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"Sind wir eigentlich schuldig geworden?": Lebensgeschichtliche Erzählungen von Tiroler Frauen der Bund-Deutscher-Mädel-Generation
"Sind wir eigentlich schuldig geworden?": Lebensgeschichtliche Erzählungen von Tiroler Frauen der Bund-Deutscher-Mädel-Generation
"Sind wir eigentlich schuldig geworden?": Lebensgeschichtliche Erzählungen von Tiroler Frauen der Bund-Deutscher-Mädel-Generation
eBook495 Seiten5 Stunden

"Sind wir eigentlich schuldig geworden?": Lebensgeschichtliche Erzählungen von Tiroler Frauen der Bund-Deutscher-Mädel-Generation

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Über dieses E-Book

Die erste Monografie zum BUND DEUTSCHER MÄDEL IN TIROL bietet erhellende Einblicke in die Bedeutung und Funktionsweise dieser NS-Jugendorganisation und zeigt, wie manche Frauen dadurch im "Dritten Reich" Kariere machen konnten.
CLAUDIA RAUCHEGGER-FISCHER wertete 30 LEBENSGESCHICHTLICHE INTERVIEWS mit Frauen der BDM-Generation in Tirol aus, darunter 13 BDM-Führerinnen, zehn davon hatten sich bereits als Illegale engagiert. In der Studie werden zum einen die ANZIEHUNGSKRAFT DES NATIONALSOZIALISMUS auf junge Frauen und zum anderen die ERZÄHLMUSTER, ERINNERUNGSLOGIKEN und VERARBEITUNGSSTRATEGIEN der nun betagten Frauen dargestellt. Dies geschieht anhand mehrerer typischer biografischer Fallbeispiele und ausgewählter Themen: Volksgenossinnen versus Juden/Jüdinnen; Beziehungen versus Ideologie; Tüchtigkeit versus Scheitern; soziale Deklassierung und Schuldabwehr, Hitlermythos; Entnazifizierung; Verlust der "Ideale", Identitäten, "Sehnsucht nach Vergangenheit".
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum11. Dez. 2018
ISBN9783706559430
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    Buchvorschau

    "Sind wir eigentlich schuldig geworden?" - Claudia Rauchegger-Fischer

    Tirol.42

    Der BDM in Tirol – ein Abriss

    Die illegale Mädchenorganisation

    Schon in der ersten Hälfte der 1920er Jahre bestanden unter dem Vereinsnamen „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (NSDAJ) nationalsozialistische Jugendgruppen, denen zum Teil auch Mädchen angehörten. Aus der NSDAJ entstand 1927 die österreichische Hitlerjugend, die immer mehr unter den Einfluss der deutschen Parallelorganisation geriet.43 Einige Zeit gab es innerhalb der NSDAJ gemischtgeschlechtliche Gruppen, doch bereits 1930 erfolgte die organisatorische Geschlechtertrennung mit der Gründung des „Bundes Deutscher Mädel in der HJ als Unterorganisation der Hitlerjugend.44 Der Bund deutscher Mädel war zwar formal selbstständig, organisatorisch jedoch dem Reichsjugendführer unterstellt. Herta Stumfohls erste Anordnung als Führerin des BDM-Gaues Wien lautete 1931: „Die Mädchengruppen (…) werden getrennt von der Hitlerjugend geführt. Heimabende, Wanderungen u. dgl. Veranstaltungen dürfen von Burschen nicht besucht werden.45 In Deutschland vereinnahmte der immer mächtiger werdende Apparat der Hitlerjugend ab diesem Zeitpunkt die bis dahin bestehenden Mädchengruppen der nationalsozialistischen Frauenorganisationen und geriet in Konflikt mit der NS-Frauenschaft, die „ihre Mädchengruppen nicht aufgeben wollte. Am 7. Juli 1932 erfolgte die gemeinsam von Gregor Strasser und Baldur von Schirach herausgegebene Weisung, dass alle Mädchengruppen der Frauenschaft aufgelöst und in den BDM integriert werden sollten.46 Der BDM war nunmehr eine selbstständige Organisation und die „Bundesführerin des BDM, Elisabeth Greiff-Walden, unterstand unmittelbar der Reichsjugendführung. Sie konnte selbstständig Führerinnen einsetzen und abberufen, allerdings blieb die Gesamtorganisation politisch der Hitlerjugend unterstellt und so wurden etwaige Autonomiebestrebungen unterbunden und die Zentralmacht gestärkt.47 Herta Stumfohl schreibt über ihre Ernennung 1933: „Lydia Gottschewsky [die Reichsbeauftragte für den BDM] hatte mich vor ihrer Abreise in Wien zur Gebietsführerin für Österreich ernannt (…).48 In Österreich können die Jahre 1927 bis 1930 als Beginn nationalsozialistischer Mädchenorganisierung bezeichnet werden, allerdings blieb die Hitlerjugend in den frühen 1930er Jahren ein „marginales Phänomen.49 Der österreichische BDM hatte am Anfang nur sehr wenige Mitglieder. Nach Schätzungen von Johanna Gehmacher waren Anfang 1932 in ganz Österreich etwa 500 Mädchen im BDM organisiert.50 1930 wurden erstmals Gauführerinnen ernannt, Mimi Conradi für Oberösterreich und 1931 Herta Stumfohl51 für Wien. So wurden die Mädchen dem Einfluss der HJ-Ortsgruppenführer entzogen, der Einfluss der deutschen Zentralstelle in Berlin wuchs jedoch deutlich. Das zeigte sich in neuen Ordnungsstrukturen wie verpflichtenden Schulungen, Mitgliedsbeiträgen und der Ablieferung von Berichten. Um mehr Mitglieder zu werben, übernahm der BDM Organisationsformen der Jugendbewegung: Wanderungen, mehrtägige Fahrten und Geländespiele, aber auch Volkstanzabende. Das Ideal der „Gemeinschaft trat in den Vordergrund. Im März 1933 wurde mit der Ernennung von Herta Stumfohl als „Gebietsmädelführerin zum ersten Mal eine zentrale Führung des österreichischen BDM errichtet. Diese Ernennung fiel mit dramatischen Veränderungen in der österreichischen Politik zusammen, die schlussendlich zur Ausschaltung des Parlaments und zur Installierung eines autoritären Systems führten. Am 19. Juni 1933 wurde der BDM gemeinsam mit allen anderen nationalsozialistischen Organisationen verboten, jedoch bestanden auch im Austrofaschismus verschiedene Gruppen weiter.52 Die öffentliche Selbstdarstellung nach außen wie das Tragen von Uniformen, Abzeichen und Wimpeln waren nun nicht mehr möglich, bei Hausdurchsuchungen wurden Mitgliederlisten und andere schriftliche Unterlagen beschlagnahmt und Büros geschlossen. Nach dem Verbot der NSDAP in Österreich kam es in einigen Gebieten zur Reorganisation der zusammengebrochenen Strukturen des BDM. In Innsbruck zeigen die Berichte von nunmehr illegal agierenden Schülerinnen des Städtischen Gymnasiums in der Sillgasse (vgl. S. 97), dass die Treffen und Lager wie gewohnt stattfanden. Die Zahl der Mitglieder war allerdings aus Angst vor Aufdeckung und Bestrafung deutlich zurückgegangen. Die Spitze der österreichischen Hitlerjugend befand sich nun in Deutschland, unter Leitung von Paul Minke war die Reichsführerschule in Potsdam praktisch die Führungszentrale für die österreichische Hitlerjugend mit dem Auftrag, die österreichischen Führer und Führerinnen zu finanzieren und auszubilden. Minke war damit De-Facto-Führer der gesamten österreichischen Hitlerjugend. In der Folgezeit wurden nahezu alle höheren österreichischen HJ-Führer und BDM-Führerinnen nach Potsdam bestellt und dort ausgebildet. Potsdam war somit der zentrale illegale Stützpunkt der Landesleitung der österreichischen NSDAP. Otto Weber, der Vorarlberger HJ-Führer, war seit 1935 im Auslandsamt der Hitlerjugend-Zentrale in Berlin tätig und leitete zwischen 1936 und März 1938 die Befehlsstelle Südost der Reichsjugendführung. Herta Stumfohl hatte ebenfalls bezahlte Funktionen in der Reichsjugendführung inne und arbeitete zuletzt als Hauptreferentin sowie „stellvertretende Reichsreferentin" des BDM. In Tirol war der BDM in dieser Zeit hauptsächlich auf deutschnationale bzw. großdeutsche Kreise in Innsbruck und einige wenige größere Orte im Unterland sowie in Telfs und Reutte konzentriert, zur Reichsjugendführung in Berlin bestanden aber enge personelle Kontakte.

