Aufbruch in die "Heimat des Proletariats": Tiroler in der Sowjetunion 1922–1938
Von Gisela Hormayr
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Über dieses E-Book
Unter den Auswanderern und Politemigranten – und am Ende Opfern des Stalinschen Terrors – waren auch Tiroler. Ihren Spuren wird in der vorliegenden Studie nachgegangen. Sie verfolgt die Lebenswege des Schriftstellers Thomas Moser aus Erl und des Stubaier Bauern Josef Hofer, der es zum Bürgermeister einer sibirischen Kleinstadt brachte, ebenso wie die des Innsbrucker Sozialdemokraten Otto Deschmann, des Chemiestudenten Emmerich Übleis oder des Leninschülers Romed Pucher. Ausführlich dargestellt werden die Folgen der Februarkämpfe 1934 im Raum Wörgl anhand des gut dokumentierten Schicksals der Familie Sappl.
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Buchvorschau
Aufbruch in die "Heimat des Proletariats" - Gisela Hormayr
Vorbemerkung
Es waren Bruchstücke einer Biografie, die mein Interesse weckten. Von Johann Sappl, Bergarbeiter in Häring,1 war bekannt, dass er sich im hiesigen Kohlebergwerk als Betriebsrat engagierte, der Mehrheitsfraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) im Häringer Gemeinderat angehörte und 1934 an den Februarkämpfen in Wörgl teilnahm. Gesichert schien darüber hinaus wenig: Die Familie habe später in der Sowjetunion gelebt und Sappl sei zu mehrjähriger Haft in einem sibirischen Arbeitslager verurteilt worden.
Dass es sich dabei lediglich um die von sowjetischen Behörden in der Zeit des Massenterrors 1937/38 routinemäßig an die Angehörigen erteilte Auskunft handelte, war leicht zu klären. Seit Archive in Moskau unter Staatspräsident Michail Gorbačëv auch westlichen WissenschaftlerInnen offenstanden, konnten im Rahmen österreichischer Forschungsprojekte die Schicksale von annähernd 800 Stalinopfern, unter ihnen auch Johann Sappl, dokumentiert werden.
Es waren ehemalige österreichische Kriegsgefangene, die nach 1918 im Land geblieben oder sich zur Rückkehr in die Sowjetunion entschlossen hatten, Facharbeiter und Menschen, die während der Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit auf der Suche nach Arbeit auswanderten. Eine bedeutende Gruppe stellten die 1934 nach der Niederwerfung des Februaraufstands geflüchteten Schutzbundangehörigen dar. Dazu kamen von der KPÖ entsandte, unter den Bedingungen der Illegalität im Ständestaat gefährdete Kader.
Der Anteil der Tiroler an der österreichischen Emigration in der Sowjetunion war gering – und doch am Ende höher als zunächst angenommen. Ihre Namen fanden sich in den seit Beginn der 1990er Jahre veröffentlichten und bis heute grundlegenden Publikationen von Barry McLoughlin, Hans Schafranek und Walter Szevera und in neueren Studien von Julia Köstenberger oder Josef Vogl.2
Weitere Namen sind dem von Wilhelm Mensing aufgearbeiteten Bestand der Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts in Berlin zu entnehmen. Erhalten sind hier die von der Gestapo erstellten Niederschriften der Einvernahmen, der sich alle nach 1938 aus der Sowjetunion freiwillig oder unfreiwillig heimkehrenden österreichischen „Rußlandrückkehrer" zu stellen hatten.
Die Vorgangsweise war durch eine erstmals 1937 erlassene und 1939 novellierte Verordnung geregelt. Ein umfangreicher Fragenkatalog diente der Beschaffung von Informationen über politische, militärische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in der Sowjetunion, aber auch der Einschätzung der politischen Zuverlässigkeit der RemigrantInnen, unter denen vom Geheimdienst des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKVD) eingeschleuste Agenten vermutet wurden. Die unter derartigem Generalverdacht hochverräterischer Betätigung stehenden Österreicher und Deutschen waren erwartungsgemäß bemüht, ihre vollständige „Heilung" von kommunistischen Idealen zu beteuern und ihre Loyalität dem NS-Regime gegenüber glaubhaft zu machen.
