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Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938: Jüdisches Leben im historischen Tirol
Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938: Jüdisches Leben im historischen Tirol
Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938: Jüdisches Leben im historischen Tirol
eBook318 Seiten3 Stunden

Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938: Jüdisches Leben im historischen Tirol

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Über dieses E-Book

"Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938" ist ein Auszug aus dem dreiteiligen Sammelwerk "Jüdisches Leben im historischen Tirol". Die Geschichte des jüdischen Lebens im historischen Tirol, welches das heutige Trentino, Süd-, Nord- und Osttirol sowie über ein Jahrhundert lang auch Vorarlberg umfasste, ist über 700 Jahre alt.

Am Anfang dieses Titels steht ein quantitativ struktureller Überblick: Wie groß war die Gruppe von Jüdinnen und Juden im Zeitraum von 1918 bis 1938? Welche strukturellen Merkmale dieser Gruppe fallen auf, wie veränderten sie sich und warum? Im zweiten Kapitel geht es um die gewaltigen Umbrüche und die erzwungene Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg. In Nordtirol waren die Anfangsjahre der Ersten Republik eine Zeit des Hungers, der Not, der politischen Unsicherheit und vorrangig geprägt vom ? letztlich utopischen ? Kampf gegen die Abtrennung Südtirols, die im Oktober 1920 definitiv wurde. Die Zukunftsangst der Tiroler Bevölkerung manifestierte sich auch in einem heftigen rassistischen, wenngleich noch weitgehend rhetorischen Antisemitismus. Das dritte Kapitel behandelt das Tiroler Judentum als religiöse Gemeinschaft: die Kultusgemeinden Innsbruck und Meran mit ihren Institutionen, Funktionären und Aktivitäten. Das vierte Kapitel beleuchtet die Lebenswelten der jüdischen Tirolerinnen und Tiroler nördlich und südlich des Brenners: bekannte Personen und Familien, besondere Lebenswege, Berufsleben und Freizeitgestaltung. Im fünften Kapitel geht es um den jüdischen Nationalismus und den damit verbundenen neuen Stolz dieser Bevölkerungsgruppe sowie den Wunsch und den Mut, sich gegen den Antisemitismus aktiv zu verteidigen und diesen auch bewaffnet entgegenzutreten. Eine Bewegung, die jedoch nicht von allen Teilen der jüdischen Bevölkerung gutgeheißen wurde und tiefe Gräben innerhalb der jüdischen Gemeinde verursachte.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum29. Aug. 2014
ISBN9783709973431
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    Buchvorschau

    Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938 - Sabine Albrich-Falch

    Autorin

    Vom jüdischen Leben im historischen Tirol nach 1918

    Thomas Albrich

    Der verlorene Erste Weltkrieg war auch eine gravierende Zäsur für die jüdische Bevölkerung: Tirol wurde geteilt, die neue Kultusgemeinde in Meran hatte nach 1921 kaum noch Verbindungen zur Kultusgemeinde in Innsbruck. Die zwanziger Jahre waren geprägt von Antisemitismus, in Nordtirol sogar in organisierter Form durch den „Tiroler Antisemitenbund, eine Gründung von Vertretern der politischen Eliten des Landes – den Konservativen, Christlichsozialen und Großdeutschen. Auch die Landes- und Gemeindebehörden spielten mit, als es nach dem Zusammenbruch der Monarchie darum ging, den jüdischen „Altösterreichern die Staatsbürgerschaft der neuen Republik zu verweigern. Dadurch blieben viele, obwohl in Tirol geboren oder seit Jahrzehnten hier ansässig, Ausländer oder wurden zu Staatenlosen. Dies sollte Folgen haben, die das Schicksal der Betroffenen nach dem „Anschluss" 1938 mitbestimmten.

