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Bürgerliche Impulse: Annäherungen aus Wissenschaft, Politik und Praxis
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eBook539 Seiten5 Stunden

Bürgerliche Impulse: Annäherungen aus Wissenschaft, Politik und Praxis

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Über dieses E-Book

Nur unter Mitwirkung und Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger lassen sich unsere Gesellschaft, der liberale Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie denken und verwirklichen. Der Begriff des Bürgers ist seit seiner Entstehung vielschichtig und immer wieder Bedeutungsänderungen unterworfen.
Bestimmte Eigenschaften waren aber immer unumstritten: Mit der Bürgerin und dem Bürger verbindet man einen Menschentyp des Ausgleichs, der Mäßigung, der politischen Mitte und des pragmatischen Problemlösens. Mit dem vorliegenden Sammelband steigt die Politische Akademie der Volkspartei in die Debatte um den Stellenwert des Bürgerlichen für Gesellschaft und Staat ein und verpasst dem Begriff eine Frischzellenkur für die 20-er Jahre: Was kann bürgerlich heute bedeuten?
Der Sammelband entwickelt Argumente für die Wichtigkeit bürgerlicher Überzeugungen und Tugenden in der Politik und denkt das bürgerliche Politikverständnis für das Hier und Jetzt weiter.

Mit Beiträgen von Manfred Prisching, Johannes Domsich, Till Kinzel, Leopold Neuhold, Anita Ziegerhofer, Bernhard Heinzlmaier, Wolfgang Schüssel, Wilfried Haslauer, Wolfgang Mazal, Christian Moser-Sollmann, Ansgar Lange, Diana Kinnert, Christopher Drexler, Karlheinz Töchterle, Monika Köppl-Turyna, Christoph Robinson, Hermann Kroll-Schlüter, Michael Meyer, Harald Mahrer, Elisabeth Mayerhofer, Bettina Rausch-Amon und Hedwig Unger.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Noir
Erscheinungsdatum4. Dez. 2023
ISBN9783950512656
Bürgerliche Impulse: Annäherungen aus Wissenschaft, Politik und Praxis

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    Buchvorschau

    Bürgerliche Impulse - Bettina Rausch-Amon

    Einleitung

    Vor 175 Jahren hat ausgehend von Frankreich eine bürgerliche Revolution zuerst Europa und dann die Welt im Sturm erobert. Damals forderten in ganz Europa Bürgerinnen und Bürger demokratische Grundrechte, bürgerliche Freiheiten, die Abschaffung des Feudalismus und Pressefreiheit. Im Jahr 1848 wurde in Österreich als Zeichen dieses neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins auch die Tageszeitung „Die Presse" gegründet. Die damaligen Ereignisse legten den Grundstein für die Entstehung von Parteien, Arbeiternehmer- und Frauenbewegung sowie der politischen Öffentlichkeit. Seit damals sind aktive Bürgerinnen und Bürger Garanten eines stabilen politischen Gemeinwesens, das auf der Wertschätzung individueller Freiheit basiert. Unsere Gesellschaft, der liberale Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie lassen sich nur unter Mitwirkung und Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger denken und verwirklichen.

    Nach den totalitären und anti-bürgerlichen Regimen des Nationalsozialismus und des Kommunismus im 20. Jahrhundert hat sich in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg flächendeckend die liberale Demokratie als Regierungsform etabliert. Seit damals hat es dabei immer wieder Debatten um den Wert des Bürgerlichen für den Rechtsstaat und die Gesellschaft gegeben – mit unterschiedlichen Zugängen. So hat 1953 der deutsche Sozialwissenschaftler Helmut Schelsky die berühmte These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft formuliert. In den Wirtschaftswunderjahren mit Vollbeschäftigung und der Formel „Wohlstand für Alle galt der gesellschaftliche Aufstieg durch Arbeit und Leistung als Ideal. Damals dienten fleißige Bürgerinnen und Bürger als Leitbild. Im Jahr 1968 verkündeten Studenten dann den Abschied vom Bürgertum. Man erhoffte sich eine sozialistische Transformation der Gesellschaft und es erfolgte ein tiefgreifender Umbau der Gesellschaft. Frauenbewegung, Umweltschutzbewegung, der Kampf um die Rechte sexueller Minderheiten und die zunehmende Individualisierung haben die Demokratie um neue Themen und Schwerpunktsetzungen erweitert. Und im Jahr 1989 fiel der Eiserne Vorhang. Die freien marktwirtschaftlichen Demokratien hatten den Systemwettbewerb mit dem Kommunismus friedlich für sich entschieden und in den neu entstehenden Demokratien des ehemaligen Ostblocks schlug die Stunde der Bürgergesellschaft. Fast 35 Jahre später ist von dieser Aufbruchstimmung nur mehr wenig zu spüren. Die Schlagwörter und die Debatten haben sich verändert. Viel ist von der Spaltung der Gesellschaft und dem Ende der Mittelschicht zu lesen. Doch diese kulturkritischen Lamentos sind weder neu noch originell, wenn wir vergangene Debatten studieren. Seit der Entstehung des Bürgertums gab es im deutschsprachigen Raum immer wieder zyklisch wiederkehrende wissenschaftliche, feuilletonistische und politische Gefechte zum Thema Bürgerlichkeit. Solche Grundsatzdiskussionen sind meistens verwoben mit Reflexionen über die gesellschaftliche Mitte. Bestimmte Argumentationsfiguren kehren immer wieder: So hängt beispielsweise der von der Meinungsforschung oft beschworene Untergang des Bürgertums und des „Bürgerlichen mehr von Stimmungslagen und bestimmten gesellschaftlichen Lebensstilentwicklungen ab als mit tatsächlichen Änderungen im Selbstverständnis der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.

