Aus dieser schweren Zeit: Eine Jüdin aus Jever berichtet über ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Rettung durch den "Transport 222" vom KZ Bergen-Belsen 1944 nach Palästina
Von Änne Gröschler
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Über dieses E-Book
Die beeindruckende Frau zeichnete unmittelbar nach ihrer Rettung trotz aller Demütigungen und Verluste ein differenziertes Bild der nationalsozialistischen Ära. Sie hat uns ein einzigartiges Dokument hinterlassen.
Themen: die Verfolgung der Juden und die Flucht in die Niederlande, der Überfall Deutschlands 1940, das verratene Versteck, die Haft im Lager Westerbork, die drohende Deportation nach Auschwitz, die Leiden in Bergen-Belsen und die rettende Zugfahrt in die Freiheit.
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Aus dieser schweren Zeit - Änne Gröschler
Änne Gröschler
Aus dieser schweren Zeit
Eine Jüdin aus Jever berichtet über ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Rettung durch den „Transport 222" vom KZ Bergen-Belsen 1944 nach Palästina
Herausgegeben und eingeleitet
von Hartmut Peters
FUEGO
- Über dieses Buch -
Änne Gröschler (1888 – 1982) aus der norddeutschen Kleinstadt Jever, entkam dem Holocaust durch den „Transport 222". Dieser führte im Jahr 1944 sogenannte Austauschjuden aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen in das britische Mandatsgebiet Palästina.
Die beeindruckende Frau zeichnete unmittelbar nach ihrer Rettung trotz aller Demütigungen und Verluste ein differenziertes Bild der nationalsozialistischen Ära. Sie hat uns ein einzigartiges Dokument hinterlassen.
Themen: die Verfolgung der Juden und die Flucht in die Niederlande, der Überfall Deutschlands 1940, das verratene Versteck, die Haft im Lager Westerbork, die drohende Deportation nach Auschwitz, die Leiden in Bergen-Belsen und die rettende Zugfahrt in die Freiheit.
Einleitung
Der „Transport 222 führte im Juli 1944 die deutsche Jüdin Änne Gröschler aus einem Konzentrationslager der SS nach Palästina – in die „nationale Heimstätte der Juden
im Machtbereich des deutschen Kriegsgegners Großbritannien. Die Rettung mit einem Eisenbahntransport von Celle nach Haifa gleicht einem Mirakel und fand statt, als der Holocaust in Auschwitz mit der Ermordung der ungarischen Juden seinen Höhepunkt erreichte. Es existieren nur wenige Augenzeugenberichte über diese Fahrt¹. Kein anderer Bericht dokumentiert so umfassend auch die Stationen davor, die Änne Gröschler im nationalsozialistischen Deutschland, in den Niederlanden vor und nach der Okkupation, im Durchgangslager Westerbork und im Konzentrations- und Austauschlager Bergen-Belsen durchleiden musste.
Wir erfahren, wie eine Frau den sozialen Abstieg von der hofierten Honoratioren-Gattin zur „Judenziege, zu einem zur Vernichtung bestimmten „Untermenschen
empfunden und verarbeitet hat. Präzise schildert Änne Gröschler, wie sie den Alltag in der antisemitisch geprägten Kleinstadt Jever und in den anfangs toleranten Niederlanden, das Lagerleben und -sterben und die spannungsreiche, am Schluss fast festliche Fahrt in die Freiheit erlebt hat. Aber nicht die vielen, bisher unbekannten Fakten sind das eigentlich Besondere, sondern die Zwischentöne des persönlichen Schreibstils. Diese erschließen dem Leser den Menschen hinter den Ereignissen. Änne Gröschler besaß Stärke, Stolz und Zuversicht und lehnte die ihr zugedachte Opferrolle ab. Gleichzeitig werden die Wunden deutlich, die ihr die rassistische Gewaltpolitik Deutschlands geschlagen hat. Die sprachlich gewandte Chronistin hat trotz aller Demütigungen und Verluste ein dennoch differenziertes Bild der Zeit, auch der Täter, gezeichnet und ein einzigartiges Dokument hinterlassen.
Der Bericht über die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1944 war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung, sondern zur persönlichen Bewältigung der traumatischen Erfahrungen und zur Information der Familie gedacht. Er ist jedoch von allgemeiner Bedeutung und wird, mit Erlaubnis der Enkel und Enkelinnen der Verfasserin, veröffentlicht.