    Die jüdische Bevölkerung reagierte in der Zwischenkriegszeit auf antisemitische Anfeindungen und Ausgrenzungstendenzen auf unterschiedliche Weise: Während sie von der Mehrheit der Jüdinnen und Juden als Teil der „Normalität" empfunden und hingenommen wurden, reagierte eine Minderheit, meist Jugendliche unter Führung ehemaliger Frontoffiziere, kämpferisch. Ihre Antwort auf den Antisemitismus war der organisatorische Zusammenschluss in eigenen zionistischen Vereinen. Die Aktivitäten dieser Vereine unterschieden sich aber kaum von jenen der nichtjüdischen: Sport – vor allem Bergsteigen, Wandern und Schifahren – stand im Vordergrund. Zusätzlich gab es Unterricht in jüdischer Geschichte oder Hebräisch. All das diente hauptsächlich der Stärkung eines jüdischen Selbstbewusstseins, und nur die wenigsten dachten vor 1938 an eine Auswanderung nach Palästina.

    Die Bandbreite der politischen Ausrichtung der Tiroler Juden in der Zwischenkriegszeit war auch ein Ausdruck von Normalität und ein Spiegelbild der Gesellschaft: Obwohl mehrheitlich konservativ, reichte sie von Sozialdemokraten, die „Spanienkämpfer auf ihrem Weg unterstützten, über Liberale bis hin zu großdeutschen Befürwortern eines „Anschlusses an Deutschland. „Wir lebten wie sie, aber abseits von ihnen. So charakterisierte der 1938 aus Tirol geflüchtete Hugo Silberstein (Gad Hugo Sella) aus seiner Sicht das Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zu den Tirolern vor dem „Anschluss. Für einen Zionisten wie ihn, mit dem Bewusstsein, einem eigenen Volk anzugehören, mag die Einschätzung zutreffen. Für die Mehrheit der jüdischen Menschen in Tirol und Vorarlberg galt vor dem „Anschluss" 1938 eher nur der erste Teil seiner Aussage: Sie lebten weitgehend wie ihre nicht-jüdische Umgebung.

    Der „Anschluss Österreichs und mit ihm Tirols hatte zeitversetzt auch schwere Folgen für die Jüdinnen und Juden südlich des Brenners: Beim „Anschluss im März 1938 lebten nach heutigem Kenntnisstand rund 460 so genannte „Glaubensjuden" in Nordtirol und etwa 40 in Vorarlberg. In Südtirol, vor allem in Meran und Bozen, zählte die Kultusgemeinde mit vielen Flüchtlingen 1938 rund 800 Personen.

    Nach dem „Anschluss aktivierten die Nationalsozialisten auch in Nordtirol das in den „Nürnberger Rassengesetzen vom September 1935 festgeschriebene Konstrukt „Jude. Nun mussten sich weitere rund 200 Menschen plötzlich als „Volljuden deklarieren, die sich vorher nie als solche gefühlt hatten. Wer sich nicht selbst meldete, machte sich strafbar, da man als Jude nicht mehr als Beamter oder Angehöriger der Wehrmacht vereidigt werden durfte. Diese perfide Methode der neuen Machthaber öffnete Denunzianten Tür und Tor.

    In der Folge wurden Jüdinnen und Juden Diskriminierungen und Verfolgungen durch das NS-Regime ausgesetzt, die ihnen das Leben im nunmehrigen Gau Tirol-Vorarlberg zunehmend unerträglich machten. Ohne Ansehen der Person, ohne Rücksicht auf frühere Verdienste wurden sie mit Berufsverboten belegt, Schritt für Schritt entrechtet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Parallel zur Diskriminierung erfolgte die so genannte „Arisierung, der systematische Raub jüdischen Besitzes, von der sowohl die öffentliche Hand als auch Privatpersonen profitierten. Einige zogen die Konsequenz aus dieser neuen Lage und verübten schon in den ersten Wochen nach dem „Anschluss Selbstmord, andere wollten nicht glauben, dass es noch schlimmer kommen könnte. Menschliche Tragödien unterschiedlichen Ausmaßes spielten sich in der Folgezeit ab.

    Im Novemberpogrom, der so genannten „Reichskristallnacht" vom 9. auf den 10. November 1938, deutete sich erstmals an, was die jüdische Bevölkerung in Zukunft zu erwarten hatte. In einer Orgie der Gewalt und Brutalität überfielen in Innsbruck Rollkommandos, meist einheimische Angehörige der SS, der SA und des NSKK, die Wohnungen der nur noch wenigen noch nicht geflüchteten Jüdinnen und Juden. Die Bilanz dieser Nacht: neben einer größeren Zahl Verletzter, neben Zerstörungen und Plünderungen wurden drei Männer ermordet, darunter der Vorstand der Innsbrucker Kultusgemeinde Richard Berger, ein vierter starb einige Wochen später an seinen schweren Verletzungen.

