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Altneuland
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eBook527 Seiten6 Stunden

Altneuland

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Über dieses E-Book

»Der Judenstaat ist ein Weltbedürfnis, folglich wird er entstehen.«
Theodor Herzl (1860–1904), Journalist, Dramatiker, Science-Fiction-Autor, Aktivist und Visionär, ist vor allem als der Mann in Erinnerung, der die politische Plattform schuf, auf der 44 Jahre nach seinem Tod der Staat Israel gegründet wurde. Nach langem Zögern entschloss er sich 1902, seiner politischen Utopie auch eine literarische Form zu geben. »Herzl erweckt vor unseren Augen die bisweilen glanzvolle, meist aber elende Welt der Juden um 1900 im Habsburger Reich zum Leben. Er schildert fast schon auf Dickens'sche Weise die soziale Not seiner Gegenwart, er wirft einen Blick in die nicht immer so glamouröse Wiener Kaffeehauskultur, und er lässt uns die Zwangslage der aufstrebenden jüdischen Bildungsschicht miterleben, die trotz Emanzipation und Assimilation in einer Sackgasse steckt und, gerade wo sie erfolgreich wird, mit latentem oder offenem Antisemitismus konfrontiert wird.« Karlheinz Steinmüller in seinem Vorwort
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum25. Apr. 2023
ISBN9783949452444
Altneuland
Autor

Theodor Herzl

Theodor Herzl, geboren 1860 in Budapest, gilt als Begründer des Zionismus als politische Bewegung. Seine Wahrnehmung des Antisemitismus brachte ihn zu der Überzeugung, dass nur ein eigener Staat eine Lösung der sog. Judenfrage herbeiführen könne. Mit seiner Schrift "Der Judenstaat" gab er dem Zionismus den Anstoß, der schließlich zur Gründung des Staates Israel führte.

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    Buchvorschau

    Altneuland - Theodor Herzl

    Impressum

    Originalausgabe

    © 2023 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin; prverlag@hirnkost.de;

    http://www.hirnkost.de/ Alle Rechte vorbehalten, 1. Auflage April 2023

    Die Erstauflage des Romans Altneuland erschien 1902 bei Herman Seemann Nachfolger, Leipzig. Nur im E-Book: Der Judenstaat erschien 1896 bei M. Breitenstein’s Verlags-Buchhandlung, Leipzig/Wien; die Erzählungen Das lenkbare Luftschiff (1896) und Der Unternehmer Buonaparte (1900) erschienen erstmals in Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen, Gebrüder Paetel, Berlin 1900.

    Vertrieb für den Buchhandel:

    Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de

    Privatkunden und Mailorder:

    https://shop.hirnkost.de/

    Herausgeber: Hans Frey

    Lektorat: Klaus Farin

    Korrektorat: Christian Winkelmann-Maggio

    Layout: benSwerk

    ISBN:

    PRINT: 978-3-949452-43-7

    PDF: 978-3-949452-45-1

    EPUB: 978-3-949452-44-4

    Hirnkost versteht sich als engagierter Verlag für engagierte Literatur.

    Mehr Infos: www.hirnkost.de/der-engagierte-verlag

    Dieses Buch erschien als Band V der Reihe »Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction«. Alle Titel und weitere Informationen finden Sie hier:

    https://shop.hirnkost.de/produkt/schaetze/

    Theodor Herzl · 1860–1904

    Theodor (Binyamin Ze’ev) Herzl war ein österreichischer Schriftsteller, Journalist und zionistischer Politiker. In Budapest geboren, orientierte sich Herzls Erziehung durch seine Mutter Jeanette Herzl an deutscher Kultur und Sprache, wie es für die meisten Jüdinnen und Juden im deutschen Sprachraum selbstverständlich war. Ab 1878 studierte er in Wien Jura und war für mehrere Jahre Mitglied der Studentenverbindung Albia, die er aber wegen antisemitischer Äußerungen anderer Verbindungsstudenten noch vor seiner Promotion im Jahre 1884 wieder verließ. 1889 heiratete er Julie Naschauer.

    Von 1891 bis 1894 war Herzl Korrespondent der Wiener Neuen Freien Presse in Paris und berichtete von dort über die Dreyfus-Affäre. Unter dem Eindruck dieser Affäre und antisemitischer Ausschreitungen in Frankreich veröffentlichte er 1896 sein Werk Der Judenstaat, in dem er die These entwickelt, dass die Gründung eines eigenen jüdischen Staates notwendig und durchführbar sei. 1897 organisierte er mit Oskar Marmorek und Max Nordau den 1. Zionistischen Weltkongress in Basel und wurde zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation gewählt. Das dort verabschiedete Basler Programm bildete die Grundlage für zahlreiche Verhandlungen (u. a. mit Kaiser Wilhelm II. und dem türkischen Sultan Abd ül-Hamid II.) mit dem Ziel, eine »Heimstätte des jüdischen Volkes« in Palästina zu schaffen. Ebenfalls im Jahre 1897 veröffentlichte Herzl das Theaterstück Das neue Ghetto und gründete in Wien Die Welt als monatlich erscheinende Informationsschrift der zionistischen Bewegung. 1899 gründete Herzl den ›Jewish Colonial Trust‹, dessen Aufgabe der Ankauf von Land in Palästina war, damals noch Teil des Osmanischen Reiches.

    In seinem utopischen Roman Altneuland entwarf Herzl sein idealistisches Bild eines künftigen jüdischen Staates in Palästina. Er formulierte darin einen Entwurf für seine politische und gesellschaftliche Ordnung eines jüdischen Staates und vertrat auch die Auffassung, die in Palästina lebenden Araber würden die neuen jüdischen Siedler freudig begrüßen. Die Benennung der Stadt Tel Aviv (Frühlingshügel) wurde von Herzls Roman inspiriert.

    benSwerk

    geboren 1970, lebt in Berlin. Studierte Werbegrafik und freie Kunst. Wenn sie nicht für Hirnkost layoutet, porträtiert sie das kleine Volk und andere Wesenheiten der Anderswelt, ersinnt Orakelkarten oder gestaltet andere Bücher – mit Vorliebe in den Bereichen WeirdFiction oder Phantastik. www.benswerk.com

    Klaus Farin

    geboren 1958 in Gelsenkirchen, lebt seit 1980 – Punk sei Dank – in Berlin-Neukölln. Nach Tätigkeiten als Konzertveranstalter und -Security, Buchhändler und Journalist nun freier Autor und Lektor, Aktivist und Vortragsreisender. Bis heute hat Farin 29 Bücher verfasst und weitere herausgegeben, zuletzt gemeinsam mit Rafik Schami: Flucht aus Syrien – neue Heimat Deutschland? und mit Eberhard Seidel: Wendejugend. Er ist Vorsitzender der Stiftung Respekt! und ehrenamtlich Geschäftsführer des Hirnkost Verlags. Weitere Infos: https://klausfarin.de/ueber-klaus-farin/biographie.

