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Juden in Deutschland - Deutschland in den Juden: Neue Perspektiven
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eBook344 Seiten4 Stunden

Juden in Deutschland - Deutschland in den Juden: Neue Perspektiven

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Über dieses E-Book

Juden in Deutschland befinden sich heute an einem Wendepunkt: Die Überlebenden des Holocaust sterben und mit ihnen die authentische Erinnerung. Heute sind es die Kinder der russischsprachigen Einwanderer, die zahlreich nach Deutschland gekommen sind und hier mit großem Elan eine neue diasporische Kultur erschaffen. Auch das Umfeld jüdischen Lebens in Deutschland hat sich geändert. Durch die Einwanderung zahlreicher Türken und anderer Muslime sind Juden nicht mehr die einzige Minorität. Namhafte Autoren zeichnen ein differenziertes Bild von der deutschjüdischen Wirklichkeit im 21. Jahrhundert. Religiöse und Säkulare kommen zu Wort, Repräsentanten des deutschen Vorkriegsjudentums, nichtjüdische Deutsche und Beobachter aus Israel, Israel-Kritiker und Loyalisten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird: dass die jüdische Gemeinschaft schon lange nicht mehr monolithisch, keineswegs politisch, kulturell und religiös homogen ist. Mit Beiträgen u.a. von: Maxim Biller, Michael Brenner, Esther Dischereit, Salomon Korn, Hazel Rosenstrauch, Julius Schoeps, Tom Segev, Moshe Zuckermann
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2012
ISBN9783835321151
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    Buchvorschau

    Juden in Deutschland - Deutschland in den Juden - Wallstein Verlag

    2009

    Was haben die Überlebensprobleme jüdischer Leute mit Thilo Sarrazin, dem Islam oder dem Nationalgefühl einer deutschen Autorin zu tun?

    ESTHER DISCHEREIT

    Wir treffen uns – die Familie trifft sich. Das ist nicht so, wie sich Familien treffen, also nicht der Rede wert und mindestens immer an Feiertagen. Nein, wir treffen uns fast nie; auch jetzt sind wir nicht vollständig, das geht natürlich nicht; aber nicht, weil wir zerstritten wären oder so viele. Meine Großeltern mütterlicherseits waren Vollwaisen, und – sie waren Juden, jüdische Deutsche. Sie lebten mit ihren beiden Töchtern in Berlin, in der Schönhauser Allee; eine Tochter – die später meine Mutter werden sollte – war schon verheiratet, sie hatte einen jüdischen Mann; die beiden hatten ein Kind zusammen, als die Nationalsozialisten in Deutschland bereits an der Macht waren. Meiner Mutter gelang es, dafür zu sorgen, dass ihre Eltern, sie selbst und das Kind – auch ihr Mann – untertauchten, den Deportationsbescheiden nicht Folge leisteten, und schließlich überlebten sie. Die Schwester, die Senta hieß und sich später Jessie nannte, schloss sich ihrem damaligen Freund an und beide bestiegen ein Schiff nach Shanghai.

    Wahrscheinlich betrieben die Großeltern eine kleine Schneiderstube in der eigenen Wohnung. Jedenfalls ist das der Auflistung ihres Hausstands in den Arisierungsakten der Oberfinanzdirektion Berlin-Brandenburg zu entnehmen, in der u. a. eine Modellpuppe verzeichnet ist.

    »Die Heiligkeit unseres Friedens wird kommen / den rauhe Gewalt uns fortgenommen / Das Gute, es bricht sich Bahn / und zerschellen muß teuflischer Wahn / Solange wie Menschen auf Erden / Wird uns Gerechtigkeit werden / Und so wissen wir um den Sieg / Und rechtzeitiges Ende dem Teufelskrieg.«¹

    Ich zitiere aus einem nachgelassenen Gedicht von Hella Zacharias , geborene Freundlich, meiner Mutter. Es dauerte lange bis zu jener Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit begegnete den »illegal« Untergetauchten in einem Ort mit Namen Herleshausen in Deutschland. Die Gerechtigkeit kam über ein Feld, nachdem die Ketten der Panzerfahrzeuge zur Ruhe gekommen waren und amerikanische Soldaten abstiegen. Mutter und Tochter gingen der Gerechtigkeit entgegen und waren befreit, hinter ihnen im Bunker warteten andere Mütter und Töchter und manchmal auch Väter und Brüder, die waren jetzt besiegt.

