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Christlich-soziale Signaturen: Grundlagen einer politischen Debatte
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Christlich-soziale Signaturen: Grundlagen einer politischen Debatte
eBook500 Seiten5 Stunden

Christlich-soziale Signaturen: Grundlagen einer politischen Debatte

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Über dieses E-Book

Warum wir auch in einer säkularisierten Gesellschaft am christlich-humanistischen Menschenbild festhalten und wie vielfältig die Herangehensweise an den Begriff "christlich-sozial" sein können, zeigen wir mit diesem Buch
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Nov. 2021
ISBN9783950493948
Christlich-soziale Signaturen: Grundlagen einer politischen Debatte

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    Buchvorschau

    Christlich-soziale Signaturen - Bettina Rausch

    Bettina Rausch / Simon Varga (Hg.)

    Christlich-soziale

    Signaturen

    Grundlagen einer politischen Debatte

    edition noir

    edition noir

    Impressum

    © 2021 Verlag noir, Wien

    2. Auflage

    Verlag noir, 1120 Wien, Tivoligasse 73

    Redaktion und Lektorat: Christian Moser-Sollmann, Lorenz Jahn

    ISBN: 978-3-9504939-4-9

    Inhaltsverzeichnis

    Cover

    Titel

    Impressum

    Vorwort

    I. Grundlagen und politische Fragen

    Grundlegungen einer christlich-sozialen Politik

    Bettina Rausch

    Werte, Demokratie und christlicher Glaube: ein praktisch-theologischer Zugang aus katholischer Sicht

    Regina Polak

    Der christliche Mensch und das Politische: Christsein und Politik

    Clemens Sedmak

    Eigenverantwortung in christlich-sozialer Perspektive

    Manfred Prisching

    „Wohlstand für alle" – wer finanziert das?

    Markt, Staat und christliche Grundlagen in der Sozialen Marktwirtschaft

    Philip Plickert

    Eigenverantwortung, Solidarität, Wettbewerb, Wohlstand

    Grundlagen und Positionen einer christlich-liberal inspirierten Sozialpolitik

    Walter Marschitz

    Nachhaltige Kreislaufwirtschaft statt schneller Profite

    Christian Moser-Sollmann

    Erfolgreiche Bezirkspolitik aus christlich-sozialer Perspektive

    Silke Kobald / Harald Mader

    Politik und Journalismus als zwei Seiten einer Medaille

    Rudolf Mitlöhner

    II. Theologische Fragen

    Christliches Familienbild im Wandel der Zeit

    Philosophische und theologische Annäherungen an die Relevanz von Familien für Gesellschaft und Staat

    Paul R. Tarmann

    Politik für den Menschen braucht weder „christlich noch „sozial zu sein

    Martin Rhonheimer

    Ethik- und/oder Religionsunterricht?

    Die philosophisch-theologischen Wurzeln einer europäischen Ethik – ihre Entwicklung im Spannungsfeld zwischen säkularem Staat und religiösem Hintergrund

    Matthias Beck

    Sozialpolitik aus christlich-sozialer Sicht

    Das Prinzip caritas in der Demokratie

    Benno Elbs

    „Christlich-sozial, „Christdemokratisch oder „Christlich"?

    Das hohe „C" im Spannungsfeld von Politik, Ethik und Theologie

    Ingeborg G. Gabriel

    Die Dynamik des zeitgemäßen Begriffs der Empirie

    Christliche Theologie und Journalistik haben ihre Erkenntnishorizonte vernünftig erweitert

    Veit Neumann

    III. Philosophische Fragen

    Christlich-soziale Politik und das Naturrecht im Spannungsfeld von antiker Philosophie, Christentum und säkularem Staat

    Geschichte – Gegenwart – Zukunft

    Till Kinzel

    Das Prinzip Eigenverantwortung

    Mensch – Gemeinschaft – Gesellschaft

    Simon Varga

    Freiheit als in Besonnenheit gelebte Verantwortung

    Ein multidimensional bedingter Raum des Dialogs

    Emmanuel J. Bauer

    IV. Beiträge von Nachwuchswissenschaftlern

    Das Christlich-Soziale und die Politik

    Reflexionen über ein ambivalentes Verhältnis im Kontext der Digitalisierung

    Martina Tiwald

    Der Begriff des christlichen Politikers versus den laizistischen Rechtsstaat

    Werner Bruck

    Welches Ethos braucht es, um eine christlich-soziale

    Gesellschaft zu verwirklichen?

    Welchen Beitrag könnte die Bildung dazu leisten?

    Doris Dorer

    Autorenporträts

    Vorwort

    Der liberale Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Mit dem Böckenförde-Diktum hat der bekannte Verfassungsrechtler klar umrissen, dass es auch in einer säkularen Gesellschaft für alle Bürgerinnen und Bürger verbindliche Regeln braucht, wenn das politische Zusammenleben langfristig funktionieren soll. Worauf diese Regeln aber aufbauen, und dass diese Regeln mehr sein müssen als Gesetze und Normen, ist vielen Bürgerinnen und Bürgern in unserer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr auf den ersten Blick bewusst. Mit dem vorliegenden Sammelband wollen wir begriffliche Orientierung geben und unterschiedliche Zugänge zu einem wertebasierten Politikverständnis vermitteln.

