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Fahrend? Um die Ötztaler Alpen: Aspekte Jenischer Geschichte in Tirol
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eBook328 Seiten3 Stunden

Fahrend? Um die Ötztaler Alpen: Aspekte Jenischer Geschichte in Tirol

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Über dieses E-Book

Die Geschichte der Jenischen ist eine scheinbar spurlose, geprägt von wirtschaftlicher Not, Krieg und Vertreibung. Es ist eine Geschichte der Anderen, der Fremden, im besten Fall gespickt mit romantischen Erinnerungen an Pfannenflicker und Scherenschleifer, an Händlerinnen und Bettlerinnen. Jedenfalls ist die Geschichte der Jenischen in Vergessenheit geraten.
Grund genug, sie im Rahmen des von der Europaregion Tirol-Trentino 2021 ausgerufenen Museumsjahres zum Thema "Transport –Transit – Mobilität" in den Fokus zu nehmen. Im vorliegenden Sammelband werden in zehn Beiträgen wichtige Aspekte rund um jenische Geschichte und Gegenwart in Tirol herausgearbeitet. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Fragestellungen sowie verschiedene sprachliche Zugänge machen die Komplexität des Themas deutlich, in dessen Kern jedoch steht: Jenische waren und sind ein wichtiger Teil der Tiroler Geschichte und Identität.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum4. Juni 2021
ISBN9783706561716
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    Buchvorschau

    Fahrend? Um die Ötztaler Alpen - StudienVerlag

    Einführung

    Edith Hessenberger/Michael Haupt

    Die jenische Geschichte Tirols ist keine, die häufig erzählt wird, sie ist keine Geschichte, die sich in Schul- oder in Dorfbüchern findet. Sie ist unsichtbar, wie auch die Jenischen unsichtbar sind. Ihre Existenz ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, ihre Realität wird meist nicht als Teil der Tiroler Geschichte erinnert. Das ist einer der Gründe, warum die Ötztaler Museen, die Initiative Minderheiten und das Vintschger Museum diesen Aspekt unserer Geschichte im Rahmen des von der Europaregion Tirol-Trentino 2021 ausgerufenen Museumsjahres zum Thema „Transport –Transit – Mobilität (einmal mehr) in ihren Fokus genommen haben. Der Blick schweift dabei ganz bewusst über den „Tälerrand hinaus.

    Schon im Titel des vorliegenden Buches steckt eine Frage: „Fahrend? Um die Ötztaler Alpen. Aspekte jenischer Geschichte in Tirol". – Welche Bilder tauchen in unseren Köpfen auf, wenn wir von Jenischen hören, und wie sehr entsprechen sie der historischen, aber auch der aktuellen Realität? Waren Jenische wirklich ein fahrendes Volk, wie häufig kolportiert wird? Wie sehr unterschieden sich Jenische in dieser Hinsicht von der sesshaften Bevölkerung, war diese tatsächlich so immobil und ortsgebunden, wie häufig angenommen wird?

    Bis heute wird in Bezug auf Jenische in Tirol häufig von Karrnern, Dörchern, Laningern etc. gesprochen. In Nordtirol hat sich in der wissenschaftlichen Arbeit zur jenischen Geschichte die Überzeugung durchgesetzt, dass diese landläufigen Bezeichnungen vermieden werden sollten. Zu lange transportierten sie sowohl negative Stereotype als auch romantische Verfälschungen, bis heute werden sie im Tiroler Sprachgebrauch als Schimpfwörter verwendet. Das stärkste Argument ist jedoch, dass eine Reihe Jenischer, die sich heute um eine kritische Aufarbeitung ihrer Geschichte in Tirol bemühen, die Bezeichnung Karrner etc. deutlich von sich weisen und als beleidigend empfinden.

    In Südtirol stellt sich die Situation etwas anders dar. Hier wurde der Begriff Korrner durch kritische Kulturarbeit, wie etwa in Form der literarischen Arbeiten von Luis Stefan Stecher, seit den 1970er Jahren teils auch positiv konnotiert. 1978 wurde Stechers Band „Korrnrliadr: Gedichte in Vintschger Mundart" veröffentlicht, in dem er Jenischen ein Denkmal setzen und von ihrem Alltagsleben berichten wollte. Durch die Vertonung von Ernst Thoma sind viele dieser Gedichte zu Volksliedern geworden. Zuletzt wurden von Heiner Stecher, Luis Stefan Stechers Sohn, zusammen mit seiner Band Flouraschwarz mehrere Gedichte neu vertont.