    Für die Familie hatten diese Jahre eine Beschädigung an Leib und Leben mit sich gebracht, das ist die Rubrik im Beantragungsbogen für die damals sogenannte Wieder-gutmachungsleistung. Hinter den Worten Leib und Leben liegen die Worte Zwangsarbeit und IG Farben, Ausbildungsverbot, Cortisontropfen, Gallenversagen, Gelderpressung, sexuelle Erpressung, aufgescheuerte Kinderfüße, Schulbuch im Versteck, fehlende Lebensmittelmarken, Winterhilfswerk, bei Nacht durch den Tiergarten gerannt, Bett für zwei Tage und weiter – und – Rainer Maria Rilke. Hier als Synonym gebraucht für das Wort: Sehnsucht. Die Ehe ging nach 1945 auseinander, nachdem alle überlebt hatten. Das Über-leben überhaupt war unwahrscheinlich und blieb wundersam.

    Meine Mutter heiratete erneut, bekam zwei Kinder, meine Schwester und mich, wurde geschieden und hätte vielleicht in hohem Alter hier unter uns sitzen können, wenn sie nicht früh an einem Autounfall gestorben wäre. Dieses Kind, das sie mit ihrem ersten jüdischen Mann hatte, ist meine Schwester, der Mensch davor und wir, meine andere Schwester und ich, wir sind die danach: die Kinder aus zweiter Ehe, mit dem nichtjüdischen Mann – wo hätten jüdische auch sein sollen? Bestimmt waren sie in den DP-Lagern. Aber die waren nicht für Deutsche …

    Mein Vater war weder Widerstandskämpfer noch Jude, sondern aus Ostpreußen. Und studierte in Wien Medi zin. Als Direktor einer psychiatrischen Anstalt war er dafür verantwortlich , dass die Akten über Täter und Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie« verschwanden. Das muss in den Siebzigerjahren gewesen sein. Außerdem trat er nach der Scheidung seiner Ehe in die sozialdemokratische Partei ein und wurde Kommunalpolitiker, weswegen meine Mutter in dieser Partei eine kriminelle Vereinigung vermutete …

    Es ist schwer geworden, im Erinnerungsbusiness zwischen Inszenierung und Inszenierung zu unterscheiden. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin auch drin. Das erinnert mich an Georg Elser, der am 8. November 1939 ein Attentat auf Hitler verübte, das leider scheiterte und von dem mit besonderem Nachdruck gesagt wird, er habe nun wahrlich nicht mit den Engländern zusammengearbeitet.

    Ich lese in den hinterlassenen Briefen meiner Mutter. »Ich hatte einen Traum: Er war wie ein Tedeum! Ich sah den Hitler aufgehängt im Britischen Museum. Den Kopf voll Stroh, die Augen leer. Es war ja nur ein Traum …! Ach, wenn’s doch Wahrheit wär.«² Da sind sie wieder die Briten. Und Mama mangelte es offenbar an deutschem Nationalstolz.

    Dieser Exkurs zum Nationalgefühl muss etwas mit den Gefühlen zu tun haben, die sich auch dann einstellen, wenn sich der Geschichtsunterricht so intensiv um die Nachzeichnung des Kriegsverlaufs bemüht. Meine beiden Töchter erzielten, als die Ära Nationalsozialismus geprüft wurde, die mit Abstand schlechteste Note. Sie hatten bei den Fragen, die zum Kriegsverlauf gestellt wurden, über die Judenvernichtung berichtet, wonach nicht gefragt worden war. Das Thema war verfehlt.

    Zwischen der Tante aus Shanghai und Mama scheint es einen unausgetragenen Überlebenszwist gegeben zu haben. Während die eine der anderen die bessere Schulbildung nachtrug, schien jene damit beschäftigt, dass ihrem Schicksal während der Verfolgung keine oder nicht genügend Anteilnahme zuteil wurde. »Überlebende« nannte sich keine der beiden Schwestern und auch nicht die Großeltern. Diese Bezeichnung hielten sie ausschließlich für solche ihrer Leidensgenossinnen und -genossen zurück, die in Konzentra-tionslagern gewesen waren. Mit dem Schiff nach Shanghai? Zusammen mit dem jungen Mann, in den sie sich verliebt hatte. Die hatte es gut gehabt!? Erst mit Ulrike Oettingers »Exil Shanghai« (1997) begriff ich und es tat mir leid.