    Hans Frey

    geboren 1949, Germanist, Lehrer und Ex-NRW-Landtagsabgeordneter, ist in seinem »dritten Leben« Autor und Publizist. Seine Spezialität ist die Aufarbeitung der Science Fiction. Bisher veröffentlichte er ein umfangreiches Werk über Isaac Asimov, das Sachbuch Philosophie und Science Fiction und Monographien über Alfred Bester, J. G. Ballard und James Tiptree Jr. Seit 2016 arbeitet er an einer Literaturgeschichte der deutschsprachigen SF. Drei Bände sind bislang bei Memoranda erschienen (Fortschritt und Fiasko, Aufbruch in den Abgrund und Optimismus und Overkill). Für die ersten beiden Bände erhielt er den Kurd Laßwitz Preis 2021.

    Emanuel Lottem

    geboren 1944 in Tel Aviv, gilt seit Mitte der Siebzigerjahre als eine zentrale Persönlichkeit in der israelischen Science-Fiction- und Fantasy-Szene. Als Übersetzer ins Hebräische übertrug er einige der wichtigsten Genrewerke, unter anderem Frank Herberts Dune, und gab andere heraus. Als Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Israeli Society of Science Fiction and Fantasy sowie Vorsitzender des Redaktionsausschusses des Magazins Fantasia 2000 trägt er maßgeblich zur Lebendigkeit der israelischen SF/F-Szene bei.

    2023 erschien bei Hirnkost die von ihm und herausgegebene Anthologie.

    Karlheinz Steinmüller

    geboren 1950, Diplomphysiker, promovierter Philosoph und einer der angesehensten deutschen Futurologen. Er interessiert sich sowohl als Zukunftsforscher als auch als Science-Fiction-Autor für die ferne Zukunft der Menschheit. 1979 erschien sein erster Erzählband Der letzte Tag auf der Venus; es folgten weitere Erzählungen und Romane wie Andymon, die er gemeinsam mit seiner Frau Angela Steinmüller schrieb. Zuletzt erschien der Essayband Erkundungen im Memoranda Verlag.

    Christian Winkelmann

    geboren 1963, studierte Geschichte, Publizistik und Skandinavistik, bereiste zwischendurch und anschließend die halbe Welt, wirkte 20 Jahre als Privatlehrer und ist heute in Berlin im Verlagswesen tätig. Er schrieb u. a. Bücher über Erfindungen und Kultur der deutschsprachigen Länder sowie Brasilien.

    Inhalt

    Impressum

    Zum Geleit

    Vorwort

    Altneuland

    Erstes Buch

    Zweites Buch

    Drittes Buch

    Viertes Buch

    Fünftes Buch

    Nachwort Des Verfassers

    Nachwort

    Der Judenstaat

    Vorrede

    Einleitung

    Allgemeiner Teil

    Die Jewish Company

    Ortsgruppen

    Unsere Seelsorger

    Society of Jews und Judenstaat

    Schlusswort

    Das lenkbare Luftschiff

    Der Unternehmer Buonaparte

    Wenn ihr wollt,

    ist es

    kein Märchen

    Zum Geleit

    Wir leben in einer Gegenwart des radikalen Umbruchs, der alle Bereiche der menschlichen Zivilisation durchdringt. Die Probleme scheinen uns über den Kopf zu wachsen. Wir brauchen kluge Ideen, tragfähige Lösungen, vielleicht sogar Utopien, die neue Perspektiven aufzeigen.

    Vielleicht ist es gerade in dieser aufwühlenden Situation auch hilfreich, einmal innezuhalten und zurückzublicken. Denn vieles, was uns heute beschäftigt, ist nicht wirklich neu. Schon vor über einhundert Jahren machten sich Autoren und Autorinnen Gedanken über das Klima, über Armut, Wohnen, Ernährung und das Bildungssystem, ob und inwieweit Technik einen Motor für den Fortschritt oder eine existenzielle Gefahr darstellen kann (beispielsweise Atomkraft, Geoengineering, Gentechnik). Vor allem die Autoren und Autorinnen der einst »Zukunftsliteratur« genannten Science Fiction entwarfen wie in keinem anderen Genre gesellschaftliche Utopien und Dystopien, die noch heute so gegenwärtig wirken, als wären sie gerade erst entstanden. Sie sind trotz oder vielleicht gerade wegen ihres oberflächlich antiquiert wirkenden Charmes heute noch mit Gewinn und Genuss zu lesen. Vierzig Perlen aus der deutschsprachigen Science Fiction möchte Ihnen diese Edition im Laufe der nächsten Jahre präsentieren.

    Jedes Buch der Edition enthält den Roman selbst sowie in einigen Fällen ergänzende Texte der jeweiligen Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Umrahmt werden die Originaltexte von einem Vorwort namhafter Autoren und Autorinnen der Gegenwart und einem historisch-analytischen Nachwort von anerkannten Expertinnen und Experten, das vornehmlich die literaturhistorischen und zeitgeschichtlichen Hintergründe des Textes beleuchtet.

    Parallel zur gedruckten Version erscheinen ePubs in allen Formaten und Vertriebsoptionen, die in der Regel zusätzliche ergänzende Materialien (etwa dazugehörige weitere Romane, Sachbücher und Essays der Autoren und Autorinnen, zeitgenössische Rezensionen und andere Leserstimmen sowie weitere Analysen) enthalten und so vor allem für die wissenschaftliche Beschäftigung eine wertvolle Bereicherung darstellen. Damit werden nicht nur die Originaltitel wieder einem größeren Lesepublikum zugänglich gemacht, sondern auch der Forschung in bislang einzigartiger Weise sowohl historisches Quellenmaterial als auch aktuelle Analysen aufbereitet zur Verfügung gestellt.