    Die neue Volkspartei baut ihren Wertekosmos auf einem christlich-humanistischen Weltbild auf. Im modernen Sinne versteht man darunter, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oder anderen Merkmalen wie Geschlecht, Ethnie oder Alter denselben Wert haben, da sich alle durch ein dem Menschen einzig gegebenes Merkmal auszeichnen: ihre Würde. Aus diesem Menschenbild leiten wir die Kernwerte christlich inspirierten politischen Denkens und Handels ab: Freiheit, Verantwortung, Nachhaltigkeit, Leistung, Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit.

    Warum wir auch in einer säkularisierten Gesellschaft am christlich-humanistischen Menschenbild festhalten, und wie vielfältig die Herangehensweisen an den Begriff „christlich-sozial" sein können, zeigen wir mit diesem Buch. Namhafte Theologen, Wissenschaftler und Politologen diskutieren, warum und wie die christlichen Traditionen den politischen und demokratischen Diskurs bereichern können. Zusätzlich haben wir auch junge Autorinnen und Autoren im Rahmen eines Wettbewerbs eingeladen, ihre Gedanken zum Thema einzubringen. Die besten drei Beiträge sind im Sammelband abgedruckt.

    Als Herausgeber freuen wir uns, dass so intensiv und leidenschaftlich über christlich-soziale Politik diskutiert wird – uns ist die ständige Reflexion in der öffentlichen und akademischen Diskussion wichtig. Die Kernfrage lautet, wie wir im 21. Jahrhundert das Leitbild einer Gesellschaft freier und verantwortlicher Menschen verwirklichen können. Auf diese Frage versucht der Sammelband umfassende und fachlich fundierte Antworten zu geben.

    Bettina Rausch und Simon Varga

    I. Grundlagen und politische Fragen

    Grundlegungen einer christlich-sozialen Politik

    Bettina Rausch

    Seit den 1990er-Jahren gibt es länderübergreifende Veränderungen in der Sozialpolitik, die häufig mit Begriffen wie „Eigenverantwortung, „Teilhabegerechtigkeit und „Generationengerechtigkeit" begründet werden. Sozialpolitik braucht ein theoretisches Fundament, das insbesondere das Wesen des Menschen an sich klären und erklären muss. Eine solche theoretische, aber nicht teleologische Grundlegung für Sozialpolitik bietet die christliche Soziallehre.

    „Sozial ist, was stark macht, hat Sebastian Kurz klar die Grundsätze der Sozialpolitik der neuen Volkspartei umrissen. Sozialpolitik muss dabei Grundsätze aufgreifen, die die Politik theoretisch legitimieren und auf die man in Übergangszeiten zurückgreifen kann. Eine solche theoretische Grundlegung für die Sozialpolitik der neuen Volkspartei bietet die christliche Soziallehre. „Soziallehre versteht sich für uns nicht als Heilslehre mit innerweltlichem Erlösungsanspruch, sondern schöpft ihre Grundlagen aus einem Menschenbild und einer Anthropologie, die das „Mängelwesen Mensch (Gehlen) in seiner Gesamtheit beschreibt und ernst nimmt. Gerade Sozialpolitik benötigt eine theoretische Grundlegung, da sie ansonsten Gefahr läuft, sich in unfinanzierbarem Populismus zu erschöpfen. So zeugt die gegenwärtige Hochkonjunktur der sozialen Frage nicht unbedingt vom ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl der Akteure, vielmehr folgen viele Vorschläge dem schlichten Motto „links, weil’s bequem ist. Die Debatte um Mindestlöhne, so die Schlussfolgerung eines „Zeit-Leitartikels, sei kein Indiz dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sozialer würden, sondern dass das Elektorat lediglich mehr Geld und weniger Zumutungen wolle. Wer heute als Anwalt der sozialen Frage auftritt, vermischt dabei nur allzu oft Altruismus, Bigotterie und Eigennutz. „Sozial wird dabei missdeutet als eine Politik, die dem Einzelnen weniger abverlangt und mehr zukommen lässt. Nur ist langfristig populäre Politik nicht immer die sozialste, denn am Ende des Tages gilt immer noch: There is no such thing as a free lunch.

    Und eben hier liegt der wunde Punkt aktueller sozialpolitischer Debatten. Nicht zu wollen heißt hierzulande nunmehr vor allem eines: Reduktion von Politik auf Sozialhilfe. „Sozialpolitik wäre schon zu viel gesagt. Die Bismarck’sche Sozialpolitik, Geburtshelfer der heutigen, diente ja dem Zweck, die Arbeiter zu befrieden, um dafür umso mehr den Willen Bismarck’scher Politik durchsetzen zu können. Es war gewissermaßen die Zweiteilung zwischen denen, die fragen „Was wird uns geschehen? und denen, die fragen „Was können wir tun?". Die Frage nach dem, was uns geschehen wird, ist die Frage der Dekadenz, zu der Bismarck die Arbeiterschaft überreden wollte, während er selbst den Willen zur Macht exerzierte. Gehen wir taktvollerweise nicht dem Verdacht nach, inwiefern die Sozialpolitik der 1930er- und 1940er-Jahre zum Modell für die heutige geworden ist. Die vorangegangene Amoral jedenfalls sollte die aktuellen Führer der Sozialdemokratie eigentlich abschrecken, ihren Willen zur Sozialhilfe so ganz ohne sonstige Ambitionen zu verklären.