Zu den Leidenswegen der unter Stalin verhafteten und abgeurteilten Österreicher liefern die in Kopien aus den Moskauer Archiven vorliegenden Bestände im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) wertvolle Informationen. Es handelt sich dabei um die von der Leitung der Exil-KPÖ um Johann Koplenig und Friedl Fürnberg angelegten Kaderakten, die so genannte „Kadercharakteristiken und, im Fall der Parteianwärter, handschriftliche Lebensläufe und Interviews enthalten. Einen weiteren wichtigen Bestand bilden die Strafakten aus dem ehemaligen Archiv des KGB. Anklageschrift, Urteil und Verhörprotokolle lassen erahnen, wie die „Geständnisse
in den Wochen und Monaten der Haft zustande gekommen waren.
Die vorliegende Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die Mitwirkung von Julia Köstenberger in Wien, die unter epidemiebedingt erschwerten Bedingungen relevantes Quellenmaterial im DÖW gesichtet und, wo nötig, aus dem Russischen übersetzt hat. Zu danken ist an dieser Stelle auch Josef Vogl und Wilhelm Mensing sowie den jederzeit hilfsbereiten MitarbeiterInnen in- und ausländischer Archive, die Dokumente zur Verfügung gestellt haben.
Die Transliteration russischer Eigennamen erfolgte nach den in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur üblichen Regeln. Zitate aus deutschsprachigen Quellen werden in der im Original verwendeten Schreibung wiedergegeben. Sie wurden nur in Ausnahmefällen aus Gründen besserer Lesbarkeit geringfügig verändert.
Bad Häring, Jänner 2022
Anmerkungen
1Seit 1965: Bad Häring
2Barry McLoughlin/Hans Schafranek/Walter Szevera: Hoffnung – Aufbruch – Endstation. Österreicherinnen und Österreicher in der Sowjetunion 1925–1945, Wien 1997; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW, Hg.): Österreicher im Exil. Sowjetunion 1934–1945. Eine Dokumentation, Wien 1999 (im folgenden zit. als DÖW: Exil Sowjetunion); Julia Köstenberger: Kaderschmiede des Stalinismus. Die Internationale Leninschule in Moskau (1926–1938) und die österreichischen Leninschüler und Leninschülerinnen, Wien 2016; Josef Vogl: Aufbruch in den Osten. Österreichische Migranten in Sowjetisch-Kasachstan, Wien – Berlin 2019.
Auswanderungsland Sowjetunion
„Hier wird eine neue Welt gebaut"– Der Traum vom sozialistischen Paradies
Die wirtschaftliche Not der Nachkriegsjahre, die mit der Weltwirtschaftskrise in den Industrieregionen einsetzende Massenarbeitslosigkeit und politische Verfolgung im austrofaschistischen Ständestaat machten für 80.000 österreichische StaatsbürgerInnen die Emigration zur einzigen Hoffnung auf ein besseres Leben. Den weitaus größten Anteil stellten das Burgenland und Wien, gefolgt von Niederösterreich und der Steiermark. Für Tirol registrierte das dem Bundeskanzleramt zugeordnete Wanderungsamt 1.954 Personen (1919 bis 1937), mit einem auch im übrigen Österreich zu beobachtenden Höhepunkt im Jahr 1923.1 Die bevorzugten Ziele der Auswanderer befanden sich in Nord- und Südamerika.