    Besonderen Wert legen wir auf die Gestaltung. Auch sie soll zum Lesen einladen, denn die von uns herausgegebenen Werke haben es allemal verdient, neue Leser und Leserinnen zu finden. So werden die Werke nicht einfach als Faksimile reproduziert, sondern komplett neu Korrektur gelesen und gesetzt.

    Wir, der Verleger Klaus Farin (*1958) und der Herausgeber Hans Frey (*1949), beide Sachbuchautoren, kennen uns schon seit Jugendjahren. Wir stammen beide aus dem Herzen des Ruhrgebiets, aus Gelsenkirchen, engagier(t)en uns für eine bessere, gerechtere Gesellschaft und sind seit unserer Jugend leidenschaftliche Science-Fiction-Leser. Als wir uns nach Jahren zufällig in Berlin wiedertrafen, wurden sofort Pläne geschmiedet. Angeregt durch die deutschsprachige SF-Literaturgeschichte von Hans Frey im Memoranda Verlag wurde die Idee geboren, eine langfristig angelegte Reihe mit wichtigen, aber fast vergessenen Originaltexten der deutschsprachigen Science Fiction zu veröffentlichen.

    Aus dieser Idee ist Realität geworden. Die Reihe leistet einen wesentlichen Beitrag zur lebendigen Aufarbeitung und Bewahrung bedeutender Werke der deutschsprachigen SF. Zudem ist sie ein einzigartiges Dokument für die Vielfalt und Vielschichtigkeit des über die Jahre gewachsenen Genres.

    Wahr bleibt indes auch: Ohne engagierte Leser und Leserinnen, die die Bücher kaufen und sich an ihnen erfreuen, kann das Projekt nicht gelingen. Empfehlen Sie es bitte weiter. Abonnieren Sie die Reihe. Wir unterbreiten Ihnen ein verlockendes Angebot. Greifen Sie zu!

    Hans Frey, Klaus Farin

    Vorwort

    von Karlheinz Steinmüller

    »Mit den Ideen, Kenntnissen, Mitteln, die heute am 31. Dezember 1902 im Besitze der Menschheit sind, könnte sie sich helfen. Man braucht keinen Stein der Weisen, kein lenkbares Luftschiff. Alles Nötige ist schon vorhanden, um eine bessere Welt zu machen. Und wissen Sie, Mann, wer den Weg zeigen könnte? Ihr! Ihr Juden! Gerade weil’s euch schlecht geht. Ihr habt nichts zu verlieren. Ihr könntet das Versuchsland für die Menschheit machen – dort drüben, wo wir waren, auf dem alten Boden ein neues Land schaffen. Altneuland!«

    Die Botschaft von Altneuland erreicht uns noch heute. Das Buch, vor einhundertzwanzig Jahren geschrieben, ist eine fesselnde und mehr noch eine berührende Lektüre, nicht nur, aber auch deshalb, weil man den Roman, ob man will oder nicht, im Bewusstsein der Schoah liest. Zugleich aber rührt seine Faszination auch daher, dass sich Theodor Herzls Vision vom Altneuland zumindest teilweise im Staat Israel realisiert hat. Welch anderer utopischer Roman kann Ähnliches von sich behaupten?

    Trotz des historischen Abstands, trotz der Weltkriege und der politischen Umwälzungen, die uns von der Epoche Herzls trennen, hat Altneuland seinen Charme und seine Kraft nicht verloren. Herzl erweckt vor unseren Augen die bisweilen glanzvolle, meist aber elende Welt der Juden um 1900 im Habsburger Reich zum Leben. Er schildert fast schon auf Dickens’sche Weise die soziale Not seiner Gegenwart, er wirft einen Blick in die nicht immer so glamouröse Wiener Kaffeehauskultur und er lässt uns die Zwangslage der aufstrebenden jüdischen Bildungsschicht miterleben, die trotz Emanzipation und Assimilation in einer Sackgasse steckt und, gerade wo sie erfolgreich wird, mit latentem oder offenem Antisemitismus konfrontiert wird.

    Man spürt, dass hier ein versierter Schriftsteller am Werk ist, ein Bühnenautor und weltläufiger Journalist, einer, der es versteht, den Stoff zu arrangieren, Dialoge zu Pointen zu führen und Personen in Szene zu setzen – und der auch Humoristisches, das ins Boulevardtheater passen würde, nicht ausspart. Üblicherweise zeichnen sich Utopien, zumal die Staatsromane aus Herzls Zeit, durch eine gewisse Trockenheit aus; es sind Abhandlungen, bestenfalls Essays, eingebettet in eine karge Rahmenhandlung, die die gesellschaftspolitischen Ideen hintereinander vorführt. Auch Herzl hatte Mühe, alle Elemente seines Zukunftsentwurfs in einem Roman unterzubringen. Es gelingt ihm, denn seine Figuren sind überzeugend, lebensnah, im Einzelfall nahe an der Karikatur, und man folgt seiner Hauptperson gern beim zweimaligen Besuch im Heiligen Land, einmal in Herzls Gegenwart und einmal in der Zukunft des Jahres 1923.