    Aus diesem falsch verstandenen Pragmatismus – gepaart mit einem Mangel an außermaterialistischen Überzeugungen und dem Fehlen eines positiven Menschenbilds – entsteht für Alois Mock, den Vordenker eines ganzheitlichen christlich-sozialen Politikstils, inhaltliche Beliebigkeit, schlimmstenfalls sogar politische Orientierungslosigkeit. Mock hielt ein christliches Menschenbild für den wesentlichen Bestandteil von Sozialpolitik: „Ich wage zu behaupten, dass es allein die christdemokratischen Parteien sind, die nach einem gesellschaftlichen Modell Politik machen. Wer vertritt denn heute noch einen der acht bis zehn Grundsätze, die zur Gründung der sozialistischen Parteien geführt haben? Wahlen gewinnen sie nur, wenn sie den Sozialismus verstecken."¹

    Die neuen sozialen Fragen lassen sich nicht mit dem überlieferten Instrumentarium der Sozialpolitik der Nachkriegszeit befriedigend beantworten. Zu oft beschränkt sich Sozialpolitik auf die Alimentierung der aus dem Erwerbsprozess Herausgefallenen. Eine neu entstandene, im Feuilleton mit einer Mischung aus Ekel und distanziertem Entsetzen beschriebene Unterschicht hat schmerzhaft aufgezeigt, dass die Logik der passiven Transferzahlung langfristig alles andere als sozial verträglich ist. Vielmehr entlässt sie die Menschen in die Unmündigkeit und schürt eine Unzufriedenheit, die nur allzu oft zu Gewalt und anderen sozialen Problematiken führt.

    Die Selbstgenügsamkeit der traditionellen Sozialpolitik mit ihren abstrakten Solidaritätsgesten vergaß dabei, den notwendigen Beitrag jeder einzelnen Person für das Gemeinwohl einzufordern. Jetzt geht es darum, „Narrative des Sozialstaates" (Meyer) zu finden, die die Interessenkonflikte zwischen Individuum und Gemeinwohl sowie zwischen Kapital und Arbeit zum Wohle der Gesamtgesellschaft minimieren. Eingelernte Verhaltensmuster, beliebte Sündenböcke und altgediente Feindbilder müssen hinterfragt werden. Es ist beispielsweise nicht sozial, wenn der Mittelstand in Österreich knapp 42 Prozent der Lohn- und Einkommensteuer entrichten muss, weshalb die neue Volkspartei klar für Steuerentlastungen eintritt. Es ist beispielsweise nicht sozial, wenn die gesellschaftliche Durchlässigkeit in Österreich erschreckend gering ist. Und schließlich: Es ist generell nicht sozial, wenn Partikularinteressen als bedeutender als Gesamtinteressen angesehen werden. Um den Sozialstaat neu zu denken, braucht es also einen theoretischen Überbau, der Sozialpolitik nicht in eigentlich zynischer Art und Weise mit der Auszahlung von Geld zur Befriedigung kurzfristiger Konsumanreize verwechselt. Das Ziel von Sozialpolitik muss sein, Menschen langfristig bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen und sie zu befähigen, selbst ihr Leben zu finanzieren und zur Gemeinschaft beizutragen.

    Nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus verbleiben die christliche Soziallehre, die „soziale Demokratie"² und die liberale Demokratie als politische Weltanschauungen, die sich mit unterschiedlicher Gewichtung an der sozialen Frage abarbeiten. Während im rein liberalen Diskurs die soziale Frage oft zu einschränkend als Folgeprodukt der Marktwirtschaft betrachtet wird, ist sie für die christliche Soziallehre und die soziale Demokratie eine zentrale Begrifflichkeit, um die Gesellschaft in all ihrer Widersprüchlichkeit zu denken. Während die soziale Demokratie aber materialistisch und immanent argumentiert, fordert die christliche Soziallehre auch nicht-materialistische und transzendente Werte und Begrifflichkeiten ein.

    Solche Grundwerte können von Parteien ebenso wenig wie in Verfassungen letztbegründet werden – wie es auch der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem Diktum, wonach „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann"³, formuliert. Gemeinsame Werte können zwar von der Gesamtgesellschaft anerkannt werden, aber begründen kann diese Werte in pluralistischen Gesellschaften nur der Einzelne. Oberste und letztendliche Wahrheiten kann eine demokratische Politik nicht liefern; politische Parteien begnügen sich mit vorletzten Begründungen und überlassen es dem Gewissen des und der Einzelnen, Entscheidungen schlüssig zu begründen. Stimmige Letztbegründungen für soziale Homogenität und nachhaltige Sozialpolitik findet der Bürger beim Rückgriff auf die großen Weltreligionen und die klassischen philosophischen Ethiken. Neben der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik haben auch der Islam (z. B. mit der Zakat) und das Judentum komplexe Vorschriften für ein sozial verträgliches Miteinander entwickelt.

    Christliche Zugänge zum Sozialen

    Die katholische Soziallehre fußt auf bestimmten philosophischen Überzeugungen und Prämissen und erhebt daher auch den Anspruch, von jedem, also auch von Nichtchristen, Atheisten und Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften akzeptiert werden zu können. Im Unterschied zur katholischen stellt die evangelische Sozialethik auch ihre theologischen Grundlagen dar und stellt die Frage „Was soll ich tun? in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Die evangelische Sozialethik verzichtet auf leitende Prinzipien und bietet dem Einzelnen keine vorgefertigten Handlungsanleitungen an. Vielmehr besinnt sich die evangelische Sozialethik auf den Kern der christlichen Botschaft und fordert den Einzelnen auf, bei der weltlichen Gestaltung aktiv mitzuarbeiten. Als Leitfaden und Einstieg in die Grundfragen der evangelischen Ethik bietet sich die „Barmer Theologische Erklärung des Jahres 1934 an.

