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Erbgesund und kinderreich: Südtiroler Umsiedlerfamilien im "Reichsgau Sudetenland"
Erbgesund und kinderreich: Südtiroler Umsiedlerfamilien im "Reichsgau Sudetenland"
Erbgesund und kinderreich: Südtiroler Umsiedlerfamilien im "Reichsgau Sudetenland"
eBook452 Seiten4 Stunden

Erbgesund und kinderreich: Südtiroler Umsiedlerfamilien im "Reichsgau Sudetenland"

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Über dieses E-Book

Im Zuge der Option 1939 wurden Südtiroler im annektierten Böhmen und Mähren, dem "Reichsgau Sudetenland", angesiedelt, um die Reichsgrenzen auszuweiten und die Slawen zu vertreiben. Anhand von Fallbeschreibungen werden der Ablauf der Auswanderung, die Lebenssituation der Umsiedlerfamilien vor Ort, ihre Verquickung mit dem NS-Regime und ihr Verhalten gegenüber der einheimischen Bevölkerung beschrieben.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum25. Okt. 2021
ISBN9788872838129
Erbgesund und kinderreich: Südtiroler Umsiedlerfamilien im "Reichsgau Sudetenland"

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    Buchvorschau

    Erbgesund und kinderreich - Edition Raetia

    Die Südtirol-Option und die Ansiedlung im „Mustergau Sudetenland"

    „Woher hast du denn das, was du da redest, Hansl?, forschte ich. „Woher? Das sagen doch alle. Der neue Ortsrat sagt, vielleicht kommen wir nach Böhmen. Dort wächst es, ohne dass man sät, und die Ackerfurchen sind so lang wie unser ganzes Tal. Dein Taufpate, der dort gewesen ist, in Böhmen, beim Militär, der sagt es auch. Die Tschechen, sagt er, wird man fortschicken, weil man aus denen doch keine Deutschen machen kann, und dafür kommen wir hin, weil sie frisches Blut brauchen. Das sagt auch der Ortsrat, oder wie sie ihn heißen, den jungen Paller. Das sind dir Felder, mein Lieber, in Böhmen, keine Steinewirtschaft wie da bei uns, Furchen so lang wie das ganze Tal, und Zuckerrüben bauen sie, sagt der Konrad. Claus Gatterer: Schöne Welt, böse Leut. Kindheit in Südtirol, Wien ³1992, 363.

    Die Option des Jahres 1939 in Südtirol beschränkt sich nicht auf die Dramatik der Entscheidung, die Staatsbürgerschaft des nationalsozialistischen Deutschen Reichs anzunehmen und das Land verlassen zu wollen oder weiterhin die italienische Staatsbürgerschaft beizubehalten und damit im Lande zu bleiben. Der Entscheidung und allem, was sich im Vorfeld dieser Entscheidung abspielte, folgte bei rund einem Drittel der Südtiroler/-innen die tatsächliche Abwanderung und für einen kleineren Teil davon nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Rücksiedlung zurück nach Südtirol.

    Über die Option als Entscheidungsphase ist ausgiebig geforscht und publiziert worden. Etwas weniger intensiv stand bislang die Umsiedlungsphase im Blickfeld des Interesses. Die nackten Zahlen sagen uns, dass etwa 75.000 Südtiroler/-innen auf rund 200.000 Deutschland-Optant/-innen auch tatsächlich ausgewandert sind. Die „Wiederansiedlung ist, wiederum in nackten Zahlen ausgedrückt, vor allem in der „Ostmark, d. h. in den ehemaligen österreichischen Bundesländern erfolgt. Das betraf etwa 60.000 Personen, davon blieben rund 38.000 Optant/-innen in Tirol (ca. 51 %), knapp 6.000 in Vorarlberg (ca. 7,5 %). In anderen Regionen Deutschlands in den Grenzen des Jahres 1937 siedelten sich knapp 11.000 Südtiroler/-innen an. Neben Bayern als sprachlich-kulturell verwandtem Land waren dies auch die Länder Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Aber Südtiroler/-innen kamen, wenn auch in geringerer Anzahl, auch nach Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt oder Berlin.

    Ein kleinerer Teil, an die 3.700 Personen (ca. 5,0 %), wurde in „außerdeutschen, d. h. in besetzten bzw. annektierten Gebieten außerhalb des „Altreichs und der „Ostmark angesiedelt, wie in Luxemburg, Elsass und Lothringen, in Oberkrain und in der Untersteiermark, im Protektorat Böhmen und Mähren und im „Reichsgau Sudetenland.