Coverbild1 | Änne Gröschler, um 1930
Biografische Notizen und Inhalt des Berichts
Änne Gröschler kam am 16. August 1888 in Osnabrück als Tochter von Bernhard (1858 – 1931) und Friederike Steinfeld geb. Cohen (1863 – 1935) zur Welt. Steinfeld besaß seit 1891 in der Osnabrücker Innenstadt, im klassizistischen Haus Lodtmann, ein Geschäft für „Manufactur-Modewaren und Confection. Änne heiratete am 26. April 1914 in Jever Hermann Gröschler (1880 Jever –1944 KZ Bergen-Belsen), der zusammen mit seinem jüngeren Bruder Julius (1884 Jever – 1944 Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau) die vom Vater Simon Gröschler gegründete, regional bedeutende Rohprodukten- und Altwarenhandelsfirma „Simon Gröschler KG
leitete. Die Firma hatte an der Albanistraße 1 in Jever ihren Betriebssitz und beschäftigte noch 1938 acht Mitarbeiter. Für einige selbst entwickelte Verfahren zur Wiedergewinnung von Rohstoffen bestanden Patente.
2 | Friederike (1863-1935) und Bernhard Steinfeld (1858-1931), die Eltern von Änne Gröschler in Osnabrück, um 1900
Hermann Gröschler war seit 1923 Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Jever, die 1933 etwa 110 Mitglieder zählte. Außerdem gehörte er bis zu seinem Ausschluss durch die Nationalsozialisten im März 1933 dem Rat der Stadt Jever an (Fraktion der Deutschen Demokratischen Partei bzw. der Deutschen Staatspartei). Der liberale Demokrat erhob in Leserbriefen an die örtliche Tageszeitung „Jeversches Wochenblatt" schon Mitte der 1920er Jahre seine Stimme gegen den aufkommenden Antisemitismus in Jever. Er bekleidete zahlreiche Ehrenämter wie etwa den Vorsitz des lokalen Arbeitgeberverbandes und war in den Vorständen des Arbeitsamts der Jadestädte Wilhelmshaven/Rüstringen und der Städtischen Sparkasse Jever vertreten.
Foto3 | Hermann Gröschler, um 1930
Die wohlhabende Familie zählte zu den Honoratioren der damals rund 6.000 Einwohner zählenden friesischen Klein- und Kreisstadt und blieb wohl deshalb zunächst von direkten persönlichen Anfeindungen weitgehend verschont. Jever und das agrarisch geprägte Umland waren bereits seit Beginn der 1920er Jahre eine Hochburg der völkischen Bewegung, in der die ersten Nationalsozialisten eine wichtige Rolle einnahmen, und ab 1928/29 der NSDAP. Bereits bei den Reichstagswahlen von Mai 1924 erzielte hier der Völkisch-Soziale Block eines seiner Spitzenergebnisse: 22,6 Prozent der Stimmen, bei 6,6 Prozent Zustimmung im gesamten Reich. Im März 1933 kam die NSDAP auf 60,1 Prozent, während sie insgesamt bei 43,9 lag. Änne Gröschler stellt in ihrem Bericht eindringlich dar, wie die Idylle der Weimarer Republik sich nach der Machtübertragung an die NSDAP umgehend als Scheinwelt entlarvte und in einen Mikrokosmos der Gehässigkeiten überging.
Aus der Ehe stammen die Kinder Käthe (1915 Jever – 2002 Groningen), Gertrud (1917 Osnabrück – 2000 London) und Walter (1922 Jever - 2017 Vancouver). Gertrud emigrierte 1936 als Haushaltshilfe nach England. Käthe verzog Ende 1937 nach Groningen und heiratete dort am 24. März 1938 den aus Oldenburg stammenden Arzt Dr. Alfred Löwenberg, der bereits als Medizinstudent im April 1933 in die Niederlande emigriert war, da er als Jude im nationalsozialistischen Deutschland keine Berufschance mehr besaß. Walter durfte 1933 trotz bestandener Aufnahmeprüfung nicht das Mariengymnasium Jever besuchen. Im Oktober 1935, kurz nach seiner Bar-Mizwa, brachten die Eltern den 13jährigen auf einem vom italienischen Triest ausgehenden Schiff persönlich zu seinem Onkel Dr. med. Fritz Steinfeld nach Palästina. Dieser arbeitete seit 1933 in Jerusalem als Arzt und hatte die Eltern von der Notwendigkeit der Übersiedlung Walters überzeugt. Noch im Jahre 1937 besuchten sie ihn und überlegten, im Ausland zu bleiben, doch hatten sie dem verwitweten Simon Gröschler (1851 – 1938) versprochen, nach Deutschland zurückzukommen.