    Die katholische Kirche hat neben dem Primat des Gewissens als menschliche Leitinstanz zusätzlich eine Soziallehre entwickelt. Unter dem Begriff „katholische Soziallehre versteht man kirchliche und päpstliche Schriften zu sozial relevanten Themen und Fragestellungen. Die erste Abhandlung aus dem Jahre 1892 verfasste Papst Leo XIII. unter dem Titel „Rerum novarum, wo der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sowie die Ausbeutung der Lohnarbeiter thematisiert wurden. Sie ist vor allem eine Erwiderung an den damals entstehenden Sozialismus. Eine Vielzahl weiterer Sozialenzykliken⁴ folgte und zum 100. Jubiläum des sozialen Lehramts der Kirche veröffentlichte Papst Johannes Paul II. mit „Centesimus annus eine Jubiläumsenzyklika. In diesen hundert Jahren haben sich auch die bleibenden Prinzipien der katholischen Soziallehre herausgebildet und weiterentwickelt. Die grundlegenden Prinzipien der Soziallehre bilden „den wahren und eigentlichen Angelpunkt⁵ und erheben den Anspruch, die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit deuten zu können. Damit behaupten und reklamieren sie einen „allgemeinen und grundlegenden" Charakter für sich und verstehen sich als philosophisches System, das sich sowohl aus den Quellen der Bibel als auch aus Erkenntnissen der Sozialethik speist.

    Die katholische Soziallehre ist ein philosophisch-logisch argumentierendes Ordnungssystem, das mit seinen Prinzipien und Axiomen explizit auch Gläubige anderer Konfessionen und Agnostiker ansprechen und vertreten will. Im Unterschied zu den vorletzten Begründungen von Politik und Interessenvertretungen beanspruchen die vier Grundprinzipien eine a priori für jeden Menschen moralische Bedeutung, da sie „auf die letzten und Richtung gebenden Grundlagen des sozialen Lebens verweisen. […] Die Prinzipien bilden in ihrer Gesamtheit jene ersten Formulierungen der Wahrheit, die jedes Gewissen dazu aufrufen und einladen, in Freiheit und voller Mitverantwortlichkeit mit allen und für alle zu handeln."⁶ In diesem universalen Geltungsanspruch steckt auch die Rückbindung an die moralische Verpflichtung jedes Einzelnen, diese Prinzipien aktiv zu leben und zu befolgen, um gemäß dem göttlichen Schöpfungsauftrag zu handeln. Das klingt in säkularen und aufgeklärten Gesellschaften bisweilen fremd und unverständlich, wird aber durch das Diktum der Gottesebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen klarer: Wenn ich meinen Mitmenschen – gleich ob gläubig oder ungläubig – als Gottes Ebenbild betrachte, werde ich ihn respektvoller behandeln, als wenn ich ihn als „arrivierten Affen oder noch „nicht festgestelltes Tier (Nietzsche) sehe. Mit dem sich ebenfalls als universaler Geltungsanspruch anmeldenden Kant’schen kategorischen Imperativ und den Menschenrechten, die jedoch ohne transzendente und überzeitliche Versprechungen auskommen müssen, bietet die katholische Soziallehre Leit- und Richtlinien für sozial verträgliches Zusammenleben an. Dabei formuliert sie im Unterschied zu anderen katholischen Lehrbereichen keine Dogmen, sondern möchte mit den Prinzipien konkrete Hilfestellungen für alltägliche Situationen anbieten.

    Die vier Grundprinzipien der katholischen Soziallehre

    Der Begriff der Personalität ist breiter als der des Individuums angelegt und bildet das Fundament der Soziallehre. Jeder Mensch ist einmalig und individuell geschaffen; jeder Mensch ist eine Einheit aus Leib und Seele. Als Abbild Gottes besitzen Mann und Frau dieselbe Würde und sind gleichwertig, aber nicht jedes Individuum ist gleich an Talenten und Fähigkeiten. Die einzelne Person erschöpft sich nicht in ihrer Individualität, sondern jeder Mensch ist seinem Wesen nach sozial und strebt nach Gemeinschaft. Menschliche Gemeinschaften sind dabei nicht einförmig, sondern pluralistisch. Damit die Entfaltung der Persönlichkeit sich nicht in Egoismen erschöpft, sondern dem Wohle aller dient, folgt aus dem Personalitätsprinzip in naturgemäßer Konsequenz das Gemeinwohlprinzip. Um das Gemeinwohl in der Gesellschaft zu verwirklichen, ist jede und jeder Einzelne in die Pflicht genommen, muss sich individuellen Anlagen gemäß beteiligen. Das Gemeinwohl wird in der katholischen Soziallehre im Unterschied zum historischen Materialismus weder ausschließlich historisch noch ausschließlich materialistisch definiert, es verfolgt vielmehr eine transzendente Zielsetzung, die nicht auf bloße sozioökonomische Kennzahlen verkürzt werden kann. Schließlich lebt der Mensch nicht von Brot allein. Wohlstandsverwahrlosung ist ein sicheres Indiz dafür, dass menschliche Armut nicht nur in ökonomischen Begriffen gedacht und argumentiert werden darf.