    So kommt es, dass im vorliegenden Band nicht nur unterschiedliche Herangehensweisen an Fragestellungen rund um jenische Geschichte in Tirol, sondern auch unterschiedliche sprachliche Zugänge deutlich werden. Diese Tatsache macht die Komplexität der Geschichte und Gegenwart Jenischer in Tirol deutlich, die zwischen Diskriminierung und Marginalisierung, vollkommener Integration und nicht zuletzt in den aktuellen Bemühungen um Anerkennung als Volksgruppe in Österreich mündet.

    In diesem Band

    Für eingehende Betrachtungen verschiedenster Aspekte jenischer Geschichte in Tirol konnten dankenswerterweise eine Reihe hervorragender Wissenschafterinnen und Wissenschafter gewonnen werden. Mobilität ist das Thema des EUREGIO-Museumsjahres 2021 – aus diesem Grund wird auch die Frage danach, ob Mobilität nun Ausnahme oder Alltag im historischen Tirol war, an den Eingang des Buches gestellt. Der Historiker Michael Span erstellt unter dem Titel „Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit" einführend einen Überblick über die Formen und die Bedeutung von Mobilität in Tirol – in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Bereits im 16. Jahrhundert gab es erste Bestrebungen im Rahmen der Tiroler Landesordnung, die Mobilität der Tiroler strenger zu regeln. Wanderhandel, Bettel und Migration standen jedoch bis ins 20. Jahrhundert an der Tagesordnung.

    Von der allgemeinen Mobilitätsgeschichte hin zur Geschichte der Jenischen führen Elisabeth Maria Grosinger-Spiss und Roman Spiss im Beitrag „Die Jenischen im Tiroler Oberland, in dem sie am Beispiel konkreter Familiengeschichten historische Realität erfahrbar machen. Diese war geprägt von der Verachtung der „Vagabunden, die manchmal ihre gesamte Habe auf Karren mit sich führten, abseits der Siedlungsgebiete lagerten und sich als Tagelöhner oder als Besenbinder, Scherenschleifer, Regenschirmund Pfannenflicker oder Korbflechter den Lebensunterhalt verdienten, durch die sesshafte Bevölkerung. Ihre Lebensweise brachte sie regelmäßig in Konflikt mit dem Gesetz und den Interessen der sesshaften Bevölkerung, die sie als „Karrner", „Dörcher" oder „Laninger" bezeichnete.1 Die marginalisierten Dauer-Wanderer waren schon bald stigmatisiert, wie ein Bericht des Brunecker Kreisamtes aus dem Jahr 1818 verdeutlicht: „Als Hauptschule des Verbrechens sieht (man) die sogenannten Landfahrer, Dörcher, Karrenzieher; die Deserteurs und die arbeitsscheuen Vagabunden an."2

    Illustration

    Abb. 1: Schloss Wiesberg mit fahrender Familie im Vordergrund, gezeichnet von Carl Viehbeck, 1820

    Maßgeblich zur Verachtung dieser sozialen Gruppe trugen, neben der Abstiegsangst der Sesshaften,3 nicht zuletzt die mit dem Anwachsen der Gruppe zunehmenden Kosten für die Gemeinden bei. Die Gemeinden waren – wenn seitens der Verarmten ein Heimatrecht bestand – für die Ausstattung der Kinder und die Armenfürsorge zuständig.4 Wie die Situation in Gemeinden aussah, in denen viele Jenische daheim waren, zeichnet der Chronist Manfred Wegleiter exemplarisch für die Gemeinde Haiming nach. Für seinen Beitrag „Die Haiminger Landfahrer im Spiegel der Zeit" hat er eine Vielzahl an Dokumenten aus verschiedenen Archiven durchgearbeitet und analysiert sowie Zeitungen nach jenischen Spuren durchforstet. Dabei spielen Quellen wie Gemeinderatsprotokolle oder das Totenbuch am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eine große Rolle, anhand derer etwa die Suche nach Wohnraum oder die Hygienebedingungen und die daraus resultierende hohe Kindersterblichkeit nachvollzogen werden können. Wegleiter bemüht sich um ein differenziertes Bild, liefert Erklärungen für zugeschriebene Verhaltensweisen und streicht beispielsweise auch Leistungen aus dem Schulbereich hervor, die gängigen Vorurteilen widersprechen. Ergebnis ist ein vielstimmiges Bild einer Gemeinde, das vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht.