    Der Bogen der jüdischen Lebensgeschichten aus dem Gau Tirol-Vorarlberg, die in der Shoa endeten, spannt sich von den Schwierigkeiten der orthodoxen ostjüdischen Zuwandererfamilie Nagelberg in Hohenems mit der dortigen liberalen jüdischen Gemeinde bis hin zu Robert Schüller, dem total assimilierten hochrangigen Tiroler NS-Funktionär jüdischer Herkunft, von Friedrich Reitlinger, dem konvertierten Industriellen und Politfunktionär aus Jenbach, über Rudolf Gomperz, den großdeutsch gesinnten Fremdenverkehrspionier aus St. Anton am Arlberg, bis zu Josef Lehrmann, dem kriegsversehrten Trödler in Telfs, vom Gastwirt Ivan Landauer aus Hohenems bis zur religiösen Händlerfamilie Turteltaub in Innsbruck und Dornbirn.

    Während bis zum Beginn der Massenvernichtung etwa zwei Drittel der Tiroler und Vorarlberger Jüdinnen und Juden ins Ausland flüchten konnten, traf es Anfang 1942 auch die wenigen zuvor „vergessenen alleinstehenden Frauen und Männer in so genannten „nicht-privilegierten Mischehen, d. h. kinderlosen Ehen mit „Arierinnen oder „Ariern. Sie mussten nun zwangsweise nach Wien übersiedeln und wurden von dort, wie all jene, die es nicht mehr geschafft hatten, irgendwohin zu flüchten, zuerst in Gettos in Polen, dann in die Vernichtungslager wie Treblinka, Sobibor und Auschwitz oder nach Riga und Minsk deportiert und ermordet. Nur wenige überlebten die Jahre im so genannten „Altersgetto" Theresienstadt in Böhmen.

    Zu Ostern 1943 galt im Gau Tirol-Vorarlberg plötzlich auch der Schutz durch einen „arischen Ehemann nichts mehr. Gestapo-Chef Werner Hilliges ließ im ganzen Gaugebiet Frauen, die in geschützten „privilegierten Mischehen lebten, auf Basis gefälschter „Schutzhaftbefehle ins so genannte Arbeitserziehungslager Reichenau bei Innsbruck einliefern. Vier von ihnen wurden nach Auschwitz deportiert, bevor von „oben die Einstellung der Aktion befohlen wurde. Grund für den Stopp war, dass die Machthaber schwer kalkulierbare Reaktionen von „arischen Angehörigen befürchteten. Aus den Reaktionen der Bevölkerung lässt sich erahnen, dass das Regime wohlweislich die Fähigkeit der Bevölkerung „zum Wegschauen nicht überstrapazieren wollte.

    Der Holocaust war nicht ausschließlich von einer unpersönlichen „fernen Macht" in Berlin angeordnet und exekutiert worden, sondern hatte auch willige Helfer in Nord- und Südtirol sowie in Vorarlberg: In mehreren Fällen zeigt sich, wie persönliche Initiativen und Interessen lokaler Machthaber – vom Bürgermeister oder Gestapochef bis zum Gauleiter – die Beraubung, Vertreibung und sogar Deportation erst möglich machten. Großfamilien wurden zerrissen, wobei ihre jüngeren Mitglieder meist in alle Welt vertrieben, die älteren deportiert und ermordet wurden.

    Während einige wenige Frauen die Zeit der Verfolgung als Ehefrauen „arischer Männer in dauernder Angst vor Verhaftung und Deportation im Gau überleben konnte, ist bislang kein einziger Fall eines einheimischen Juden historisch nachweisbar, der „illegal – als so genanntes „U-Boot" – im Lande die NS-Zeit im Untergrund überlebt hätte. Allerdings überlebten vier jüdische Berliner Flüchtlinge die letzten Jahre der Shoa in der Wildschönau im Tiroler Unterland.