    Das dritte Grundprinzip, die Subsidiarität (von lat. „subsidium: Hilfe, Reserve), setzt Selbstverantwortung vor staatliches Handeln. Was der einzelne Bürger in Vereinen, in der Familie, in der Nachbarschaft, in seiner Gemeinde, in seiner Region selbstständig schaffen, produzieren und verwalten kann, soll er nicht an den anonymen staatlichen Verwaltungsapparat delegieren. Verantwortungsgefühl entsteht durch räumliche Nähe, individuelle Betroffenheit und persönliche Taten, und nicht durch Anonymität und rhetorisch-abstrakte Gesten. Subsidiarität will die ursprünglichen und natürlichen gesellschaftlichen Ausdrucksformen und örtliche territoriale Besonderheiten und Gegebenheiten schützen, sie politisch und gesetzlich fördern und unterstützen. Der bürgerliche Leitsatz der Hilfe zur Selbsthilfe findet darin seinen Ursprung: „Wie das, was von einzelnen Menschen auf eigene Faust und in eigener Tätigkeit vollbracht werden kann, diesen nicht entrissen und der Gemeinschaft übertragen werden darf, so ist es ein Unrecht und zugleich ein schwerer Schaden und eine Störung der rechten Ordnung, das auf eine größere und höhere Gemeinschaft zu übertragen, was von kleineren und niedrigeren Gemeinschaften erreicht und geleistet werden kann; denn jede gesellschaftliche Tätigkeit muss ihrem Wesen und ihrer Natur nach den Gliedern des gesellschaftlichen Leibes Unterstützung leisten, darf sie aber niemals zerstören und aufsaugen.

    Für die Verwaltung bedeutet dies, dass Körperschaften höherer Ordnung (zum Beispiel der Bund) gegenüber der nachgeordneten „eine Haltung der Hilfestellung – also der Unterstützung, Förderung und Entwicklung – einnehmen".⁸ Der Staat muss also dem Individuum helfen, seine Potenziale optimal auszuschöpfen. Bürgerliche Mitbeteiligung am politischen Willensprozess sind die Eckpfeiler der Subsidiarität. Um dieses Prinzip glaubwürdig zu vertreten, müssen Gesellschaften etwa attraktive Aufstiegsmöglichkeiten für unterprivilegierte Menschen und Migranten schaffen; eine subsidiär organisierte Gesellschaft muss sozial durchlässig sein und innergesellschaftliche Mobilität ermöglichen.

    Im vierten Prinzip, dem Solidaritätsprinzip, kommt die wechselseitige Abhängigkeit von Individuen und Gruppen (seien es Völker, Schichten, Institutionen) zum Ausdruck; zwischen solidarischem Handeln und Gemeinwohl besteht also ein kausaler Zusammenhang. Christlich verstandene Solidarität ist aktiver als der sozialdemokratische Solidaritätsbegriff angelegt, der Solidarität passiver und abstrakt-delegatorisch als Recht des Einzelnen definiert, sich im Notfall auf die Hilfe der anderen (staatliche Hilfe, Solidargemeinschaft) verlassen zu können. Der christliche Solidaritätsbegriff ist umfassender: einerseits als soziales Prinzip, andererseits auch als moralische Tugend.

    Marktwirtschaft und Eigentum

    Als Einheit wollen die vier Prinzipien dem einzelnen Menschen und seinem konkreten Handeln allgemeine Bezugspunkte für die Strukturierung und Gestaltung des sozialen Lebens anbieten. Ein wesentlicher Teil des sozialen Lebens bildet die Wirtschaft, vielfach wird seit dem Boom der neoklassischen Volkswirtschaft und ihren Axiomen für die Wirtschaftspolitik sogar vom „Primat der Wirtschaft in der Gesellschaft gesprochen. Für die Soziallehre gilt hingegen, dass die Wirtschaft lediglich ein Teilsystem der menschlichen Gesellschaft ist. Die Soziallehre leitet aus dem Gemeinwohlprinzip die allgemeine Bestimmung der Erdengüter ab, wodurch die Wirtschaft an moralische Werte und Normen gekoppelt wird. Das Recht auf Privateigentum – in der christlichen Überlieferung nie als absolut verstanden – bildet einen entscheidenden Teil einer demokratischen und sozialen Wirtschaftspolitik. Die Soziallehre fordert von der Wirtschaftspolitik, dass sie den Besitz von Gütern allen Menschen gleichermaßen zugänglich macht. Jeder Mensch hat das Recht, Eigentum zu erwerben und zu erarbeiten; die Soziallehre hat damit die Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand vorgedacht. Lange bevor das aus den USA importierte Auszahlen von Aktien an Mitarbeiter auch im deutschen Sprachraum üblich wurde, hat die Soziale Marktwirtschaft damit bereits die Vision eines „Volks von Eigentümern entwickelt und umgesetzt.