    Mit dem vorliegenden Buch steigt die Politische Akademie in die Debatte ein und verpasst dem Begriff eine Frischzellenkur für die 2020er-Jahre: Was kann und soll bürgerliche Politik bedeuten? Heute, in Zeiten der digitalen Transformation und der Polykrise werden neue Konfliktlinien sichtbar. Wenn sich alles ändert, müssen sich auch Selbstbild, Ansprüche und Wirklichkeiten der Bürgerinnen und Bürger weiterentwickeln. Die Bürgerin und der Bürger waren seit ihrer Entstehung wandelbare Wesen. Gerade in ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Resilienz liegen zwei ihrer Tugenden, die lebensnotwendig für eine lebendige Demokratie und notwendig für den Erhalt und den Ausbau rechtsstaatlicher Errungenschaften sind. Denn wie im Laufe des Buches an verschiedenen Stellen nachlesbar ist: Der Begriff des Bürgerlichen war von Anbeginn umkämpft und bürgerliche Freiheiten sind nicht selbstverständlich. Autoritäre Lebensmodelle von links wie die Verbotskultur und Bevormundung oder von rechts wie die Identitätspolitik bestreiten mit ihrer Bevorzugung des Besonderen vor dem Allgemeinen den universalistischen, also für alle geltenden Anspruch der Aufklärung.

    Mit der Bürgerin und dem Bürger verbindet man seit jeher einen Menschentyp des Ausgleichs, der Mäßigung und der politischen Mitte. Das Bürgertum wägt sorgfältig Für und Wider eines jeden Sachverhaltes ab und entscheidet dann auf der Grundlage von Fakten; es entscheidet vernünftig und nicht auf Grundlage von Gefühlen oder den moralischen Kategorien von Gut und Böse. Das Bürgerliche setzt also auf Planbarkeit und Pakttreue und nicht auf Affekte, Show und Emotionen. Manchen erlebnisorientierten NGOs wie Fridays for Future, der Letzten Generation oder Extinction Rebellion erscheinen Bürgerliche daher auch ein wenig langweilig, zögerlich und entscheidungsschwach. Diese Skepsis gegenüber Utopien und Dystopien hat einen guten Grund. Die Bürgerin und der Bürger bevorzugen das Mittlere gegenüber den Extremen, die kleinen Verbesserungen gegenüber dem großen Umsturz und das Alltägliche gegenüber dem Ausnahmezustand. Das Geregelte gilt mehr als das moralisch Erhabene und die Einhaltung der Geschäftsordnung mehr als kurzweilige Leidenschaften. Bestimmte bürgerliche Errungenschaften bleiben aber unumstritten. Nur das bürgerliche Recht und der liberale Rechtstaat bürgen für allgemeingültige Spielregeln, die allen Bürgerinnen und Bürgern verbriefte Sicherheiten und Grundrechte garantieren. Für alle gültige Gesetze machen den Alltag planbar und minimieren die Lebensrisiken für die einzelne Bürgerin und den einzelnen Bürger. Die bürgerliche Gesellschaft beschränkt mit der Gewaltenteilung auch die Macht von Parteien und der Politik. In dieser Tradition sind die Bürgerin und der Bürger Trägerinnen der Demokratie. Die Einzelne und der Einzelne sind verantwortlich für die Mitgestaltung der sozialen Verhältnisse. Eine Bürgerin und ein Bürger fühlen sich verpflichtet, für die Werte der Gleichheit, Teilhabe und Offenheit geradezustehen und sich zu engagieren, und verteidigen diese Werte als Grundlage des modernen Staates. Anstatt auf den Staat und einen gütigen Herrscher zu warten, gestalten die Bürgerinnen und Bürger ihre Umwelt lieber eigenverantwortlich und selbstorganisiert und verkörpern so das Gegengewicht zu einem staatszentrierten Politikverständnis. Der Ausgangspunkt bürgerlichen Denkens liegt immer bei der Einzelnen und dem Einzelnen und dieses Primat für das Individuum bedingt eine Philosophie der Gewaltenteilung. Die Grundwerte des liberalen Bürgertums sind Freiheit, Gleichheit und allgemeines Wahlrecht. Bürgerlichkeit ist in der modernen Gesellschaft nicht auf die schmale Schicht eines sich ökonomisch definierenden Bürgertums begrenzt: Bürgerliche Prinzipien und Praktiken gelten für alle Klassen und Milieus. Der Staat verpflichtet sich durch Grundrechte, Freiheit für den Einzelnen zu verwirklichen und Ungleichheit durch Gesetze und Steuern abzumildern. Und die Verfassung verpflichtet sich zum Sozialstaatsprinzip und zur Durchsetzung von Gleichberechtigung, zur Bekämpfung von Diskriminierung und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Das sind gewichtige Gründe, um auch in Zukunft selbstbewusst und stolz auf die Wichtigkeit bürgerlicher Überzeugungen und Tugenden in der Politik hinzuweisen und das bürgerliche Politikverständnis aktiv weiterzuentwickeln.