Foto4 | Die Synagoge von Jever, 1880 erbaut, galt als die schönste weit und breit.
Obwohl es die Kinder rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte, wollte das Ehepaar Gröschler trotz aller Repressionen von einer Auswanderung zunächst noch nichts wissen. Es hoffte immer noch auf eine Änderung der Verhältnisse, machte sich Sorgen um die Firma und um den Vater und Firmengründer Simon, der am 13. Jan. 1938 starb. Vor allem der Bruder Julius war strikt gegen eine Aufgabe des Betriebes, der noch bis zum Novemberpogrom 1938, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen, arbeiten konnte. Als Vorsteher der Synagogengemeinde fühlte sich Hermann Gröschler außerdem für die inzwischen meist völlig verarmten Mitglieder seiner Gemeinde verantwortlich, die er nicht einfach im Stich lassen wollte. Der Pogrom vom 9./10. November 1938 und die anschließende brutale Verschleppung in das KZ Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin änderten die Situation grundlegend, zumal die Häftlinge nur schnell freikamen, wenn ihre Auswanderung der Gestapo gesichert erschien. Auch wurden jetzt die Betriebe und das Vermögen der Juden umgehend enteignet.
Anfang 1939 schaffte das Ehepaar nach hektischen Aktivitäten, die einer Flucht glichen, die Emigration in die Niederlande und lebte in Groningen im Hause der Tochter Käthe und des Schwiegersohnes Dr. Alfred Löwenberg, der dort seit 1937 eine Arztpraxis betrieb. Hier wohnte auch die 1931 verwitwete Mutter des Schwiegersohns, Bernhardine (Dini) Löwenberg geb. Josephs (1878 Jever – 1961 Groningen). Gegenüber der niederländischen Regierung hatte sich Dr. Löwenberg verpflichtet, die Aufenthaltskosten des Ehepaars Gröschler zu tragen. Nur so war es möglich gewesen, die Einreiseerlaubnis zu erhalten.
Nach dem Überfall auf Polen und dem Kriegsbeginn im September 1939 lebten die Gröschler-Löwenbergs in der ständigen Sorge, dass die Deutschen auch die Niederlande okkupieren würden. Man war über die sich laufend verschärfenden Maßnahmen und Verbrechen gegen die Juden in Deutschland und Polen gut informiert. Am 10. Mai 1940 marschierte die deutsche Wehrmacht unter Bruch des Völkerrechts in die Niederlande ein. Alle fünf Familienmitglieder flohen unmittelbar nach Bekanntwerden der Nachricht hinter die als uneinnehmbar geltende „Wasserlinie", ein unterhalb des Meeresspiegels liegendes Gebiet, das durch Öffnung der Schleusen geflutet werden konnte und so die westlichen Teile der Niederlande hätte abriegeln sollen. Jedoch bereits am 14. Mai 1940 kapitulierten die Niederlande. Die Hoffnung, nach England zu entkommen, zerschlug sich. An den Häfen herrschten tumultartige Zustände.
Nach einem Zwischenaufenthalt in Amsterdam kehrten die Familien notgedrungen nach Groningen zurück. Obwohl die deutschen Militärbehörden zunächst beruhigende Erklärungen abgaben, kam es bald und zunehmend auch in den Niederlanden zu Diffamierungen, Isolierungen und Ausgrenzungen der Juden, wie sie das Ehepaar Gröschler bereits aus Deutschland kannte. Ein Teil der niederländischen Bevölkerung, vor allem Angehörige der NSB (Nationaal-Socialistische Beweging), beteiligte sich daran, jedoch die große Mehrheit – darauf weist Änne Gröschler an mehreren Textstellen hin – übte symbolisch und auch aktiv Solidarität.
