Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Marthe
Marthe
Marthe
eBook292 Seiten3 Stunden

Marthe

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Marthe - Das spannende Leben einer jungen Frau zu Zeiten des Dreissigjährigen Krieges.
Wie lebten Menschen um 16oo? Wie schafften sie es, bedroht von Feuer, Tod und Hunger, ihre Hoffnung zu bewahren, zu leben und zu lieben?

Marthe erzählt realistisch und doch poetisch, düster und doch ungeheuer farbig von ihrer Welt in dem kleinen Städtchen Wallensen im Weserbergland. Aus der heutigen Sicht eine Wirklichkeit voller Dramatik, Gefahr und Unsicherheit und doch ein ganz normales Leben im Deutschland des 17. Jahrhunderts.

Geboren als Müllerstochter und aufgewachsen in einer schwer von Pest und Feuersbrünsten heimgesuchten Stadt gehören Hunger und Entbehrungen zu Marthes frühesten Erfahrungen. Als junges Mädchen heiratet Marthe den Sohn des Pastors Vitus Ulrici . Während einer kurzen Phase des Aufschwungs können sie kleine Freuden des Alltags und wiederbelebte alte städtische Traditionen wie den prächtigen Martinimarkt genießen. Doch schon kurz darauf kommt der Krieg. Als Schwiegertochter eines protestantischen Geistlichen ist Marthe in besonderer Weise mitten im Geschehen um Gegenreformation und Glaubensfragen, Enteignungen und Plünderungen. Ihre Familie wird auseinandergerissen. Um das Liebste, was ihr geblieben ist nicht zu gefährden, entschließt sich sich zu einem verzweifelten Schritt.

Marthe Ulricis Geschichte berührt.Ihr Leben kann mit den Fingerspitzen berührt werden. Denn der Name ihrer Familie ist echt und überliefert. Er wurde auch auf eine Steintafel graviert, die noch heute in der Mauer der alten Sankt Martinskirche von Wallensen zu finden ist. Für Marthe war es ein ganz besonderer Augenblick der Hoffnung...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum1. Aug. 2012
ISBN9783844228168
Marthe

Ähnlich wie Marthe

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Marthe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Marthe - Tanja Flügel

    Tanja Flügel

    Marthe

    image1.png

    Thüste, im Dezember 2009

    Impressum / Imprint

    Marthe

    Tanja Flügel

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2012 Tanja Flügel

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN 978-3-8442-2816-8

    Gestaltung und Illustrationen Tanja Flügel

    Fotos Marcus Flügel

    Korrektorat / Lektorat Bettina Würrighausen

    Für Salia

    „Wir Menschen wissen überhaupt wenig über diejenigen, die uns in der Zeit vorausgegangen sind. Wir haben ihre Sehnsüchte übernommen, aber nicht ihre Erfahrungen.

    Ich kann dir jedoch versichern, dass du mehr wissen wirst, wenn ich dir ihre Geschichte fertig erzählt habe. Dann wird dir klar sein, dass du ein Teil davon bist…"

    Gioconda Belli, Das Manuskript der Verführung

    Wallensen…

    …ist ein sehr alter Ort und liegt im Tal zwischen Ith und Thüster Berg an der Saale, einem Nebenflüsschen der Leine. Um 900 n. Chr. wurde seine erste Kirche errichtet. Die Stadt Wallensen war nur klein, ganz im Quadrat gebaut und mit Mauer, Wall und Graben versehen.

    image2.png

    Prolog

    Seit vierhundert Jahren lasse ich mir nun schon bei jedem Glockenschlag die Luft durch die Haare wehen. Sie ist mal eisig kalt, hier in der Kirchturmspitze, mal fliegt der warme Duft von frischgemähten grünem Mai-Gras zu mir hinauf.

    Wenn die Sonnenstrahlen heller werden und die feinen Staubkörner wie Goldplättchen durch die Luft flirren, ist es wieder einmal Sommer geworden in Wallensen, diesem kleinen Städtchen, das sich in der ersten Falte des baumbestandenen Tischtuchs versteckt, dass das Weserbergland übermütig auf die Gegend wirft.