    Bettina Rausch-Amon & Manfred Prisching

    I.

    Begriffsbestimmung und ideengeschichtliche Verortung

    Das Bürgerliche und das Nichtbürgerliche

    Manfred Prisching

    Es sind Beispiele aus dem Wörterbuch der unbestimmten Sprache: Begriffe wie „bürgerlich, „Bürger, „Bürgertum, „Bürgerlichkeit.¹ Es lassen sich zwar historische Formationen und Prozesse rekonstruieren, aber die Vokabel werden dennoch auf recht Heterogenes und Wandelbares angewendet. Beim „Bürger" kann man an das städtische Bürgertum des Mittelalters oder an das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts denken, an das Kleinbürgertum und das Großbürgertum, das Mittelschichtbürgertum, an die Verbürgerlichung der Arbeiterschicht, an die Eliminierung bürgerlicher Fraktionen um 1918 oder 1945 (Bruckmüller 2011).

    Aber man kann auch die citoyens meinen, d.h. die Staatsbürger:innen, die Anteil haben an den Rechten und Pflichten des Gemeinwesens, unabhängig von ihrer sozialen Stellung. Die „Bürgergesellschaft ist besonders zweideutig; sie verleitet uns, an die „Zivilgesellschaft zu denken, die private Engagiertheitsdimensionen im Rahmen einer demokratisch-liberalen Gesellschaft ins Spiel bringt (Prisching 2021).

    Das „Bürgerliche, die „Bürgerlichkeit – solche Begriffe scheinen noch schwerer fassbar, da es nicht um eine soziale Formation, sondern um eine Geisteshaltung, einen Denkstil, eine Weltsicht, einen Habitus geht. Für die Suche nach diesen Elementen stehen zwei gegensätzliche Beschreibungen zur Verfügung. Auf der einen Seite ist von der „nachbürgerlichen Gesellschaft die Rede, da doch keine soziale Trägerschicht mehr ausfindig zu machen ist. Wir hätten also längst den Abschied vom Bürgertum vollzogen (Fest et al. 2005), was bedeutet: Auch das Bürgerliche ist tot. Auf der anderen Seite ist die These von der umfassenden „Verbürgerlichung (Kocka 1995b) der Gesellschaft zu finden. Auch dabei schwindet die Fassbarkeit des Begriffs, weil alle sozialen Schichten und Milieus damit erfasst werden sollen.² Das Bürgerliche ist in diesem Fall nicht tot, sondern es ist schlechthin identisch mit der modernen Welt. Das Bürgerliche wäre mit diesen beiden Beschreibungen überall und nirgends.

    Wir gehen davon aus, dass mit dem Begriff des „Bürgertums (als einer einheitlich beschreibbaren Formation) in einer hochgradig fragmentierten und pluralisierten westlichen Gegenwartsgesellschaft in der Tat nicht viel anzufangen ist – es sei denn, man müsste damit beginnen, eine ganze Reihe von „bürgerartigen Clustern auf einer sozialstrukturellen Landkarte zu unterscheiden. Deshalb konzentrieren wir uns auf das „Bürgerliche oder die „Bürgerlichkeit, allenfalls auf Bürgerlichkeit ohne Bürgertum (Bude et al. 2010). Was also sind Elemente einer „bürgerlichen Lebenshaltung, einer „bürgerlichen Geisteshaltung, einer „bürgerlichen Weltsicht oder „bürgerlichen Weltanschauung? Auch dabei stoßen wir auf keine geschlossene Konfiguration von Ideen, aber es lässt sich Substantielles finden, das sich wenigstens mosaikhaft zusammenfügen lässt. Wir starten mit dieser Vermutung: Das Bürgerliche hat sich nicht gänzlich aufgelöst. Wir werden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Elementen nachspüren.

    Der dritte Stand

    Dennoch zuvörderst ein paar Stichworte zur Geschichte. In der Drei-Stände-Gesellschaft waren die sozialen Funktionen in die bellatores, die oratores und die laboratores aufgeteilt: Die Aristokratie sorgte (mehr oder weniger gut) für Sicherheit und Verwaltung, der Klerus mühte sich (mehr oder weniger erfolgreich, aber nicht so recht nachweisbar) um das jenseitige Heil, der „Rest der Gesellschaft „arbeitete (mehr oder weniger produktiv) – vor allem in der Landwirtschaft (vgl. zu den folgenden Gruppierungen Kocka 2008). Nicht nur die Bauern, sondern auch die „Bürger gehörten zu diesem „Rest, die sich in den Städten mit Gewerbe und Handel, mit der städtischen Selbstregierung, mit Justiz und Gesundheit befassten (Reinhard 2006); aber auch diese soziale Gruppe differenzierte sich immer mehr. Stadtluft macht frei – die Städter waren oft nicht den adligen oder geistlichen Herrschaften untertan; und das ermöglichte die Entwicklung einer nicht-adligen, nicht-geistlichen, nicht-bäuerlichen Kultur, d.h. einer städtischen, bürgerlichen Kultur. Wenn durch unternehmerischen Elan Reichtum erworben wurde, ahmte das Bürgertum (zumindest im Erscheinungsbild) den aristokratischen Lebensstil nach (Elias 1983). Dennoch ist der Begriff weit gefasst: Zwischen dem Schuster in einer deutschen Kleinstadt und einem Fernhandelskaufmann in Florenz gab es beträchtliche Unterschiede. – Auch im zeitlichen Verlauf muss man Unterschiede beachten, die von den jeweiligen Interessens- und Konfliktkonstellationen abhängig waren. Zuerst stand das Bürgertum zwischen dem grundbesitzenden und/oder schwertführenden Adel auf der einen Seite und den schlechtgestellten bäuerlichen Schichten auf der anderen Seite. Von beiden grenzte man sich ab. Später war der Adel weniger relevant, dafür gelangte der Staat in eine machtvoll-regulierende Position, und man wollte ihm gegenüber seine Freiheiten bewahren, erkämpfen oder ausweiten, während auf der anderen Seite die Arbeiterschaft stand, deren Ansprüche man ebenso im Zaum halten wollte.