    Diese territoriale Auflistung zeigt uns bereits, dass die Siedlungsgebiete unterschiedlichen Typologien zuzuordnen sind. Schon während der Propagandaschlacht für die Auswanderung wurde den Südtiroler/-innen versprochen, in einem geschlossenen Siedlungsgebiet eine neue Heimat zu finden. Vor Kriegsbeginn und in den ersten Kriegsjahren sprach man unter anderem von den Beskiden, dem polnischen Galizien, dann von Burgund, von der Untersteiermark oder von der Krim. All diese Pläne, die an die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung gekoppelt waren, kamen nicht zustande. Bei den tatsächlich erfolgten Ansiedlungen können wir unterscheiden zwischen rein deutschsprachigen Gebieten und solchen, in denen auch eine anderssprachige Bevölkerung lebte, wie dies für das Sudetengebiet zutrifft, in dem neben Deutschen auch Tschech/-innen und andere sprachliche Minderheiten, z. B. Pol/-innen, lebten. Auch im Sudetengau musste die einheimische tschechische Bevölkerung den neuen Ansiedler/-innen aus Südtirol Platz machen. Sie wurden schlicht und einfach mit Gewalt von ihren Höfen, ihren Handwerksbetrieben, Geschäften, Gaststätten, Hotels, ihren Häusern und Wohnungen vertrieben.

    Die Umsiedlung und Wiederansiedlung von Optant/-innen aus Südtirol stand in direkter Verbindung mit dem geplanten und dann auch durchgeführten Eroberungskrieg des Dritten Reiches im Osten Europas. Als Erste davon betroffen war die Tschechoslowakei. Für die von den Nationalsozialisten verfolgte Eroberung und Neuordnung des osteuropäischen „Lebensraumes unter rassischen und strategischen Gesichtspunkten benötigte das NS-Reich entsprechendes „Menschenmaterial. Man fand dieses überall in den in Europa verstreut lebenden „Volksdeutschen, zu denen auch die Südtiroler/-innen gezählt wurden. Diese sollten „erbgesund und kinderreich und nach den Vorstellungen der Nazis „erfahren im Grenzlandkampf sein, wobei viele Familien den ideologischen NS-Ansprüchen offenbar nicht entsprachen. Von den im „Reichsgau Sudetenland angesiedelten Südtiroler/-innen blieb nach 1945 so gut wie niemand mehr dort. Sie wollten bereits wenige Monat nach der Bekanntschaft mit der neuen Realität wieder weg aus dem „gelobten Land" und flüchteten bei Kriegsende.

    In den einzelnen Abhandlungen dieses Bandes werden unterschiedliche Aspekte der Umsiedlung von Südtiroler/-innen in den „Reichsgau Sudetenland anhand von Beiträgen aus Südtirol, Österreich, Deutschland und der Tschechischen Republik beleuchtet. Dabei werden politische, wirtschaftliche und geschlechterpolitische Fragestellungen behandelt. Zugleich wird ein detaillierter Blick auf die Organisation der Umsiedlung und das Schicksal der Umsiedler/-innen selbst geworfen, die sowohl eigenständig Handelnde als auch „Verschubmasse der nationalsozialistischen Bevölkerungsideologie waren.

    Was im Zuge der Vorbereitung für diese Publikation mehrfach sichtbar wurde, waren Forschungslücken in Bezug auf unterschiedlichste geschlechterspezifische Aspekte. Dies gilt sowohl für die Frage der Aktivitäten von Frauen in Organisationen wie dem VKS, der AdO und der ADERSt in Südtirol, aber auch für die Sudetendeutsche Partei sowie den „Reichsgau Sudetenland, ebenso für weibliche Aktivitäten innerhalb des Umsiedlungsgeschehens und in der Formierung des nationalsozialistischen „Deutschtums im Osten, wie dies Liz Harvey für Polen erforscht hat.

    Im ersten Beitrag unter dem Titel „Umsiedeln heißt umpflanzen" beschäftigt sich Elisabeth Malleier (Wien/Meran) mit der Ansiedlung, oder, wie es im Nazijargon hieß, mit der „Ansetzung der Südtiroler/-innen. Diese „Ansetzung diente, wie die anderer „Volksdeutscher, der geplanten „Germanisierung des Ostens und war zugleich verbunden mit der Vertreibung der jüdischen, der tschechischen und der politisch widerständigen Bevölkerung im „Reichsgau Sudetenland. Südtiroler/-innen sollten vor allem als imaginierte „grenzlanderfahrene und „erbgesunde, kinderreiche Bauernfamilien ins Land kommen. Dabei machten die sogenannten „Sudetenoptant/-innen nur einen sehr kleinen Teil der Südtiroler Umsiedler/-innen aus. Bereits in seiner Rede vom 30. Mai 1939 hatte Heinrich Himmler Nordmähren als potenzielles Ansiedlungsgebiet für Südtiroler/-innen genannt und von einem „wertvollen Zuwachs von 200.000 gutrassigen, sehr bewusst deutschen und kämpferischen Volkselementen schwadroniert. Mit der Schaffung des SS-Ansiedlungsstabes Sudetenland am 5. September 1942 bestimmte Konrad Henlein das „Ostsudetenland in Nordmähren, nahe der polnischen Grenze und der Stadt Ostrava (Mährisch-Ostrau) als Hauptsiedlungsgebiet für Südtiroler/-innen, ein ländlich geprägtes Gebiet, in dem sich vor allem Bauernfamilien ansiedeln sollten. Zugleich wurden konkrete Vorbereitungen zur Vertreibung und Enteignung der tschechischen Besitzer/-innen in die Wege geleitet.