    Trotz dieser integrativen Kraft und vieler sozialpolitischer Meilensteine gab und gibt es seit Beginn der Zweiten Republik immer auch das Mantra einer vermeintlichen Wirtschaftslastigkeit der Volkspartei. Diese zyklisch wiederkehrenden, aber ungerechtfertigten Vorwürfe verblassen im Lichte des reformatorischen und offenen Charakters der katholischen Soziallehre. Die Soziallehre bejaht das kapitalistische System, weiß aber um die Gefahren und die Fehlbarkeit der Marktteilnehmerinnen und Marktteilnehmer. Die Soziallehre formuliert in ihren Werken also eine konsequente innerkapitalistische Verbesserungsarbeit. Dazu gehört, dass sie die divergierenden Interessen von Kapital und Arbeitnehmern austariert und nachhaltige Wirtschaftspolitik dafür den ordnungspolitischen Rahmen bereitstellen muss. Mit strengen Kartellrechten und entschiedener Privatisierungspolitik ist aktiv gegen Marktverkrustungen, Kartellbildungen, Preisabsprachen und De-facto-Monopolbildungen vorzugehen. Soziale Marktwirtschaft heißt, durch leistbare Ausbildung jedem Menschen die Teilnahme am freien Wettbewerb zu ermöglichen. Der Bevorzugung einzelner Bevölkerungsschichten und der wirtschaftlichen Machtkonzentration einiger weniger – wie beispielsweise einst des Adels – muss der Staat mit angemessenen Kontrollmechanismen entgegenwirken. Soziales Wirtschaften ist immer notwendigerweise eine partizipative Wirtschaftsordnung, die die vielfältigen Interessenlagen der Bürger in mehr als die Summe der Einzelteile verwandelt: Jeder und jede hat das Recht, nach Glück zu streben, um seine oder ihre Persönlichkeit optimal zum Wohle der Gemeinschaft zu entfalten.

    Am Beispiel aktueller Diskussionen rund um Arbeit und soziale Sicherungssysteme will ich abschließend noch konkreter ausführen, was diese Grundsätze für ein konkretes Politikfeld bedeuten können.

    Arbeit und Menschenwürde

    Die Mehrzahl der Interpretinnen und Interpreten der katholischen Soziallehre sieht in der Arbeit ein zentrales Element für ein Leben in Würde. Theologen sehen Arbeit auch als göttlichen Auftrag, ausgehend von der Aufforderung „Macht euch die Erde untertan (Gen 1,27). Der Benediktinerpater Anselm Grün formuliert es, ausgehend von den Regula Benedicti, so: „Die Arbeit ist der Ort, an dem wir Haltungen wie Demut, Hingabe, Liebe, Barmherzigkeit und Mitfühlen mit den Menschen lernen.

    Profan dokumentiert die berühmte Studie über die Arbeitslosen in Marienthal aus den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Auswirkungen langer Arbeitslosigkeit und kommt zum eindeutigen Schluss: Ein Leben ohne Arbeit führt zu passiver Resignation. Jedenfalls ist Arbeit mehr als nur ein Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts; Arbeit ist ein sinnstiftender Teil des Lebens, eine Quelle für Bestätigung und Anerkennung und ein Beitrag zur Entwicklung von Menschheit und Gesellschaft.

    Zuwendung und Zutrauen

    In diesem Sinne müssen soziale Sicherungssysteme das Ziel haben, den (Wieder-)Einstieg ins Arbeitsleben zu fördern und zu fordern. Christlich-soziale Politik setzt auf Hilfe zur Selbsthilfe – die Verbindung von gesellschaftlicher Solidarität mit persönlicher Verantwortung. Hilfe zur Selbsthilfe braucht Zuwendung und Zutrauen. Zuwendung zum Hilfesuchenden, Zuwendung zur Person mit ihren individuellen Sorgen, Hoffnungen und Bedürfnissen. Eine Zuwendung, die zu leisten nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialorganisationen gefordert sind, sondern jede und jeder Einzelne von uns in unserer individuellen Verantwortung für die und den Nächsten und unser unmittelbares Umfeld. Zutrauen bedeutet die grundsätzliche positive Einstellung, dass jede und jeder Wille und Fähigkeiten hat, der Hilfsbedürftigkeit zu entkommen. Dies anzuerkennen ist eine notwendige Grundvoraussetzung für ein Sozialsystem, das die Menschen wirklich stärkt.

    In diesen Grundsätzen zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen Sozialismus und christlich-sozialem Menschenbild. Wohl mit Blick auf das Gleichnis von den Talenten schreibt Papst Leo XIII. in der bereits erwähnten Enzyklika „Rerum novarum: „Mit dem Wegfalle des Spornes zu Strebsamkeit und Fleiß würden auch die Quellen des Wohlstandes versiegen. Aus der eingebildeten Gleichheit aller würde nichts anderes als der nämliche klägliche Zustand der Entwürdigung für alle. Christlich-soziale Politik gestaltet also soziale Sicherungssysteme in der Form, dass sie Chancen und Anreize bieten, die Hilfsbedürftigkeit rasch wieder überwinden zu können. Damit verbunden sind allerdings auch Pflichten in dem Sinn, dass jede und jeder auch selbst etwas dazu beitragen, dafür leisten muss – sei es persönliche Weiterbildung, das Erlernen der deutschen Sprache oder die ernsthafte Bereitschaft, Chancen auch tatsächlich wahrzunehmen.

    Zutrauen – im Sinne von fordern und fördern – ist für mich überhaupt ein zentrales Element christlich-sozialer Politik; und in gewisser Weise die Zwillingsschwester der Freiheit. Nur wer den Menschen grundsätzlich Vertrauen und Zutrauen entgegenbringt, wird ihnen guten Gewissens auch ein hohes Maß an persönlicher Freiheit zugestehen. Freiheit wiederum ist ein Wert, der direkt aus dem christlich-sozialen Personalitätsprinzip folgt. Der Theologe und Philosoph Clemens Sedmak, Professor für Sozialethik an der University of Notre Dame (USA) und Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung in Salzburg formuliert es ganz klar: „Gott will freie Menschen und hat uns deswegen die Freiheit geschenkt. Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Präsident der Deutschen Bischofskonferenz, würdigt die Freiheit sogar in seinem Wahlspruch: „Ubi spiritus Domini ibi libertas („Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit").