    Die Aktivitäten während der illegalen Zeit umfassten neben politischen Schulungen und Propagandaarbeit Wanderungen, mehrtägige Fahrten und Geländespiele, aber auch Volkstanz und Liederabende, gemütliches Zusammensitzen sowie die Organisation von Sommerlagern.53 Während der Zeit der Illegalität wurden Lager bei Gesinnungsfreunden oder auf entlegenen Hütten, die einen längeren Anmarsch erforderlich machten, abgehalten. Mehrfach schlugen verschiedene Gruppen in der Ramsau ihr Quartier auf, auch kurz nach dem Verbot der Partei im Juni 1933, um „die Mädel mit geistigen Waffen gleichsam auszustatten, immer mehr und immer mehr von unserer Weltanschauung in sie hineinzutragen und fest zu verwurzeln. Sie werden es (sic!) dann weitergeben an ihre Familie, an Freunde, an Arbeitskameraden und -kameradinnen und werden so die Träger der nationalsozialistischen Weltanschauung bleiben."54

    Führerinnen aus ganz Österreich auf einer Skihütte bei Liezen im Ennstal anlässlich eines illegalen Schulungslagers 1937 (Foto Weber-Stumfohl, Ostmarkmädel, S. 160)

    Neben BDM-Lagern fand auch Jungmädellager statt. Nach dem Frühsport halfen die Mädchen zwei bis drei Stunden am Bauernhof mit, nachmittags fanden Schulungen statt,55 die „die wesentlichen Fragen des deutschen Volkes56 beinhalteten. Herta Stumfohl spricht davon, „dass wir das alles aber, ich möchte fast sagen, einhämmern müssen in die Hirne und Herzen der jungen deutschen Menschen.57 1937 wurden in Schulungs- und Arbeitslagern 1.078 BDM-Führerinnen erfasst. Grundlage war „die Liebe zum deutschen Volk, das Wissen um ein Deutsches Reich und der unerschütterliche Glaube und die Liebe zum Führer.58 Das Augenmerk lag auf der politischen Ausbildung der oberen Ränge, darunter verstand man die Führerinnen der Bundesländer und ihre wesentlichen Mitarbeiterinnen. Als Grundlage dafür dienten Hitlers „Mein Kampf und Alfred Rosenbergs „Mythos des 20. Jahrhunderts".59