    Mit einer spannenden Zusammenschau von „Fragmenten einer Familiengeschichte aus dem Oberland" setzt der Historiker Stefan Dietrich die Überlegungen fort und lässt die Leserschaft an der eigenen Familiengeschichte teilhaben, die über fast 200 Jahre hinweg Anekdoten aus dem Leben der Katharina Mayr in mündlicher Überlieferung erhalten hat. Dietrich stellt die Erzählungen den schriftlichen Quellen rund um Katharinas Biografie gegenüber. Interessantes Detail: In der Hoffnung auf das Sakrament einer sogenannten „Rom-Ehe" führte ihr Lebensweg tatsächlich bis nach Rom. Gerade für Menschen, denen in den Heimatgemeinden die Bewilligung zur Heirat verweigert wurde, stellte eine Trauung durch einen päpstlichen Vertreter in Rom die einzige Möglichkeit dar, eine Ehe zu schließen. Trotz der Gefahr einer mehrwöchigen Gefängnisstrafe nach der Rückkehr in die Heimatgemeinde wurde diese Möglichkeit im 19. Jahrhundert häufig von Jenischen angenommen.

    Im darauffolgenden Beitrag „Die Vinschger sain Korrner!" wirft Helene Dietl Laganda einen Blick auf die Situation in Südtirol bzw. speziell ins Vinschgau. Wie eingangs erwähnt, kam es in Südtirol durch eine frühe kritische Kulturarbeit zu einer bemerkenswerten Diskursverschiebung, die zur Folge hatte, dass sich die Vinschger Bevölkerung kollektiv im Erbe der „Korrner" sieht. Andererseits scheint aber der Bezug zu realen Personen der Vergangenheit zu fehlen und es wird davon ausgegangen, dass es keine „Korrner" mehr gibt. Von der Eigenbezeichnung als Jenische und einer eigenen Sprache fehlt heute jegliche Spur.5 Eine in letzter Instanz nicht ganz befriedigende Erklärung, warum dies so sein könnte, liegt in der sogenannten Option. Der deutschsprachigen Bevölkerung wurde mit dem Hitler-Mussolini-Abkommen 1939 vor die Wahl gestellt, entweder ins nationalsozialistische Deutschland zu emigrieren oder mit dem Verbleib in Südtirol die Repressionen infolge der Italianisierungskampagne der faschistischen Regierung in Rom in Kauf zu nehmen. Offensichtlich waren unter den ersten und dauerhaften Optanten viele Südtiroler Jenische, die als Ärmste der Armen wenig zu verlieren hatten.6 Paul Rösch vermutet auch, dass ihnen von den Bürgermeistern „goldene Brücken gebaut wurden, dass sie gehen.7 Auch Alois Federspiel („Storchn Lois), dessen Biographie als die eines der „letzten" Südtiroler „Korrner" in diesem Buch wieder abgedruckt wird, hat sich für die Option entschieden. Die Bezüge zwischen Süd- und Nordtiroler Jenischen zeigen sich aber schon früher. Im Bewusstsein, dass es schwierig ist, sich an Familiennamen zu orientieren, und damit Vorurteile reproduziert werden, die etliche Jenische dazu veranlasst haben, andere Namen anzunehmen,8 können doch familiäre Beziehungen über den Reschenpass festgestellt werden. Auch in persönlichen Gesprächen mit Nordtiroler Jenischen im Rahmen der von der Initiative Minderheiten seit 2016 veranstalteten Jenischen Kulturtage werden diese Verbindungen immer wieder erwähnt.

    Einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte widmet sich der Zeithistoriker Horst Schreiber unter dem Titel „Die Jenischen im Nationalsozialismus. In atemberaubender Dichte zeichnet Schreiber die politische Linie des nationalsozialistischen Regimes nach, die eine Anerkennung der Jenischen als zugehörig zur „Volksgemeinschaft in Aussicht stellte, wenn diese ihre Lebensweise aufgeben würden und sich assimilierten. Zugleich wurde Jenischen von Anfang an unterstellt, ebendiese „Volksgemeinschaft zu zersetzen, und sie wurden als „Asoziale verfolgt. Einzelne dieser Schicksale finden, wo sie sich rekonstruieren lassen, im Beitrag Eingang und geben so ein fundiertes Bild der Situation Jenischer in der NS-Zeit sowie in den ersten Jahrzehnten danach. Einmal mehr zeigen sich ideologische und personelle Kontinuitäten nach 1945. Doch auch die Tatsache, dass die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Bezug auf die Diskriminierung und Verfolgung der Jenischen „mehr Kontinuität als Bruch" bedeutete, wird deutlich.

    Romed Mungenast als Person einerseits und besonders als Pionier in den Bemühungen um die Dokumentation der jenischen Geschichte andererseits nimmt in einem Sammelband zur jenischen Geschichte in Tirol wenig überraschend einen wichtigen Platz ein. In einem ersten Beitrag gibt die Literaturwissenschaftlerin Christine Riccabona auf die Frage „Was bleibt vom Pionier, Kulturvermittler, Sammler und Dichter Romed Mungenast? eine Antwort in Hinblick darauf, welche Teile von Mungenasts Sammlung im Innsbrucker Forschungsinstitut Brenner-Archiv Eingang fanden. Darin und in seinem literarischen Nachlass findet sie „Spuren einer Haltung und stellt ein bleibendes Interesse an Werk, Leben und Sammlung von Romed Mungenast fest.

    Im darauffolgenden Beitrag „Ich habe mein Leben geändert" wird das Gespräch des Historikers Thomas Huonker mit Romed Mungenast aus dem Jahr 2003 in Auszügen wiedergegeben. Darin erzählt Mungenast offen und selbstkritisch über Schlüsselerlebnisse, die ihn bei der Entwicklung von einem diskriminierten und ausgegrenzten Kind – durch eine Phase der Wut über dieses Unrecht – hin zu einem Forscher und Kenner der jenischen Geschichte unterstützten und ihn zu einem Vorkämpfer für die Anerkennung Jenischer als Teil der Tiroler Geschichte und Gesellschaft werden ließen. Man freut sich posthum mit ihm, wenn man ihn, wenige Jahre vor seinem zu frühen Tod 2006, von seinem späten persönlichen Glück erzählen hört.

    Edith Hessenberger widmet sich in ihrem Beitrag „Fremdbilder >< Selbstbilder. Leben mit der Geschichte jenischer Ahnen" den Spuren Jenischer im Ötztal. Sie stellt Erzählungen, Anekdoten und historische Quellen über Jenische zwei lebensgeschichtlichen Interviews mit Jenischen gegenüber. Durch diese Konfrontation von Fremd- mit Selbstbildern regt sie eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung an. Divergenzen zeigen sich hier etwa besonders deutlich in Bezug auf die Inszenierungen der „Karrner" und „Laninger" in den Fasnachten der Region sowie den Reaktionen Jenischer darauf. – Ist es Zufall, dass beide jenischen Gewährsleute ihren Ausdruck in Kunst und Literatur gefunden haben?

    Mit Gedichten von Sieglinde Schauer-Glatz in jenischer Sprache und im Ötztaler Dialekt schließt die vorliegende Publikation den Bogen auf poetische Weise. In den abgedruckten Texten verhandelt die Dichterin, die für ihr jahrzehntelanges Engagement für Menschen mit Behinderung 2010 mit der Verdienstmedaille des Landes Tirol ausgezeichnet wurde, Ausgrenzungen. Der Abschluss ist jedoch geprägt durch den versöhnlichen Ton im Gedicht „Die Hoamat", in dem sie auf ihre Kindheit in Huben zurückblickt.