    Nur wenige überstanden die Gettos und Lager der Nationalsozialisten und kehrten wieder nach Hause zurück. Ein Beispiel für Meran ist Walli Hoffmann, die als einzige die Deportation der Südtiroler Jüdinnen und Juden nach dem September 1943 überlebte. Nur wenige der nach 1938 Vertriebenen kehrten nach Kriegsende nach Nordtirol zurück, wie Rudolf Brüll und seine Brüder, ließen sich hier wieder nieder und gründeten erneut eine Kultusgemeinde. Ihr Kampf um Rückstellung des geraubten Besitzes dauerte jahrelang und endete oft mit unbefriedigenden Vergleichen. Die wenigen Rückkehrer nach Südtirol kämpften überhaupt vergebens um die Rückstellung der geraubten Güter. In Vorarlberg stellten sich diese Fragen nicht mehr: Die Jahrhunderte lange Geschichte der jüdischen Gemeinde war durch die Shoa endgültig beendet worden.

    Zum Abschluss möchte ich mich bei meiner Mitautorin Sabine Albrich-Falch bedanken, die nicht nur äußerst kompetent gearbeitet hat, auch wenn das ganze Unternehmen etwas länger gedauert hat, sondern mir als Herausgeber auch immer wieder zur Seite stand. Ein besonderer Dank gilt Niko Hofinger, der die Bebilderung der drei Bände souverän durchführte. Weiters möchte ich Roland Sila und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum danken, die uns vor allem die umfangreichen Bildrecherchen sehr erleichtert und sehr viel Material zur Verfügung gestellt haben. Zum Abschluss ein Dank an Verlagsleiter Markus Hatzer für die Geduld mit dem Projekt, Georg Hasibeder und Anna Stock vom Haymon Verlag für die kompetente Betreuung. Nicht zuletzt sei Esther Fritsch, der Präsidentin der IKG Innsbruck für Tirol und Vorarlberg, für ihre jahrelange Unterstützung gedankt, ebenso dem Österreichischen Nationalfonds sowie den zahlreichen teils großzügigen Geldgebern der öffentlichen Hand in Tirol, Südtirol, dem Trentino und in Vorarlberg, die das vorliegende dreibändige Buchprojekt erst möglich gemacht haben.

    Innsbruck, im Oktober 2012

    Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938

    Keine zwanzig Jahre umfasst die Epoche der Ersten Republik Österreich, beginnend mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Untergang der Donaumonarchie im November 1918, endend mit dem „Anschluss an das nationalsozialistische Deutsche Reich im März 1938. Während unter einem allgemeinen historischen Blickwinkel die Frage zu diskutieren wäre, ob der Zeitrahmen gerade auch wegen der Einbeziehung Südtirols und des Trentino nicht eher die gesamte Zwischenkriegszeit zu sein, also bis Anfang September 1939 zu reichen hätte, fällt in Hinblick auf die Geschichte der Juden die Entscheidung eindeutig schon auf den „Anschluss als Epochengrenze. Mit diesem Ereignis änderten sich schlagartig und radikal die Lebensbedingungen und Zukunftsperspektiven der jüdischen Bevölkerung im österreichischen Tirol (seit Beginn der Ersten Republik ohne Vorarlberg), aber auch in Südtirol zeigten sich rasch die Folgen: Nun kamen die Flüchtlinge nicht mehr nur aus dem „Altreich, sondern auch aus der „Ostmark, sodass den deutschsprachigen Jüdinnen und Juden in Südtirol die „Unrechtsgrenze am Brenner" durchaus als bislang verborgener Segen der Geschichte erscheinen mochte.

    Der vorliegende Beitrag folgt zwar grundsätzlich der Chronologie, doch erscheint es zweckmäßig, für diesen relativ kurzen Zeitabschnitt von knapp zwanzig Jahren eine vorwiegend thematische Gliederung in fünf große Bereiche vorzunehmen:

    Am Anfang steht ein quantitativ-struktureller Überblick: Wie groß war die uns interessierende Gruppe von Menschen im hier betrachteten Zeitraum? Welche strukturellen Merkmale dieser Gruppe fallen auf, wie veränderten sie sich und warum?