Private Auswanderungsvereine bewarben Siedlungsunternehmungen, misstrauisch beobachtet durch die Behörden, die in vielen Fällen nicht zu Unrecht an der Seriosität der Vereinsfunktionäre zweifelten.2 Der Antrag auf Genehmigung zur Gründung eines Vereins „Kolonie Innsbruck", der Arbeitsangebote und Projekte in Brasilien vermitteln wollte, wurde von der Tiroler Landesregierung aus diesem Grund untersagt. Man befürchtete, dass in Not geratene Tiroler nicht ausreichend über die Risiken einer Auswanderung aufgeklärt würden.3
Annähernd 3.000 Österreicher brachen in die Sowjetunion auf. In den ersten Nachkriegsjahren handelte es sich vielfach um ehemalige österreichische Kriegsgefangene, denen nach ihrer Rückkehr aus Russland jede Lebensgrundlage in der Heimat fehlte.4 Österreichische Facharbeiter und Ingenieure stellten etwa 20 % der im Rahmen der Umsetzung des ersten Fünfjahresplans zwischen 1928 und 1932 in Westeuropa und Amerika angeworbenen „Spezialisten".5 Mit Stolz meldete die Rote Fahne allein für das Jahr 1931 die Zahl von 1.262 Emigranten aus Österreich, deutlich mehr als für jedes andere Auswanderungsland – nur die Sowjetunion könne in der weltweiten Krise des kapitalistischen Systems Werktätigen die Gründung einer sicheren Existenz bieten.6
IllustrationAllgemeiner Tiroler Anzeiger, 1.9.1923, 15
IllustrationAllgemeiner Tiroler Anzeiger, 25.6.1926, 5
IllustrationGenährt wurden derartige Hoffnungen auch durch die Berichte von TeilnehmerInnen an Arbeiterdelegationen, die ab 1925 auf Einladung der Regierung die Sowjetunion besuchten. Sie trafen Vertreter von Genossenschaften und Gewerkschaften ebenso wie prominente Politiker, besichtigten Betriebe und bestaunten kulturelle Einrichtungen, in der Regel ohne sich der in allen Einzelheiten vorbereiteten und überwachten Abläufe bewusst zu sein. Begeisterte Gefühle der Solidarität mit der russischen Arbeiterklasse erfasste in diesen Jahren KP-AnhängerInnen wie SozialdemokratInnen gleichermaßen, Intellektuelle aus ganz Europa lieferten euphorische Reiseberichte. Vielen Jüdinnen und Juden, die sich 1918 der KPÖ angeschlossen hatten, galt die Sowjetunion der Jahre nach der Revolution als Gelobtes Land.7 Mit der Organisation von Delegationsreisen war die „Kommission für auswärtige Verbindungen des Zentralrats der russischen Gewerkschaften" betraut, die nichts dem Zufall überließ:
„Das Grundprinzip dieser Delegationsreisen ist, den Delegierten keine Sekunde Ruhe, keine Möglichkeit zum Nachdenken über das Gesehene und Gehörte zu geben. Sie werden von einem Ort an den anderen gezerrt, man organisiert für sie große Empfänge in den Stadtsowjets, in den Volkskommissariaten, selbst im Kreml, man blufft sie durch die Anwesenheit der bolschewistischen ‚Elite‘; man besticht sie unmerklich durch Festessen und Krimweine, um so in ihnen jeden Widerstand gegen jene Propaganda zu brechen, die sie vom Augenblick ihrer Ankunft bis zu ihrer Abreise umgibt."8
Einer der wohl nicht allzu zahlreichen Tiroler Teilnehmer an einer Arbeiterdelegation war der langjährige KP-Aktivist Josef Bucher aus Hötting, der im Frühjahr 1931 für zehn Wochen die Sowjetunion bereiste.9 Der Parteivorstand der SDAP lehnte die Arbeiterdelegationen grundsätzlich ab, setzte aber nur in wenigen Fällen disziplinarische Maßnahmen. Die Tiroler Sozialdemokraten Angelus Pallestrang und Josef Populorum allerdings wurden nach einer derartigen Reise im November 1927 aus der Partei ausgeschlossen. Beide traten der KPÖ bei.10
Auswanderer in die Sowjetunion traten die Reise über Vermittlung von zwei „Spez-Büros" in Wien an, wurden direkt von Arbeitsämtern vermittelt oder reisten mit einem Touristenvisum des sowjetischen Reisebüros Intourist ein. Die Realität des Lebens in der Sowjetunion konnte indes mit den Erwartungen selten Schritt halten. Niedrige Löhne, schlechte Wohn- und Arbeitsbedingungen und die unzureichende Lebensmittelversorgung bewogen schon in der ersten Hälfte der 1930er Jahre viele Österreicher, ihre Verträge nicht mehr zu verlängern. Ein Überblick des Tiroler Anzeigers über Auswanderungsströme in außereuropäische Länder im Jahr 1933 nennt die Sowjetunion nach Palästina, Brasilien, den USA und Argentinien nur mehr an fünfter Stelle.11
