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Skandalfilme: Cineastische Aufreger gestern und heute
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eBook836 Seiten9 Stunden

Skandalfilme: Cineastische Aufreger gestern und heute

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Über dieses E-Book

"Der schweinischste Film aller Zeiten" titelte die Bild-Zeitung zum Deutschlandstart von Basic Instinct am 21. Mai 1992. Heute ist die Aufregung kaum nachzuvollziehen. Die Filmgeschichte kennt viele Filme, die nach ihrem Erscheinen Wut, Abscheu oder Empörung hervorriefen und in ihrer Zeit zum Skandal wurden. Stefan Volk hat sich eine ganze Reihe dieser Film-skandale angeschaut: Warum wurde ein Film zum Skandalfilm? Welches Tabu wurde verletzt? Wie bewerten wir heute diesen Film?
So ist ein unterhaltsames Buch entstanden, das den Wandel von Sitten und moralischen Vorstellungen schildert und zugleich belegt, dass Film auch immer das Medium der Provokation gewesen ist.

Eine Auswahl der besprochenen Filme:

Anders als die Anderen (1919, Richard Oswald), Das Goldene Zeitalter (1930, Luis Buñuel), Im Westen nichts Neues (1930, Lewis Milestone), Ekstase (1933, Gustav Machatý), Die Sünderin (1950, Willi Forst), Die Zeit mit Monika (1953, Ingmar Bergman), Peeping Tom (1959, Michael Powell), Das Schweigen (1963, Ingmar Bergman), Spur der Steine (1966, Frank Beyer), O.K. (1970, Michael Verhoeven), Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971, Rosa von Praunheim), Salò oder die 120 Tage von Sodom (1975, Pier Paolo Pasolini), Im Reich der Sinne (1976, Nagisa Oshima), Die Konsequenz (1977, Wolfgang Petersen), Das Gespenst (1982, Herbert Achternbusch), Maria und Joseph (1985, Jean-Luc Godard), Die letzte Versuchung Christi (1988, Martin Scorsese), Basic Instinct (1992, Paul Verhoeven), Kids (1995, Larry Clark), Funny Games (1997, Michael Haneke), Lolita (1997, Adrian Lyne), Idioten (1998, Lars von Trier), Baise-moi (2000, Virginie Despentes), Die Passion Christi (2004, Mel Gibson), Tal der Wölfe (2005, Serdar Akar)

Zusätzliche Informationen finden sich auf der begleitenden Website www.skandalfilm.net
SpracheDeutsch
HerausgeberSchüren Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2012
ISBN9783894727918
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    Buchvorschau

    Skandalfilme - Stefan Volk

    77.

    Von den Anfängen bis 1949

    Den Kinogegnern der ersten Stunden hätte die Rede vom «Skandalfilm» wohl wie eine Tautologie erscheinen müssen. Der Skandal steckte für sie im Film automatisch mit drin. Kinematographie galt ihnen als Jahrmarktsschund, eine Sensation für den Pöbel, kulturell minderwertig und verderblich dazu. Hinter den bewegten Bildern vermuteten sie eine suggestive Kraft, die sie als bedrohlich empfanden. Es kursierten Berichte von mehr oder weniger schockierenden Nachahmungstaten. Ein Junge jagte sich angeblich mit dem väterlichen Revolver eine Kugel in den Kopf, als er eine Filmszene nachspielte.1 Ein anderer schmierte einem 10-jährigen Mädchen trockenes Farbpulver ins Gesicht. Auch daran sollte das Kino, diese «Schule des Verbrechers»2 schuld sein.3 Es stellten sich Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Rezeption und Ausübung von Gewalt, die an die Debatten um Amokläufe und Killerspiele erinnern und bis heute nicht vollständig beantwortet sind.