    Bis zu Beginn der 1930er Jahre spielte die NSDAP in Tirol insgesamt eine untergeordnete Rolle, 1932/1933 gelang ihr schließlich der Durchbruch. Für den enormen Aufschwung war einerseits die Machtübernahme Hitlers in Deutschland ausschlaggebend, gleichzeitig erlebte Tirol den Höhepunkt der Wirtschaftskrise. Die Zahl der Arbeitslosen stieg steil an,60 die politische Radikalisierung nahm konstant zu61 und die NSDAP konnte immer mehr Ortsgruppen gründen. In den 1920er Jahren hatte die NSDAP besonders in den Städten Anhänger finden können, hauptsächlich in Innsbruck und Kufstein, ebenso in Kitzbühel. Nun fasste sie auch auf dem Land Fuß.62 Knapp die Hälfte der Tiroler NSDAP-Mitglieder von 1932, nämlich 46 %, war 21 bis 30 Jahre alt, 83 % nicht älter als 40 Jahre. Die Partei verstand es, Jugendliche und junge Erwachsene zu gewinnen, die vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg sozialisiert wurden und deren Biografien durch heftige Umbruchserfahrungen gekennzeichnet waren. Außerdem war die Tiroler Partei durch ein städtischmittelständisches Sozialprofil geprägt, wobei die Männer dominierten. Bei den Innsbrucker Gemeinderatswahlen im April 1933 erreichte die NSDAP 41 % der abgegebenen Stimmen und wurde zur stärksten Fraktion, in Landeck stimmten eine Woche später 38 % für sie. Nach dem Verbot am 19. Juni 1933 kam es trotz Massenflucht, Serienverhaftungen und Verhängung vieler Geldstrafen zu keinem Einbruch beim Zulauf zur Partei.63

    Waltraud Mignon, BDM-Führerin von Tirol während der Zeit der Illegalität, und Peperl (Josefine) Schrott, Ringführerin des Bezirks Kufstein (Foto Weber-Stumfohl, Ostmarkmädel, S. 145)

    Links: Waltraud Mignon, vermutlich in den 1940er Jahren (Foto Familiennachlass Waltraud Mignon); rechts: Porträt von Herta Mignon 1939 für die Sammlung „Blutadel des NS-Malers Wolfgang Willrich, der Menschen des „nordischen Typs festhalten wollte. Bildüberschrift: Hertha Mignon, BDM-Obergauführerin von Tirol und Vorarlberg, illegal Führerin von Innsbruck (Postkarte Privatarchiv Claudia Rauchegger)

    In Tirol waren die Schwestern Waltraud (Traudl) und Herta Mignon die bestimmenden Persönlichkeiten nicht nur während der Zeit der Illegalität des BDM, sondern auch von 1938 bis 1945. Herta Stumfohl beschreibt die Schwestern, die sie 1934 in Innsbruck kennenlernte und zu denen sich eine enge Freundschaft entwickelte, folgendermaßen:

    „Traudl und Herta sind unverkennbar Schwestern und doch sehr verschieden. Traudl ist ein ganz lebendiger und wohl stark gefühlsbetonter Mensch. Sie hat eine so liebe und herzliche Art, einen anzusprechen, und wird mit einer großen Zahl von Mädeln wohl sofort leicht vertraut durch ihre kameradschaftliche offene Art. Herta – um ein Jahr jünger – wirkt weit ernster und ist ein herber, vielleicht ein wenig verschlossener Typ. Allerdings: wenn man sie richtig kennt, dann geht auch sie ganz aus sich heraus und man erlebt, was für ein prachtvolles Mädel sie ist."64

    Das Zentrum der BDM-Aktivitäten vor 1938 Innsbruck bildete auf jeden Fall Innsbruck, das sich durch seine städtische, deutschnationale Bildungsschicht vom ländlich-katholisch dominierten Tirol unterschied. Das Städtische Mädchengymnasium in der Sillgasse stellte dabei den Dreh- und Angelpunkt dar. Provinzielle Ausnahmen bildeten im Unterland die Grenzstadt Kufstein sowie Kitzbühel, Schwaz, das Zillertal, Hopfgarten, Fieberbrunn, Telfs und Reutte bzw. vereinzelte BDM-Gruppen in Osttirol.65

    Netzwerke

    Die Schwestern Mignon pflegten eine langjährige Freundschaft mit der österreichischen BDM-Obergauführerin Herta Stumfohl. Als diese 1934 nach dem gescheiterten NS-Putschversuch nach Deutschland beordert wurde und dort als Mitarbeiterin der BDM-Reichsreferentin Trude Mohr eine hohe Position in der Reichsjugendführung bekleidete, hielt sie weiterhin Kontakt zu „ihren Mädeln".66 Zu Pfingsten 1934 traf sie die Schwestern Mignon im Hotel „Maria Theresia" in Innsbruck. Traudl Mignon war wenige Wochen zuvor zur Obergauführerin von Tirol ernannt worden, Herta Mignon zur BDM-Führerin von Innsbruck. Das katholische Tirol, dominiert von der Christlichsozialen Partei,67 war in ländlichen Gegenden ein hartes Pflaster für den BDM:

    „Es gibt Täler in Tirol, wo Traudl als BDM-Führerin die erste ist, die als Vertreterin einer Formation der illegalen NSDAP vorstößt und damit für die Partei wirbt. Das Land ist arm, und man muss einmal durch Tirol gefahren oder noch besser gewandert sein, dann erlebt man, was das bedeutet, wenn ein Großteil der Bevölkerung aus Bergbauern besteht, deren Höfe hoch oben in den Bergen liegen, kilometerweit voneinander getrennt und stundenweit von der nächsten Ortschaft. Welch unermüdlicher Einsatz, welche tägliche körperliche Anstrengung und tatsächliche Opferbereitschaft ist notwendig, um da die Arbeit aufrechtzuerhalten und – noch mehr – sie zu begründen."68

    Obergauführerin Herta Stumfohl und Gebietsführer Karl Kowarik im Bayrischen Hof in Salzburg, einem Treffpunkt der illegalen Hitlerjugend (Foto Weber-Stumfohl, Ostmarkmädel, S. 161)

    Am 9. Mai 1934 besuchte Herta Stumfohl den Gau Tirol und traf sich mit Traudl Mignon am Zoologischen Institut an der Universität Innsbruck. Dieser Treffpunkt galt als optimale Tarnung, da Traudl Mignon als „eifrige und ernsthafte Studentin bekannt"69 war.