    Günther Pallaver (Bozen) vergleicht die Südtirol-Option im Kontext volksdeutscher Umsiedlungen. Ausgehend von Entwicklungen lange vor der Machtergreifung Hitlers in Deutschland und seinem „Erlass zur Festigung deutschen Volkstums (1939) werden die normativen Grundlagen des Bevölkerungstransfers der einzelnen „deutschen Volksgruppen untersucht, wobei es nicht immer vertragliche Vereinbarungen gab. Aufschlussreich sind vermögensrechtliche Abmachungen wie die Klärung steuerrechtlicher Fragen oder die Ablösung unbeweglicher Sachen bis hin zur Schätzung von Lebendvieh und Obstbäumen. Mitunter wurde minutiös auf den Pachtwert, die Bodenpreise, zurückgelassene Wirtschaftsvorräte und Inventarstücke und auf vieles andere mehr eingegangen. Die Behandlung der „Volksdeutschen erfolgte nicht überall gleich. Unter ihnen gab es privilegierte Gruppen, zu denen die Südtiroler/-innen zählten. Dieses „Privileg kam vor allem bei Kriegsende zum Ausdruck, als die Südtiroler/-innen weitgehend von Entnazifizierungsmaßnahmen verschont blieben und wieder in ihre Heimat zurückkehren konnten. Außerdem erhielten sie als Minderheit durch das Pariser Abkommen von 1946 einen international verankerten Minderheitenschutz.

    Eva Hahn und Hans Henning Hahn (Gerolstein) vergleichen Südtiroler/-innen und Sudetendeutsche: zwei deutsche Minderheiten im 20. Jahrhundert und gehen der Frage nach, weshalb die Sudetendeutschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges aus ihrem Land vertrieben wurden, während die Südtiroler/-innen zurückkehren und bleiben konnten. An der Wiege dieser Entscheidungen standen offenkundig weder ethnisch motivierte Überlegungen noch die vom NS-Regime während des Krieges verübten Massenverbrechen, wie oft vermutet wird. Es war das Ergebnis einer Betrachtungsperspektive, die die Südtiroler/-innen und die Sudetendeutschen differenziert als zwei Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen historisch-politischen Kontexten wahrnahm. Anders als im Fall der Sudetendeutschen wurde die Südtirolfrage nicht für friedensbedrohlich gehalten.

    Die Potsdamer Entscheidung wurde weder aus Rache noch als Strafe für die von Deutschen zuvor verübten Verbrechen getroffen, noch kann sie als eine „ethnische Säuberung" interpretiert werden, wie sie bis heute oft verstanden wird. Ihr lagen historisch-politische Überlegungen zugrunde: Sie wurde anhand der Vorkriegserfahrungen getroffen, um zu verhindern, dass deutsche Minderheiten entlang der Ostgrenze Deutschlands künftig noch einmal für politischen Expansionismus instrumentalisiert werden könnten.

    Ein Laboratorium nationalsozialistischer Ordnungsvorstellungen: Die Sudetendeutschen und der Reichsgau Sudetenland (1938−1945) nennt sich der Beitrag von Volker Zimmermann (München/Düsseldorf). Nach dem Münchner Abkommen vom 29./30. September 1938 besetzte die Wehrmacht die mehrheitlich von Deutschen bewohnten Grenzregionen der Tschechoslowakei. Aus dem größten Teil der bald darauf in das Deutsche Reich eingegliederten Gebiete wurde der „Reichsgau Sudetenland gebildet. Der Beitrag zeichnet Voraussetzungen und Praxis der politischen, administrativen und gesellschaftlichen Gleichschaltung in diesem Gebiet nach. Die propagandistisch betonte Funktion des Reichsgaus als „Mustergau, der einen Schritt hin zu einer geplanten Reichsreform und Realisierung der „Einheit von Partei und Staat" darstellen sollte, war ein zentrales Merkmal dieser Entwicklung. Spezifische Erfahrungen einheimischer Funktionäre und der Bevölkerung mit dem deutsch-tschechischen Nationalitätenkonflikt in den böhmischen Ländern ließen zudem ein Spannungsverhältnis zwischen nationalsozialistischen Ordnungsvorstellungen, politischen und sozialen Erwartungen vor Ort sowie Kriegserfordernissen entstehen.