    Das Bürgertum hat heterogene soziale Gruppen umfasst, aber es hat sich durch wirtschaftliche Selbstständigkeit, durch spezifische Fachschulung und/oder durch Bildung ausgezeichnet (Lepsius 1990, S. 153ff.). Im 19. Jahrhundert entwickelte sich mit dem Anstieg von Kapitalismus, Industrie und Handel die Gruppe der Besitzbürger oder Wirtschaftsbürger: Kaufleute, Verleger, Manufakturunternehmer, Bankiers, Fabrikanten. Die expandierende Staatstätigkeit konsolidierte die Gruppe der Staatsdiener: Behörden, Justiz, aber auch Lehrerschaft und Wissenschaft; also das Bildungsbürgertum (Kocka 1995c). Was hatten sie gemeinsam? „Einerseits die kritische Distanz zum Geburtsadel und seiner Welt, die Hochschätzung von Leistung und Bildung, die Kritik am Gottesgnadentum und an absolutistischer Willkür, zugleich aber die Absetzung vom niederen Volk; andererseits die städtische Lebensweise und die damit zusammenhängende Kultur." (Kocka 2008) Die Staaten hatten zunehmend Schwierigkeiten, die erforderlichen Fachkräfte für die Administration aus den adeligen Familien zu gewinnen, dort rückte das Bürgertum in wichtige Stellen ein.³

    „Bürgerlichkeit als Geisteshaltung war in dieser Epoche mit Aufklärung, Selbstständigkeit, Qualifiziertheit und Säkularität verbunden: die liberalen Bewegungen, die Logen und Lesegesellschaften, die Kunstvereine; Lebensentwürfe, die sich aus dem ständisch-stabilen Gefüge lösten. Sie waren gegen die „alte Gesellschaft gerichtet: gegen Absolutismus und willkürliche Obrigkeit, gegen Geburtsprivilegien und ständische Gliederung, gegen die klerikale Orthodoxie. Sie waren für Liberalität und Marktfreiheit, für Demokratie und Rechtsstaat, für Arbeit und Leistung, für Vernunft und Bildung; für das Ideal einer mündigen Person, die in der Gemeinschaft mit anderen gewachsen ist. Bürger waren (bei aller Weltoffenheit und Weltgewandtheit) aber auch Staat und Heimat sowie traditionellen Geschlechter- und Familienverhältnissen zugewandt. Manchmal gab es eine gewisse Kleinkariertheit, manchmal kosmopolitische Liberalität. Es gibt eine graduelle Abstufung vom allseits versierten Großbürgertum bis zur kleinbürgerlichen Borniertheit.

    Eine solche Beschreibung klingt weithin selbstverständlich, aber Kritik zog diese bürgerliche Population (als Schicht und als Geisteshaltung) von allen Seiten auf sich.

    „Die aristokratische Kritik des frühen 19. Jahrhunderts hielt die Bürger für borniert und mittelmäßig. Die sozialistische Arbeiterbewegung polemisierte gegen bürgerlichen Klassenegoismus, bürgerliche Ausbeutung und bürgerlichen Standesdünkel. Die Jugendbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts wandte sich gegen bürgerliche Konventionen und bürgerliche Heuchelei. Die Faschisten verachteten den bürgerlichen Individualismus und den bürgerlichen Rechtsstaat. Auch die kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben das Bürgertum und seine Kultur bekämpft. Die marxistischen Studenten und Intellektuellen, die 1968 in Berkeley, Paris und Berlin protestierten, gaben ihrer Verachtung für alles Bürgerliche unmissverständlich Ausdruck – bis hin zum Spott über ‚bürgerliche Liebe‘, ‚bürgerliche Wissenschaft‘ und ‚bürgerliche Kunst‘." (Kocka 2008)

    Bürgerlich war jene Lebensweise, in der man (dem bekannten Spruch zufolge) öfter als einmal mit derselben pennt. Kritik gab es also von oben und von unten, von den Autoritären und Totalitären, von der Jugendkultur und der Pop-Kultur. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging das soziale Substrat des Bürgertums weithin verloren, es fragmentierte sich in unterschiedliche Milieus, ein gemeinsames Bewusstsein war nicht mehr zu erkennen.