    „Diesmal bin ich die ‚Studienkollegin‘, mit der sie gemeinsam zoologische Zeichnungen anfertigt und mikroskopiert. Aber all dieses Studienmaterial liegt nur für alle Fälle bei uns auf dem Schreibtisch. Tatsächlich ist eine große Übersichtskarte von Tirol vor uns aufgebaut, denn wir sind mit heißen Wangen daran, die Erfassung in den einzelnen Teilen Tirols zu überprüfen und zu vermerken."70

    Die Untergauführerin von Tirol hat „hinter ihren Skripten und Büchern eine Dienststelle im Taschenformat eingerichtet. Alles ist da, Kartei, Schulungsbriefe und die Listen und Aufstellungen für die Sozialarbeit",71 erinnerte sich Weber-Stumfohl.

    Die personelle Kontinuität in der Tiroler BDM-Führung durch die Schwestern Mignon, auch nach dem „Anschluss", bildet eine Ausnahme. Sie lässt sich durch die engen Verflechtungen zwischen der österreichischen BDM-Führung und der Reichsjugendführung in Berlin erklären, namentlich mit Herta Stumfohl und Hartmann Lauterbacher.

    Herta Stumfohl wurde am 1. Oktober 1908 in Wien geboren und besuchte dort die Volksschule und das Realgymnasium. Sie entstammt wie zahlreiche andere BDM-Führerinnen einer deutschnationalen, bürgerlichen Familie, ihr Vater war ein ehemaliger Offizier und Bundesbahn-Inspektor.72 Nach der Matura studierte sie sechs Semester an der evangelisch-theologischen Fakultät, doch gab sie „aus innerer Überlegung73 das Theologie-Studium auf und löste sich schließlich ganz vom Glauben. Bereits in jungen Jahren gehörte sie wie ihre Schwester dem Deutschen Turnverein „Hütteldorf, später der Deutschen Turnerschaft „Lützow" an. Im März 193174 trat sie als 23-jährige Studentin in Wien dem BDM bei und übernahm sofort nach ihrem Parteieintritt die Führung der Ortsgruppe Hütteldorf und noch im gleichen Jahr die Führung des Gaues Wien.

    Ihre Arbeit bestand nach eigenen Aussagen „in der Aufstellung von Gruppen in den Bezirken Wiens, Anleitung der Mädelführerinnen betreffs der Gestaltung der Heimabende, Lesestoff, Lieder, weltanschauliche Schulung usw.".75 Der NSDAP trat sie im November 1931 ungefähr gleichzeitig mit ihren Eltern und ihrer Schwester Elfriede als Mitglied bei. Ihre niedrige Mitgliedsnummer im BDM (1217) lässt darauf schließen, dass die Gruppe in Wien sehr überschaubar war.76

    Jürgen Stoppel beschreibt in seiner Geschichte der Vorarlberger Hitlerjugend Herta Stumfohl vorurteilsbeladen aus der Sicht des NS-Frauenbildes, dem Stumfohl in einigen Punkten nicht entsprach:

    „Stumfohl, eine kleine zierliche Person mit stark entwickeltem Selbstwertgefühl, wurde und wird von BDM- und HJ-KombattantInnen äußerst kritisch betrachtet. Sie konnte in ihren Augen die Allüren einer Tochter aus höherem Stand nie ganz ablegen, hatte frauliche Fertigkeiten, wie sie auf BDM-Heimabenden gefördert wurden – Nähen, Stricken, Handarbeiten – nie erlernt, war gebildet, keine Intellektuelle, aber in vielen Facetten in ihrem Habitus als BDM-Führerin untypisch. Dass sie annähernd zwei Jahre älter als ihr späterer Gatte war, zog äußerlich noch mehr Blicke auf sich."77

    Im Herbst 1933 wurde Österreich in drei Obergaue unterteilt: Wien-Niederösterreich (mit Burgenland), Führerin Marianne Exner; Alpenland-West (Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg), Führerin Trude Ziegler, und Alpenland-Süd (Steiermark, Kärnten), Führerin Erna Pleikner.78 Herta Stumfohl, die von Juni 1933 bis August 1934 ziemlich unbehelligt eine rege Reiseund Organisationstätigkeit in Österreich entfaltet hatte, um auch in dieser Zeit am Aufbau und an der Konsolidierung des BDM zu arbeiten, organisierte im Juli 1934 auf der Ursprungalm in den Tauern ein Schulungslager für „die wesentlichsten Führerinnen aller drei Gaue mit Vorträgen über die „deutsche Vorgeschichte und „das Schicksal des deutschen Volkes".79

    Der nationalsozialistische Putschversuch 1934 stellte eine scharfe Zäsur in den Expansionsbestrebungen des BDM dar, da die Reichsjugendführung der Hitlerjugend in Deutschland die österreichische Exilführung auflöste und die österreichischen Behörden die nationalsozialistischen Jugendgruppen nun viel stärker verfolgten.80

    Auch Herta Stumfohl wurde auf Anweisung der Reichsjugendführung nach Berlin beordert. Am Tag ihrer endgültigen Abreise traf sie in Innsbruck mit den Schwestern Traudl und Herta Mignon zusammen, den wichtigsten Funktionärinnen des BDM in Tirol: „Wir verbringen diesen letzten Abend bei Traudl und Herta Mignon. Willi Holzknecht ist auch da, der Führer von Innsbruck, und Hans Österle81 aus Vorarlberg. Wir sitzen bis tief in die Nacht, es wird nicht viel geredet, wir haben einfach das Bedürfnis, zusammen zu sein."82