    Meine Schwester und ich beneideten die anderen um ihre Tanten und Onkel, auch um die Querelen, die sie miteinander hatten, um ihre Samstagnachmittags-Kaffees und Kuchen -Veranstaltungen, weil schon wieder jemand Geburtstag hatte. Wir hatten das nicht. Wir hörten von jemandem aus Argentinien, mag sein, dass es auch einmal einen Brief von noch woanders gegeben haben mag. Die Schwester meiner Mutter hatte nach Kriegsende in die USA emigrieren können. Sie schmückte ihre Kartengrüße mit Abziehbildern unbekannter Puppenfiguren. Das Vorgedruckte half. Sie schrieb wenig, um Liebevolles bemüht. Immer stärker trat das Englische hervor, bis schließlich gar keine deutschen Satzfetzen mehr übrig blieben. Die Großeltern überstanden die Nazizeit als Untergetauchte und traten krank geworden schließlich die Emigration zu ihr an. Die Tante schrieb mir, der erwachsenen Nichte, noch immer diese Kinderkarten. Wir haben uns nicht gesehen. Die Großeltern sandten »kisses«.

    Während ich in einer deutschen kleinen oder mittelgroßen Stadt einerseits im ideellen Welten-Wissen lebte, schrumpfte der Kosmos des täglich Realen auf wenige Quadratmeter mit Stockbetten – ich entwickelte ein Heimatgefühl von der Größe einer Briefmarke, für die mit Spannung erwarteten Briefe, deren Zustellung manchmal länger als eine Woche dauerte.

    Meine Geschwister haben sich viele Jahre in Ausländern aufgehalten, die Älteste hat ihre Kinder in Italien geboren – einen Mann geheiratet, der American, Choktaw und überdies ein wundervoller Sänger ist –, die andere hat es ihr nachgetan. In ihren Familien herrschen nicht nur babylonische Sprach-, sondern auch verwirrende Passverhältnisse. Den Kindern werden in den ersten Lebensjahren Bücher in der unbekannten Sprache vorgelesen und sie werden mit fremd schmeckenden Speisen erschreckt. Die abwesenden Kultur- und Sprachfragmente werden vergessen und gelegentlich gesucht. Manchmal regelrecht beschworen. Andere mögen hier eine viel längere Tradition in diesen Dingen haben: beispielsweise gewinnbringend in der österreichischen Fu sionsküche . Was wir und andere aber nicht meistern können , sind die juristischen Barrieren. Kinder, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, sollen sich für die eine oder andere Staatsbürgerschaft entscheiden und der eine in der Familie wird dem anderen ein Visumsproblem. Dieser Optionszwang gehört abgeschafft. Er ist nicht nur für Familien überholt, die aus Verfolgungsgründen mehrstaatlich sind, sondern auch für Menschen, die aus vielerlei anderen Gründen zwischen den Welten hin- und hergehen. Ganz anders stellt sich die Situation für jene 80.000 Menschen dar, die überhaupt nicht hin- und hergehen dürfen, die in der Bundes republik seit Jahren in Lagern und nicht in Freiheit leben, verdorbene Esspakete empfangen und sich nicht ausbilden oder eine Arbeit annehmen dürfen. Dieser Lagerzwang gehört abgeschafft, damit die 19-jährige Nissrin Ali und Felleke Bahiru Kum, um den Betroffenen wenigstens zwei Namen zu geben, menschenwürdig b l e i b e n können und nicht wie Stücke, die irgendwohin verbracht werden.