    Freie und verantwortliche Menschen

    Dieser Freiheitsgedanke christlich-sozialer Politik hat konkrete Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Mensch und Staat, und zwar mit dem Ergebnis, dass Entscheidungen von den möglichst kleinsten Einheiten getroffen werden sollen – von der oder dem Einzelnen, von der Familie, von der Gemeinschaft vor Ort. Das ist das christlich-soziale Subsidiaritätsprinzip. Die Freiheit, individuell Entscheidungen treffen zu können, findet konkreten Niederschlag in der Frage der Verfügungsgewalt über das eigene Einkommen. Staatsorientierte Ideologien fordern ein hohes Maß an Steuern, auf dass der Staat damit mache, was er für richtig für alle hält. Christlich-soziale Politik will den Menschen möglichst viel von ihrem Einkommen lassen und traut ihnen zu, eigenverantwortlich – aber auch in ihrer individuellen Verantwortung für die Gemeinschaft – Entscheidungen zu treffen.

    Den Menschen weniger von ihrem verdienten Einkommen zu nehmen ist daher logischerweise ein ganz grundsätzlicher Zugang christlich-sozialer Politikerinnen und Politiker, ein inhärenter Bestandteil ihres politischen Selbstverständnisses. Das erklärt zum Beispiel den „Familienbonus plus", der steuerliche Entlastung für Mütter und Väter bringt, die doppelt Verantwortung tragen und Leistung erbringen – nämlich im Job und in der Familie. Auch die weitere Entlastung durch die Senkung der Einkommensteuer und anderer lohnabhängiger Abgaben und Beiträge sowie insgesamt das Ziel der Senkung der Abgabenquote folgen diesem christlich-sozialen Politikverständnis.

    Für mich ist das der Kern des christlich-sozialen Politikverständnisses: Den Menschen ökonomische Freiheit zugestehen und ihnen zutrauen, selbst die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Und ihnen auch zutrauen, ihre Verantwortung für die Gesellschaft selbst wahrzunehmen. Daraus ergibt sich mein persönliches Ideal einer Gesellschaft freier und verantwortlicher Menschen.

    Literatur

    Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt am Main 1976.

    Grün, Anselm: Versäume nicht dein Leben, München 2017.

    Jahoda, Marie / Lazarsfeld, Paul Felix / Zeisel, Hans: Die Arbeitslosen von Marienthal: ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Frankfurt am Main 1975.

    Meyer, Thomas: Theorie der sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden: Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg im Breisgau 2006.

    Pius XI: Enzyklika Quadragesimo anno: AAS 23, Rom 1931.

    Sedmak, Clemens / Lackner, Franz: Kaum zu glauben. Annäherungen an Grundworte christlichen Lebens, Innsbruck 2018.


    1Mock, Alois: Die EU war nie ein Paradies, in: Academia, Juni 2004, S. 8.

    2Vgl. dazu Meyer, Thomas: Theorie der sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005.

    3Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60.

    4Vgl. dazu: Kompendium der Soziallehre der Kirche, S. 82 ff.

    5Vgl. ebd. S. 131.

    6Vgl. ebd. S. 132.

    7Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno: AAS 23 (1931).

    8Vgl. dazu: Kompendium der Soziallehre der Kirche, S. 147.

    Werte, Demokratie und christlicher Glaube: ein praktisch-theologischer Zugang aus katholischer Sicht

    Regina Polak

    Welche christlichen Werte können einer lebendigen Demokratie heute weiterhelfen? Dieser Frage geht der folgende Beitrag aus einer praktisch-theologischen Perspektive in drei Schritten nach. Im ersten Schritt werden Problemstellungen, Kontext und Interessen rund um die Fragestellung skizziert. Der zweite Schritt entwickelt einen theologisch legitimen Begriff christlicher Werte und beschreibt deren Beitrag zur Demokratie. Im dritten Schritt werden exemplarisch anhand dreier demokratischer Werte – Würde, Pluralität, Gerechtigkeit – bibeltheologische Beiträge identifiziert. Das Ziel des Beitrags besteht darin, fragmentarisch für die Komplexität der Fragestellung zu sensibilisieren und erhebt keinen Anspruch auf eine umfassende Klärung. Vielmehr sollen kriteriologische Weichen für weiterführende Diskurse gestellt werden.

    Problemstellungen, Kontext und Interessen

    Vom Problem christlicher Werte

    Der Wertebegriff ¹ entstammt ursprünglich nicht der Welt der Religionen, sondern der Ökonomie. Werte sind in diesem Kontext quantitativ messbare Größen, die sich im Rahmen von Tauschverhältnissen ergeben. In der Philosophie taucht der Wertebegriff erst im 19. Jahrhundert auf. Eine Schlüsselrolle spielt Friedrich Nietzsche. Im Kontext seiner Moral-, Ethik- und Kulturkritik konstatiert er einen in Europa fortschreitenden Prozess einer „Entwertung der obersten Werte²: den Nihilismus. Dieser führt zu einem radikalen Verlust des Vertrauens in eine absolute Instanz, die für eine universale Gültigkeit ethischer Prinzipien bürgt. Im Bild vom „Tod Gottes wird diese Erfahrung zum Ausdruck gebracht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in der Philosophie dann darüber diskutiert, ob Werte vom Menschen unabhängig „an sich existieren („Wertobjektivismus) oder nur subjektiv für jemanden gelten („Wertsubjektivismus").