    Durch die tiefste Stelle zwischen Thüster Berg und Ith, fließen die klaren Wasser der Saale. Die wallenden Wasser, die Wallensen den Namen gaben. Natürlich kennt man auch andere, weniger poetische Erklärungen des Namens, aber wer einmal auf das Tal geblickt hat, wie es im Sonnenschein daliegt, wer die tiefen kalten Seen kennt, durch die die Saale ihr Wasser führt und nach Wallensen bringt, wird diese anderen Erklärungen als Zeitvertreib neunmalkluger Wissenschaftler verwerfen.

    Es ist viel Wasser die Saale hinuntergeflossen in den letzten vierhundert Jahren und ich beobachtete, wie auf den wallenden Wassern Veränderungen gemächlich ins Dorf schwammen, eine Weile ankerten und wieder fortgetrieben wurden. Ein winziges, fast quadratisches Städtchen war Wallensen einmal; mit einer hohen Stadtmauer, einem großem Wall und einem tiefen Graben drumherum. Auch in diesem Graben flossen die Wasser der Saale und gaben ihr Bestes, um die Bürger vor den kriegerischen Horden zu schützen.

    Schon vor meiner Zeit musste die Saale wieder und wieder hilflos zusehen, wie Brandgerüche durch den Ort zogen und die Flammen jedes Mal so viel schneller waren, als die Saale mit ihrem Wasser helfen konnte. Generationen von vor Not und Elend hoffnungslosen Männern schöpften, mit letzter Kraft und immer vergeblich, Löschwasser aus ihr. Schreiende Frauen und Kinder flohen im roten Feuerschein durch ihr Bachbett aus Wallensen.

    Die Saale wusste nicht, dass es die Spiegelberger Grafen waren, deren Streitigkeiten mit Brandpfeilen in unser Städtchen getragen wurden. Sie sah nur wieder einmal Flammen in Wallensen, die alle Häuser und die Kirche zerstörten.

    Bis ich geboren wurde, sorgte das Feuer noch dreimal in hundert Jahren dafür, dass Wallensen vollständig zu Asche wurde. Und jedes Mal bauten die Bürger, wie die fleißigen Ameisen, ihre Häuser wieder auf und erweckten den Ort zu neuem Leben.

    In einer Zeit neuen Lebens haben die Wasser der Saale dann auch mich gesehen. Damals, als ich noch nicht Zaubertöne aus den Kirchenglocken lockte, sondern ein kleines Mädchen in einem grob gewebten Kittelkleid war, das es liebte mit den Füßen durch den kühlen Bach zu planschen und die Forellen zu erschrecken.

    Ich war Marthe und ich wurde 1609 in Wallensen geboren. Marthe war mein Name, bis zu jenem Tag im Juli, an dem ich mich mit den Klängen der vier Glocken verband und schwor, als Sonntagsgeläut dem Ort und meinem Liebsten auf ewig treu zu bleiben. Ach, wie wenig konnte ich ihm helfen, meinem Conrad. Aber wie wunderbar ist es, nun schon seit so vielen Jahrhunderten die schweren Glocken nur durch einen sachten Stoß meiner Finger zum Schwingen zu bringen und ihren Stimmen zu lauschen.

    Mein Name ist verloren, doch in dem Geläut der Wallenser Glocken könnt ihr meine Geschichte entdecken.

    Der schwarze Tod

    In den Tagen meiner Geburt lag der letzte Brand dreißig Jahre zurück und er war fast in Vergessenheit geraten vor den Schrecken der Pestepidemie, die sich 1598 mit einem Boten in die Stadt geschlichen hatte, der über den Ith geritten kam und kaum, dass er das steinerne Obertor passiert hatte, geschwächt aus dem Sattel auf den staubigen Weg rutschte.

    Er fiel ein paar spielenden kleinen Kindern vor die Füße, bei ihnen war auch Johann, der Bruder meiner Mutter. Der Bote röchelte noch einige Male, versuchte in Todesangst, auf der Suche nach Beistand, die Hände der Umstehenden zu greifen und sank leblos in sich zusammen.

    Neugierig begutachteten die Kinder den daliegenden Mann und wunderten sich, dass er sich nicht mehr regte. Sie konnten die Zeichen der Pest an dem Körper des Sterbenden nicht lesen, so scheuten sie sich nicht davor, ihn zu berühren, seine Uniform und seinen Reiseproviant in Augenschein zu nehmen und schließlich unter sich aufzuteilen, als sie sahen, dass er keine Verwendung mehr dafür haben würde. Glücklich über den zusätzlichen Bissen und begierig, die Neuigkeiten von dem toten Fremden zu verbreiten, rannten sie durch den Ort und zupften jeden, den sie trafen aufgeregt am Ärmel. Begeistert zerrten sie Geschwister und Freunde zu ihrem Fund und jeder nahm von den Habseligkeiten des Boten, was locker saß.