    „Normalerweise wird heute mit einer Kombination von Vermögens-, Einkommens- und Berufskriterien gearbeitet, um Schichten zu identifizieren, die aber in der Regel reine Konstrukte mit ziemlich fragwürdigen, in Geldsummen ausgedrückten Grenzen sind, denen kein soziales Identitätsbewusstsein mehr entspricht. Noch am ehesten gibt es das im Hinblick auf die berufliche Komponente, beim Ärztestand, Bauernstand, Beamtenstand, Lehrerstand usf., die wie Überbleibsel der Ständegesellschaft anmuten." (Reinhard 2006, S. 311)

    Somit bietet die Gegenwartsgesellschaft nicht nur keine vertikal angeordnete Hierarchie, also keine sozialen „Klassen an sich oder „Klassen für sich, in der man Bürgerliches verorten könnte, sondern eine Vielzahl von Lebensstilgruppen, die jeweils keine „Gruppe für sich (im Sinne eines Abgrenzungs- und Zugehörigkeitsbewusstseins) darstellen. Der Erste Weltkrieg, die Zeit des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg haben Zäsuren gesetzt (und das „eigentliche Bürgertum in einigen Etappen vernichtet), die Moderne hat weitere Differenzierungen vorgenommen. Es gibt heute Mitglieder der Machtelite oder der Wirtschaftselite, Stars aus dem Kunst- und Kulturbereich, erfolgreiche Sportler mit hohem Einkommen – aber sie lassen sich ebenso wenig zu einer Gruppe „zusammendenken" wie die Arbeitnehmer:innen. Schlagerstars mögen Geld haben, aber sie haben normalerweise nichts mit Bürgerlichkeit im Sinn, ganz im Gegenteil. Man kann auch das berühmte oberste ein Prozent nicht als Kern des Bürgertums verstehen, die Mitglieder dieses Prozents haben ein beträchtliches Vermögen, aber es verbindet sie meist wenig mit einer bürgerlichen Lebensauffassung. Die Zahl der Badezimmer in der Villa definiert nicht Bürgerlichkeit. Neureiche sind nicht bürgerlich, und Bürgerliche sind nicht reich. Aus der Vergangenheit stammt auch die Zuschreibung, dass haushälterische Dienstkräfte (Dienstmädchen) als Minimalbedingung eines wirklich bürgerlichen Haushaltes (Kocka 1995a, S. 62f.) gelten können (Kaiser 2008)⁴, aber in Anbetracht der anfallenden Arbeitskosten blieben in der Gegenwart bei einer solchen Begriffsbestimmung nicht viele Haushalte übrig (und das Bürgerliche bei den Dienstgebern entsteht durch das Vorhandensein eines Gärtners und einer Köchin noch lange nicht). Und wenn man erst die „Seitenblicke-Gesellschaft betrachtet – diese Assoziierungen von dümmlicher Aufgetakeltheit sind keineswegs Zusammenrottungen des Bürgertums. Charakteristisch für die Gegenwart ist eine in Konsum und Entertainment nivellierte und zugleich fragmentierte Massengesellschaft, die zuweilen „mittelbürgerliche Züge aufweist, deren Gruppierungen aber nicht umstandslos mit dem Etikett des „Bürgerlichen auszustatten sind. Mit ihr kann man mitschwimmen, denn Mut gehört heute nicht dazu, das Bürgerliche zu verweigern, Mut gehört vielmehr zur „Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung (Marquard 2004, S. 23 und 159).

    Es bleiben allerdings die „feinen Unterschiede zwischen den Gruppen und Stilen bestehen (Bourdieu 1987), ja diese werden möglicherweise sogar wichtiger. Die „Bürgerlichen erkennen einander, es beginnt mit Kleidung, Bewegung, Sprache, und natürlich sind diese Verkörperungen auf einer Skala anzusiedeln – man kann also mehr oder weniger bürgerlich sein. Für die Gegenwart ist es deshalb beinahe alternativlos, das Bürgertum von der Bürgerlichkeit zu trennen (Conze 2004), also über Bürgerlichkeit ohne Bürgertum (Kaiser 2008) nachzudenken. Bürgertum wäre eine (fast verschwundene) sozialstrukturelle Kategorie, Bürgerlichkeit ist eine Weltsicht und Lebenshaltung, über deren Verbreitung sich reden lässt. Zwei Elemente des Bürgerlichen seien aber vorneweg erwähnt: die Universalität und das Menschenbild.

    Universalität

    Bürgerlichkeit ist ein Produkt der europäischen Neuzeit, aber sie birgt am Ende ihrer Entfaltung die Idee der Universalität der eigenen Lebensweise: Es „waren Idee und teilweise verwirklichte Praxis ‚bürgerlicher Gesellschaften‘ eine der markantesten Facetten des (west-)europäischen Sonderweges in der neueren Geschichte. Als das Bürgertum noch lebte, hat es diese Idee entwickelt, die den eigenen Lebensbereich übersteigen sollte. „Nirgendwo sonst als in Westeuropa und den neo-europäischen Siedlergesellschaften scheint es die Vorstellung gegeben zu haben, die Mitte der sozialen Hierarchie könne dem gesellschaftlichen Ganzen ihre Ideale der Lebensführung aufprägen. (Osterhammel 2011, S. 1087) Damit wurden die Zeitgebundenheit des Bürgerlichen überschritten und eine Langfristperspektive entwickelt. Darin verkörpert sich auch der grundlegende Gleichheitsanspruch der Bürgerlichkeit. Dazu gehören aber auch Abgrenzungen. Als nicht- oder antibürgerlich sah man etwa Varianten der Lebensphilosophie, den Vitalismus, die Jugendbewegung, den Expressionismus; eine übertriebene Romantisierung mit einem Exzess der Gefühle; ebenso gab es Distanz zur Neoromantik, also zur Alternativbewegung (auch wenn es oft die eigenen Kinder waren). Ebenso ging es gegen den Heroismus (eines Carl Schmitt oder Ernst Jünger). Selbstverständlich war die Abgrenzung gegen den Marxismus, gegen die Gemeinschaft des Klassenkampfes. Und schließlich auch gegen die Massengesellschaft und Massenkultur, gegen die Relativierung aller Anomalien und Extremismen – dieser Kampf ist offenbar verloren worden.