    «Wie schützen wir die Kinder vor den schädlichen Einflüssen der Theater lebender Photographie?» fragte sich 1907 eine Kommission, die der Hamburger Lehrerverein «Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens» ins Leben gerufen hatte.4 Ein mögliches Mittel zu diesem «Schutz» war die Film-Vorzensur, die am 5. Mai 1906 in Berlin durch einen Erlass des Berliner Polizeipräsidenten erstmalig eingeführt worden war. Vorausgegangen waren dieser Polizeiverordnung mehrere Filme, die über das ohnehin Skandalöse des Mediums hinaus für Aufregung sorgten, weil sie die Polizei kritisierten oder sich über sie lustig machten. Gegenstand der Filme war ein zeitgenössischer Kriminalfall: die Geschichte des Raubmörders Rudolf Hennig und seiner spektakulären Flucht vor der Berliner Polizei. Der bekannteste dieser Filme war Gustav Schönwalds (1868–1919) DIE FLUCHT UND VERFOLGUNG DES RAUBMÖRDERS RUDOLF HENNIG ÜBER DIE DÄCHER VON BERLIN (1905). Wenn man so will, war dieser circa 100 Meter kurze, von der «Internationalen Kinematograph- und Lichtbild-Gesellschaft» in Berlin hergestellte Streifen der erste Skandalfilm der deutschen Filmgeschichte.

    Hennig war mittlerweile gefasst worden, als das Berliner Polizeipräsidium am 13. April 1906 ein Vorführungsverbot über alle «auf künstlichem Wege hergestellten Darstellungen von Hennigs Mordtat und seiner Flucht» verhing, weil darin die Polizei verunglimpft und in ein schwebendes Verfahren eingegriffen werde. Das Verbot wurde zwar bereits am 18. April wieder aufgehoben. Gleichzeitig aber wurde für die Zukunft Vorsorge getroffen. Am 5. Mai, vier Tage nachdem Hennig zum Tode verurteilt worden war, führte der Berliner Polizeipräsident die Vorzensur ein. Kinobesitzer mussten ihr Programm fortan im Polizeipräsidium einreichen. Filme konnten zur Vorführung «freigegeben» oder «verboten» werden oder auch in die Kategorie «verboten für Kinder» fallen. Auch Schnittauflagen konnten als Voraussetzung für eine Freigabe verhängt werden.5

    Deutschlandweit fand der Berliner Erlass Nachahmer, und Filmprüfstellen wurden eingerichtet. Die Filmzensur wurde in den kommenden Jahren zunehmend vereinheitlich und systematisiert. Doch erst mit dem Ministerialerlass vom 30. April 1912 und seiner Präzisierung im Juli 1912 konnte zumindest für Preußen von einer einheitlichen Filmzensur unter dem Dach der Polizeibehören gesprochen werden.6

    Diese Situation änderte sich grundlegend nach Ende des 1. Weltkrieges in der Übergangsphase vom Kaiserreich zur Weimarer Republik als der «Rat der Volksbeauftragten» am 12. November 1918 die Zensur abschaffte. Im Artikel 118 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 wurde diese Zensurfreiheit zwar prinzipiell bestätigt, gleichzeitig jedoch potenziell eingeschränkt: «Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.» Eine solche «abweichende Bestimmung» erfolgte am 12. Mai 1920 mit dem 1. Reichslichtspielgesetz.