    Jörg Osterloh (Frankfurt/M.) setzt sich mit Eigentumstransfers immensen Ausmaßes. „Arisierungen und „Germanisierungen im Reichsgau Sudetenland 1938−1945 auseinander. 1930 lebten in den Gebieten, die 1938 Gegenstand des Münchner Abkommens werden sollten, rund 29.000 Juden und Jüdinnen sowie etwa 720.000 Tschech/-innen. Mitte Mai 1939 wurden im Reichsgau Sudetenland nur noch etwa 2.400 Juden und Jüdinnen sowie etwa 290.000 Tschech/-innen registriert. Die übrigen waren zu diesem Zeitpunkt bereits geflohen oder vertrieben worden, zumeist nach Innerböhmen und Innermähren. Wie viele der Juden und Jüdinnen aus dem Sudetenland den Holocaust überlebten, ist nicht bekannt.

    Der jüdischen und tschechischen Bevölkerung gehörten im Sudetenland Tausende Geschäfte, Handels- und Handwerksunternehmen wie auch Industriebetriebe. Im Beitrag wird die „Arisierung bzw. „Germanisierung des Besitzes von Juden und Jüdinnen sowie der Tschech/-innen untersucht. Neben ideologischen Motiven spielten hierbei die große Bedeutung der sudetendeutschen Wirtschaft für die Rüstungswirtschaft des NS-Staates und strukturpolitische Maßnahmen eine wichtige Rolle. Betriebe der jüdischen und auch tschechischen Bevölkerung wurden geschlossen, wenn sie zu den „übersetzten" Branchen zählten, alle anderen an deutsche Interessenten vermittelt.

    Es folgen zwei weitere Beiträge von Elisabeth Malleier. Im Aufsatz Südtiroler Umsiedlerfamilien im „Reichsgau Sudetenland". Orte, Zahlen, Fallbeispiele weist sie darauf hin, dass sich von den ca. 120 Personen, die im Herbst und Winter 1942 auf „Besichtigungsfahrt ins Ostsudetenland kamen, ungefähr die Hälfte tatsächlich zur Umsiedlung entschloss. Vielfach lebten die tschechischen Besitzer/-innen zum Zeitpunkt der „Besichtigungen noch auf den Höfen; andere Höfe waren aufgrund von mangelnder Kollaborationsbereitschaft mit den Besatzern, z. B. in Form zu geringer Ernteabgaben, bereits beschlagnahmt worden. Während nach NS-Plänen Tausende Familien aus Südtirol im Sudetenland und im Protektorat Böhmen und Mähren angesiedelt werden sollten, betrug die Zahl der tatsächlich Umgesiedelten im Juni 1944 laut Angaben des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) für das Sudetenland 719 und für das Protektorat 527 Personen.

    Die Familien lebten in einem ihnen feindlich gesonnenen Umfeld ohne soziales Netz und ohne Lokalkenntnisse und hatten auf den teilweise um ein Mehrfaches größeren Höfen als ihren eigenen in Südtirol mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen, beginnend beim ungewohntem Anbaugut, dem mit dem Kriegsverlauf immer stärker werdenden Arbeitskräfte- und Materialmangel, Sabotageakten von tschechischer Seite und der Kontrolle und Bevormundung durch die nationalsozialistischen Behörden. Viele Umsiedlerfamilien entsprachen auch nicht den nazistischen Vorstellungen von der „kinderreichen, erbgesunden Bauernfamilie, sondern es kamen auch ältere und/oder alleinstehende Personen. Die „Abberufungen aus Südtirol erfolgten in den ersten Monaten des Jahres 1943. Die meisten Umsiedler/-innen wollten schon nach wenigen Monaten – im Herbst 1943 – wieder weg, viele von ihnen zurück nach Südtirol.