    Mit welcher Liebe führt uns Herzl den Frühling Palästinas, der ja auch der Frühling einer Gesellschaft ist, vor Augen! Gesäumt von Zypressen und Eukalyptusbäumen grüßen weiße Paläste am Ufer die Reisenden, die sich dem Land von See her nähern. Fast lautlos gleiten elektrische Schwebebahnen durch die hellen, geschäftigen Städte mit ihren Theatern und Handelshäusern, Gewerbegebieten und Schulen. Juden und Araber wohnen hier friedlich nebeneinander, Kirchen und Moscheen stehen neben den Synagogen. Juden aus aller Welt wandern in ihr gelobtes Land – nach Eretz Israel. Aber nicht nur sie kommen. Menschen jeglicher Nationalität und Glaubensrichtung sind hier im modernsten, fortschrittlichsten Staat der Welt willkommen. Ein Staat im Sinne von Hierarchie und Regiment will das umgewandelte Palästina jedoch nicht sein. Die Bürger sind vielmehr Mitglieder einer umfassenden Genossenschaft, in der alle Angelegenheiten einsichtig geregelt werden. Diese Genossenschaft – »eine mittlere Form zwischen Individualismus und Kollektivismus« – organisiert die Zuwanderung, betreibt den Aufbau und bildet zahllose weitere Genossenschaften für Landwirtschaft, Konsum, Bildung. Selbst die Zeitungen sind genossenschaftlich organisiert und schon daher einer qualitativ hochwertigen Berichterstattung verpflichtet. Drüben, auf dem alten Kontinent, führten die Juden im Golus – dem Elend der Zerstreuung – noch ein miserables Leben. Auch wenn sie versuchten, sich anzupassen, blieben sie doch stets Menschen zweiter Klasse. Und viele junge Leute fanden trotz guter Ausbildung keine Anstellung. Hier aber ist ihr Talent willkommen! Hier können sie das Land grün und fruchtbar machen wie zu Abrahams Zeiten!

    Theodor Herzl trifft mit dieser Utopie den Zeitgeist und bringt zugleich die Sehnsüchte seiner Glaubensgenossen auf den Punkt. Denn er kennt ihre Situation nur zu gut. Auch er hat zuerst daran geglaubt, dass die Juden im Zuge einer bewusst gewählten Assimilation eine gleichberechtigte Aufnahme als Bürger finden könnten. Persönliche Erlebnisse als Student, als Theaterautor und Feuilletonist in Wien und später als Korrespondent in Paris haben ihn aber vom Gegenteil überzeugt. Selbst im liberalen Frankreich musste er erfahren, wie sich im Prozess gegen den jüdischen Hauptmann Dreyfus, dem zu Unrecht Verrat vorgeworfen wurde, ein tief sitzender Antisemitismus Bahn brach. In Paris hat Herzl erkannt: Auf dem Wege der Assimilation ist die erwünschte Befreiung der Juden nicht zu erreichen. Er sieht nur einen Ausweg: einen eigenständigen Judenstaat. Fortan arbeitet er unermüdlich auf dieses Ziel hin, gewinnt Unterstützer und stößt auf Ablehnung.

    Im Jahr 1896 führt Herzl seine Vision in dem Buch Der Judenstaat genauer aus. 1897 beruft er den ersten Zionistischen Weltkongress nach Basel ein und wird zum ersten Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation gewählt. »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet«, kann er verkünden. 1898 besucht er Palästina. Verhandlungen mit dem türkischen Sultan, zu dessen Reich Palästina gehört, mit dem Deutschen Kaiser Wilhelm II. und dem Papst bleiben jedoch erfolglos. Trotz solcher Rückschläge und trotz vieler Widerstände gelingt es Herzl und seinen Mitarbeitern, den Zionismus, der für das jüdische Volk die Schaffung einer »völkerrechtlich gesicherten Heimstätte« in Palästina anstrebt, zu einer Massenbewegung zu machen.

    Lange hat Herzl gezögert, seine Ideen in Romanform zu kleiden: Würde eine fiktive Gestaltung die hehre Idee der Neugründung eines Judenstaats nicht verkleinern, gar als spinnerte Tagträumerei der Lächerlichkeit preisgeben? Wo schon Der Judenstaat, durch und durch sachlich argumentierend, vielen als Jules-Verne’sches Märchen und abstruses Traktat galt! Was würden seine Freunde und Weggefährten davon halten, dass er seiner mehrmals bekundeten Ablehnung von Utopienmalerei untreu wird?

    Im Unterschied zu anderen Verfassern von Staatsromanen seiner Zeit, die oft im Klein-Klein von Idealvorstellungen stecken blieben, hat Herzl klare Vorstellungen davon, wie der Weg zur Verwirklichung beschritten werden könnte. Er setzt nicht auf Revolution, auf die radikale Umstülpung aller Verhältnisse. Er vertraut darauf, dass das Neue aus dem Alten heraus entstehen kann, ja, bewährte Elemente und Ansätze übernehmen muss. Allerdings braucht er ein aus seiner Sicht unerschlossenes – und zugleich uraltes – Stück Land, ohne verkrustete Institutionen und festgefressene Interessen. Das ist seine Grundidee: fast von null zu beginnen und alle fortschrittlichen technischen, organisatorischen, finanziellen Möglichkeiten der Zeit zu nutzen. Die Araber, so seine Überzeugung, werde man schon gewinnen.

    Natürlich war das Echo auf Altneuland gespalten. Die einen stießen sich an der literarischen Gestaltung und verwarfen alle im Buch enthaltenen konkreten Vorschläge zur Gründung eines jüdischen Gemeinwesens als völlig unrealistisch. Andere hielten es einfach für unschicklich, dass der Anführer einer Bewegung mit einem Roman hervortrat. Viele erkannten aber auch, dass sich die zionistische Idee auf diese Weise wunderbar verbreiten – eben erzählen – ließ. Vor allem richtete sich Altneuland auch an Nichtjuden und sollte ihnen vor Augen führen, dass das zionistische Programm sinnvoll und durchführbar ist.

    Im Jahr 1903, ein Jahr nachdem Altneuland erschienen war, beschlossen die Versammelten auf dem inzwischen sechsten Zionistenkongress, praktische Schritte zur Ansiedlung in Palästina zu unternehmen. Der Arzt und Soziologe Franz Oppenheimer stellte dazu einen detaillierten Plan für Genossenschaftssiedlung mit Gemeineigentum und basisdemokratischen Strukturen vor. 1911 wurde südlich von Nazareth die erste Siedlung nach diesem Modell aufgebaut. Später wird man sie als Kibbuz bezeichnen. Das aber hat Herzl schon nicht mehr erlebt.

    Aus Herzls Vision von Altneuland spricht zu uns ein optimistisches und zugleich realistisches Menschenbild: Manche Leute werden sich nie ändern, aber die Menschen haben das Potenzial, sich zu bilden, sich zu engagieren und dabei wie einige seiner Romanfiguren über sich selbst hinauszuwachsen. »Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen.« – Man muss die Dinge selbst in die Hand nehmen, dann wird auch das anscheinend Unmögliche möglich.