    Illustration

    Abb. 2: Jenisches Lager am Wegesrand im Vorderen Ötztal

    An dieser Stelle soll ein Wort zum Titelbild dieses Bandes nicht fehlen: Wir stellen – symbolisch für die Herangehensweise an dieses komplexe Thema – eine Fotografie von Meinhard Pfaundler aus dem Jahr 1931 an den Anfang dieses Buches (und auf die Titelseite des Projektes): Sie befindet sich mit der Bildbeschriftung „Karrner" in einem Fotoalbum über Piburg (Gemeinde Oetz) und lässt viele Fragen offen. Nicht nur die Fragen danach, wer auf diesem Foto zu sehen ist oder wo dieses Foto gemacht wurde. Auch die Frage danach, ob es sich wirklich um Jenische handelt oder ob uns einige stereotype Elemente hier in die Irre leiten. Ausgehend von den wenigen Daten, die uns heute noch vorliegen, den wenigen Zeugnissen wie Fotos oder Erinnerungserzählungen sollen Aspekte jener Geschichte von Tirolerinnen und Tirolern rekonstruiert und bewusst gemacht werden, die mitunter gezielt unsichtbar gehalten wurden.

    __________________

    1Pescosta 2003, S. 20 u. 30.

    2Jäger 2005, S. 227.

    3Spiss 1993, S. 100.

    4Kluibenschedl 1985, S. 72.

    5Als Paul Rösch, der sich in den späten 1980er Jahren als einer der Ersten umfassend mit den „Korrnern" im Vinschgau wissenschaftlich auseinandergesetzt hat, Interviews für seine Dissertation (vgl. Rösch 1988) führte, waren wenigen älteren Leuten zwar noch einzelne jenische Worte geläufig, aber als eigenständige Sprache war Jenisch nicht mehr in Verwendung. (Vgl. Rösch und Obwegeser 2019, 49:45 min.) Die Tochter von Alois Federspiel hingegen erzählte davon, dass ihr Vater gelegentlich die Sprache benutzte.

    6Vgl. auch ebd., 38:00 min.

    7Ebd., 41:20 min.

    8Für den Vinschgau konstatiert Paul Rösch etwa, dass viele Jenische im Rahmen der Italianisierung der Faschisten recht früh italienische Namen annahmen. Ebd., 40:35 min.

    Illustration

    Das Bild der wandernden „Tirolerin – schon durch die Kleidung Inbegriff stereotyper Zuschreibungen. Georg Emanuel Opitz: „Die Tyrolerinn, der Hausmeister und ein Italiäner mit Gypsfiguren in Wien, 1804–1812

    Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit

    Michael Span

    Dass Migration und Mobilität so alt wie die Menschheit selbst sind, gilt als allgemein bekannt. Dabei sind ganz unterschiedliche Typen von Wanderungsbewegungen zu unterscheiden. Von der dauerhaften Ein- oder Auswanderung über zyklisch wiederkehrende Migration bis zum Leben als Fahrende ganz ohne festen Wohnsitz, von Migration aus religiösen, politischen, wirtschaftlichen, ökologischen oder gesundheitlichen Gründen bis zu Vertreibung, Versklavung und/oder Verschleppungen, von der Binnenmigration in die nächste Stadt oder das Nachbardorf bis zur Auswanderung auf andere Kontinente. Der Trend zu vermehrter Sesshaftigkeit habe sich – nach einer Phase besonders hoher Mobilität während der Industrialisierung – erst mit dem 20. Jahrhundert, in besonderem Maße nach 1945, verstärkt, erklärt etwa Sylvia Hahn in ihrem Überblick zur Migrationsgeschichte.1

    Auch im Tiroler Raum waren Migration und Mobilität in der (Frühen) Neuzeit üblich. Tatsächlich ist es sogar so, dass die Alpenregion in besonderer Weise von unterschiedlichen Wanderungsbewegungen geprägt wurde. Und einige Aspekte dieser alpinen Migrationsgeschichte – beispielsweise die saisonale Arbeitsmigration von Tiroler*innen – trugen einerseits bereits früh zur Ausbildung stereotyper Bilder bei und fanden andererseits auch in einschlägiger Grundlagenliteratur bereits Erwähnung.2