    In ihrem nächsten Aufsatz mit dem Titel „ Hektar gegen Hektar, Kuh gegen Kuh und Pferd gegen Pferd". Materielle Aspekte der Umsiedlung beschäftigt sich Elisabeth Malleier mit materiellen Aspekten der Umsiedlung. Ab September 1942 erstattete der Bürgermeister von Fulnek im Ostsudetenland in seiner Funktion als Geschäftsführer des Ansiedlungsstabes jeden Monat Bericht über den Verlauf der Südtiroler Umsiedlung an den RKF in Berlin und meldete „freiwerdende Höfe, Betriebe und Geschäfte an die Amtliche Deutsche Ein- und Rückwandererstelle (ADERSt) nach Bozen und an die Deutsche Umsiedlungs-Treuhandgesellschaft (DUT) in Innsbruck. Anders als die vorsichtige DUT agierte der SS-Ansiedlungsstab, der vor allem die „Germanisierung vorantreiben und die beschlagnahmten Höfe und Betriebe möglichst bald mit „volksdeutschen Arbeitskräften besetzen wollte. Doch die Umsiedler/-innen waren mit der Situation vielfach überfordert. Bereits wenige Monate nach dem Beginn der Umsiedlungsaktion gab es erste kritische Einschätzungen. War Ernst Müller, Beauftragter des RKF (Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums) im Sudetenland und Leiter des Arbeitsstabes Ost (Sudetenland) im Herbst 1942 noch ein begeisterter Befürworter der Umsiedlung von Südtiroler/-innen gewesen, änderte er seine Meinung bis zum Sommer 1943 gründlich. Die Verantwortlichen der DUT (Deutsche Umsiedlungs-Treuhandgesellschaft) Innsbruck und deren Zweigstelle in Fulnek wiederum stellten mit fortschreitendem Kriegsverlauf die Gültigkeit der von Heinrich Himmler gezeichneten „Einweisungsentscheide als ausreichende Sicherheit für die Kreditvergabe an die Umsiedler/-innen infrage und veranlassten mit Anfang 1944 die Einstellung jeglicher Kreditgewährung in den besetzten und annektierten Gebieten. Anfang 1945 erfolgte im allgemeinen Chaos des Kriegsendes die Flucht der „Sudetenoptant/-innen", wobei die Frauen mit den Kindern meist auf sich allein gestellt waren. Die meisten von ihnen fanden sich vorerst in Flüchtlingslagern in Nordtirol wieder.

    Der Aufsatz von Barbora Štolleová (Prag) und Miloš Hořejš (Prag) beschäftigt sich mit der NS-Landwirtschaftspolitik und „Germanisierung des Ostens" im Protektorat Böhmen und Mähren und legt den Schwerpunkt auf die Bedeutung und Veränderungen, die im Kontext der nationalsozialistischen Besetzung des böhmisch-mährischen Gebiets erfolgt sind. Im Beitrag werden die Hauptrichtlinien der nationalsozialistischen Agrarpolitik im Protektorat analysiert: ihre Ziele, der Rahmen ihrer Umsetzung und ihre Ergebnisse. Dabei wird die grundsätzliche Frage nach der Dynamik und den Wechselbeziehungen zwischen Agrar- und Ernährungspolitik einerseits und Ansiedlungspolitik andererseits gestellt, die im Zusammenhang mit der Frage der Ernährung der Bevölkerung und gleichzeitig mit der Nutzung der landwirtschaftlichen Produktion für das Reich (Export) steht. Bei den nationalsozialistischen Bemühungen um die Sicherung ihres „Lebensraumes" spielte die Bodensiedlungspolitik, die die Germanisierung des böhmisch-mährischen Gebietes verfolgte, eine Schlüsselrolle. Der Beitrag bewertet die Ergebnisse der genannten Politikfelder als zumindest widersprüchlich. Das gegenseitige Ausbalancieren dieser Politikfelder in den ersten Besatzungsjahren mündete nach 1941 und vor allem während des totalen Krieges in eine gegenseitige Ablehnung und in einen offensichtlichen Konflikt zwischen den beiden unterschiedlichen Bestrebungen.

    Der Band endet mit dem Beitrag von Margareth Lanzinger (Wien) Verzeichnetes Vermögen – Bürokratien und Institutionen im Dienst der propagandistischen Illusion. Mit dem Anschein ordnungsgemäßen Vorgehens gaukelte der Nationalsozialismus „Ordnung vor, beraubte dadurch Millionen von Menschen und führte sie anschließend in die Vernichtung. Der Kontext des Verzeichnens von Besitz und Vermögen im Zusammenhang mit der Option in Südtirol war anders gelagert: Hier stand diese vor allem im Dienst des propagandistischen Scheins. Dabei werden zwei Aspekte beleuchtet: zum einen die Arbeit des Volksbildungsdienstes der Arbeitsgemeinschaft der Optanten und der Kulturkommission. Mit ihren groß angelegten Bestandsaufnahmen von Südtiroler Bauernhöfen bestärkten sie das Versprechen geschlossener Siedlungsgebiete für die Optant/-innen, wo deren Höfe analog zu den zurückgelassenen Besitzungen neu aufgebaut werden sollten. Zum anderen wurden das Vermögen der Optant/-innen erhoben und verzeichnet: sowohl jener, die aufgrund ihrer vornehmlich mobilen Habe als „leichtbewegliche Personen galten, als auch jener, die Liegenschaften besaßen. Institutionen wie die deutschen Umsiedlungsdienststellen und die Treuhand-Gesellschaften sollten mit ihren Garantien des verlustfreien Vermögenstransfers Vertrauen generieren. Dieses wurde zur Förderung der Umsiedlungsbereitschaft instrumentalisiert.

    Für das Zustandekommen dieses Buchs danken wir den Autor/-innen, dem Verlag Edition Raetia sowie der Abteilung Kultur der Südtiroler Landesregierung für die finanzielle Unterstützung.