    Theodor Herzl

    Altneuland

    Erstes Buch

    Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann

    1

    Dr. Friedrich Löwenberg saß in tiefer Melancholie an dem runden Marmortisch seines Kaffeehauses. Es war eines der alten gemütlichen Wiener Cafés auf dem Alsergrunde. Er kam seit Jahren dahin, schon als Student. Mit der Regelmäßigkeit eines Bürokraten pflegte er um die fünfte Nachmittagsstunde einzutreten. Der blasse kranke Kellner begrüßte ihn ergebenst. Löwenberg machte eine höfliche Verbeugung vor der ebenfalls blassen Kassiererin, mit der er nie sprach. Dann setzte er sich an den runden Lesetisch, trank seinen Kaffee, las alle Zeitungen durch, die ihm der Kellner beflissen brachte. Und wenn er mit den Tages- und Wochenzeitungen, Witzblättern und Fachjournalen fertig war, was nie weniger als anderthalb Stunden in Anspruch nahm, kamen die Gespräche mit Freunden oder die einsamen Träume.

    Das heißt: Ehemals waren es Plaudereien gewesen, jetzt waren es nur noch Träumereien, denn die zwei guten Gesellen, die jahrelang mit ihm diese eigentümlich leeren und charmanten Abendstunden im Café Birkenreis verbracht hatten, sie waren beide in den letzten Monaten verstorben. Beide waren älter gewesen als er, und es war, wie der eine, Heinrich, in seinem Abschiedsbrief an Löwenberg schrieb, bevor er sich eine Revolverkugel in die Schläfe schoss:

    »Es war sozusagen chronologisch begreiflich, dass sie früher verzweifeln als er.«

    Der andere, Oswald, war nach Brasilien gezogen, um für eine Ansiedlung jüdischer Proletarier tätig zu sein, und dort war er unlängst dem gelben Fieber erlegen.

    So kam es, dass Friedrich Löwenberg seit einigen Monaten einsam an dem alten Tische saß und, wenn er sich durch den Zeitungshaufen durchgeschlagen hatte, vor sich hin träumte, ohne eine Ansprache zu suchen. Er war zu müde, neue Bekanntschaften zu schließen, als wäre er nicht dreiundzwanzig Jahre alt, sondern ein Greis, der schon zu oft hatte von lieben Leuten Abschied nehmen müssen. Da saß er und starrte in den leichten Dunst hinein, der die ferneren Winkel des Saales verschleierte. Um den Billardtisch standen mit langen Stöcken und kühnen Stoßgebärden einige junge Leute. Die waren nicht unvergnügt, obwohl sie sich in ähnlicher Lage befanden wie er: Es waren angehende Ärzte, neugebackene Doktoren der Rechte, absolvierte Techniker. Die höheren Studien hatten sie vollendet, und zu tun gab es nichts. Die meisten waren Juden und pflegten zu klagen, wenn sie nicht gerade Billard oder Karten spielten, wie schwer es »in dieser Zeit« sei, das Fortkommen zu finden. Einstweilen vertrieben sie sich diese Zeit mit endlosen Spielpartien.

    Löwenberg bedauerte und beneidete zugleich diese Gedankenlosen. Sie waren eigentlich nur bessere Proletarier, Opfer einer Anschauungsweise, die vor zwanzig oder dreißig Jahren in den mittleren Schichten der Judenschaft geherrscht hatte. Die Söhne sollten etwas anderes werden, als die Väter gewesen waren. Los vom Handel, von den Geschäften. Da hatte ein Massenauszug des Nachwuchses nach den »gebildeten« Berufen stattgefunden. Das Ende war ein jammervoller Überfluss an studierten Leuten, die keine Beschäftigung fanden, zu bescheidener Lebensführung nicht mehr taugten, in Ämtern nicht unterschlüpfen konnten wie ihre christlichen Kollegen und sozusagen auf dem Markte lagen. Dabei hatten sie Standespflichten, ein kümmerlich hochmütiges Standesbewusstsein und recht mittellose Titel. Die einiges Vermögen besaßen, konnten es langsam aufzehren, oder sie lebten aus der väterlichen Tasche weiter.

    Andere lauerten auf die »gute Partie«, mit der hübschen Aussicht, Eheknecht im Solde eines Schwiegervaters zu werden. Die Dritten unternahmen eine rücksichtslose und nicht immer ganz saubere Konkurrenz in Berufen, welche eine vornehmere Lebenshaltung erforderten. Sodass man das wunderliche und traurige Schauspiel hatte, sie, die nicht einfache Kaufleute sein wollten, als »Akademiker« Geschäfte machen zu sehen: Geschäfte mit geheimen Krankheiten oder unerlaubten Prozessen. Manche wurden aus Not Journalisten und handelten mit öffentlicher Meinung. Noch andere tummelten sich in Volksversammlungen herum, hausierten mit wertlosen Schlagworten, um bekannt zu werden und parteiliche Beziehungen zu ergattern, die später Nutzen bringen mochten.

    Keinen dieser Wege wollte Löwenberg gehen.

    »Du taugst nicht fürs Leben«, hatte der arme Oswald ihm vor der Abreise nach Brasilien in grimmiger Laune gesagt, »denn du ekelst dich vor zu vielen Dingen. Man muss was hinunterschlucken können, zum Beispiel Ungeziefer, Unrat. Davon wird man dick und kräftig, und man bringt es zu etwas. Aber du, du bist nichts als ein feiner Esel. Geh in ein Kloster, Ophelia! ... Dass du ein anständiger Mensch bist, wird dir niemand glauben, weil du ein Jud bist. Also was? Du wirst mit den paar Groschen Erbteil früher als mit deiner Kechlspraxis fertig werden. Dann wirst du doch etwas anfangen müssen, wovor du dich ekelst – oder dich aufhängen. Ich bitte dich, kauf dir einen Strick, solange du noch einen Gulden hast. Auf mich kannst du nicht rechnen. Erstens werde ich nicht hier sein, zweitens bin ich dein Freund.«