    Ich durfte als Deutsche einem österreichischen Verband beitreten, was ich bemerkenswert finde, dem Verband der Dramatischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller Österreichs. Aus deutsch-deutschen Vereinigungsgründen wurde dieser mir der einzige Ort, dem ich zugehöre – ebenso wie Amnesty International, was wieder eine andere Sache ist und damit zu tun hat, dass ich dazu neigte, einer Minderheit anzugehören, die eine Mehrheit verlässt –, wobei die Mehr-heiten dazu neigen, zu bleiben. Amnesty International begreife ich als Anwältin von Minderheiten, von jener oder jenem, den einzelnen, die für Menschenrechte unterwegs sind. […]

    Schreiben, wo andere Gewehre haben? Ich zeige meine leeren Hände. Ich habe ein Wort und ein anderes Wort und sonst nichts, und ich weiß, dass das nicht viel ist. Nicht viel angesichts des fortschreitenden Baus weiterer Siedlungen in den von Israel besetzten Gebieten. Nicht viel angesichts der palästinensischen Katastrophe, die so genannt gehört. Aber da taugt mein Stift nicht mehr oder weniger als der eines jeden anderen Citoyen. Das Politische kann ja im Gegenteil auch eine Unfreiheit sein, die das Schreiben verschnürt oder umwidmet wie eine fortdauernde Grabsteininschrift. Niemand wusste das besser als Mahmud Darwisch, der große Dichter aus Ramallah, der die Stimme des Anderen hörte, der Paul Celan aufnahm und verstand, in der eigenen Arbeit auch diesem Anderen Atem gab, während er ihm selbst schwer wurde.³ Ich erinnere an Erich Fried, der bemerkte, dass ein Gedicht, das nur politisch sein will, Gefahr läuft, zu verarmen.⁴

    Mein Schreiben hat wenig von Kampf und Politik, auch wenn es gelegentlich deutliche politische Worte gibt; eher handelt es sich um Übungen zur Wahrnehmung von Stimmen und Gerüchen. Wie zum Beispiel und mit welchen Worten trete ich am kommenden Dienstag in die Gözleme-Bäckerei in Moabit in Berlin ein. Mein Gözleme kostet 1,90 Euro, dazu bestelle ich einen Tee für 1,20 Euro, den mir der Hausherr hin und wieder ganz und gar grundlos auf die Hälfte berechnet. Es wäre an diesem Vorgang nichts weiter mitteilenswert, wenn nicht die Frau des Gözleme-Bäckers, die eigentlich Zuständige für das Backen, immerfort ein Kopftuch trüge. In Deutschland hat unlängst ein ehemals politische Verantwortung tragender Sozialdemokrat, Herr Sarrazin, bevor auch er ins Finanzgeschäft überwechselte, sich abfällig gegen die Welt der – wie er sagte – Kopftuchmädchen geäußert, die zu wenig mehr imstande seien als zu Gemüseständen und Döner-Bistros. Ich hingegen bzw. meine Figur ist eine aufgeklärte, nicht religiöse Person, trug niemals eine Kippa, auch nicht aus feministischen Gründen – meine Erzählfigur macht sich gemein mit jenen sozial Depravierten, die offensichtlich noch von Handarbeit leben. Sie sitzt mitten im Sprachfremden und isst – hinter dem Herd die Schriftzeichen eines anderen Propheten. Wahrscheinlich hat die essende Figur einen hochqualifizierten Bildungsabschluss. Falls diese Familie einen Sohn oder noch ein »Kopftuchmädchen« hätte, müsste sie vermuten, dass diese weniger gut Deutsch sprächen als sie selbst. Alle diese Indizien sprechen dafür, dass hier eine Anfälligkeit gegenüber Kriminalität, politischem oder religiös motiviertem Terrorismus und eine eklatante Disposition zur Grundgesetzentwertung vermutet werden könnte. Ist es nicht so? Dieses Problem stellt sich bei einer Currywurst im Berliner Bezirk Schöneweide schon deshalb nicht, weil meine Hauptfigur lieber Döner isst. Wenn ich nun das Grundgesetz und die Verfassung der EU betrachte, muss ich feststellen, hier herrscht ein Diskriminierungsverbot auf säkularer Basis, einschließlich des Gebots der Freiheit zur Religionsausübung, weswegen meine Hauptperson, nachdem sie die Frage, ob Gözleme mit Butter serviert werden soll, bejaht hat, zu dem Schluss kommt: Der Islam gehört nicht nur zum Grundgesetz, sondern auch zu Europa. Vor Jahrhunderten war ein Aufruf an die Juden ergangen, das »Mauscheln«, gemeint war die eigene Sprache, einzustellen, sich in Kleidung, Haarund Barttracht anzupassen und zu konvertieren. Wie aber kann aus Haltungen Literatur werden? »Gutmenschen« und »Multi-Kulti-Gestrige« stehen als Synonyme für blöd, alt und naiv bereits in der Arena der Wortkämpfer. Literaten und Journalisten sind dem Populisten sofort an die Seite gesprungen, wie überaus mutig der gewesen sei. Dabei unterscheidet den Akteur diesmal von Haider oder Berlusconi eben nur die sozialdemokratische Parteizugehörigkeit. Übrigens hatte sich der Zentralrat der Juden in Deutschland sofort mit der Gemeinschaft der Muslime solidarisiert, was ich für einen bemerkenswerten und sehr richtigen Schritt halte.