IllustrationEin gescheiterter Versuch, in die Sowjetunion zu gelangen: Das selbstgebaute Boot einer Gruppe von Innsbrucker Kommunisten kenterte bereits bei der Volderer Brücke (Juli 1932)
Auch in der österreichischen Öffentlichkeit hatte sich die Wahrnehmung der Sowjetunion merklich verändert. Die Presse berichtete ausführlich über die Hungerkatastrophe in der Ukraine und anderen Regionen des Landes. Hilfskomitees mit vielfach prominenter Unterstützung wurden gegründet, deren Tätigkeit vom Außenamt jedoch im Interesse ungestörter Handelsbeziehungen nur mit Zurückhaltung zur Kenntnis genommen wurde.12 Von russischer Seite stieg nach 1935 der Druck auf die zunächst begehrten ausländischen Spezialisten, das Land zu verlassen: Sie sollten durch eine mittlerweile ausgebildete Generation junger sowjetischer Facharbeiter ersetzt werden. Arbeitsbewilligungen wurden ohne Angabe von Gründen entzogen und die Ausweisung verfügt, die vor allem jene traf, die sich geweigert hatten, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen.13
„Die proletarische Revolution klopft im Herzen Europas"14 – Die Ankunft der Schutzbündler
Österreicher stellten auch eine hohe Zahl von politischen Flüchtlingen in der Sowjetunion. Zwischen 1925 und 1940 wurden 832 Personen von der Legitimationskommission der sowjetischen Roten Hilfe (MOPR) als Politemigranten anerkannt, rund ein Zehntel aller bewilligten Fälle.15 Die Verfassung der Russischen Föderativen Sowjetrepublik (RFSR) von 1918 regelte in Artikel 21 ohne Einschränkung die Gewährung von Asyl für aus politischen oder religiösen Gründen verfolgte Ausländer. Auch die Stalinsche Verfassung von 1936 verbürgte das Asylrecht in Artikel 129, wenngleich in modifizierter Form:
„Die UdSSR gewährt Bürgern ausländischer Staaten, die wegen Verfechtung der Interessen der Werktätigen oder wegen wissenschaftlicher Betätigung oder wegen ihrer Teilnahme am nationalen Befreiungskampf verfolgt werden, das Asylrecht."16
In der Realität wurde dieses Asylrecht allerdings sehr restriktiv gehandhabt. Nur wenige Tausend Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 massiver Verfolgung ausgesetzt sahen, erhielten eine Einreisebewilligung.17 Ganz anders hingegen war die offizielle sowjetische Reaktion, als es nach dem Februar 1934 um die Aufnahme der kampferprobten österreichischen Schutzbündler ging. Bereits die brutale Reaktion der Regierung von Bundeskanzler Ignaz Seipel auf die Demonstrationen vor dem Wiener Justizpalast nach dem Freispruch der Mörder von Schattendorf im Juli 1927 hatte in der sowjetischen Presse für Schlagzeilen gesorgt: Die Öffentlichkeit erfuhr von einem „Aufstand des österreichischen Proletariats gegen die faschistische Reaktion und vom „Verrat
der Sozialdemokratie, die sich einmal mehr als unfähig erwiesen hätte, die revolutionären Massen zu führen.
1. Mai 1934 in Moskau – Schutzbündler auf der Tribüne
Die Ereignisse des Februar 1934 schienen nun die seit Jahren propagierte Sozialfaschismus-These zu bestätigen.18 Der heldenhafte Widerstand der österreichischen Arbeiter gegen die Regierungstruppen stand für Wochen im Zentrum der Berichterstattung. Die Kommunisten hätten in diesen Kämpfen eine maßgebliche Rolle gespielt, die Führung der sozialdemokratischen Partei hingegen erneut versagt. Die Internationale Rote Hilfe schickte Unterstützungsgelder nach Österreich und im Zentralkomitee (ZK) der VKP (b) fiel am 10. März 1934 die Entscheidung, allen ausreisewilligen Schutzbündlern in der Sowjetunion Asyl zu gewähren, sofern sie nicht unter Spionageverdacht standen.19 Mehrere Hundert Flüchtlinge aus Wien und Oberösterreich befanden sich zu diesem Zeitpunkt in Lagern in der Tschechoslowakei (ČSR), betreut von den beiden sozialistischen Parteien des Landes und umworben von der KP.20 Die Ankunft der Schutzbündler in Moskau sollte, nach dem Willen der Verantwortlichen, öffentlichkeitswirksam verwertet werden, ein erster Transport daher jedenfalls rechtzeitig zu den Maifeiern eintreffen. Er umfasste laut Sammelvisum 308 Personen, deren feierlicher Empfang in aller Eile vorbereitet wurde.21