    Oswald hatte ihn bereden wollen, mit nach Brasilien zu gehen. Friedrich Löwenberg aber konnte sich dazu nicht entschließen. Den heimlichsten Grund seiner Weigerung nannte er freilich dem Freunde nicht, der damals hinauszog, um auf fremder Erde früh den Tod zu finden. Es war ein blonder, schwärmerischer Grund, ein äußerst süßes Geschöpf. Nicht einmal zu den beiden vertrauten Freunden wagte er von Ernestine zu sprechen. Er fürchtete die Scherze über sein zartestes Gefühl. Und nun waren die beiden Guten nicht mehr da. Er konnte sie nicht mehr, auch wenn er wollte, um ihren Rat und ihre Teilnahme bitten. Denn es war eine schwere, schwere Sache. Er wollte sich vorstellen, was wohl die beiden dazu gesagt hätten, wenn sie nicht von ihm gegangen wären, sondern noch dasäßen auf ihren alten Plätzen an dem runden Lesetische. Er schloss die Augen ein wenig und träumte das Gespräch.

    »Meine Freunde, ich bin verliebt – nein, ich liebe ...«

    »Armer Kerl!«, würde Heinrich sagen. Oswald aber:

    »Eine solche Dummheit sieht dir ganz ähnlich, lieber Friedrich.«

    »Es ist mehr als eine Dummheit, meine lieben Freunde, es ist schon ausgewachsener Wahnsinn. Denn Herr Löffler, ihr Vater, wird mich wahrscheinlich auslachen, wenn ich ihn um die Hand Ernestinens bitte. Ich bin nichts als ein Advokaturskandidat mit vierzig Gulden Monatsgehalt. Ich habe nichts, gar nichts mehr. Die letzten Monate waren mein Ruin. Die wenigen Hundert Gulden, die noch von meinem Erbe übrig waren, sind aufgezehrt. Ich weiß ja, dass es ein Unsinn war, mich so von allem zu entblößen. Aber ich wollte in ihrer Nähe sein, ihre Anmut sehen, ihre holde Stimme hören. Da musste ich im Sommer den Kurort besuchen, wo sie war, und nun Theater, Konzerte. Ich musste mich auch gut kleiden, um in ihre Gesellschaften zu kommen. Und jetzt habe ich nichts mehr und liebe sie noch immer so, nein, mehr als je.«

    »Und was willst du tun?«, würde Heinrich fragen.

    »Ich will ihr sagen, dass ich sie liebe, und will sie bitten, ein paar Jahre auf mich zu warten, bis ich mir eine Existenz geschaffen habe.«

    Da hörte er im Traume Oswalds höhnisches Lachen:

    »Jawohl, lass warten! So unvernünftig ist Ernestine Löffler nicht, dass sie auf einen Hungerleider warten wird, bis sie verblüht ist. Hahaha!«

    Aber das Lachen erscholl wirklich neben Friedrich Löwenberg, und er öffnete bestürzt die Augen. Herr Schiffmann, ein junger Bankbeamter, den Friedrich im Löffler’schen Hause kennengelernt hatte, stand vor ihm und lachte herzlich:

    »Scheinen gestern spät ins Bett gegangen zu sein, Herr Doktor, dass Sie jetzt schon schläfrig sind.«

    »Ich habe nicht geschlafen«, sagte Friedrich verlegen.

    »Na, heute wird es auch lange dauern. Sie gehen doch zu Löfflers?«

    Herr Schiffmann setzte sich ungezwungen an den Lesetisch.

    Friedrich konnte den Burschen nicht sonderlich leiden. Dennoch ließ er sich seine Gesellschaft gefallen, weil er mit ihm von Ernestine reden durfte und öfters durch ihn erfuhr, in welches Theater Ernestine gehen werde. Herr Schiffmann hatte nämlich feine Beziehungen zu Theaterkassierern und verschaffte Sperrsitze selbst zu den unzugänglichsten Vorstellungen.

    »Ja, ich bin heute auch zu Löfflers eingeladen.«

    Herr Schiffmann hatte eine Zeitung in die Hand genommen und rief aus:

    »Das ist doch sonderbar!«

    »Was denn?«

    »Diese Annonce!«

    »Ah, Sie lesen auch die Annoncen?«, sagte Friedrich, ironisch lächelnd.

    »Was heißt: auch?«, erwiderte Schiffmann. »Ich lese hauptsächlich die Annoncen. Die sind das Interessanteste in der Zeitung – vom Börsenbericht abgesehen.«

    »So? Ich habe den Börsenbericht noch nie gelesen.«

    »Nun ja, Sie! ... Aber ich brauche nur einen Blick auf den Kurszettel, so sag’ ich Ihnen die ganze europäische Lage. Dann kommen aber gleich die Annoncen. Sie haben keine Ahnung, was da alles drinsteht. Das ist, wie wenn ich auf einen Markt geh’. Da gibt es eine Menge Sachen und Menschen zu verkaufen. Das heißt: Zu verkaufen ist ja eigentlich alles in der Welt – nur der Preis ist nicht immer zu erschwingen ... Wenn ich da hereinschau’ in den Inseratenteil, erfahr’ ich immer, was es für Gelegenheiten gibt. Alles soll man wissen, nichts soll man brauchen ... Aber da seh’ ich schon seit ein paar Tagen eine Annonce, die ich nicht versteh’.«

    »Ist sie in einer fremden Sprache?«

    »Da sehen Sie her, Doktor!«

    Schiffmann hielt ihm das Blatt hin und deutete auf eine kleine Anzeige, die so lautete:

    »Gesucht wird ein gebildeter und verzweifelter junger Mann, der bereit ist, mit seinem Leben ein letztes Experiment zu machen. Anträge unter N.O. Body an die Expedition.«

    »Ja, Sie haben recht«, sagte Friedrich, »das ist ein merkwürdiges Inserat. Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann! Solche sind vielleicht zu finden. Aber der Nachsatz macht die Sache schwerer. Wie verzweifelt muss einer sein, wenn er mit seinem Leben ein letztes Experiment wagen soll.«

    »Er scheint ihn auch nicht gefunden zu haben, der Herr Body. Ich seh’ die Annonce immer wieder. Wissen möcht’ ich aber doch, wer dieser Body mit dem sonderbaren Geschmack ist.«

    »Das ist niemand.«

    »Was heißt niemand?«

    »N. O. Body = nobody. Niemand auf Englisch.«

    »Ah, so ... Ans Englische hab’ ich nicht gedacht. Alles soll man wissen, nichts soll man brauchen ... Aber es wird Zeit, wenn wir nicht zu spät zu Löfflers kommen wollen. Grad heute muss man pünktlich sein.«

    »Warum gerade heute?«, fragte Löwenberg.