    In den 18 Monaten aber, die zwischen der Abschaffung der Filmzensur und ihrer Wiedereinführung lagen, traf die Kunstfreiheit in Deutschland auf eine durch die Erfahrungen des verlorenen Krieges hochgradig verunsicherte, inhomogene Gesellschaft mit in weiten Teilen dennoch unverändert strikten Moralvorstellungen. Das ideale Klima für Skandalfilme. Eine Welle von Aufklärungs-, Sitten- und Animierfilmen, auf die im Zusammenhang mit dem Skandal um Richard Oswalds ANDERS ALS DIE ANDERN (1919) noch näher eingegangen wird, ergoss sich über die Lichtspielhäuser und wurde von ihren Gegnern mit einer Gegenwelle wutschäumender Empörung beantwortet. Kinokritiker, die sich in ihrem Kampf gegen den «Schundfilm» ereiferten, unterschieden oft kaum noch zwischen ernstgemeinter und nur geheuchelter Aufklärung über Themen wie Prostitution, Ehebruch, Geschlechtskrankheiten, Homosexualität, Abtreibung oder Mädchenhandel. Einmal mehr drohte das Kino per se als Hort der Unmoral diffamiert zu werden. In einem Bericht an das Reichsinnenministerium fasste die «Kölner Volksgemeinschaft zur Wahrung von Anstand und guter Sitte» ihre Erfahrungen aus dem Besuch von 36 Lichtspieltheatern 1920 folgendermaßen zusammen: «Was zunächst die Zuschauer betrifft, so stammten diese in überwiegender Zahl aus Arbeiterkreisen. Die besseren Bürgerfamilien und die Gebildeten scheinen das Kino gänzlich zu meiden. […] Viele Frauen, oft mit kleinen Kindern, meist ohne Begleitung ihrer Männer, waren zu bemerken, auch manchmal mit Männern, die wohl nicht ihre Ehemänner sind. […] Vielfach wurden auch junge Pärchen aus dem Arbeiterstand beobachtet, die sich in nicht ganz einwandfreier Weise auf den weniger beleuchteten Plätzen benahmen. […] Ausgesprochene Straßendirnen, die in ihrem Benehmen sofort erkennbar waren, suchten hier ihre Opfer.»7

    Und wenn die «besseren Bürgerfamilien» dann doch einmal ins oder vors Kino gingen, dann, so schien es beinahe, um gegen die «unsittlichen Zustände» zu demonstrieren, zu pfeifen und ihr Geld zurückzuverlangen. Allerorten kam es zu Zwischenfällen und öffentlicher Empörung. Selbst liberale Zeitgeister wie Kurt Tucholsky alias Ignaz Wrobel entrüsteten sich: «Inzwischen bilden die Leute Queue, wenn Parvus Rehwiese8 wieder einen Paragraphen des Strafgesetzbuches verfilmt hat (es stehen noch aus: § 176,3 – wer mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt…; § 177 – Notzucht; § 183 Öffentliche Erregung eines geschlechtlichen Ärgernisses; und nur der § 184 ist vor dem Filmisten sicher, weil er selber drunter fällt: Verbreitung unzüchtiger Schriften.) Die Leute also stehen vor der Kasse bis auf die Straße, unser Mahnruf wird da auch nichts helfen, und es bleibt schon bei unserm guten alten Spruch: Jeder seins.»9

    Es blieb nicht dabei. Am 12. Mai 1920 trat das Lichtspielgesetz in Kraft, das die öffentliche Vorführung von Filmen nur noch erlaubte, wenn sie zuvor von «amtlichen Prüfungsstellen» zugelassen wurden. Diese Filmprüfstellen, die anschließend in München und Berlin eingerichtet wurden, hatten in erster Instanz die Zulassung zu versagen, wenn «die Vorführung eines Bildstreifens geeignet» schien, «die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das religiöse Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden». Der große Spielraum, den die Zensoren aufgrund dieser allgemein gehaltenen und vage formulierten Verbotsgründe erhielten, sollte durch die von der SPD und DDP durchgesetzten «Tendenzklausen» wieder etwas eingeschränkt werden. Danach durfte ein Film «wegen einer politischen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher» nicht verboten werden. Das Lichtspielgesetz legitimierte damit eine Wirkungszensur, die sich nicht am Geschmack der Zensoren oder reinen Inhalt des Filmstreifens zu orientieren hatte, sondern an der von ihm ausgehenden Wirkung. Diese wiederum musste ihren Ursprung im Film selbst haben. Aus «Gründen, die außerhalb des Inhalts des Bildstreifens liegen», durfte einem Film die Zulassung nicht verweigert werden. Filmen, «bei denen die Gründe der Versagung der Zulassung nur hinsichtlich eines Teils der dargestellten Vorgänge zutreffen», konnte die Prüfstelle Schnittauflagen für eine Zulassung erteilen. Für eine Zulassung zur Vorführung vor Jugendlichen musste zusätzlich «eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen» ausgeschlossen werden können. Kinder unter sechs Jahren war der Kinobesuch nicht erlaubt.