    Im Folgenden sollen einzelne Schlaglichter auf Aspekte dieser Geschichte geworfen und so versucht werden, diese in ihrer Mehrdimensionalität zu umreißen und im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit zu verorten. Dies soll anhand relevanter Literatur zur Thematik erfolgen, deren Grundgerüst durch konkrete Quellenfunde zur Region ergänzt wird. Grundsätzlich mitzudenken gilt es dabei, dass die Region sowohl Ziel- als auch Ausgangsort von Migration sein konnte. In vielen Fällen war sie beides zugleich, denn keineswegs gab es nur transregionale bzw. grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen.

    Im Folgenden wird der Ausgang bei der Tiroler Landesordnung aus dem 16. Jahrhundert genommen, die für den in diesem Band behandelten Raum bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als rechtliche Grundlage diente. Hier kommt vor allem die sicherheitspolizeiliche Dimension von Wanderungsbewegungen auf landesfürstlichem Territorium respektive in dieses zum Ausdruck. Dabei wird bereits deutlich, dass die Obrigkeit vor allem mobilen Formen von Handel und Dienstleistungsgewerben sowie Bettler*innen ihre Aufmerksamkeit widmete. Auf die Spuren, die diese Personengruppe als „Vagabund*innen" in den lokalen Quellen hinterließ, wird in diesem Beitrag ein besonderer Fokus gelegt.

    Illustration

    Abb. 1: Bettler vor der Stampfanger-Kapelle bei Söll, Bleistiftzeichnung, um 1820

    Migrationsbewegungen, ob in Form einer einmaligen dauerhaften Auswanderung oder als wiederkehrende, saisonale Wanderung, die aus der Region hinaus führte, wurden in der Tiroler Landesordnung indes im Grunde nicht berührt.3 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen aus dem ländlichen Raum in großer Zahl als Arbeitsmigrant*innen auf der Suche nach Einkommensmöglichkeiten die Grenzen der Grafschaft hinter sich ließen. Unterschiedlichen Ausformungen dieser Wanderungsbewegungen soll im Folgenden ebenfalls Raum gegeben werden.

    Entstehen soll so ein konziser Einblick in die Vielschichtigkeit des Themenfeldes Migration und Mobilität, der die eingangs angeführte, triviale Diagnose der historischen Normalität von Wanderungsbewegungen konkretisiert und im regionalen Kontext verankert darstellt.

    Die Region als Ziel von Wanderungen

    Migration und Mobilität als Problem – die Tiroler Landesordnung

    „Schotten, „Savoyer, „Juden, „Bettler, „Zigeuner, „Riffianer – die Tiroler Landesordnung in ihrer Form von 1573 nennt gleich mehrere Gruppen, für die offenbar aufgrund ihrer Mobilität besonderer Regelungsbedarf gesehen wurde. Am deutlichsten wurde dies im Zusammenhang mit den „Schotten", so wurden zeitgenössisch wandernde Händler genannt, die keineswegs aus Schottland stammen mussten,4 und „Sophoyren (Savoyern), für die dasselbe in Hinblick auf Savoyen galt,5 formuliert. Ihnen wurde untersagt, ihre Geschäfte von Haus zu Haus, abseits offizieller Marktzeiten und außerhalb der Kontrollsphäre der Obrigkeit zu betreiben – eine Bestimmung, die auch auf jüdische Handelsleute ausgedehnt wurde. Betrügereien sollten damit unterbunden werden.6 Falls sich „Schotten oder „Savoyer aber „mit wonung vnnd hauß-hablichem wesen niderlassen, also sesshaft werden würden, so dürften sie – gleich wie die anderen Untertanen auch – ihren Geschäften „frey vnd vnuerhindert nachgehen. Die Mobilität wurde hier insofern als kritisch betrachtet, als durch sie obrigkeitliche Kontrollen erschwert oder gar verunmöglicht wurden.7 Ebenfalls wohl aufgrund sozioökonomischer Merkmale und wegen ihrer Mobilität standen die sogenannten „Riffianer im Visier der Obrigkeit.8 Sie zögen „mit grossem Spil / Zerungen vnnd Weybern" von Jahrmarkt

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