    Bozen/Wien im Juli 2021

    Günther Pallaver, Elisabeth Malleier, Margareth Lanzinger

    Rechts: Karte des Protektorats Böhmen und Mähren 1940,

    © Peter Palm, https://palm-mapping.de

    Elisabeth Malleier

    „Umsiedeln heißt umpflanzen"

    ¹

    Einleitung

    „[…] es hat dann immer geheißen, in der Tschechei bekäme man Höfe. Da haben sich zwei Möltner und ein Rittner gemeldet, sich diese Höfe anzuschauen. Sie sind dorthin gefahren, haben sich mehrere Höfe angeschaut und fanden unter anderem einen schönen, großen Hof mit Maschinen. Der Rittner wäre bereit gewesen den Hof zu nehmen, wenn er ihn bekommen hätte. Sie traten in den Hof ein, schrieben alles auf und legten das Datum fest, wann der Besitzer den Hof verlassen müsste. Das gesamte Vieh und die Maschinen müssten auf dem Hof bleiben, meinte der deutsche Begleiter, nur die notwendigsten Hausgeräte dürfte der Bauer mit sich nehmen. Der Besitzer fragte natürlich nach dem Warum, es wurde ihm die Situation erklärt. Da weinte der Bauer, auch die Bäuerin flehte die ‚Besucher‘ an, sie möchten ihnen den Hof belassen, dennoch wurden sie von der Stube gejagt. Die Südtiroler gingen dann weiter und die zwei Möltner meinten, dass sie unter diesen Umständen nicht dorthin gingen. Sie beschlossen, wieder nach Hause zu fahren, und 14 Tage darauf bekamen sie eine Spesenrechnung für die Fahrt und den Aufenthalt, welche sie bezahlen mussten. Dies war, glaube ich, 1943. […]" (Erinnerungen von Johann Kröss aus Mölten, in: Option 1989, 118)

    Eindrücklich wird in diesen wenigen Zeilen geschildert, wie die Umsiedlung der sogenannten „Sudetenoptanten" vor sich ging – einschließlich der Möglichkeit abzulehnen.

    Ein Ziel dieser Publikation ist der Versuch einer möglichst anschaulichen Darstellung der Verbindung zwischen der „großen Geschichte und Politik und ihren Auswirkungen auf die einzelnen Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Fragen, die mich beschäftigten, waren: Wer waren diese Südtiroler Umsiedler/-innen im „Sudetenland? Woher kamen sie? Warum wanderten sie in den „Osten? Wie erging es ihnen in ihrer neuen „Heimat? Wie gestaltete sich ihr Alltagsleben, wie die Interaktion mit den NS-Besatzer/-innen, von denen sie ein Teil waren, einerseits und der unterdrückten einheimischen Bevölkerung andererseits? Wo und wie wurden sie selbst als Akteur/-innen sichtbar und welche Handlungsspielräume hatten sie? Was geschah bei Kriegsende? Nicht zu vergessen ist dabei die Tatsache, dass die zahlenmäßig größte Gruppe im Optionsgeschehen – und das nicht nur bei den sogenannten „Sudeten-Optant/-innen" – Kinder und Jugendliche waren.

    Die Ansiedlung von Südtiroler/-innen in der von den Nationalsozialisten okkupierten Tschechoslowakei wurde im Deutschen Reich bereits zu einem Zeitpunkt diskutiert, als in Südtirol gerade erste Gerüchte zu einer geplanten Umsiedlung kursierten, nämlich im Frühjahr 1939. Diese Pläne zur sogenannten Rücksiedlung von „Volksdeutschen" sind im Kontext der wirtschafts- und außenpolitischen Interessen – im Fall Südtirols im Verhältnis zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich – zu sehen und dienten verschiedenen Zwecken:

    1.Nach dem Abschluss des Stahlpaktes vom 22. Mai 1939 sollte Italien als Partner für den geplanten Krieg gewonnen und Südtirol als Konfliktpunkt beseitigt werden.

    2.Die Südtiroler/-innen boten ein willkommenes Reservoir von Soldaten und Arbeitskräften für das Dritte Reich und die geplante „Germanisierung des Ostens".

    3.Der von Italien abzulösende Besitz der Südtirol-Umsiedler/-innen bot eine Finanz- und Devisenquelle für das Dritte Reich.