    Während in Österreich und auch in Tirol die BDM-Gruppen trotz Verbots illegal weiterbestanden, erhielt Herta Stumfohl in Deutschland als prominente österreichische BDM-Führerin bei der Reichsjugendführung in Berlin eine Anstellung. Ihre unmittelbare Vorgesetzte war die Reichsreferentin Trude Mohr. Stumfohl nahm an den Besprechungen der Reichsjugendführung teil und ging mit Mohr auf Reisen. Mit dem Stellvertreter von Baldur von Schirach, dem Stabsführer der Hitlerjugend Hartmann Lauterbacher, aufgewachsen in Kufstein, arbeitete sie auch zusammen.83

    Hartmann Lauterbacher84 beschreibt seine Schulzeit am Gymnasium Kufstein von 1919 bis 1927 und die Grenznähe der Stadt als wesentliche Faktoren für den Bekanntheitsgrad und die Attraktivität des Nationalsozialismus:

    „In meiner Klasse auf dem Gymnasium in Kufstein befanden sich auch bayerische Gastschüler, die in Kiefersfelden, dem Grenzort, oder auch in Oberaudorf wohnten, aber unser Gymnasium besuchten. Ihre Eltern waren ‚Reichsdeutsche‘, und einer dieser Klassenkameraden brachte sehr schnell – wir waren damals vielleicht dreizehn Jahre alt [ca. 1922/1923] – Propagandamaterial der Nationalsozialisten mit in die Schule. Da durch die Grenzlage Kufsteins alles, was in München geschah, automatisch auch bei uns bekannt wurde, gab es hier eine der ersten Ortsgruppen der NSDAP. München übte eine ansteckende Wirkung aus, in Kufstein war man schneller in der Partei als anderswo."85

    Der fanatische Nationalsozialist Hartmann Lauterbacher war von Mai 1934 bis August 1940 in der Reichsjugendführung der zweite Mann hinter dem Reichsjugendführer, sein Bruder Hans Lauterbacher, geboren am 12. Mai 1918 in Kufstein, arbeitet seit 1936 im Auslandsamt der Reichsjugendführung mit, das auch mit der Organisation der Hitlerjugend in Österreich beschäftigt war.86 Dass Lauterbacher nach der Annexion Österreichs Herta Stumfohl mit dem organisatorischen Aufbau des BDM betraute, lässt sich auf die gemeinsame Zeit in der Reichsjugendführung zurückführen. In seinem Erinnerungsbuch erwähnt Hartmann Lauterbacher Herta Stumfohl „stellvertretend für alle und führt weiter aus: „Die jungen Österreicher jener illegalen Zeit suchten und fanden die Verbindungen ins Reich. So hatten sie am Untersberg einen Spezialpfad, der direkt am Grenzgendarm vorbei nach Bayern führte und die Nabelschnur für die Versorgung der Illegalen wurde. So fanden auch die ersten Führertagungen auf der bayerischen Seite statt.87

    Hartmann Lauterbacher, Gauleiter der Hitlerjugend Südhannover-Braunschweig (Privatarchiv Claudia Rauchegger)

    1936 kehrte Stumfohl mit falscher Identität88 und einem geliehenen Pass nach Österreich zurück. Sie war offiziell zur Obergauführerin ernannt worden und besuchte alte und neue Untergauführerinnen: „Aus Tirol sind Traudl und Herta Mignon da; auch sie gehören zu den ‚Altbekannten‘".89

    Die Jahre 1936 und 1937 waren von intensiver Werbetätigkeit für den BDM geprägt. Unter dem Deckmantel verschiedener erlaubter Organisationen wie dem „Alpenverein, dem „Deutsch-Österreichischen-Jugendbund, der „Jung-Urania, dem „Österreichischen Jungvolk, dem „Kärntner Heimatbund, dem „Deutschen Schulverein Südmark oder dem monarchistischen Jugendverein „Ottonia trafen sich Funktionärinnen und organisierten zahlreiche Lager für BDM-Mädel und auch Führerinnen in ganz Österreich. In Tirol und Vorarlberg legalisierten die „Skigilde des Alpenvereins und der „Akademische Skiklub"90 die BDM-Aktivitäten, eng war auch die Verbindung zum „Deutschen Turnerbund. Die Zeitschrift „Unser Mädel wurde von März 1936 bis Februar 1938 legal produziert und die Arbeit mit den 10- bis 14-jährigen Jungmädeln wieder aufgenommen. 1936 hatten die „Jungmädelführerinnen von ganz Österreich schon eigene Osterlager, die natürlich Schulungslager waren".91