    Das Lichtspielgesetz erfuhr mehrere Novellierungen; eine davon als Reaktion auf den von den Nationalsozialisten provozierten Skandal um IM WESTEN NICHTS NEUES (1930). Im Oktober 1931 wurde per Notverordnung ein weiterer Verbotsgrund in das Gesetz aufgenommen. Eine Zulassung war demnach auch dann zu versagen, wenn «lebenswichtige Interessen des Staates» gefährdet wurden. Gegen eine Zulassung durch die Prüfstelle, die jeweils für das gesamte Reichsgebiet galt, konnten die Länder Widerspruch einlegen. Auch konnte der Vorsitzende der Prüfstelle oder, im Fall eines Verbotes, die betroffene Filmproduktionsfirma Beschwerde gegen den Entscheid einlegen. In letzter Instanz entschied jeweils die Filmoberprüfstelle in Berlin über die Zulassung des Films. Sowohl die Kammern der Prüfstellen als auch die Oberprüfstelle setzten sich aus einem Vorsitzenden und vier Beisitzern zusammen, von denen «einer dem Lichtspielgewerbe und zwei den Kreisen der auf den Gebieten der Volkswohlfahrt, der Volksbildung oder der Jugendwohlfahrt besonders erfahrenen Personen zu entnehmen» waren. Da der Gesetzestext einen weiten Auslegungsspielraum offen ließ, war es oftmals die jeweilige personelle Zusammensetzung des Beirates, die in strittigen Fällen über Zulassung und Verbot entschied.

    3 D.W Griffith’ GEBURT EINER NATION: «Bösartigste Herabwürdigung»

    In diesem Grenzbereich am Rande des Verbots bewegten sich auch die meisten Skandalfilme der Weimarer Republik, sodass sich der Skandal um einen Film häufig zu einer Debatte über die Zensur bzw. die Entscheide der jeweiligen Prüfstellen ausweitete. Mit dem Lichtspielgesetz verschoben sich die Schwerpunkte bei den Themen, die Skandale hervorriefen. «Sitten-» oder unsittliche Filme sorgten nicht mehr ganz so häufig für Aufsehen. Zum öffentlichen Ärgernis gerierten sie vor allem dann, wenn sie, wie etwa GIER NACH GELD (1924), ein unbequemes Gesellschaftsbild zeichneten oder wie TAGEBUCH EINER VERLORENEN (1929) eine Haltung vertraten und eine Lebensweise propagierten, die als unmoralisch empfunden wurde.

    Allerdings nicht nur dann. So protestierte etwa die bayerische Turnerschaft energisch gegen den von Wilhelm Prager inszenierten Ufa-Film WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT (1924/25), in dem zur Veranschaulichung von Körperertüchtigung und Körperkult(ur) serienweise nackte – aber nicht etwa «ausgekleidete», wie Siegfried Kracauer in seiner Filmkritik lobend hervorhob10 – und halbnackte Menschen posierten. Die Landesregierungen von Bayern, Baden und Hessen legten Widerspruch gegen die Zulassung des Films ein, konnten jedoch nicht mehr als einige zusätzliche Schnittauflagen erreichen. «Die Darstellung des ‹Nackten› schlechthin ist nicht entsittlichend», entschied die Berliner Oberprüfstelle.11