    Der Universalitätsanspruch für die eigene bürgerliche Kultur ist freilich allein schon in der westlichen Welt nicht eingelöst worden. Die USA würde man zweifelsohne dem europäisch-westlichen Kulturkreis zuschreiben, dennoch denkt man für die moderne Gesellschaft der USA kaum an Kategorien wie Bürgerlichkeit.⁵ Diese Gedankenverbindung drängt sich weder für die kapitalistischen Investoren in New York oder ihre Lobbyisten in Washington noch für die suburbanen Holzhäuser-Kolonien rund um die Großstädte auf; allenfalls kann man an bestimmte Bostoner Eliten denken, die sich zu den „alten Familien" zählen, oder an das Mittel- und Kleinbürgerliche in den suburbs. Man kann sich jedoch kaum etwas Antibürgerlicheres vorstellen als Donald Trump.

    Das krumme Holz

    Kennzeichnend für ein bürgerliches Menschen- und Weltbild ist ein weiterer Ausgangspunkt: die Annahme, dass der Mensch aus krummem Holze geschnitzt sei – bekanntlich eine schöne Formulierung von Immanuel Kant. Es ist eine Art von Realismus bei der Betrachtung menschlicher Möglichkeiten und Verhaltensweisen gemeint, der sich auf der einen Seite abgrenzt vom Modell der ewigen und unrettbaren Verkommenheit der menschlichen Spezies, auf der anderen Seite von der übertriebenen Vorstellung der menschlichen Sittlichkeit und Vervollkommnung – im letzteren Falle von der Vision eines „neuen Menschen. (Dieser wäre in einer neuen Gesellschaft zu „erschaffen, weil ihm nur durch die Repressionen der gegenwärtigen Gesellschaft alle möglichen Defizite und Anomalien auferlegt seien. Dazu muss man die gegenwärtige Gesellschaft radikal säubern, ein Glaubenssatz von Rousseau bis Lenin, der bei Stalin seine massenwirksame Tödlichkeit entfaltet hat). Zur Bürgerlichkeit gehört insofern immer ein Schuss Konservatismus, der utopischen Machbarkeitsvorstellungen und kollektiven Illusionen eine Grenze setzt. Die Menschen sind, wie sie sind. Es empfiehlt sich, die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Dimensionen der Reihe nach zu skizzieren, um ein etwas breiteres Bild der Bürgerlichkeit zu erfassen – und jeweils, der Abgrenzung halber, auszuweisen, was nichtbürgerliche Geisteshaltungen sind. Es ist eine allzu einfache Zuteilung, wenn man das Wirtschaftsbürgertum nach England, das politische Bürgertum nach Frankreich und das Bildungsbürgertum nach Deutschland zuordnet (Koselleck et al. 1991), denn im Grunde haben die drei Elemente von Wirtschaft, Politik und Kultur gemeinsam erst das bürgerlich-liberale Weltbild ausgemacht. In einzelnen Personen, die als Repräsentanten des Bürgertums gelten, gibt es jedoch thematische Schwerpunkte – Politikbürger und Bildungsbürger finden sich etwa gerne gegen die Wirtschaftsbürger zusammen.

    I. Die wirtschaftlichen Komponenten

    Man kann (naheliegenderweise) auf die jahrhundertelange Entwicklung des Wirtschaftsbürgertums verweisen: die norditalienischen und norddeutschen Kaufleute, die technischen Erfinder und Bastler, die Manager des Verlagswesens und der frühen Industrie, die Entrepreneure und Kapitalisten. Zur Bürgerlichkeit gehört das Streben nach Autonomie, man sucht nach einem unabhängigen Einkommen, wie es dem Unternehmer oder dem Professionisten eines freien Berufs zukommt.

    Die Abgrenzungen sind nicht klar: Auch die Bauern können auf ihren Höfen selbstständig disponieren, und wesentliche Teile des Bürgertums waren in staatlichen Einrichtungen, etwa in Schulen und Universitäten, als Arbeitnehmer beschäftigt. Etwas Bürgerlicheres als Werner Sombart oder Max Weber kann man sich gar nicht denken. Erst in jüngster Zeit haben auch die meisten Universitätsprofessoren den Habitus von Sachbearbeitern entwickelt, die mit der bürgerlichen Welt nicht vertraut sind. (Man kann auch sagen, dass mittlerweile die Kleinbürger an den Universitäten angekommen sind (Albrecht 2010, S. 142)).