    Im zweiten Kapitel geht es um die gewaltigen Umbrüche und die erzwungene Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg. In Nordtirol waren die Anfangsjahre der Ersten Republik eine Zeit des Hungers, der Not, der politischen Unsicherheit und vorrangig geprägt vom – letztlich utopischen – Kampf gegen die Abtrennung Südtirols, die im Oktober 1920 definitiv wurde. Die Zukunftsangst der Tiroler Bevölkerung manifestierte sich auch in einem heftigen rassistischen, wenngleich noch weitgehend rhetorischen Antisemitismus. In Südtirol setzten nach einer ersten relativ minderheitenfreundlichen Zeit bald schon massive Italianisierungsmaßnahmen ein. Diese trafen zwar auch die deutschsprachigen Juden, doch war der italienische Faschismus bis Mitte der 1930er Jahre nicht antisemitisch, ja ließ sogar gewisse Sonderregelungen für die Jüdinnen und Juden in Südtirol zu, was wiederum den Antisemitismus in der dortigen Bevölkerung nährte.

    Das dritte Kapitel behandelt das Tiroler Judentum als religiöse Gemeinschaft: die Kultusgemeinden Innsbruck und Meran mit ihren Institutionen, Funktionären und Aktivitäten.

    Das vierte Kapitel beleuchtet die Lebenswelten der jüdischen Tirolerinnen und Tiroler nördlich und südlich des Brenners: bekannte Personen und Familien, besondere Lebenswege, Berufsleben und Freizeitgestaltung. Eine wichtige Rolle spielte für die gesamte Bevölkerung das Vereinsleben. So wurden auch in Tirol vor 1938 zahllose Vereine unterschiedlichster Art registriert. Diese hatten natürlich auch jüdische Mitglieder, die einerseits auf diese Weise ihre Integration und Assimilation lebten und förderten, andererseits aber gerade hier zunehmend mit Ablehnung konfrontiert wurden, als immer mehr Vereine, vor allem des sportlichen Sektors, Arierparagraphen in ihre Statuten aufnahmen und Juden ausschlossen. Daneben konstituierten sich dezidiert jüdische Vereine, die nicht nur, aber zunehmend der Wahrung jüdischer Interessen und jüdischen Selbstbewusstseins angesichts des wachsenden Antisemitismus dienten. Das galt besonders für die jüdischen Jugendvereine in Innsbruck, die vielen eine unbeschwertere Parallelwelt zum zunehmend konfliktträchtigen Umfeld in Freizeit, Schule, Beruf und Universität boten.

    Die jüdischen Reaktionen auf den wachsenden Antisemitismus und die scheiternde gesellschaftliche Assimilation waren unterschiedlich. In der erwachsenen, etablierten Generation weigerten sich viele, das Fehlschlagen der Assimilation zu akzeptieren, betrachteten den neuen rassistischen Antisemitismus nur als weitere Spielart des seit Jahrhunderten immer wieder aufflammenden Phänomens und rechneten lange – manche zu lange – nicht damit, dass diese neue Variante alles bislang Vorstellbare weit übertreffen und die radikale Rhetorik in die Tat umgesetzt werden würde.

    Vor allem unter den Jungen verbreitete sich die Hinwendung zum Judentum als Ideologie, zum Zionismus, um den es schließlich im fünften Kapitel geht. Dieser jüdische Nationalismus bewirkte neuen Stolz, den Wunsch und den Mut sich zu verteidigen und den Antisemiten aktiv und auch bewaffnet entgegen zu treten. Damit taten sich jedoch auch tiefe Gräben innerhalb der jüdischen Bevölkerung auf: einerseits zwischen Zionisten und Assimilationisten, die ersteren vorwarfen, letztlich das Selbe anzustreben wie die Antisemiten, nämlich die Aussonderung der Juden aus der Gesamtbevölkerung; zum anderen auch innerhalb der sehr heterogenen jüdischnationalen Bewegung, deren Spielarten vom linken Arbeiterzionismus über die gemäßigte Mitte der so genannten Allgemeinen Zionisten bis hin zu den radikal rechten Revisionisten und dem eigentlich in sich widersprüchlichen Konzept des religiösen Zionismus reichten. Die entschiedensten unter den Zionisten wählten schon vor dem „Anschluss Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland den Weg nach Palästina, wo sich die Perspektive eines radikal neuen Lebens in einem neuen jüdischen Land – Eretz Israel – bot. Vielen „Zionisten aus Not, die erst 1938/39 erkannten, dass sie in Nordtirol tatsächlich keine Zukunft mehr hatten, dienten Südtirol bzw. Italien als Zwischenstation auf ihrer Flucht und die frühen Pioniere in Palästina als lebensrettende Anlaufstelle – doch das gehört dann schon zum Thema des nächsten Beitrags.