    Die Filmskandale um die beiden Buñuel-Filme EIN ANDALUSISCHER HUND (1929) und DAS GOLDENE ZEITALTER (1930) wurden in Deutschland nur am Rande wahrgenommen. Wegen der besonderen filmhistorischen Bedeutung dieser beiden Werke und weil sie die wohl herausragendsten Filmbeispiele surrealistischer Skandallust darstellen, werden sie, mit einem Blick über den deutschen Tellerrand hinaus, auf den folgenden Seiten dennoch vorgestellt. Schon 1915 hatte ein anderer Filmkünstler mit einem filmästhetisch bahnbrechenden Werk in den USA für gewaltige Unruhen gesorgt. D.W. Griffith’ THE BIRTH OF A NATION (DIE GEBURT EINER NATION; Abb. 3) lockte nicht nur über 800.000 Besucher in die US-Kinos, womit er zum erfolgreichsten Stummfilm der Kinogeschichte avancierte, sondern auch Tausende auf die Straßen. Die Mitglieder der afro-amerikanischen Bürgerrechtsorganisation NAACP («National Association of the Advancement of Colored People») protestierten gegen die «bösartigste Herabwürdigung» aller Farbigen und gegen die rassistische Botschaft des Films, der die Anhänger des Ku Klux Klans zu Verteidigern des weißen Geburtsrechtes zu verklären schien.12 Bei den Filmpremieren in Austin, Texas und Atlanta, Georgia feierten Zuschauer das Wiederaufleben des Klans und paradierten jubelnd durch die Stadt.13 Der Filmskandal um THE BIRTH OF A NATION legte den Finger in die Wunde einer in der Rassenfrage noch immer gespaltenen Nation.

    Auch für das gesellschaftliche Klima in Deutschland war es zur Zeit der Weimarer Republik bezeichnend, dass die größten Filmskandale keinen sittlichen Ursprung mehr hatten, sondern vielmehr einen politisch-ideologischen. Die Fronten verliefen dabei nicht zwischen tabubrechenden Künstlern und Filmproduzenten einerseits und der aufgebrachten moralischen Mehrheit andererseits, sondern zwischen rechtem und linkem Lager. So stehen auch die Auseinandersetzungen um Filme wie FRIDERICUS REX (1920/21), PANZERKREUZER POTEMKIN (1925), IM WESTEN NICHTS NEUES oder DAS FLÖTENKONZERT VON SANSSOUCI (1930) beispielhaft für eine polarisierte Gesellschaft ohne eine breite und stabile politische Mitte. Nicht selten schlugen sich die in der Presse, auf der Straße und in den Kinos ausgefochtenen ideologischen Grabenkämpfe in den Entscheiden der Prüfstellen nieder, in denen das Lichtspielgesetz je nach Zusammensetzung des Beirates völlig unterschiedlich angewandt wurde.

    Während die Filmskandale in der Zeit bevor das Lichtspielgesetz verabschiedet worden war oftmals Stimmen nach Wiedereinführung der Zensur laut werden ließen, führten die Verbotsmöglichkeiten des Lichtspielgesetzes in den Jahren danach teilweise zu einer bewussten Skandalisierung von Filmen. Skandale wurden gezielt inszeniert oder geschürt, Kinovorstellungen gestört und die «öffentliche Ordnung» auf den Straßen vor den Kinos gefährdet, um auf diese Weise ein Verbot des ideologisch unliebsamen Filmes zu erzwingen. Dabei lieferte der «Skandalfilm», wie etwa bei den von Goebbels gelenkten gewaltsamen Protesten gegen IM WESTEN NICHTS NEUES, den willkommenen Vorwand für einen grundlegenden gesellschaftspolitischen Machtkampf. Dass sich die Gewichte darin gegen Ende der Weimarer Republik zum rechten Rand hin verschoben hatten, lässt sich anhand der Zensurpraxis in den Auseinandersetzungen um die politischen Skandalfilme der Weimarer Republik exemplarisch nachweisen. Ein Vergleich der Prüf- und Widerspruchs- bzw. Beschwerdeverfahren bei den Filmen NATHAN DER WEISE (1922/23) und IM WESTEN NICHTS NEUES veranschaulicht den Rechtsruck innerhalb der Filmzulassungsstellen. Eine wichtige Rolle spielte hier jedoch bereits der Wechsel in der Leitung der Berliner Filmoberprüfstelle, wo Ernst Seeger 1924 den bisherigen Vorsitzenden Carl Bulcke abgelöst hatte. Deutlich wird am Beispiel der Weimarer Skandalfilme außerdem, dass sich der politisch-ideologische Riss, der die Republik bedrohte, auch durch deren Zensurbehörden zog.