    Der unternehmerische Geist

    Die alten Helden werden überflüssig. „Asketische Bürgerlichkeit braucht keine supererogatorischen Leistungen mehr. Aus dem Heldentum wird der Beruf, meint Norbert Bolz (2009). Den Helden einer bürgerlichen Gesellschaft hat Joseph Schumpeter beschrieben: als unternehmerischen Geist, der innovativ und kreativ ist, der aber vor allem ein (wirtschaftliches) „Reich schaffen möchte (Schumpeter 1975 [1951]). Schumpeter hat allerdings nur die eine Seite des unternehmerischen Handelns beschrieben, Werner Sombart hat die beiden Komponenten, die den bürgerlich-entrepreunerialen Geist bestimmen, in ihr wechselseitiges Verhältnis gesetzt (Sombart 1913, 1987). Es ist zum einen der Geist des Wagemuts und Abenteurertums, der Innovativität und Kreativität; zum anderen aber der Geist von Ordentlichkeit, Disziplin und Buchhaltung. Denn auch Wegelagerer und Eroberer waren vordem vom („unternehmerischen) Abenteurertum geprägt; dieser Geist wird jedoch beim echten Unternehmer gezähmt durch das rationale Kalkül, den rechenhaften Blick auf alle Lebensbereiche. Kühnheit und Einfallsreichtum, aber auch Rechenstift und Nüchternheit: Die Balance ist nicht nur eine historische Erinnerung, sie beschreibt bis heute das Kompetenzprofil erfolgreicher „Wirtschaftsbürger. Man muss Risikofreude versus Kalkülhaftigkeit, Innovativität versus Rechenhaftigkeit jeweils miteinander in Einklang bringen. Es gibt genug Startup-Utopisten, die den Rechenstift vermissen lassen; und umgekehrt werden gerade im 21. Jahrhundert Betriebe durch buchhalterisches Zaudererdasein scheitern.

    Gesellschaft des Eigentums

    Der unternehmerische Geist (sowie die dazugehörigen Institutionen von Markt und Wettbewerb) hat eine besondere Ausgestaltung, wenn er mit dem Eigentum, vor allem dem Eigentum an Produktionsmitteln, verknüpft ist. Die Idee, dass Menschen mit vollem Einsatz, weit über das Verlangte, mit Freude und Enthusiasmus arbeiten, dass es ihnen aber völlig gleichgültig ist, wenn andere mit ihren Ideen Millionen verdienen – diese Idee liegt nicht nahe an der Wirklichkeit, auch wenn es diese Konstellationen geben mag. Der Einsatz von Eigentum, Leistung und Risiko gehört bezahlt. An der Ignoranz gegenüber diesen einfachen Sachverhalten sind die Planwirtschaften gescheitert, und manche gegenwärtigen Illusionsmodelle (etwa von einer Gemeinwohlökonomie) haben sie ebenfalls noch nicht verstanden.

    Dennoch hat Schumpeter recht, dass das Geldverdienen nicht das Wesen des Unternehmerischen ausmacht: Wie wollte man erklären, dass ein Investor, der bereits einige hundert Millionen Dollar ins Trockene gebracht hat, 16 Stunden am Tag arbeitet und immer weitere Projekte ins Leben ruft? Es geht, sagt Schumpeter, um die Tätigkeit selbst, um das Gefühl des Erfolges, um den Traum, sein „privates Reich" zu schaffen und auszubauen. Es ist eine disziplinierte und abstrahierte Eroberermentalität.

    Bürgerlich ist die Welt von Eigentum und Marktwirtschaft. Nach 1945 hat es in Ländern wie Deutschland und Österreich die rasche Bildung einer leistungsfähigen Mittelschicht gegeben, die an herkömmliche bürgerliche Werte anknüpfte. Direkt nach dem Weltkrieg war man nicht sicher, ob der Kapitalismus nicht am Ende sei, und es bestand die Option, in Westeuropa ein planwirtschaftliches System zu übernehmen. Letztlich wurde es doch die „soziale Marktwirtschaft": das Marktmodell mit solidarischen Modifikationen. Am Beginn mag man gar von einem gewissen Maß an Rückwärtsgewandtheit sprechen: Man sympathisierte im Ordoliberalismus mit einer agrarisch geprägten Gesellschaft, mit einer mittelständischen Wirtschaft, mit einer Mittelschicht von Grundbesitzern und Hauseigentümern (Eucken 1952; Röpke 1945; Müller-Armack 1976). Es folgte das Wirtschaftswunder, und die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung ging über Retro-Konzepte rasch hinweg. Letztlich erzeugte der wirtschaftliche Erfolg Legitimität für den fragilen Staat. Und die planwirtschaftlichen Systeme (als die große Systemalternative) erwiesen sich als entwicklungsunfähig und konnten nur als Nichtdemokratien aufrechterhalten werden. Gleichzeitig, besonders in den 1960er Jahren, baute sich eine gewisse Verächtlichkeit gegenüber dieser gesellschaftlichen Formation von Seiten der jüngeren Generation auf (obwohl oder weil sie die Nutznießer der Entwicklung waren).