    Persönlich habe ich nichts gegen gute Menschen, ich habe sogar gelegentlich selbst versucht, gut zu sein. Eine Textilfirma stellt bereits »Mono-Kult«-Träger her, die man sich am Hosenbund befestigen kann – das Beste, seitdem es das Schlüsselband »Kein Sex mit Nazis« gegeben hat. Allerdings ist die Zielgruppe jetzt eine andere. Die Hauptfigur nimmt sich vor, einmal mit den Leuten zu sprechen, damit sie ihre Kinder ordentlich erziehen. Immer öfter geht sie Gözleme essen – es ist klar, die Figur bildet ein Helfersyndrom aus. »Postkolonial« ist für die Poesie so verloren wie »diskriminierungssensibel«, wie »afro-deutsch« oder »jüdische Herkunft«, »Identität« – ist gar nicht auszudenken. Wie dieses Problem gelöst werden kann, bitte ich in dem Aufsatz »Ein Tag. Oder ein Tag«⁵ nachzulesen, der eine längere Passage über jüdische Fragen, Eisbein und Hackepeter enthält. Im vorigen Frühjahr bin ich in einer österreichischen Gaststätte beim Lesen des Angebots von billigem Zigeuner-Mops oder Zigeuner-Rollis darüber ins Grübeln gekommen, ob hier auch Judenbrot angeboten und ob das dann würzig oder fad sein würde.

    Jetzt ist es natürlich nicht so, dass mir vor lauter Nachdenken über das politisch korrekte Sprechen eben nur noch wenige Worte oder Texte einfallen, aber es ist doch eine Herausforderung, nachzuschauen, ob das, was ich für gewöhnlich rede, möglicherweise anstrengend weiß oder welten-ignorant ist, um nicht zu sagen, rassistisch. Es ist auch deshalb sehr bildend, an den Poesie-Festivals an anderen Enden der Welt teilnehmen zu dürfen – da, wo ich selbst als Weiße und Europäerin Minderheit bin. Ich gehöre also zu den Leuten, die durchaus möchten, dass statt von Mohrenkopf von Schokokuss geredet wird und die nicht der Meinung sind, dass alles seine Richtigkeit habe, weil wir es im Herzen doch anders meinten. Diese Empfindlichkeit hat mit der von Geburt an geübten Übung des Nachhörens zu tun – wie war das, klang das, als jemand »Jude« sagte, bloß »Jude« – das reicht, um nachzuhören – Gefahr zu hören – Beleidigung zu hören – und weil ich das nicht wissen kann, was gesagt ist, wenn das Wort »Jude« gesagt ist, höre ich »nach« – einmal, zweimal, mehrmals, oft, immer … manchmal verselbständigt sich das Wort, es fliegt durch den Raum wie ein Geschoss … und je weiter ich mich entfernte von jenem Datum 1945, desto häufiger schien ich mich zu irren und ich bekämpfte diese Manie des Nachhörens. Und höre nach.

    Anmerkungen:

    1  Esther Dischereit. Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte. Frankfurt am Main 1988. Erstauflage, S. 32.

    2  Ebenda.

    3  Siehe Angelika Neuwirth. Vexierbilder. Mahmud Darwish zwischen hebräischem und arabischem Literaturkanon, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, hg. von Michael Krüger, Heft 5, Oktober 2009, München, S. 411 ff.

    4  Vgl. Erich Fried. Alles Liebe und Schöne, Freiheit und Glück. Briefe von und an Erich Fried. Berlin 2009, S. 80.

    5  Esther Dischereit. Ein Tag. Oder ein Tag, in: Mit Eichmann an der Börse. Berlin 2001, S. 7-13.

    Le Grand Hotel Motke

    DALIA WISSGOTT-MONETA

    Vor 20 Jahren wurde im belgischen Seebad Knokke »Le Grand Hotel« geschlossen.