    (Steurer 2011, 35–49)

    Bereits in seiner Rede am 30. Mai 1939 hatte Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei und ab Herbst 1939 Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, Nordmähren als Teil des zu „germanisierenden" Ostens und als potenzielles Ansiedlungsgebiet für Südtiroler Umsiedler/-innen genannt. Dabei bezog sich Himmler auf einen Vorschlag Adolf Hitlers, wonach „die deutsche Bevölkerung des Alto Adige in das Sudetenland zu überführen sei (Stuhlpfarrer 1985, 617 ff.). Nachdem Hitler Heinrich Himmler und den Tiroler Gauleiter Franz Hofer mit der Ausarbeitung von Vorschlägen zur Ansiedlung von Südtiroler/-innen beauftragt hatte, wandte sich Himmler an den damaligen Chef des Siedlungsamtes im Rasse- und Siedlungshauptamt Curt von Gottberg, der im Sommer 1939 zum kommissarischen Leiter des Prager Bodenamtes werden sollte. Nach Gottbergs Plänen vom Juli 1939 sollten ca. 2.750 „rassisch ausgewählte Südtiroler Bauernfamilien in Nordtirol und ca. 12.000 im Protektorat Böhmen und Mähren als „Stütze im dortigen Volkstums- und Grenzlandkampf angesiedelt werden (Heinemann 2003, 144 f.; s. a. Brandes 2012, 242). Himmlers Rede vom 30. Mai 1939 ist nach Conrad Latour einer der frühesten öffentlich formulierten deutschen Pläne zu einer „Gesamtumsiedlung der Südtiroler. Hier ein Auszug daraus:

    „Die Festsetzung des Führers über die Grenze zwischen Deutschland und Italien ist eine endgültige. Damit ist unwiderruflich klar ausgesprochen, dass Südtirol als volksdeutsches Territorium aufgegeben ist und kein Interesse mehr für uns hat. Nicht ist damit ausgesprochen, dass Deutschland die rund 200.000 Südtiroler, die Deutsche sein wollen, aufgibt. […] Ich könnte mir vorstellen, dass im böhmischmährischen Raum – am besten in Nordmähren – einmal durch Maßnahmen des Deutschen Reiches bzw. des Herrn Reichsprotektors ein solches Gebiet geschaffen werden könnte, das den Vorteil hätte, dass Mähren, das wieder voll und ganz deutsch werden muß, einen wertvollen Zuwachs von 200.000 gutrassigen, sehr bewusst deutschen und kämpferischen Volkselementen bekäme. […]" (Himmlers Rede, zit. in: Latour 1962, 33 f.)

    Einige Monate nach Himmlers Rede, im Oktober 1939 – d. h. kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges – wurde Reichsführer-SS Heinrich Himmler durch Hitlers „Erlass zur Festigung deutschen Volkstums vom 7. Oktober 1939 offiziell mit der Organisation der Umsiedlung der „Volksdeutschen betraut. Zugleich war Himmler auch für die „Ausschaltung von volksfremden Bevölkerungsanteilen" verantwortlich, wie im Wortlaut des Erlasses deutlich wird:

    „Dem Reichsführer-SS obliegt nach meinen Richtlinien:

    1. die Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland.

    2. die Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten.

    3. die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volkdeutschen.

    Der Reichsführer-SS ist ermächtigt, alle zur Durchführung dieser Obliegenheiten notwendigen allgemeinen Anordnungen und Verwaltungsmaßnahmen zu treffen.

    Zur Erfüllung der ihm in Absatz 1 Nr. 2 gestellten Aufgaben kann der Reichsführer-SS den in Frage stehenden Bevölkerungsteilen bestimmte Wohngebiete zuweisen."²

    Der Auftrag an den Reichsführer-SS bedeutete, dass sowohl die Um- und Ansiedlung der „Volkdeutschen als auch die „Absiedlung bzw. Vertreibung der „volksfremden Bevölkerungsteile" als Aufgabe der SS definiert wurde.

    Mit der Errichtung des SS-Ansiedlungsstabes Sudetenland durch den Gauleiter und Reichstatthalter im „Reichsgau Sudetenland" Konrad Henlein im Herbst 1942 – d. h. nach der Ermordung Reinhard Heydrichs³ und der darauffolgenden Terrorwelle gegenüber der tschechischen Bevölkerung – wurden von offizieller Seite Pläne zur Umsiedlung von Südtiroler/-innen konkretisiert.

    Zu diesem Zweck wurden ab September 1942 von den nationalsozialistischen Organisationen wie der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle (ADERSt) in Südtirol, der Deutschen Umsiedlungs-Treuhandgesellschaft mbH (DUT) in Innsbruck und dem SS-Ansiedlungsstab sogenannte „Besichtigungsreisen" für umsiedlungswillige Südtiroler/-innen organisiert. Obwohl im Jahr 1942 bereits die Rede davon war, die Umsiedlungen bis zum Ende des Krieges zu stoppen, erfolgte die Umsiedlung aus Südtirol ins Sudetenland – unter tatkräftiger Mithilfe der ADERSt – noch im Jahr 1943 und vereinzelt sogar noch 1944. Die Gründe dafür waren einerseits die Forderungen von italienischer Seite, die vereinbarten Absiedlungszahlen einzuhalten, und andererseits die Tatsache, dass sich zu wenige Reichsdeutsche für eine Umsiedlung ins Sudetenland gewinnen ließen.