    Mit einem Laib bestem Brot in der Hand, fröhlich die erbeutete Botenmütze aus feinem rot-blauen Stoff schwenkend, kam Johann zu Hause an.

    Zuhause, das war die Hütte meiner Großeltern, die seit dem letzten Brand windschief an der Stadtmauer klebte und die nur die Hoffnung vor dem Zusammenbrechen bewahrte. Noch immer waren nur wenige Häuser nach der letzten Feuersbrunst wieder aufgebaut worden, Bauholz war knapp. Die Menschen hausten in kleinen, zugigen, wackeligen Behausungen, so dichtgedrängt in den schmalen Holzverschlägen, dass die Wände nachts oft wie eine zweite Haut an den Bewohnern klebten.

    Die Nähe war ein zweckmäßiger Schutzmantel gegen die Winterkälte, doch die Pest nutzte ihn wie ein modisches Gewand, um sich ihren Vorteil zu verschaffen. Auf leisen Sohlen schlich sie sich zwischen die Menschen. Kaum hatte sie sich umgesehen, war ihr Plan gemacht und sie griff sich ihre Opfer. Bereits am nächsten Abend waren sie alle tot, die Kinder, die eben noch so glücklich ausgesehen hatten. Und am Tag danach viele ihrer Geschwister, die kleinsten zuerst, aber die Pest war nicht wählerisch.

    Als meine Mutter Anna, damals noch ein kleines Mädchen, am Abend mit den Ziegen durch das Mühlentor heimkam, lag Johann bereits blass und sterbend auf seiner Strohschütte und ihre verängstigten Eltern schickten sie fort, um ihr Leben zu retten. Sie schlüpfte also wieder durch die Mühlenpforte und suchte sich außerhalb der Stadtmauern in ihrer Not ein Gestrüpp, in dem die Kinder in fröhlicheren Tagen Höhlen und Gänge gebaut hatten, und sah mit Todesfurcht der kommenden Nacht und ihrem weiteren Leben entgegen.

    Niemand aus ihrer Familie entkam der Pest. Die kleine Anna war forthin auf sich selbst gestellt. Sie war nicht die einzige. Der schwarze Tod hatte unter den Menschen von Wallensen so gründlich aufgeräumt, wie es das Feuer mit ihren Häusern zu tun pflegte.

    Als die Pest nach einem Jahr heftigen Wütens von den wallenden Wassern der Saale fortgetragen worden war, und die Luft wieder gefahrlos geatmet werden konnte, fanden sich die Menschen von Wallensen zusammen und mit der gleichen Ergebenheit, mit der sie im letzten Jahrhundert immer wieder bestrebt sein mussten, aus dem Verbliebenen das Beste und Wallensen wieder bewohnbar zu machen, ordneten sie jetzt ihre menschlichen Verhältnisse neu. Die übrig gebliebenen Kinder fanden Aufnahme in Familien, denen die Pest sämtliche kleinen Mitglieder geraubt hatte. Männer und Frauen fanden zueinander, vielleicht schneller als es in glücklicheren Zeiten möglich gewesen wäre. Jeder suchte nach helfenden Händen und fand sie auf die eine oder andere Weise. Leere Häuser wurden wieder besiedelt und manch einer mag dadurch sogar zu unverhofftem Aufstieg gekommen sein, wie es in Krisenzeiten so oft zu beobachten ist.

    Meine Mutter kam bei dem Bierbrauer Beinling und seiner Frau unter, denen ihr Haus geblieben, aber sechs Kinder genommen worden waren. Neben der Brauerei gab es hier eine große Landwirtschaft; Felder und reichlich Tiere machten aus dem Beinling einen wohlhabenden Ackerbürger.