    Aber kein Mensch sagte »Le Grand Hotel«. Man sagte »Chez Motke«. Man wohnte bei Motke. Man, das waren Juden aus Antwerpen und Brüssel, aus Paris, aus London und auch aus Frankfurt am Main und in späteren Jahren Juden aus den USA, die heimwehkrank nach ihrer alten Heimat waren. Motke, das ist mein Onkel Mordechai Weinberger, der Mann meiner inzwischen verstorbenen Tante Thea, die »Madame Motke« genannt wurde, aber in Wirklichkeit Thea Taube Weinberger hieß, geborene Langermann, und die Schwester meiner Mutter war und mit ihr die einzige Überlebende der großen Familie Langermann. Monsieur und Madame Motke haben das Grand Hotel 1952 eröffnet. Seitdem war es jahrelang Saison für Saison voll bis unters Dach und die Saison ging von Pessach bis Simcha-Thora.

    Das »Motke« war ein koscheres Hotel und stand unter der Oberaufsicht des Rabbiners von Antwerpen. Es befand sich direkt am Zeedijk, dort wo die Avenue Lippens endet und dann links. Die Avenue Lippens, flämisch Lippenslaan, ist so etwas wie die Champs-Élysées von Knokke. Und wo die Lippenslaan mit ihren Geschäften aufhört, fängt das Meer an. Meine Mutter sagte, Knokke, das sei so viel Natur, wie Juden ertragen können. Und wäre der Strand nicht gewesen mit dem Wind, der einem immer den Sand ins Gesicht blies und das Meer mit seinen Wellen, dann hätten wir Kinder aus dem Grand Hotel Motke geglaubt, Knokke bestünde nur aus diesen wunderbaren belgischen Waffeln mit Schlagsahne und aus Fritten und dem Luna-Park an der Ecke. Im Luna-Park konnte man Plastikbären in einem Glaskasten schießen oder flippern und Plastikkugeln gewinnen mit Kaugummi drin.

    Das Hotel war voller Mütter mit ihren Kindern und meine Cousins und ihre Freunde waren dort. Damals wusste ich noch nicht, dass meine großen Cousins, die schon zwölf und neun waren, als ich erst eben laufen und sprechen konnte, dass sie und die anderen großen Jungen und Mädchen zweimal geboren worden waren. Ich hörte die Worte »versteckt überlebt«, während wir Kinder durch die Hotelhalle tobten und die Erwachsenen völlig vergeblich »psst« oder »schscht« sagten, hörte Worte wie »deportiert«, »umgekommen«, »Waisenhaus« und bei unseren Spaziergängen mit unseren Müttern, wenn wir unsere Kleider und Hosen zerrissen auf dem Deich, den wir als Rutschbahn von der Promenade zum Strand benutzten, hörten wir, dass Kinder ihre Eltern und Eltern ihre Kinder wiedergefunden oder verloren hatten.

    Andere Kinder wurden von ihren Eltern verhauen, wenn sie sich die Hosen auf dem Deich zerrissen. Wir Kinder aus dem Motke nicht. Unsere Mütter bekamen es mit den Nerven, wenn wir zu nah am Meer spielten oder auf den schwarzen Wellenbrechern herumkletterten oder uns gegenseitig im Sand vergruben. Dafür wurde uns von den Erwachsenen im Hotel, wenn wir durch die Hotelhalle rannten und quer durch den Bridgesalon, in die Backen gekniffen vor lauter Liebe, bis wir blaue Flecken hatten. Das wurde »Kneip in Bäckerlach« genannt und ich war mit meinen Pausbäckchen ein gerne und oft gekniffenes Kind. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich nicht lieber auf die Nervenkrisen und Kneip in Bäckerlach verzichtet hätte zugunsten einer »fessée«, einem versohlten Hintern.