    Quantitativ-struktureller Überblick

    Die quantitativ-strukturelle Betrachtung der jüdischen Tiroler Bevölkerung zur Zeit der Ersten Republik Österreich stützt sich hauptsächlich auf die seit Jahren unter der Leitung von Thomas Albrich am Institut für Zeitgeschichte aufgebaute „Biografische Datenbank zur jüdischen Bevölkerung Tirols und Vorarlbergs 1800–1945 (zitiert als „BioDat; die Kriterien für die Aufnahme einer Person in die Datenbank vor 1938 lauten: mosaisches Glaubensbekenntnis, mindestens ein Jahr in Tirol ansässig1). Zu Vergleichszwecken werden Volkszählungsergebnisse herangezogen.

    Wie viele Jüdinnen und Juden lebten hier?

    Tirol war die jüdische Bevölkerung betreffend ein reines Zuwanderungsland, denn vor 1867 war es bekanntlich nur wenigen jüdischen Familien erlaubt, sich hier niederzulassen.2 Die demografische Entwicklung in der Zwischenkriegszeit war dann „typisch für eine Zuwanderergemeinde mit abnehmender Anziehungskraft".3

    Zwischen 1918 und 1937 umfasste die jüdische Bevölkerung Tirols zwischen 400 und etwas über 500 Personen, „von denen 90% in der Landeshauptstadt Innsbruck lebten".4 Letzteres korrespondiert mit der gesamtösterreichischen Situation: Über 90% der österreichischen Jüdinnen und Juden konzentrierten sich in der Ersten Republik in der Bundeshauptstadt Wien.5 Ihre Zahl ging überall außer in Wien zwischen den Volkszählungen 1910 und 1934 zurück. In den meisten Bundesländern, so auch in Tirol und Vorarlberg, hatte die jüdische Bevölkerung bei den Volkszählungen 1900 und 1910 den höchsten Stand im 20. Jahrhundert erreicht,

    „danach war die Zahl rückläufig. Gründe dafür waren das Ausbleiben einer weiteren Zuwanderung aus den ehemaligen Kronländern und die Abwanderung der jüngeren Generation nach Wien. Die Hauptstadt bot den Jungen nicht nur bessere Chancen für den Berufseinstieg, sondern es war auch leichter eine jüdische Partnerin oder einen Partner zu finden. Außerdem war die Atmosphäre in Wien bis 1934 weltoffener und weniger von Antisemitismus durchdrungen."6

    Auszug aus der Tabelle „Die jüdische Bevölkerung in den österreichischen Bundesländern, 1869–1934":7

    In der Ersten Republik Österreich machten die Juden 2,8% der Gesamtbevölkerung aus. Die höchste, jemals offiziell festgestellte Zahl von Juden in Wien betrug 201.513 im Jahr 1923, das waren damals 10,8 Prozent der Wiener Bevölkerung von 1,868 Mio.8 In den übrigen acht Bundesländern lebten insgesamt weitere 18.695, also deutlich unter 10% der jüdischen Gesamtbevölkerung. Bis 1938 sank die Zahl der österreichischen Juden auf 185.000 – eine Reduktion von 17 Prozent in lediglich 15 Jahren.9

    Mit den über 200.000 Einwohnern, die sich selbst als jüdisch deklarierten, beherbergte Wien in den 1920er Jahren die sechstgrößte jüdische Gemeinde der Welt (nach New York, Warschau, Chicago, Philadelphia und Budapest) und lag damit auch deutlich vor Berlin mit etwa 173.000 Juden. Auch die Größe der jüdischen Bevölkerung Deutschlands lag in Relation zur Größe der Gesamtbevölkerung deutlich unter der Österreichs, die im Verhältnis etwa dreieinhalb Mal so groß war.10 Obwohl Wiens jüdische Bevölkerung bis in die 1930er Jahre die drittgrößte Europas blieb, ging sie – entgegen allen antisemitischen Fantasien – während der Ersten Republik zurück.11