    Als meine Mutter einige Jahre später meinen Vater heiratete, war das Leben fast zur Normalität zurückgekehrt, die schäbigen Hütten an der Stadtmauer verfielen und zum Zeitpunkt meiner Geburt gab es in Wallensen vierzehn Ackerleute, reiche Bürger mit ausreichend Feldern und fettem Weideland. Auf ihren Wohlstand blickten, nicht ganz ohne Neid, die Familien der vier sogenannten Halbspänner, deren Land gerade so eben reichte, um alle Münder satt zu bekommen. Dazu gab es sechsunddreißig arme Kötnerfamilien, die hinter ihren winzigen Häuschen nur einen kleinen Garten ihr Eigen nannten und sich zusätzlichen Lohn und Handwerk suchen mussten, um nicht zu verhungern.

    Meine Mutter zog nach ihrer Hochzeit zu meinem Vater in das Haus meiner Großeltern, die Müller waren und deren Mühle damals gerade aus dem frischem Bauholz, das den Wallensern von Herzog Erich II. zugesprochen wurde, am Ufer der Saale erbaut worden war. Während die letzte Mühle, sowie wir sie heute kennen, in direkter Nähe zum Brauhaus des Beinlings liegt, musste meine Mutter damals an den Rand des Ortes, ganz in die Nähe der Mühlenpforte, ziehen.

    Auch wenn sie das stetige Klappern des Mühlrades liebte, ließ doch die nahe Pforte immer wieder die Erinnerung an jene Pestnacht in ihr aufkommen, in der sie herausgeschlüpft war und alles verloren hatte. Der steile Weg aus dem Tor führt direkt nach Thüste und wenn sich die Notwendigkeit ergab, dorthin zu gehen, schickte sie immer uns Kinder. Sie selber ging bis zu ihrem Tod nur noch ein einziges Mal aus diesem Tor.

    Kindheit in der Mühle

    Der Geruch nach frisch gemahlenem Korn und das Plätschern des Wassers sind meine ersten Erinnerungen. Die Erinnerungen eines kleinen Mädchens, das durch das geheimnisvolle Halbdunkel der Mühle tappst, in dem sich knarrend große Holzräder drehen und die Luft den Staub kaum tragen kann. Verschwommen konnte ich meinen Großvater erkennen, der zusammen mit meinem Vater und dem Müllerburschen Adam Säcke schleppte, das Mühlrad kontrollierte und mit den Bauern, inmitten der Nebelschwaden aus Mehl, Geschäfte durch Handschlag besiegelte. Adam war ein freundlicher Junge, manchmal piekte ich ihn mit meinem kleinen Finger, wenn er einen Mehlsack auf dem Buckel an mir vorbei trug und er tat so als sei er schrecklich kitzelig, weil mich das zum Lachen brachte.

    Mein Bruder Hans, drei Jahre älter als ich, hatte ebenfalls bereits seine Aufgabe in der Mühle. Er musste das herabgefallene Korn mit dem struppigen Reisigbesen zusammenfegen und in einen Sack füllen. Oft kam er abends nach vielen Stunden Arbeit mit rot geschwollenen Augen ins Freie und wusch sich wie besessen das Gesicht im klaren Wasser der Saale. Dann tat er mir leid. Aber meistens nicht lange, denn sobald es ihm besser ging, erzählte er mir entsetzliche Geschichten. Über weiße Frauen, die sich aus dem Nebel der Mühle zusammenrotten und kleine Kinder mit sich nehmen, um sie grausam umzubringen. Wie Speere im Rücken verfolgten mich diese Geschichten, wenn ich durch den Mühlenraum musste, um den Schweinen hinterm Haus Futter zu bringen und zufällig kein Erwachsener da war.

    Außer Hans hatte ich noch drei weitere Brüder, aber sie alle waren kaum lange genug lebendig um einen Namen zu bekommen. Die wachsende Rundung des Bauches meiner Mutter endet zweimal damit, dass ich in aller Eile zum Magister Buchholz, den ihr in eurer Zeit Pastor nennen würdet, geschickt wurde, um ihn zur Nottaufe in die Mühle zu holen.

    Das letzte Mal kam er Anfang des Jahres 1616 zu uns, selbst mit triefender Nase und geschwollenen Lymphen, übergab er den schwächlichen Säugling in Gottes Gnade. Bald darauf starb er selbst und bekam ein schönes Grabmal, das ihr noch heute im Turmraum der Wallenser Kirche besichtigen könnt.

    Carl, mein jüngster Bruder, krähte fast ein Jahr fröhlich durch das Haus, bis er sich eines Morgens plötzlich mit hochrotem Kopf und glühenden Händchen in seinem Bett hin- und herwarf.