Ihre Unterbringung und Verköstigung war großzügig und deutlich besser, als es einheimische Werktätige gewohnt waren.22 Unter den prominenten Kadern, die sich nun aus erster Hand über die Februarkämpfe informieren ließen, war auch Georgi Dimitrov, der Befürchtungen der mehrheitlich sozialdemokratischen Emigranten zu zerstreuen suchte:
„Wir machen keinerlei Unterschied zwischen den aus Österreich angekommenen Sozialdemokraten und Kommunisten, es wird keine materielle Bevorzugung für letztere hier in der UdSSR geben. Wichtig ist, dass ihr ehrliche Arbeiter seid und treu der Sache des Sozialismus dient."23
Zuständig für die Betreuung der Österreicher war der Allunions-Zentralrat der Gewerkschaften (VCSPS), die in diesem Zusammenhang entstehenden Kosten wurden von der Gewerkschaft getragen. Ein weiterer Transport von 230 Schutzbündlern folgte im Juni 1934. Sie wurden auf Moskau, Leningrad und Char’kov aufgeteilt. Bis Anfang 1935 trafen noch kleinere Gruppen von Emigranten ein, auch individuelle Einreisen wie die der Tiroler Thomas Berger und Johann Sappl wurden genehmigt.24 Das Interesse des offiziellen Russland an ihrem Schicksal allerdings war, wohl nicht zuletzt wegen der hohen Kosten der Versorgung, nicht länger vorhanden: „Die Exilanten aus Österreich, die ‚Heroen‘ des Februar 1934, verloren nach und nach ihren Status als ‚Herzeigeobjekte‘".25
Auch aufseiten mancher Flüchtlinge gab es längst Ernüchterung. Viele Schutzbündler übten scharfe Kritik an den Arbeitsbedingungen in den Betrieben, fanden sich wegen fehlender Sprachkenntnisse nicht zurecht und litten unter den ständigen Überprüfungen durch Parteiinstanzen und Geheimdienst, die sich nach der Ermordung des Leningrader Parteifunktionärs Sergej Kirov verschärften.26 Dazu kam die tägliche Belastung durch verpflichtende politische und technische Schulungen nach Arbeitsschluss. Bereits im Laufe des Jahres 1934 entschlossen sich daher die ersten Schutzbündler zur Rückkehr, und bis 1941 hatten annähernd 220 von ihnen die Sowjetunion verlassen. Viele der anfangs gewährten Privilegien standen im Sommer 1935 nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung. Dazu gehörten das Startgeld von 500 Rubel, kostenlose Einkleidung, ermäßigte Mieten und günstige Einkaufsmöglichkeiten. Das Ende der Lohngarantie bedeutete einen allgemeinen Reallohnverlust für die Österreicher, die in der Regel nun mit einem Durchschnittslohn von 200– 300 Rubel ihr Auskommen finden mussten. Auch mit einem Doppelverdienst konnten die Lebenshaltungskosten kaum gedeckt werden, nötige Anschaffungen waren unmöglich: Ein Paar Schuhe kostete 240 Rubel, ein Wintermantel 600–700 Rubel.27
Für die Rückwanderer entstanden Probleme, wenn sie inzwischen die sowjetische Staatsbürgerschaft angenommen hatten oder als staatenlos galten, weil sie, meist ohne ihr Wissen, von der österreichischen Regierung ausgebürgert worden waren. Durch die Gesandtschaft in Moskau waren die Behörden gut informiert. Listen der in Moskau lebenden Schutzbündler und ihrer Arbeitsplätze wurden erstellt, manchmal versehen mit politischen Einschätzungen („ist heimattreu, „altes kommunistisches Parteimitglied, fanatisch
).28
Zu einer Welle von Ausbürgerungen kam es im Herbst 1936, nachdem die Deutsche Zentral-Zeitung am 30. August 1936 eine von mehr als 100 Schutzbündlern unterzeichnete Ergebenheitsadresse an Stalin veröffentlicht hatte, entstanden als Reaktion auf die Kritik der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) an den Hinrichtungen unmittelbar nach dem ersten Moskauer Schauprozess vom 19. bis 24. August 1936.29 Konflikte in den eigenen Reihen erschwerten die Entscheidung, die Sowjetunion zu verlassen. Ein Spitzeldienst vor der österreichischen Gesandtschaft informierte die KPÖ-Kader über alle Schutzbündler, die versuchten, sich die nötigen Papiere zu verschaffen. Sie wurden schließlich im März 1935 in einer Versammlung des Moskauer Schutzbundkollektivs