    Ob man (jenseits der sozialen Marktwirtschaft) den Turbokapitalismus bzw. den Finanzkapitalismus der letzten Jahre noch als bürgerlich bezeichnen kann, ist eine andere Frage (Windolf 2005). Manche Spielregeln haben sich geändert: Viele finanzkräftige Investoren sind an der Realwirtschaft nicht interessiert, es gibt eine Verschiebung der wirtschaftlichen Aktivitäten in eine Finanzwirtschaft, die eigener Logik folgt. „Spekulationskapitalismus ist nicht bürgerlich. Die zweite Verschiebung erfolgt in den digitalen Raum. Die herkömmliche unternehmerische Kalkulation eines Maschinenbauunternehmens ist das eine, eine bahnbrechende Software, die hunderte Millionen Mal verkauft werden kann, aber (marginale) Produktionskosten nahe Null aufweist, ist etwas anderes. Vernetzte Systeme drängen zum Monopol, wenigstens zum Oligopol. Auch die größten Konzerne sind zudem plötzlichen Gefährdungen ausgesetzt: Google hat Angst vor chatGPT. Es sind unbürgerliche Unberechenbarkeiten. Twitter wird binnen weniger Wochen transformiert: Man kann bezweifeln, dass Elon Musk ein „bürgerlicher Mensch ist – oder was das im europäischen oder im amerikanischen Verständnis heißen könnte.

    Leistungsgesellschaft

    Leistung ist eine Kategorie des bürgerlichen Weltverständnisses. Man kann sich auf die protestantische Ethik Max Webers beziehen, aber diese ethische Haltung hatte ihre Vorläufer im Mittelalter. Es handelt sich um den Wechsel von ascribed- zu achieved-Charakteristika: Leistung statt Herkunft, Erwerb statt Erbschaft. Die bürgerliche Perspektive ist jedenfalls selbstdiszipliniert und leistungsfreundlich. Leistung ist eine Chiffre dafür, dass es manche ohne Erbe oder Protektion schaffen. In Wahrheit, wie man mit nüchternem Blick feststellen kann, ist es vielfach dennoch ein Mythos, dass Leistung zum Erfolg führt. Häufig ist es umgekehrt: Wer Erfolg (Geld, Position) hat, beruft sich auf Leistung – was immer er/sie auch getan haben mag. Manchmal ist er bloß zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Manchmal hat er besser geblufft. Verwandtschaft, Bekanntschaft, Parteizugehörigkeit, Mitgliedschaft bei denselben zivilgesellschaftlichen Gruppen oder Sportvereinen. Oft wiegen Identitätskriterien mehr als persönliche Qualifikationen. Wer oben ist, hegt jedoch niemals die Vermutung, dass seine Position ein Zufallsergebnis gewesen sein könnte – deshalb ist an einem solchen Platz auch jeder für Leistung, der selbst keine erbracht hat.

    Das Postulat der Leistung hat nichts damit zu tun, Menschen an ihre Leistungsgrenzen oder gar darüber hinaus zu treiben, vielmehr richtet sich diese Idee zunächst einmal auf die eigene Person. Man möge nicht allzu bequem sein, beim Denken, beim Arbeiten, beim Umgang mit anderen Menschen. Bürgerlich ist nicht das ständige Nörgeln auf hohem Niveau oder die Maximierung von Staatstransfers. Es ist vielmehr die Idee, dass man in der leistenden Entfaltung seiner Möglichkeiten zu sich selbst findet. Das ist ein nichtkonsumistisches Identitätspostulat: Die eigene Persönlichkeit entfaltet man nicht, wie vielfach vermutet, durch die neueste Mode, das größere Auto oder die teuerste Weinflasche.

    Melioration

    Das Leistungsgebot gilt auch auf kollektiver Ebene: Bürgerlich ist es, an die Verbesserungsmöglichkeit von Mensch und Gesellschaft zu glauben, allerdings ohne dabei in ideale oder utopische Zustände zu verfallen. Es ist ein Meliorationspostulat, kein Perfektionspostulat. Denn ein überhöhter Perfektionsanspruch an die Gesellschaft benötigt üblicherweise auch perfektionierte Menschen, und Systeme, die solche Menschen (homines novi) brauchen, müssen im Normalfall zuvor durch eine Phase der „Umerziehung des vorhandenen (defizitären) „Menschenmaterials hindurch – was generell mit der Akzeptanz diktatorischer Verhältnisse und einer gewissen Menge von „Kollateralschäden" verbunden ist (Gesang 2007; Bonelli 2014; Sandel 2008; Werle 2010). Es wurde schon erwähnt: Das bürgerliche Weltbild, das eng mit Erziehung und Bildung verbunden ist, weiß, dass man es mit unvollkommenen Menschen zu tun hat, die sich auch durch äußerste Gewaltanwendung links- oder rechtstotalitärer Systeme nicht perfektionieren lassen.

    Es gibt allerdings auch eine dunkle Seite der bürgerlichen Entwicklungsvorstellung. Verbreitet ist nicht nur die Fortschrittsorientierung, sondern auch das Niedergangsmodell: eine konservative Skepsis gegenüber Veränderung und Dynamik, ja sogar die feste Erwartung von Verfall und Untergang. Oswald Spenglers großes Epos über den Untergang des Abendlandes kann man als das ausgeprägte Modell einer bürgerlichen Verfallsperspektive ansehen (Spengler 1918ff.). Es sind nicht so sehr aktuelle Krisen, die den bürgerlichen Geist beunruhigen, als vielmehr ein langsames Abgleiten – und Spenglers Vision war ja durchaus in Jahrhunderten des Aufstiegs und Niedergangs modelliert. Es ist eine konservative Sorge, die durchaus nichts mit „rechter" Politik im Sinn

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