    Dieses Mal wurde ich zur Kräuterfrau geschickt, die in einer kleinen Hütte weit außerhalb der Stadtmauern bachaufwärts wohnte und nur in äußersten Notfällen und heimlich in die Stadt gerufen wurde. Die Menschen hatten Gerüchte über ihre Hexenkünste gehört und vertrauten im Allgemeinen lieber der heilenden Kraft eines Gebetes anstatt sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Es musste ernst um Carl, meinen Bruder, stehen, wenn meine Eltern ein solches Risiko eingehen wollten.

    Ich machte mich also auf den Weg. Im Bachbett ging ich entlang, gegen den Strom, denn einen anderen Weg gab es nicht, und hielt sorgfältig mein Kleid mit der Hand geschürzt. Auch wenn ich die Spaziergänge in der Saale liebte und sonst munter in der Strömung planschte, war mir doch heute bang ums Herz. Ich wollte auf jeden Fall meine Kleidung ordentlich halten, denn es bestand eine gute Wahrscheinlichkeit, dass ich heute Abend bereits tot oder verzaubert sein würde, wenn ich der Kräuterhexe begegnete. Und im ersten Fall wollte ich dem Herrgott unbedingt als ordentliches kleines Mädchen gegenüber treten.

    Dass meine Eltern ebenfalls mit einer solchen Entwicklung rechneten, konnte man auch daran ablesen, dass sie mich und nicht meinen Bruder Hans schickten, der ja immerhin drei Jahre älter war als ich, nämlich inzwischen neun. Mich verwunderte das nicht weiter. Er war schließlich der - möglicherweise einzige – Erbe und ich war nur ein Mädchen, dessen Verlust zwar tragisch, aber leichter zu verschmerzen wäre.

    So schritt ich voller Angst, aber mutig voran. Mal in der Saale, mal an ihrem Ufer, vorsichtig auf mein Kleid bedacht und auf den Krug Bier, den ich als Lohn für die Kräuterfrau bei mir trug.

    Ich kam an der Quelle vorbei, deren Wasser salzig schmeckt und an der Stelle, an der heute, vierhundert Jahre später, der Paradiesteich liegt. Von großen Eichen ist er umgeben, die wie alte Leute weise auf das modrige Wasser blicken, das sie mit ihrem fallenden Laub jedes Jahr schwärzer machen. Ich bekam sehr schmutzige Füße, als ich einen Abhang mit merkwürdig trockener, braunstaubiger Erde vom Ufer empor kletterte, und stand schließlich vor dem Garten der Kräuterfrau in einer Lichtung im Wald. Zwischen sich und die Welt hatte sie einen spitzen Zaun aus gespaltenen Kastanienhölzern gestellt und ein kleines wackeliges Türchen, das sich nur von innen öffnen ließ.

    Hexe kommt von Hagis, ‚die auf dem Zaun zwischen den Welten sitzen‘, so heißt es. Diese Kräuterfrau saß zwar nicht wirklich auf dem Zaun, aber wie aus einer anderen Welt sah sie schon aus, wie sie da im flirrenden Sonnenschein in ihren grünen und bunten Wolken aus blühender Melisse und duftender Pfefferminze stand.

    Hinter ihr ragte mannshoher Liebstöckel empor, neben dem sie klein und zierlich aussah, und in der Hand hielt sie ein Büschel Ysop mit einer Unzahl kleiner lila Blüten.

    Nein, furchterregend erschien sie mir nicht und so trug ich ihr vor, warum ich kam. Über den Zaun reckte ich ihr mein Geschenk, das Bier, entgegen. Sie nahm es und ließ mich genau schildern, wie der kleine Carl heute Morgen ausgesehen hatte, sah mich nachdenklich an und verschwand dann in der kleinen Eingangstür ihres Hauses. Ratlos stand ich da, sechs Jahre alt, mitten im Wald, einer Kräuterhexe auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und wagte nicht, mich von der Stelle zur rühren.

    Als sie wiederkam, blickte sie mir ernst in die Augen und hätte ich zu denken gewagt, hätte ich ihr Gesicht vielleicht jung und nett gefunden, so aber sah ich, mit dem verschwimmenden Blütenmeer im Hintergrund, nur zwei eindringlich leuchtende dunkelblaue Augen und rote flüsternde Lippen.