    Die Tiroler Bevölkerung wuchs in der Zwischenkriegszeit relativ gleichmäßig und „im Spitzenbereich aller Bundesländer. Lediglich „im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929/30 setzte ein Schwund ein. Es gab wenig Auswanderer, aber einen deutlichen Zuzug aus dem Italien zugeschlagenen Südtirol.12 1934 hatte Tirol 348.733 Einwohner. Davon waren laut Volkszählung lediglich 365, also 0,1 Prozent Juden, wobei auf die Landeshauptstadt Innsbruck 317 Juden entfielen. Bei einer Einwohnerzahl von 60.688 waren also 0,5 Prozent der Innsbrucker und Innsbruckerinnen jüdischen Glaubens.13 Etwas andere Zahlen liefert die Datenbank, derzufolge die jüdische Tiroler Bevölkerung vom Ende des Ersten Weltkriegs bis auf ein Maximum Anfang der 1920er Jahre wuchs, um von da an mit geringen Schwankungen bis 1937 wieder zu schrumpfen.14 Im März 1938 lebten 452 Jüdinnen und Juden in Tirol, dazu etwa 40 in Vorarlberg (knapp die Hälfte davon in Hohenems).15

    Woher stammten sie, wann kamen und wann gingen sie, wie alt waren sie?

    Die Volkszählung in Wien 1923 macht deutlich, dass die Mehrzahl der Jüdinnen und Juden in Wien zugewandert war.16 Zwar war auch gut ein Viertel (25,5%) der römisch-katholischen Wienerinnen und Wiener im Ausland geboren,

    „vornehmlich in einem der ehemaligen Kronländer. Bei der jüdischen Bevölkerung war der Anteil der im damaligen Ausland Geborenen mit 57,7 Prozent mehr als doppelt so hoch. Unter der römisch-katholischen Bevölkerung Wiens stammten 18,4 Prozent aus einem der österreichischen Bundesländer, unter der jüdischen hingegen nur 4 Prozent."17

    Interessanterweise ist in Tirol – entgegen der massiven antisemitischen Propaganda um 1919 – nur in Ausnahmefällen eine direkte Zuwanderung von Ostjuden feststellbar. „Beispielsweise kamen fast alle der rund 100 in Galizien geborenen Juden erst nach einem längeren Lebensabschnitt in Wien nach Tirol. Das hatte auch Konsequenzen für das religiöse Leben in der Gemeinde: „Ein streng religiöses Leben führten nur ganz wenige Familien.18 Auf die Herkunft der Nordtiroler Jüdinnen und Juden wird später beim Problem Staatsbürgerschaft noch näher eingegangen.

    Der Großteil der Zuwanderer kam bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nach Innsbruck bzw. Tirol, danach nahm der Zuzug laufend ab. Die Abwanderung lag dagegen in der Ersten Republik gravierend über jener von davor und auch über der Zuwanderung im selben Zeitraum.

    Das Durchschnittsalter der jüdischen Gemeindemitglieder in Tirol, das 1907 noch 26 Jahre betragen hatte, stieg bis 1937 auf 38 Jahre, während es in der Tiroler Gesamtbevölkerung 1934 bei 31 Jahren lag. Vor allem jüngere Einzelpersonen und Familien wanderten in der Zwischenkriegszeit hauptsächlich nach Wien aber auch ins Ausland ab. Dadurch wurde die jüdische Gemeinde Tirols im Schnitt immer älter. „Im Jahr 1937 kann man eigentlich nicht mehr von einer Alterspyramide sprechen, da die unter 20-Jährigen nur mehr einen geringen Teil der Gemeinde ausmachen."19

    Der Bevölkerungsverlust der jüdischen Gemeinde durch Abwanderung lag weit über der Zahl der Verstorbenen, während umgekehrt der Zuwachs durch Zuwanderung deutlich über der Zahl der hier Geborenen blieb.20 Die längerfristig drohende Überalterung der jüdischen Bevölkerung war freilich nicht auf Tirol beschränkt, sondern ein gesamtösterreichisches Phänomen. Nach dem Untergang der Donaumonarchie gab es keine nennenswerte Zuwanderung mehr, und „die Geburten-Sterbe-Bilanz war – wie auch bei der nichtjüdischen Bevölkerung – eine negative".21

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