Im Frühjahr 1942 wurde der Schwiegersohn wegen einer Denunziation unter dem Verdacht des Devisenvergehens in Untersuchungshaft genommen. In dem darauf folgenden Gerichtsverfahren stellte sich zwar seine Unschuld heraus, doch wenige Tage später erhielt er den Gestellungsbefehl zu einem Arbeitseinsatz in einem der Arbeitslager für Juden in den Niederlanden. Über die Bedeutung eines solchen Befehls machte sich niemand Illusionen. Löwenberg tauchte mit seiner Ehefrau in einem Versteck unter, das ein im Widerstand tätiger Patient, ein Sozialdemokrat, organisiert hatte. Aus Sicherheitsgründen hatten sie die Eltern nicht informiert, gleichzeitig aber dafür gesorgt, dass auch ihnen die Möglichkeit zum Untertauchen gegeben wurde. Als im Juli 1942 die ersten Deportationen von Westerbork nach Osteuropa einsetzten, überzeugte Änne Gröschler ihren Ehemann, von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Sie kamen über einen Vertrauensmann des Widerstands bei einem Arbeiterehepaar in Groningen unter, wo sie sich in einem kleinen Dachzimmer verstecken konnten. Im Oktober 1942 wurden sie bei einer Hausdurchsuchung von der Polizei entdeckt. Die Umstände deuten auf Verrat, doch konnte der Sachverhalt nie aufgeklärt werden, obwohl er nach der Befreiung der Niederlande von der Polizei untersucht wurde.
Beide Eheleute kamen getrennt in das Gefängnis von Groningen, wo sie die Gestapo besonders hinsichtlich des Aufenthaltsortes des Schwiegersohns verhörte. Am 12. November 1942 wurden sie in das Durchgangslager Kamp Westerbork überführt. Das südlich von Groningen in der Provinz Drenthe gelegene Lager war im Februar 1939 von der niederländischen Regierung für die Internierung von aus Deutschland geflohenen Juden eingerichtet worden, die keine gültigen Einwanderungspapiere besaßen. Zum Zeitpunkt der deutschen Okkupation lebten hier nur etwa 750 Personen. 1942 übernahm die SS das Lager, das interne Selbstverwaltungsstrukturen aufwies, von der niederländischen Verwaltung. Nach einer erheblichen Erweiterung fungierte Westerbork ab Juli 1942 als Durchgangslager für die Deportation der Juden aus den Niederlanden in die Vernichtungs- und Konzentrationslager. Insgesamt 97 Transporte sind dokumentiert.
Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin gab Datum, Ziel und Anzahl der Personen vor. Der SS-Kommandant von Westerbork war für diese Vorgaben verantwortlich und setzte sie unerbittlich durch. Die konkrete Ausfüllung der Transportlisten lag jedoch in den allermeisten Fällen in den Händen der jüdischen Lagerleitung. Ziele waren überwiegend die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (65 Transporte, 57.800 Menschen) und Sobibor (19 Transporte, 34.313 Menschen), außerdem Sonderlager wie die Konzentrationslager Bergen-Belsen und Theresienstadt. Die Transporte erfolgten 1942 in der Regel zweimal wöchentlich am Dienstag und Freitag, in den Jahren danach fast jeden Dienstag und zuletzt in unregelmäßigen Abständen. Die Züge fassten meist um die 1.000, manchmal bis zu 3.000 Menschen. Lediglich etwa 5.000 der 107.000 von Westerbork deportierten Juden überlebten das NS-Lagersystem.
In dieser Zeit waren Zehntausende in Westerbork gefangen, mit unterschiedlicher Aufenthaltsdauer. Jeder hatte nur den einen Gedanken, dem Arbeitseinsatz im Osten, wie die Nazis den Abtransport in die Gaskammern umschrieben, zu entgehen. Zwar war niemandem die gesamte Ungeheuerlichkeit des industrialisierten Massenmords bewusst, doch war das Wort „Polen ein Synonym für großen Schrecken und sicheren Tod, wie der Bericht von Änne Gröschler zeigt. Für den unerbittlich kommenden Transporttag hatte die jüdische Lagerleitung jeweils rund 1.000 Menschen auszusuchen. Ein grausames System versprach all denjenigen Aufschub, die auf einer der immer wieder kursierenden „Vorzugs-Listen
geführt wurden. Diese verloren dann aber plötzlich ihre Gültigkeit,