überlieferung (arab. sunna) anstelle von menschengemachten Gesetzen sowie die Einheit von weltlicher Macht und religiöser Herrschaft. Für den Islamismus ist der Islam nicht nur Religion und Glaube, sondern beinhaltet auch die Gestaltung von Gesellschaft und Politik mit dem Fernziel der Umsetzung der Scharia, um eine vermeintlich ideale Gesellschaft auf Erden aufrichten zu können.
Beim Islamismus geht es nicht notwendigerweise um Gewalt, anderseits war der Aufruf zum verpflichtenden, im Bedarfsfall auch gewalttätig geführten Jihad von Anfang an dem Islamismus inhärent. Ein Teil der islamistischen Bewegungen hat sich allerdings schon in frühen Jahren, nach Gründung der Muslimbruderschaft 1928 in Ägypten – ebenso wie heute in Europa –, darauf festgelegt, ein legales, geradezu demokratisches Vorgehen zur Durchsetzung der eigenen Ziele zu wählen. ¹¹
Eine demokratisch gewählte Regierung kann von Islamisten letztlich nicht anerkannt werden, da für den Islamismus die Scharia als Gottes unaufgebbares Gesetz gilt, die Demokratie jedoch nur als von Menschen gemachtes System. Dieser Gegensatz bleibt auch dann bestehen, wenn von einem »demokratischen Islamismus« die Rede ist, womit häufig nicht mehr als ein Bekenntnis zu freien Wahlen gemeint ist. Zustimmung zur Demokratie kann vonseiten des Islamismus auch bedeuten, dass man sich vorübergehend mit den Vorteilen der Demokratie arrangieren kann. Dazu rät auch etwa das unter islamistischen Theologen in den 1990er-Jahren für die muslimische Diaspora im Westen formulierte »Minderheitenrecht«, das vorübergehende Kompromisse erlaubt, ohne von dem Wunsch und Willen der Schaffung einer Gesellschaft unter Schariarecht abzurücken. ¹² Wirklich anerkennen oder der Scharia vorordnen kann der Islamismus die Demokratie auf Dauer jedoch nicht.
Islamismus meint auch nicht eine theologisch besonders konservative Bewegung, die nun »liberaleren« Bewegungen gegenüberstehen würde. Ihr Unterscheidungsmerkmal ist keine besondere theologische Ausrichtung, sondern ihre Orientierung auf die unbedingte Notwendigkeit der Umformung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach den Vorgaben des Frühislam – so wie er von Islamisten interpretiert wird. Der Islamismus ist von seinen Wurzeln her totalitär, weil er andersdenkenden Muslimen seine Anerkennung verweigert, ja, überhaupt allen Andersdenkenden, besonders Menschen, die keine Religion praktizieren, Intellektuellen, die eine andere Korandeutung bevorzugen, Konvertiten, die den Islam verlassen haben, oder auch Frauen- und Menschenrechtlern, die einem säkular geprägten Staats- und Gesellschaftsmodell den Vorrang geben möchten.
Der Islamismus ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Er ist jedoch im 20. Jahrhundert nicht einfach aus dem Nichts aufgetaucht:
Muhammad begann in Mekka mit der Verkündigung des Islam etwa um das Jahr 610. Bis 622 wird die Zeit angesetzt, in der Muhammad neben dem Aufruf, sich Allah, dem allmächtigen Gott zuzuwenden, bevor das Jüngste Gericht hereinbrechen wird, vor allen Dingen ethische Gebote verkündete und in seiner Heimatstadt Mekka viel Spott und Ablehnung erntete. Im Jahr 622 emigrierte er nach Medina – vollzog die sogenannte Hidschra – und verbrachte dort bis 632 die letzten zehn Jahre seines Lebens als Verkünder des Islam, aber auch als Gesetzgeber und Heerführer der umma, der dort entstehenden ersten islamischen Gemeinschaft.
In Medina führte er mehrere Schlachten und Kämpfe an. Einige werden gegen ihn initiiert, einige initiierte er selbst: er führte Verteidigungs- und Angriffskriege. Aus den Schilderungen des Korans kennen wir die Schlachten von Badr, von Uhud, die Schlachten gegen die Beduinen, die Einwohner von Mekka und die Kämpfe gegen die jüdischen Stämme. All das spielte sich in diesen zehn Jahren von 622 bis 632, dem Jahr des Todes Muhammads, ab.
In den Berichten dieser Kämpfe finden sich auch zahlreiche Aufrufe an die gläubigen Muslime, daran teilzunehmen. Der Koran enthält auch den berühmten »Schwert-Vers«, der die Tötung der Heiden befiehlt (Sure 9,5). Der Koran spricht vom Jihad oder in der Verbform von jahada, was so viel heißt wie »sich bemühen, sich anstrengen auf dem Weg Gottes« (s. etwa Sure 66,9; 9,41). Der Koran spricht aber auch von qital, von der Tötung der Feinde. In den Korantexten, die von Kämpfen berichten oder zum Krieg Führen auffordern, haben die Begriffe Jihad sowie jahada fast ausschließlich kämpferische Bedeutung: es geht um das Kämpfen und Töten auf dem Weg Gottes (4,84; 9,73). Auch dass die im Jihad Getöteten bei Gott leben werden, ist eine im Koran wiederholt formulierte Auffassung: »Und haltet die um Gottes Willen Getöteten nicht für tot, nein, sondern für lebendig bei ihrem Herrn … froh über das, was Gott in seiner Huld ihnen gab, und voller Freude darüber, dass die, die nach ihnen kommen, keine Furcht haben und nicht trauern werden« (3,169-170).