    Dabei kam es immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den einzelnen Stellen, wobei es im Grunde um die Frage ging, wer das Recht haben sollte, die „Kriegsbeute – in diesem Fall die „Beutegüter – zu verteilen und welche Klientel dabei als Erste zum Zug kommen sollte. Die Freiwilligkeit in der Umsiedlung der Südtiroler/-innen war aber – im Vergleich zu anderen Umsiedlungen „Volksdeutscher – in den meisten Fällen durchaus gegeben. Ab Herbst 1942 begaben sich Dutzende von Südtiroler Bauern auf sogenannte „Besichtigungsfahrten ins Sudetenland. Dort konnten sie sich einen Hof im Rahmen der von den sudetendeutschen NS-Stellen vorgegebenen Möglichkeiten selbst „aussuchen", so wurde es ihnen vermittelt.

    Die Ansiedlung, oder wie es im Nazijargon hieß, die „Ansetzung, der Südtiroler/-innen war, so wie die anderer „Volksdeutscher im „Osten, zugleich verbunden mit der Vertreibung der jüdischen, der tschechischen und der politisch widerständigen Bevölkerung im Sudetenland. Südtiroler/-innen sollten vor allem als imaginierte „grenzlanderfahrene und „erbgesunde, kinderreiche Bauernfamilien ins Land kommen. Dabei machten die sogenannten „Sudetenoptant/-innen nur einen sehr kleinen Teil der Umsiedler/-innen aus.⁴ Insgesamt siedelten sich ca. 5 Prozent – ungefähr 3.700 Personen – in „außerdeutschen, d. h. in besetzten bzw. annektierten Gebieten außerhalb des „Altreichs und der „Ostmark an, wie in Luxemburg, Elsass und Lothringen, in Oberkrain und der Untersteiermark, im Protektorat Böhmen und Mähren und im „Reichsgau Sudetenland (Alexander, 1993: 99).

    Die Entscheidung bei der „Option traf in der Regel der Mann als Familienoberhaupt, die Mehrzahl der von dieser Entscheidung Betroffenen waren aber Frauen und Kinder. Dabei konnten die Meinungen zur Umsiedlung sowohl zwischen dem Ehepaar als auch zwischen Eltern und Kindern auseinandergehen. Getrennt lebende „volksdeutsche Ehefrauen sollten im Zuge der Umsiedlung das Recht erhalten, unabhängig vom pater familias individuell ihre Einbürgerung zu beantragen, ebenso Verheiratete über 18 (Stiller 2020/2, 132).

    Nicht alle der „Sudetenoptant/-innen waren gut informiert. Häufig handelte es sich um kleine Bauern und Bäuerinnen, die bis zur Abwanderung ihren Heimatort – laut ihren eigenen Angaben in den Umsiedlungsakten – kaum verlassen hatten. Viele erwarteten sich durch die Auswanderung ins „Dritte Reich eine Verbesserung ihrer Lebenssituation. Manche schienen aber durchaus auch die Verschlechterung der Lebenssituation anderer Menschen (in diesem Fall vor allem Tschech/-innen) in Kauf genommen zu haben.⁵ Nach den sogenannten „Besichtigungsfahrten entschieden sich viele potenzielle Umsiedler/-innen allerdings doch dagegen, ins Sudetenland zu ziehen. Andere stimmten – teilweise unter falschen Versprechungen, wie etwa der Freistellung des Sohnes vom Wehrdienst – zu und wurden ab Ende 1942 und insbesondere zwischen Frühjahr und Sommer 1943 „abberufen – d. h. zu einem Zeitpunkt, als von Reichspropagandaminister Goebbels bereits der „totale Krieg" verkündet worden war. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Italien Anfang September 1943 kam die Umsiedlung – bis auf einzelne Ausnahmen – zum Stillstand. Jenen Umsiedler/-innen, die tatsächlich ins Sudetenland auswanderten, wurde bald klar, worauf sie sich eingelassen hatten, und viele wollten bereits nach wenigen Monaten wieder weg aus dem Sudetenland, was von den NS-Stellen mit Missfallen zur Kenntnis genommen wurde.

    Im Folgenden möchte ich die komplexe Bevölkerungssituation im „Reichsgau Sudetenland nach der nationalsozialistischen Annexion skizzieren und der Frage nachgehen, wie viele Südtiroler/-innen sich dort als Teil dieser gewaltsamen Machtergreifung zusammen mit anderen umgesiedelten „Volksdeutschen ansiedelten.

    Der „Reichsgau Sudetenland"

    Im September 1938 wurde durch das „Münchner Abkommen" mit Einwilligung Italiens, Englands und Frankreichs

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