    „Dein Bruder wird bereits tot sein, wenn du nach Hause kommst. Nimm diesen Kräutersud für deine Mutter, damit sie kräftig bleibt und gesunde Kinder zur Welt bringen kann, als Dank für das Bier.

    Nimm dieses Öl für dich und bewahre es gut auf. Eines Tages wirst du dir wünschen, zu sehen, was nicht von dieser Welt ist. Nicht heute und nicht morgen, es mag noch ein gutes Jahrzehnt dauern. Bewahre das Töpfchen kühl, dann wird es seine Dienste tun."

    Sie streckte ihre Hand über den Zaun, reichte mir die Gefäße und strich mir leicht wie eine Feder über mein glattes braunes Haar. Dann wandte sie sich wieder ihren Kräutern zu und schien mich vergessen zu haben.

    Wie im Traum ging ich nach Hause, diesmal mit dem fließenden Wasser der Saale, aber meine Füße blieben hinter ihrer Geschwindigkeit zurück. War ich auf dem Hinweg voller Angst um mein Kleid gewesen, so trug ich jetzt meine Schätze von der Kräuterfrau wie kostbares Glas.

    An der Mühlenpforte lief mir Hans entgegen. „Du kommst zu spät, sagte er. „Der Magister Heisius ist schon auf dem Weg zu Carl. Der arme kleine Carl. Er bekam eine schöne Grabrede vom Magister Ludolfus Heisius, dem Nachfolger von Magister Buchholz, der ein poeta laureatus war, ein über die Grenzen von Wallensen hinaus anerkannter Dichter, dessen schöne Worte Carl sicher getröstet haben auf seiner letzten Reise.

    Ich aber war von etwas anderem gefesselt: Sie hatte es gewusst! Die Kräuterfrau hatte von Carls Tod gewusst! Meine Tränke erschienen mir jetzt noch magischer.

    Heimlich hatte ich meiner Mutter den Kräutersud zugesteckt. Sie verriet mir nicht, ob sie ihn tatsächlich zu sich nahm, da aber ihr Bauch schon wieder rund war, glaube ich, dass sie es tat. Vor allem weil meine Schwester Louise, die bald darauf geboren wurde, ein kräftiges Kind war, dem weder Masern noch Fieber und auch die anderen schrecklichen Geschehnisse des Jahres 1617 etwas anhaben konnten.

    Die Bürgerglocke

    Es war Spätsommer geworden. In Wallensen herrschte rege Geschäftigkeit und immer noch viel Bautätigkeit. Nachdem die Bürger ihre Häuser mit dem zuerkannten Holz stabiler als je zuvor errichtet und mit Stein statt mit Stroh gedeckt hatten, wandten sie sich ihrer Kirche zu.

    Mit dem besten Ackerwagen, der zu finden war, reichlich mit bunten Bändern und Blumen geschmückt und von den schönsten Pferden des Ortes gezogen, kam die große Bürgerglocke nach Wallensen, für die jeder Wallenser soviel dazu gegeben hatte, wie er eben erübrigen konnte. In einem langen Umzug, angeführt durch die Bürgermeister Jasper Schmides und Curd Bleibaum sowie dem Magister Ludolfus Heisius, gefolgt von allen Wallenser Bürgern kam die in der Sonne leuchtende Bronzeglocke durch das Niedertor herein und fuhr durch alle Straßen des Dorfes.

    Noch nie im Leben hatten wir Kinder so etwas Schönes von Nahem gesehen. Als der Wagen hielt, betrachteten wir die geprägten Bilder auf der Glocke. Mir gefiel besonders Maria mit dem Rind auf einer Mondsichel. Hans lief neben dem Wagen her und brüstet sich nachher, dass er das Relief des Löwenmedallions auf der Glocke berührt habe.

    „Ich habe sie angefasst und sicher habe ich jetzt Goldstaub an den Fingern", erzählte er Adam und mir in ehrfürchtigem Flüsterton, als wir zurück in der Mühle waren.

    „Jetzt werde ich meine Finger nie mehr waschen, denn dort sitzt mein Reichtum."

    Ich schwankte, ob ich ihm glauben sollte, aber das mit dem Händewaschen nahm er meist sowieso nicht besonders genau. Ob unter dem Schmutz tatsächlich Gold war, konnte ich nicht

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1