    Im August 1936 nahmen die illegalen Führer und Führerinnen aus Österreich an einer Fortbildung in der Reichsführerinnenschule in Potsdam statt. An der Jahreswende 1936/1937 erfolgten Lager-Schulungen im Burgenland, in der Steiermark, in Oberösterreich und Wien.92 Laut Stumfohl wurden 1937 „1078 BDM-Führerinnen93 aus Österreich erfasst und geschult, besonders häufig in Deutschland. Nach dem „Anschluss 1938 erhielt Stumfohl für ihren Einsatz während der illegalen Zeit das „Goldene Ehrenzeichen der HJ und die „Ostmarkmedaille zur Erinnerung an den 13.3.1938.94 Diese Ehrung beantragte Dr. Herta Mignon, die Tiroler Führerin des Obergaues 33 (Tirol-Vorarlberg), da Herta Weber-Stumfohl seit ihrer Heirat 1939 mit dem „Gebietsführer der HJ für den Gau Tirol-Vorarlberg Otto Weber, den sie während ihrer Zeit in der Reichsjugendführung kennengelernt hatte, in Innsbruck Mühlau, Eckenried 2 wohnte.95 Die Reichsreferentin des BDM, Jutta Rüdiger, und der Tiroler Gauleiter Franz Hofer erschienen als Trauzeugen, ebenso anwesend waren Edmund Christoph und Horst Parson, alter und neuer Gauleiter-Stellvertreter. Der Innsbrucker Oberbürgermeister Egon Denz überreichte Hitlers „Mein Kampf, Bannführer Rolf Hillebrandt steckte die Ringe an.96 Otto Weber97 war die Gebietsführung im Gau Wien angetragen worden, doch er hatte sich für Tirol-Vorarlberg entschieden, nicht zuletzt wegen der Bekanntschaft mit Gauleiter Franz Hofer.98

    Hochzeit von HJ-Oberbannführer Otto Weber mit Obergauführerin Herta Stumfohl und ihren Trauzeugen Gauleiter Franz Hofer und BDM-Reichsreferentin Jutta Rüdiger im Festsaal des Landhauses (Foto IN, 21.2.1939, S. 5)

    Ab 15. September 1944 wohnte Waltraud Mignon bei den Webers, da ihr Ehemann, Dipl.-Ing. Walter Nase, an der Front in Norwegen war. Sie hatte ihren späteren Mann 1943/1944 bei einem Klavierkonzert der Pianistin Elly Ney kennengelernt,99 das sie mit dem Ehepaar Weber besuchte. Auch dieses Beispiel gibt einen weiteren Hinweis auf die engen Kontakte der Elite von HJ und BDM in Innsbruck. Während der illegalen Zeit 1933 bis 1938 führte Waltraud Mignon den BDM-Obergau Tirol, nach dem „Anschluss war ihre jüngere Schwester Herta bis 1941 Obergauführerin,100 jetzt in bezahlter Funktion. Waltraud war nach dem „Anschluss die offizielle Leitung des BDM für den Gau Tirol-Vorarlberg angeboten worden, doch hatte sie laut Aussage Hertas von der Partei nach Verhaftung und Prozess „die Nase voll".101 Sie kehrte jedoch dem Regime keineswegs den Rücken, sondern übernahm die Direktion der Staatlichen Landwirtschaftsschule Rotholz (vormals Landwirtschaftliche Landeslehranstalt in Rotholz), die sie von März 1938 bis zum Mai 1941 leitete.

    Eine weitere Verflechtung der NS-Eliten in Tirol ergab sich durch die Verlobung von Waltraud Mignon mit Meinhard Steinacker 1939, dem Sohn des NS-Rektors der Universität Innsbruck, Harold Steinacker. Meinhard Steinacker war schon ab 1933 als HJ-Führer aktiv, wurde nach seiner Verurteilung 1934 im Anhaltelager Kaisersteinbruch inhaftiert und avancierte zum Gesamttiroler HJ-Führer. Er setzte sich 1936 nach Wien ab und wurde 1937 wieder verhaftet und verurteilt.102 1939 starb Meinhard Steinacker, die Innsbrucker Nachrichten berichten über das Begräbnis: „Der Stabsleiter, Bannführer Willi Holzknecht, gehört zu jenen Kameraden, die mit Bannführer Dr. Steinacker die Hitlerjugend unseres Gebietes durch die schweren Jahre der Verfolgung führten."103 Meinhard Steinacker starb durch eine akute Herzinsuffizienz, nachdem er sich auf dem Weg zum Achensee in einem Seitental – vermutlich in der Tiefenbachklamm – verlaufen hatte, und wurde erst einige Tage später gefunden.

    Weber-Stumfohls Biografie, ihre Herkunft aus einer bürgerlichen, deutschnationalen Familie, der Besuch eines Gymnasiums und das anschließende Studium entsprechen den Karrieren anderer führender BDM-Funktionärinnen in Österreich. Auch die Schwestern Waltraud und Herta Mignon aus Tirol, Tilli U., Hedwig W., Waltraud Z., Gerda W., Erna Pleikner aus Kärnten, Trude Ziegler aus Oberösterreich und die erste Führerin in Vorarlberg, Renate Braun,104 entstammten diesem Milieu und sahen im BDM eine Möglichkeit, die in der Familie und in ihrem gesellschaftlichen Umfeld erworbene ideologische Prägung auszuleben, ihr Organisationstalent zu erproben und ihre Aufstiegswünsche zu verwirklichen. Obwohl während der illegalen Zeit eine enge Verbindung zu den Stellen und Gremien in Deutschland bestand, waren die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten der BDM-Führerinnen viel größer als später zur Zeit der institutionalisierten „Staatsjugend".

    Empfang des Reichsjugendführers in Rotholz, undatiert, vermutlich Anfang der 1940er Jahre (Foto Familiennachlass Waltraud Mignon)

    Die Parteieintritte der Familie Stumfohl und der Schwestern Mignon sind Beispiele für die erhöhte Attraktivität der NSDAP für die bürgerliche Mittelschicht. Die soziale Zusammensetzung im illegalen BDM Österreichs entspricht diesem Befund. Weber-Stumfohl stellte 1937 fest, dass unter den Mitgliedern ein Ungleichgewicht zugunsten von höheren Schülerinnen und Studentinnen vorherrschte. Deshalb schlug sie eine verstärkte Anwerbung von Arbeiterinnen sowie von Mädchen und jungen Frauen aus ländlichen Gebieten vor.105