    »Bedaure, kann ich nicht sagen. Bei mir ist Diskretion Ehrensache ... Aber Sie können sich auf eine Überraschung gefasst machen ... Kellner, zahlen!«

    Eine Überraschung? Friedrich empfand plötzlich eine unbestimmte Angst.

    Als er mit Schiffmann das Kaffeehaus verließ, bemerkte er einen Knaben von etwa zehn Jahren außen in der Türnische. Der Junge hatte in seinem dünnen Mäntelchen die Schultern hoch hinaufgezogen, die Arme verschränkt an den Leib geklemmt, und er stampfte mit den Füßen den leicht herangewehten Schnee dieses geschützten Winkels. Das Hüpfen nahm sich beinahe possierlich aus. Aber Friedrich sah, dass das arme Kind in den zerrissenen Schuhen bitterlich fror. Er griff in die Tasche, suchte beim Scheine der nächsten Laterne drei Kupferkreuzer aus dem Kleingeld hervor und gab sie dem Knaben. Dieser nahm sie, sagte leise mit fröstelnder Stimme »Dank!« und lief schnell davon.

    »Was? Sie unterstützen den Straßenbettel?«, sagte Schiffmann indigniert.

    »Ich glaube nicht, dass dieser Kleine sich zum Vergnügen im Dezemberschnee herumtreibt ... Mir scheint auch, es war ein Judenjunge.«

    »Dann soll er sich an die Kultusgemeinde wenden oder an die israelitische Allianz und nicht am Abend bei Kaffeehäusern herumstehen!«

    »Regen Sie sich nicht auf, Herr Schiffmann, Sie haben ihm doch nichts gegeben.«

    »Mein lieber Doktor«, sagte Schiffmann bestimmt. »Ich bin Mitglied des Vereines gegen Verarmung und Bettelei. Jahresbeitrag ein Gulden.«

    2

    Die Familie Löffler wohnte im zweiten Stock eines großen Zinshauses in der Gonzagagasse. Im Erdgeschoss befand sich die Tuchniederlassung der Firma »Moriz Löffler und Komp.«.

    Als Friedrich und Schiffmann in das Vorzimmer traten, bemerkten sie an der Menge der schon dahängenden Wintermäntel, dass die Gesellschaft heute zahlreicher sein musste als gewöhnlich.

    »Ein ganzes Kleidergeschäft«, meinte Schiffmann.

    Im Salon waren einige Leute, die Friedrich schon kannte. Fremd war ihm aber der kahlköpfige Herr, der neben Ernestine am Klavier stand und ihr ganz vertraulich zulächelte.

    Das junge Mädchen streckte dem Ankömmling liebenswürdig die Hand entgegen:

    »Herr Doktor Löwenberg, lassen Sie sich vorstellen. Das ist Herr Leopold Weinberger.«

    »Mitchef der Firma Samuel Weinberger und Söhne in Brünn«, ergänzte Papa Löffler nicht ohne Feierlichkeit und Wohlwollen.

    Die beiden Herren reichten einander erfreut die Hände, und Friedrich nahm bei dieser Gelegenheit wahr, dass Herr Weinberger, der Mitchef der Brünner Firma, beträchtlich schielte und eine sehr feuchte Handfläche hatte. Das missfiel Friedrich nicht, weil es den ersten blitzartigen Gedanken verscheuchte, von dem er bei seinem Eintritte befallen worden war. Ernestine mit einem solchen Menschen – das war einfach unmöglich. Wie sie jetzt dastand, schlank, anmutig, das holde Haupt lieblich geneigt, entzückte sie seine Augen. Er musste sich aber ein wenig zurückziehen, denn andere Gäste kamen und wurden begrüßt. Nur Herr Leopold Weinberger aus Brünn behauptete sich einigermaßen zudringlich an Ernestines Seite.

    Friedrich erkundigte sich bei Schiffmann.

    »Dieser Herr Weinberger ist wohl ein alter Bekannter des Hauses?«

    »Nein«, sagte Schiffmann, »sie kennen ihn erst seit vierzehn Tagen, aber es ist eine feine Tuchfirma.«

    »Was ist fein, Herr Schiffmann, das Tuch oder die Firma?«, fragte Friedrich belustigt und getröstet.

    Denn ein Mensch, den man erst seit vierzehn Tagen kannte, war doch sicherlich kein Bräutigam.

    »Beides«, erwiderte Schiffmann. »Samuel Weinberger und Söhne kriegen so viel Geld, wie sie wollen – für vier Prozent. Hochprima ... Überhaupt geht es heute hier nobel zu. Sehen Sie: Der Magere dort mit den Glotzaugen, das ist Schlesinger, der Prokurist von Baron Goldstein. Er ist ein zuwiderer Mensch, aber sehr beliebt.«

    »Warum?«

    »Was heißt: warum? Weil er der Prokurist von Baron Goldstein ist ... Kennen Sie den mit dem grauen Backenbart? Auch nicht? Ja, von wo kommen Sie denn? Das ist der Großspekulant Laschner, einer der bedeutendsten Börsianer. Der spielt Ihnen mit ein paar Tausend Effekten wie gar nichts. Jetzt ist er gerade sehr reich. Ob er nächstes Jahr noch etwas haben wird, weiß ich nicht. Heute hat seine Gemahlin die größten Brillanten Boutons ... Die anderen beneiden sie alle darum.«

    Frau Laschner saß in einer Ecke des Salons mit mehreren ebenfalls stark herausgeputzten Damen, und sie sprachen leidenschaftlich von Hüten. Die übrigen Gruppen waren noch in der kühlen Stimmung vor dem Nachtmahl. Auch schienen einige von der bevorstehenden Überraschung unterrichtet zu sein, die Schiffmann im Kaffeehaus angedeutet hatte. Sie machten diskrete Mienen und flüsterten miteinander. Friedrich fühlte sich unbehaglich, ohne recht zu wissen, warum. In dieser Gesellschaft spielte er nächst Schiffmann die unbedeutendste Rolle. Sonst hatte er das nie bemerkt, weil Ernestine mit ihm zu bleiben pflegte, wenn er kam. Aber heute wandte sie keinen Blick und kein Wort an ihn. Herr Weinberger aus Brünn musste ein sehr anregender Plauderer sein.