    Einen unfreiwilligen Rechtsrutsch in der Führungsriege hatte 1927 auch die bedeutendste deutsche Filmproduktionsfirma der Weimarer Republik, die Universum Film AG, kurz Ufa, erlebt. Die finanzielle Krise der Ufa hatte sich durch den als Rettungsanker gedachten «Parufamet-Vertrag» mit den US-Studios Paramount und Metro-Goldwyn-Mayer und das gigantische Minusgeschäft mit Fritz Langs METROPOLIS (1925/26) noch verschärft. Das ermöglichte es Alfred Hugenberg, dem Chef der einflussreichen rechtskonservativen Scherl-Verlagsgruppe und Mitbegründer der reaktionären Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), 1927 die Ufa zu übernehmen.

    Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geriet die Ufa dann de facto unter staatliche Kontrolle. Das Lichtspielgesetz vom 16. Februar 1934, das nun auch eine Verletzung des «nationalsozialistischen Empfindens» als Verbotsgrund vorsah und einen Reichsfilmdramaturgen einführte, der jedes Filmprojekt vorab prüfte, sollte sicherstellen, dass künftig nur noch linientreue Filme ihren Weg auf die Leinwand fanden. Die Filmprüfstelle in München wurde geschlossen, und die Berliner Prüfstellen wurden in die Abteilung Film des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda integriert. Leiter der Abteilung wurde Ernst Seeger.

    Für Filmskandale blieb im totalitären Kontrollsystem der Nationalsozialisten kein Raum. Weder schafften es strittige Filme überhaupt ins Kino, noch hätte es in der gleichgeschalteten Medienlandschaft ein Forum für eine öffentliche Debatte gegeben. Der bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft letzte große Skandalfilm, der – wenn auch in einer völlig verstümmelten und veränderten Fassung und nur für kurze Zeit –in Deutschland gezeigt wurde, war Gustav Machatýs EKSTASE (1933), der unter dem Titel SYMPHONIE DER LIEBE am 8. Januar 1935 in Berlin uraufgeführt wurde. Zwar hatte der Film vor allem in Österreich und Italien für Skandale gesorgt, doch auch in Berlin stieß er auf – eine möglicherweise von den Nationalsozialisten verordnete – Ablehnung. Offensichtlich hatte die nationalsozialistische Filmkontrolle hier (noch) nicht reibungslos funktioniert. Bemerkenswert sind auch die Stimmen aus der Filmkritik, die zum Teil ausdrücklich die Eingriffe der Zensur bemängelten. Derart kritischen Tönen entzog Joseph Goebbels am 27. November 1936 mit dem «Erlass zur Neuformung des deutschen Kulturlebens» die rechtliche Grundlage. Darin heißt es:

    «Da auch das Jahr 1936 keine befriedigende Besserung der Kunstkritik gebracht hat, untersage ich mit dem heutigen Tage endgültig die Weiterführung der Kunstkritik in der bisherigen Form. An die Stelle der bisherigen Kunstkritik, die in völliger Verdrehung des Begriffs ‹Kritik› in der Zeit jüdischer Kunstüberfremdung zum Kunstrichtertum gemacht worden war, wird ab heute der Kunstbericht gestellt; an die Stelle des Kritikers tritt der Kunstschriftleiter. Der Kunstbericht soll weniger Wertung als vielmehr Darstellung und damit Würdigung sein.»14

    Mit diesem Erlass war die Filmkritik offiziell abgeschafft worden. Jede kritische Äußerung war untersagt. An rege, kontrovers geführte öffentliche Debatten war nicht mehr zu denken. Waren die Filmskandale in der Weimarer Republik – mit ihren in der Presse polemisch geführten Wortgefechten, den umstrittenen Zulassungen und Verboten der Prüfstellen, den Auseinandersetzungen zwischen Ländern und Reich, den Störungen im Kino und den Demonstrationen, Protesten und Krawallen auf der Straße – Ausdruck einer gespaltenen Gesellschaft ohne eine tragfähige gemeinsame Grundlage und damit auch ein Signal für die Gefährdung der Demokratie, so verweisen die fehlenden Filmskandale in der Nazizeit auf den totalitären Charakter eines gleichgeschalteten Staates.