Rechtfertigen diese Berichte heute die Ausübung von Gewalt? Nicht notwendigerweise. Zunächst sind es Berichte von Geschehnissen aus dem 7. Jahrhundert n. Chr., die einer Auslegung bedürfen.
Zum Korantext tritt die Überlieferung hinzu (arab. hadith), die gewissermaßen die Entwicklung nach Muhammads Tod fortschreibt, die die ersten Generationen von Nachfolgern nach Muhammad noch umfasst. Im 8., 9. und 10. Jahrhundert durchläuft sie einen Sammel- und Sichtungsprozess, der etwa mit dem 10. Jahrhundert zum Abschluss kommt. Die Überlieferung enthält Berichte und Anweisungen zu zahlreichen Themen wie etwa religiöse Anweisungen zum Fasten und Gebet, zu Fragen des Alltags, zum Ehe- und Familienrecht, zum Erb- und Strafrecht sowie zum Jihad. Die Überlieferung erläutert und erweitert vieles, was der Koran nur sehr knapp darstellt. Die Überlieferung enthält auch etliche Berichte und Anweisungen zum Kampf auf dem Weg Gottes und zu dem Gedanken des Märtyrertums, der hier häufig mit der Aussicht auf das Paradies verbunden wird. – Auch das sind zunächst historische Berichte, die unterschiedlich bewertet werden können.
Darauf schließt sich die Zeit der Nachfolger Muhammads an, der vier Kalifen bis zum Jahr 661. Danach folgt die Dynastie der Umayyaden (661–749). In dieser Zeit expandiert das islamische Reich sehr stark: Schon 711 kommt der Islam nach Spanien, aber auch nach Nordafrika und bis nach Zentralasien. Auf die Umayyaden folgen die Abbasiden (750–1258): Ein Weltreich entsteht, das im Mittelalter kulturell und wissenschaftlich eine Blütezeit erlebt, gekennzeichnet von Vielfalt, theologischen Debatten, der Entstehung der islamischen Philosophie und mancherlei Wissenschaften. Sie bringt große Architekten, Übersetzer, Poeten, Mediziner, Mathematiker, Astronomen, Astrologen und Alchemisten hervor, deren Ruhm bis nach Europa reicht. Diese Zeit ist die Blütezeit der islamischen Kultur und Wissenschaft.
Aber in dieser Zeit findet auch eine Verfestigung des islamischen Rechts statt, der Scharia, die bis zum 10. Jahrhundert als ausformuliert gilt und die ja bekanntlich auf drei Quellen beruht: auf den rechtlichen Aussagen des Korans, den rechtlichen Aussagen der Überlieferung und den autoritativen Auslegungen der maßgeblichen Theologen und Juristen bis zum 10. Jahrhundert. In dieser Zeit wird die Methode der Rechtswissenschaft von der Theologie festgelegt: Die rechtlichen Regelungen des Korans und der Überlieferung gelten als verbindlich; neu auftretende Fragen sollten von nun an analog zu den historischen Fällen gelöst werden beziehungsweise nach dem Konsens der Gelehrten, mit Bezug auf vergleichbare Fälle aus dem Koran und der Überlieferung. Mit dem 10. Jahrhundert gilt dieser Prozess der Suche nach einer Methode der Rechtsfindung als weitgehend abgeschlossen, das Rechtswesen als definiert. Die im 10. Jahrhundert von maßgeblichen Gelehrten formulierte Scharia ist bis heute – bei gleichzeitigem Vorhandensein mehrerer, aber in vielen Fragen nicht grundlegend anderslautender Auslegungsvarianten – doch niemals grundlegend reformiert oder von der etablierten Theologie für abgeschafft erklärt worden.
Im 13. Jahrhundert kommen die Osmanen an die Macht, die das Kalifat auf dem Gebiet der heutigen Türkei und weit darüber hinaus etablieren. Dieses Kalifat wird 1923/24 durch Kemal Atatürk abgeschafft, den Gründer der türkischen Republik. Es ist die ausgehende Zeit des Kolonialismus. Damals finden in vielen arabischen Ländern einschneidende Entwicklungen statt. Während des 18. und 19. Jahrhunderts wird das Zurückfallen der islamisch geprägten Länder in den Bereichen des Militärwesens, der Bildung, der Technik, Wissenschaft und Entwicklung immer deutlicher. Die islamisch geprägte Welt gerät in eine Krise, die vielerlei Aspekte hat.
Ein Teil dieser Krise betrifft die Gelehrtenwelt, die ›ulama‹, die in ihrer traditionellen Rolle der Wissensvermittler nun an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Zum Teil geschieht dies durch die Implementierung der europäischen Bildungssysteme, in deren Rahmen nun Englisch oder Französisch zur Bedingung des Aufstiegs wird anstelle einer