    Außer den Dingen, die unsere Mütter zu Nervenkrisen brachten, konnte man in Knokke als Kind einiges tun. Man konnte auf Pedalos zu viert auf der Promenade herumfahren, am Strand Löcher graben und Burgen bauen und nach einer bestimmten Sorte Muscheln suchen, den langgezogenen mit zackigen Rändern, »couteaux«, Messer genannt, gegen die man Papierblumen eintauschen konnte, die man dann auf kleine Sandwälle steckte und wieder gegen couteaux eintauschte. Vergeblich versuchten wir unsere Mütter dazu zu überreden, wie die anderen Mütter aus farbigem Krepp-Papier und Draht Papierblumen zu basteln, damit wir denselben Vorteil hätten wie die anderen Kinder. Da war wenig zu machen. Die Mütter aus dem Motke gehörten nicht zu der bastelnden Sorte und so blieb uns nur das Sammeln der couteaux, um unsere von anderen Müttern gebastelten Schätze zu vermehren.

    Aber ich hatte Maria aus der Küche, die verrückte Maria, Maria la folle, die polnische Maria, die der alte Monsieur Hoffman, der an der Rezeption saß, aus einem Ort mitgenommen hatte, dessen Name immer so ausgesprochen wurde, dass wir ganz starr und stumm wurden und den wir selbst nur ganz leise nannten, ohne zu wissen, was es war, dieses Auschwitz. Maria war von Monsieur Hoffman aus diesem Ort mitgebracht worden, weil sie ihre Eltern verloren hatte und sie war damals noch ein Kind. Ich wusste nicht, dass das erst zehn oder elf Jahre her war, und dachte, es sei ungefähr vor hundert Jahren gewesen, weil Maria uralt aussah und Monsieur Hoffman sah noch viel älter aus.

    Maria bastelte auf dem langen Tresen des tea rooms, singend und vor sich hin brabbelnd, die schönsten Blumen für mich, sie zauberte sie aus ihren Händen und zwischendurch servierte sie, wild gestikulierend, den Gästen im tea room den Honigkuchen und den Käsekuchen, für den das »Motke« genauso berühmt war wie für seinen Tscholent und seinen gefilten Fisch. Denn mein Onkel Motke war gelernter Bäcker und Konditor und buk in der Backstube unten im Keller alles selbst und seine duftende Challe und sein deftiges Kümmelbrot sind unvergessen. Die Gäste fühlten sich von Marias Verrücktheit nicht gestört und so hatte ich auch keine Angst vor ihrer Heftigkeit und ihren Ausbrüchen in einer unverständlichen Sprache. Ich dachte, sie sei verrückt, weil sie nicht richtig sprechen konnte wie alle anderen, französisch, deutsch oder jiddisch oder wenigstens flämisch. Meine Mutter erklärte mir, dass Maria polnisch spricht und verrückt sei, weil sie noch ein kleines Kind war, als sie ihre Eltern verloren hatte.

    Manches Mal durfte ich in die Küche und meiner Tante Thea, die dort das Regiment führte, zuschauen, wie sie die Suppe kochte. Da lagen die vielen geschlachteten und ausgebluteten Hühner zum Rupfen bereit, es wurde noch alles mit der Hand gemacht, sie wurden ausgenommen und ich sah ihre Leber, ihre Mägen, die groß waren und voll von goldfarbenem Getreide, das meine Tante mit den Küchenarbeiterinnen herausholte, ich sah ihre Herzen und die ungelegten Eier in ihrem Inneren. Sie wurden überbrüht und mitsamt ihren gelben Füßen in die großen Bottiche geworfen, in denen sie gekocht wurden. Wenn das Eiweiß abgeschöpft war und das Gemüse dazu kam, roch die gesamte fleischige Küche nach der Hühnersuppe, die ich liebte und die mich wärmte, wenn mir im Bauch kalt war. »Mir ist so fremd« sagte ich dann und stellte mir vor, wie das sei, wenn man sich verläuft und die Mutter verliert und nicht wiederfindet. Und dann gab es Hühnersuppe, die meine Tante »golden Joich« nannte und die sie bei allen körperlichen und seelischen Schmerzen als Medizin empfahl. Danach durfte ich stundenlang keine Milchschokolade essen. Das war verboten.

    Im Grand Hotel meiner Tante und meines Onkels erfuhr ich von diesen wunderbaren Verboten, die ich nicht kannte und die mir wie Beschwörungen aus Märchen vorkamen. Ich durfte Fleischiges mit Milchigem nicht zusammen essen und keine Schalentiere, die ich so gerne aß, am Schabbes durfte ich nicht mit dem Aufzug fahren und keinen Lichtschalter berühren, auch kein Radio hören, nichts kaufen, noch nicht mal

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