    Noch etwas empfand Friedrich als Demütigung des Schicksals. Er und Schiffmann waren die Einzigen, die nicht im Frack oder Smoking erschienen waren, sondern im Salonrock. Dadurch waren sie auch äußerlich als die Parias des Abends gekennzeichnet. Am liebsten wäre er gegangen, aber dazu fand er nicht den Mut.

    Der große Salon war schon überfüllt. Man schien aber noch jemanden zu erwarten. Friedrich wandte sich mit einer Frage an seinen Elendsgenossen. Schiffmann wusste es auch wirklich, denn er hatte soeben eine Bemerkung der Hausfrau erlauscht.

    »Man wartet nur noch auf Grün und Blau.«

    »Wer ist das?«, fragte Friedrich.

    »Was? Sie kennen Grün und Blau nicht? Die zwei geistreichsten Menschen von Wien? Es gibt doch keine Gesellschaft, keine Hochzeit, keinen Polterabend oder was immer ohne Grün und Blau. Manche sagen, Grün ist der Geistreichere, manche sagen, Blau. Grün ist mehr auf Wortspiele eingerichtet, Blau macht sich mehr über die Leute lustig. Blau hat darum auch schon mehr Backpfeifen bekommen, aber das geniert ihn nicht. Er hat das richtige Gesicht dafür. Seine Wangen werden nicht rot, wenn man sie ohrfeigt ... In den besseren jüdischen Kreisen sind die zwei Herren sehr beliebt. Nur kann einer den anderen nicht ausstehen – natürlich, sie sind ja Konkurrenten.«

    Eine kleine Bewegung im Salon. Herr Grün war eingetreten, ein langer hagerer Mensch mit rötlichem Bart und auffallend weit vom Kopf abstehenden Ohren, die Herr Blau die »uneingesäumten Ohren« nannte, weil ihr oberer Rand nicht zur Muschel hin gefaltet war, sondern flach dalag.

    Ernestines Mutter ging dem berühmten Witzbold mit einem liebenswürdigen Vorwurf entgegen:

    »Warum kommen Sie erst jetzt, Herr Grün?«

    »Ich hab’ nicht später kommen können«, antwortete er humoristisch.

    Die es hörten, lächelten dankbar. Doch über die Züge des Humoristen flog ein Schatten: Blau war erschienen.

    Herr Blau, ein mittelgroßer Mann von etwa dreißig Jahren, hatte ein glattrasiertes Gesicht, und auf der stark gebogenen Nase saß ihm ein Kneifer.

    »Ich war im Wiedener Theater«, sagte er, »bei der Premiere. Nach dem ersten Akt bin ich gegangen.«

    Die Mitteilung erregte Interesse. Damen und Herren scharten sich um Blau, der weiter berichtete:

    »Der erste Akt ist zum allgemeinen Erstaunen nicht durchgefallen.«

    Frau Laschner rief ihrem Gatten herrisch zu:

    »Moriz, ich will morgen hingehen.«

    Blau fuhr fort:

    »Die Freunde der Librettisten haben sich ausgezeichnet unterhalten.«

    »So gut ist die Operette?«, fragte Schlesinger, der Prokurist des Baron Goldstein.

    »Nein – so schlecht!«, erklärte Blau. »Die Freunde der Verfasser unterhalten sich doch nur, wenn das Stück schlecht ist.«

    Man ging zu Tisch. Der große Speisesaal war noch zu klein für die heutige Gesellschaft. Man saß dicht gedrängt. Ernestine neben Herrn Weinberger. Friedrich und Schiffmann hatten am untersten Ende der Tafel Platz nehmen müssen.

    Anfänglich gab es mehr Tellergeklapper und Klirren von Esszeug als Gespräche. Herr Blau rief seinem Konkurrenten über den Tisch zu:

    »Grün – essen Sie nicht so laut! Man hört seinen eigenen Fisch nicht.«

    »Sie sollten keinen Fisch essen, sondern Neidhammelkeule.«

    Die Anhänger des Herrn Grün lachten über diesen Witz. Die Anhänger des Herrn Blau fanden ihn matt.

    Aber die Aufmerksamkeit der Tafelrunde wurde von den beiden Witzbolden abgelenkt, als ein älterer Herr, der neben Frau Löffler saß, mit etwas lauterer Stimme sagte:

    »Bei uns in Mähren wird die Lage auch schlecht. In den kleineren Landstädten sind die Leute wirklich in Gefahr. Sind die Deutschen schlecht aufgelegt, schlagen sie den Juden die Fenster ein. Sind die Tschechen schief gewickelt, brechen sie bei den Juden ein. Die armen Leute fangen an auszuwandern. Aber sie wissen nicht, wohin sie sollen.«

    »Moriz!«, schrie in diesem Augenblick Frau Laschner. »Ich will übermorgen ins Burgtheater.«

    »Gib jetzt Ruh!«, antwortete der Börsenmann. »Doktor Weiß erzählt uns, wie es bei ihnen in Mähren aussieht. Auf Ehre nicht schön.«

    Samuel Weinberger, der Vater des Herrn Leopold Weinberger, mischte sich ein:

    »Herr Doktor, Sie als Rabbiner sehen etwas zu schwarz.«

    »Weiß sieht immer schwarz!«, sagte einer der Spaßmacher, aber der Witz fiel ins Leere.

    Samuel Weinberger fuhr fort:

    »Ich fühl’ mich in meiner Fabrik ganz sicher. Wenn man bei mir Spektakel macht,

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