    Theologie, Philosophie und Ethik begegnen dem Wertebegriff aufgrund dieser Herkunft bis heute eher reserviert. Denn ohne Bezug auf eine universale Transzendenz gibt es keine Möglichkeit, allgemeingültige ethische Prinzipien oder Urteile zu entwickeln. Der Verlust des ethischen Anspruchs auf Universalität kann zu einem Relativismus führen, an dessen Ende nur mehr der menschliche Wille und die Machthaber darüber entscheiden, welche Werte gültig sind. Auch ein gegenständliches Verständnis von Werten, die „objektiv" vorliegen – gleich, ob außerhalb oder innerhalb des Subjekts –, reduziert den Akt ethischer Urteilsfindung auf positivistische Selbstbehauptung. Die Kritik am ökonomischen Ursprung des Wertebegriffs bringt wiederum Hannah Arendt auf den Punkt:³ Die Reduktion von Ethik auf Werte führt zu einer Vernützlichung, Vergesellschaftung und Austauschbarkeit von Werten, die auch vor der Verrechenbarkeit und Verwertung des Menschen nicht haltmachen werden.

    Aus der Sicht von Judentum, Christentum und Islam⁴ ist der Wertebegriff überdies deshalb problematisch, weil sich Werte im allgemeinen Sprachgebrauch als Resultate einer radikal autonom gedachten Vernunft verstehen. Nun sind diese drei monotheistischen Religionen selbstverständlich konstitutiv mit ethischen Konzepten verbunden. Aber jene Vernunft ist nicht absolut autonom, sondern relational. Denn diese Religionen anerkennen auch eine heteronome Quelle, der sie ihre Werte verdanken und vor der sie sich zu rechtfertigen haben: die Offenbarung einer göttlichen Autorität. Deshalb spricht man in diesen drei Traditionen bevorzugt von Regeln und Vorschriften, Prinzipien und Normen, Geboten und Gesetzen. Da auch diese der freien und vernünftigen Interpretation unterliegen, sind sie konstitutiv pluralistisch. Aber von der Offenbarung Gottes her sind einer grenzenlosen Pluralität Grenzen gesetzt. So sind beispielsweise der Schutz des Lebens, die Würde und Einzigartigkeit jedes Menschen sowie die Gleichheit aller Menschen unaufhebbare ethische Normen der monotheistischen Traditionen.

    Umgekehrt ist auch der Glaube an Gott in diesen drei Religionen untrennbar mit dem Ethos der Offenbarung verbunden. Wer sie ablehnt, mag an einen Gott glauben – aber er glaubt nicht an jenen Gott, der im Tenach, in der Bibel und im Koran bezeugt wird.⁵ Dieser ethische Monotheismus hat seinen Ursprung im Alten Testament, das – im Unterschied zu den anderen religiösen Traditionen des Alten Orients – das Ethos (z. B. der Nächsten- und Fremdenliebe) sakralisiert, das heißt der beliebigen Willkür des Einzelnen (z. B. eines Pharaos oder Gottkönigs) entzieht und zu göttlichem Recht erklärt.⁶ Damit steht zum Beispiel jeder Mensch unter Gottes besonderem Schutz und heiligt Gott, wer sein Ethos befolgt. Die Nächstenliebe ist damit nicht nur Folge, sondern Wesen und Ausdruck der Gottesliebe und ist dem Nächsten nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich geschuldet.⁷ Von christlichen Werten zu sprechen, ist daher aus der Sicht des ethischen Monotheismus nur dann möglich, wenn sich diese im Ethos Gottes verankern. Die Rezeption des modernen Wertebegriffs erfolgt deshalb vonseiten der ethischen Monotheismen nur mit gewissen Spannungen.

    Von den Chancen christlicher Werte

    Ungeachtet dieser vielen nicht bewussten Spannungen ist es in kirchlichen wie politischen Diskursen heute europaweit gang und gäbe, von „christlichen Werten" zu sprechen. Während Politikerinnen und Politiker nach deren Beitrag zur Demokratie fragen, sehen die christlichen Kirchen darin die Möglichkeit, christliche Ethik legitim in die ethischen und politischen Debatten einzubringen. Beides birgt Probleme, weil christliche Ethik politisch instrumentalisiert werden kann und der christliche Glaube auf Ethik reduziert zu werden droht.⁸ Die Interessen sind aber dennoch legitim, weil der Wertebegriff auch zahlreiche sinnvolle Dimensionen birgt. So zeigt sich in seiner weitverbreiteten Verwendung die unverzichtbare Suchbewegung pluralistischer Gesellschaften nach ethischer Orientierung. Bereits dieser Sachverhalt verpflichtet Politik und Kirchen wie auch die Theologie dazu, sich dem Wertebegriff auch positiv anzunähern.

    So wurde der Wertebegriff im Anschluss an Talcott Parson im 20. Jahrhundert zu einem Disziplinen verbindenden Schlüsselkonzept der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften, um Kultur zu erforschen. Er ermöglicht es bis heute, in hermeneutischen wie empirischen

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