    Verurteilungen

    Trotz aller Tarnung kam es immer wieder zu Verhaftungen von illegalen Nationalsozialistinnen. Nicht nur Männer flogen auf, auch BDM-Aktivistinnen waren im Visier der Fahnder. So wurde im Mai 1937 die Ringführerin von Kufstein, Josefine Schrott, enttarnt106 und zu zwei Monaten Haft107 wegen „nationalsozialistischer Betätigung verurteilt.108 Josefine Schrott (*1915) hatte nach dem „Anschluss die illegale Partei-Mitgliedsnummer 6.248.552 und bekleidete vom März 1938 bis 1942 das Amt der Organisationleiterin und späteren Sozialreferentin des BDM beim Obergau in Innsbruck. Danach besuchte sie eine Textilschule, meldete sich jedoch 1944 zum „Osteinsatz" und kam nach Kiew zur Zivilverwaltung, wo sie als Rassereferentin eingesetzt war.109

    Ebenfalls im August 1937 enttarnte die Polizei führende Mitglieder des BDM in Osttirol und Kärnten. Unter den 16 verhafteten Mädchen und jungen Frauen befand sich die 26-jährige Grazer Studentin Erna Pleikner, die BDM-Untergauführerin von Kärnten und Osttirol. Es kam zur Verhaftung der 20-jährige Studentin Laurenzia Peterschinegg und ihrer Schwester, der 23-jährige Margarethe Peterschinegg – beide stammten aus Steinfeld im Drautal. Die Beteiligung am illegalen BDM-Lager am Weißensee und in Deutschland wurde aufgedeckt. Eine weitere Spur führte zur 31-jährigen Lienzer Verkäuferin Stefanie Kaltenböck, die als Nationalsozialistin bekannt war. Bei ihr fanden sich Hinweise auf Verteilung des Österreichischen Beobachters,110 ein Liederbuch des BDM und Hinweise auf den sogenannten „Landdienst", den Arbeitseinsatz der BDM-Mädchen auf Bauernhöfen im Sommer. Stefanie Kaltenböck gab zu, seit 1937 die Lienzer BDM-Führerin zu sein. Weitere sieben Osttiroler BDM-Mitglieder wurden in Folge verhaftet. Margarethe Peterschinegg gestand, die Führerin des BDM in Osttirol zu sein, Erna Pleikner benannte die Zahl der Mitglieder in Kärnten und Osttirol mit etwa 200. Sie wurde nach § 4 Staatsschutzgesetz (Gründung einer oder führende Tätigkeit in einer staatsfeindlichen Verbindung) zu sechs Monaten schwerem Kerker verurteilt. Die Urteile der Mitangeklagten, der Schwestern Peterschinegg und Stefanie Kaltenböck, fielen vermutlich milder aus, sind jedoch nicht erhalten.111 Herta Weber-Stumfohl meinte zu diesem Ereignis:

    „Unser lieber alter ‚Fuchs‘, die Gauführerin Erna Pleikner, hat sich nun doch dazu entschließen müssen, ins Reich zu gehen. Kurz nach unserer Zusammenkunft in Klagenfurt im August ist sie verhaftet worden und zu sechs Monaten Kerker verurteilt worden. Jetzt wurde sie aus gesundheitlichen Gründen für kurze Zeit freigelassen und ist auf unser allerdringendes Anraten nun ins Reich geflohen."112

    Die Hausdurchsuchung bei Waltraud Mignon am 22. April 1937 verlief ergebnislos.113 Am 19. Oktober 1937 flog schließlich ihre Untergrundtätigkeit als illegale BDM-Führerin auf. Die Gerichtsakten geben Aufschluss über die regen Aktivitäten der Innsbrucker BDM-Verantwortlichen. Im Zuge der Aushebung der Hitlerjugend-Organisation in Salzburg entdeckte man Briefe von Doris Kindl (*1914), einer Innsbrucker Medizinstudentin, in denen der Besuch eines „Vetters Werner angekündigt wurde. Die Briefe waren an den Verlag Jugendpflege, Bergstraße 16 in Salzburg, gerichtet, der sich als Zentrale der HJ und des BDM herausstellte. Von dort wurde die Verbindung zu illegalen Organisationen in anderen Bundesländern hergestellt. Nach dem Zugriff auf die Salzburger HJ und die BDM-Zentrale schickte die Polizeidirektion Salzburg den verdeckten Ermittler Johann Frauscher, um die Innsbrucker Verbindungsleute auszukundschaften. Neben Doris Kindl waren auch der Name und die Adresse der Innsbrucker Medizinstudentin Elfriede Krejci (*1914) aufgetaucht, die der Kriminalbeamte an der HNO-Klinik ausfindig machte. Er gab sich als BDM-Kurier aus Wien aus und teilte Elfriede Krejci mit, dass die HJ und der BDM in Salzburg aufgeflogen seien. Er wollte von ihr auch erfahren, wer der „Vetter Werner sei. Elfriede Krejci antwortete auf diese Frage: „Ich selbst weiß es nicht, wer der Vetter ist, aber ich führe Sie sofort zur Führerin des BDM, diese weiß, wer er ist und wo sie ihn treffen können.114 Sie begaben sich in die Sonnenburgstraße 3/II in die Wohnung von Waltraud Mignon in Innsbruck-Wilten. Mignon und Doris Kindl trafen etwas später ein. Den verdeckten Ermittler hielten alle Beteiligten für den erwarteten Boten aus Wien, der Material für die Wiener Zentrale abholten sollte. Der Kriminalbeamte regte ein Treffen zwischen ihm und „Vetter Werner unter dem Vorwand an, ihn warnen zu wollen. Er erfuhr auch, dass sich Erich Kindl, der im Frühjahr als Innsbrucker HJ-Führer aufgeflogen war, als Kurier in Innsbruck aufhielt. Für 13:10 Uhr wurde ein Treffen am Bahnhof vereinbart. Doris Kindl brachte Johann Frauscher zum Bahnhof und veränderte ihre Aussagen über den „Vetter Werner dahingehend, dass dieser nicht ihr Bruder sei, sondern ein Verwandter, der ihrem Bruder nur einen Koffer nach Deutschland bringen wolle. Johann Frauscher berichtete, dass um 13:15 Uhr ein „großer, schlanker, blonder Bursche, welcher Augengläser trug und eine Aktentasche bei sich hatte, mit dem Schnellzug nach Deutschland abreiste. Die Mutter von Doris Kindl, die auch noch auftauchte, verstaute schließlich einen Koffer in der Gepäckaufbewahrung. Der Plan der Kriminalpolizei, den Bruder von Doris Kindl auf frischer Tat zu ertappen, war also fehlgeschlagen. Vermutlich waren die Beteiligten misstrauisch geworden. „Ebenso kann Erich Kindl nicht mehr nach Innsbruck zurück, aber es ist noch nicht ganz klar, was er weiter machen wird", bemerkte dazu Herta Weber-Stumfohl im Dezember 1937.115 Auch Willi Holzknecht, der HJ-Führer von Innsbruck, musste fliehen und wurde Mitarbeiter von Karl Kowarik in Berlin. Kowarik (*1903) war Mitbegründer der Hitler-jugend, NSDAP-Mitglied seit 1930 und ab 1934 als Gebietsinspekteur der Hitlerjugend in Österreich das Pendant zu Herta Weber-Stumfohl. Er machte nach 1938 eine steile Karriere als HJ-Führer von Wien, Leiter des Gaujugendamtes, NS-Reichstagsabgeordneter und schließlich SS-Obersturmbannführer. Nach 1945 war er Mitbegründer des VdU und von 1957 bis 1960 Generalsekretär der Bundes-FPÖ.116

    Noch am gleichen Tag, dem 19. Oktober 1937, kam es zur Verhaftung von Waltraud Mignon, Elfriede Krejci und Doris Kindl. Als besonders belastend wurde die Verbindung zur Zentrale der Hitlerjugend in Salzburg eingestuft. Waltraud Mignon wurde nach § 4 des Staatsschutzgesetzes (StSchGes) angeklagt, sich im Bund Deutscher Mädel als Landesleiterin in führender Weise mit dem Zweck betätigt zu haben, „auf ungesetzliche Weise die Selbstständigkeit, die verfassungsmäßig festgestellte Staats- oder Regierungsform oder verfassungsmäßige Einrichtung Österreichs zu erschüttern".117 Doris Kindl und Elfriede Krejci wurde nach § 5 StSchGes nur die Teilnahme an einer staatsgefährdenden Organisation vorgeworfen. Im Leumundschreiben der Bundespolizeidirektion wird Doris Kindl als „fanatische Anhängerin der NSDAP118 bezeichnet. Es wird ausgeführt, dass sie „die Schwester des Erich Kindl sei, der von der Polizeidirektion gesucht werde, „da er Gebietsführer der HJ ist und sich derzeit in München befindet, wo er seinen Studien obliegt. Ihre Schwester Hanna ist ebenfalls Anhängerin der NS und hat am 2.10.1937 den bekannten NS Klaus Mahnert geehelicht".119 Der Vater von Doris Kindl war Arzt, die sudetendeutsche Familie stammte aus Marienbad in Böhmen. Der Großvater war der k. u. k. Feldzeugmeister v. Schmedes. Der Vater von Klaus Mahnert, der sich terroristisch betätigte, war Ludwig Mahnert, der deutschnationale evangelische Pastor in Innsbruck. Mahnert (*1913 in Marburg an der Drau, †2005 in Innsbruck), NSDAP-Mitglied seit 1931 mit der Mitgliedsnummer 512.506120 und Mitglied der Burschenschaft Alemannia auf dem Pflug zu Halle, spielte 1934 beim Juliputsch in Innsbruck121 eine wichtige Rolle, hielt die SA jedoch vom Losschlagen ab. Er war Brigadeinspekteur der SA in Tirol, wurde 1935 verhaftet, wegen Hochverrats angeklagt und nach vier Monaten mit der Auflage entlassen, Österreich zu verlassen.122 In Deutschland wechselte er von der SA zur SS und erreichte 1937 den Rang eines SS-Obersturmbannführers. In diesem Jahr heiratete er Hanna Kindl, die Schwester von Doris Kindl. Nach 1938 machte er unter Gauleiter Hofer in Tirol Karriere und brachte es zum Gauleiter-Stellvertreter, schließlich zum Gauinspekteur von Tirol und Vorarlberg und zum Kreisleiter in mehreren Kreisen in Tirol und Vorarlberg. Er erhielt die Ostmarkmedaille, die Dienstauszeichnung der NSDAP in Bronze und war Blutorden- und Ehrenzeichenträger.123 Die enge Verbindung der illegalen nationalsozialistischen Familien in Innsbruck wird auch durch die Ehe der Schwester von Doris Kindl mit Klaus Mahnert deutlich.

    Waltraud Mignon wurde im Leumundschreiben der Polizeidirektion als „fanatische NS-Anhängerin bezeichnet, doch „in moralischer Hinsicht sei nichts „Nachteiliges" über sie bekannt.124 Die in Parschitz, Tschechoslowakei, geborene Elfriede Krejci, Tochter des ÖBB-Stationsvorstandes in Steinach, wurde ebenfalls als Anhängerin der NSDAP beschrieben: Sie „verkehrt fast ausschließlich mit NS-Anhängern und Studenten der Verbindung Schwaben, der auch ihr Bruder Alfred, der vor einigen Jahren zum evangelischen Glauben

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