    Eine reglementierte Filmwirtschaft und strenge Zensur waren es auch, die unter der alliierten Militärzensur im Nachkriegsdeutschland den Spiel- und Streitraum für Filmproduktionen und -vorführungen bzw. Diskussionen darüber eng hielten. Eine Situation, die sich in Ostdeutschland auch nach Gründung der DDR nicht grundlegend veränderte. Anders hingegen war die Ausgangslage in der Bundesrepublik Deutschland, wo denn auch die ersten Filmskandale nicht lange auf sich warten ließen.

    1 Vgl.: Paul Werner: Die Skandalchronik des deutschen Films. Band 1: Von 1900 bis 1945. FfM 1990, S. 41.

    2 Zitiert nach: Curt Moreck: Sittengeschichte des Kinos. Dresden 1926, S. 256.

    3 Vgl.: Yvonne Ehrenspeck: Pädagogische Kritik der Massenkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Diskursive Konstruktionen und pädagogische Strategien des Jugendschutzes. In: Hans Merkens, Jürgen Zinnecker (Hrsg.): Jahrbuch Jugendforschung. Band 4. Wiesbaden 2004, S. 213.

    4 Vgl.: Ehrenspeck, S. 213.

    5 Vgl.: Herbert Birett: Wann soll die Filmzensur stattfinden? Auf: NZZ Online, 12.5.2006. www.nzz.ch/2006/05/12/fi/articleE2322.html (15.08.2010).

    6 Vgl.: Moreck, S. 49.

    7 Zitiert nach: Werner, S. 105 und Ralf Vollbrecht: Einführung in die Medienpädagogik. Weinheim, Basel 2001, S. 30.

    8 Anspielung auf Magnus Hirschfeld.

    9 Zitiert nach: Werner, S. 102f.

    10 Siegfried Kracauer: Wege zu Kraft und Schönheit. In: Frankfurter Zeitung, 21.5.1925.

    11 Protokoll des Zensurentscheids Nr. 446 der Berliner Filmoberprüfstelle vom 26. September 1926, S. 8. Auf: www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb542z.pdf (15.08.2010).

    12 Vgl.: Dawn B. Sova: Forbidden Films. New York 2001, S. 48ff.

    13 Vgl.: Tobias Babilon: The Birth of a Nation. In: Thomas Hoeren, Lena Meyer (Hrsg.): Verbotene Filme: Berlin 2007, S. 62.

    14 Zitiert nach: Thomas Anz, Rainer Baasner (Hrsg.): Literaturkritik: Geschichte. Theorie. Praxis. München 2004, S. 134f.

    ANDERS ALS DIE ANDERN

    Weg mit dem Unglücksparagraphen! – Der Film

    Der Geigenvirtuose Paul Körner verliebt sich in den von ihm geförderten jungen Nachwuchsmusiker Kurt Sivers. Zwischen den beiden entwickelt sich eine heimliche romantische Liaison (Abb. 4). Doch der finstere Bösewicht Franz Bollek, der sich einst an Körner heranmachte (Abb. 5), um ihn aufgrund seiner Homosexualität zu erpressen, entdeckt die Affäre und versucht nun noch mehr Geld aus Körner herauszuholen. Der aber weigert sich zu zahlen und zeigt den Erpresser an, woraufhin dieser ihn wegen Verstoßes gegen den § 175 vor Gericht bringt. Am Ende werden beide verurteilt. Für Körner bedeutet das Urteil das gesellschaftliche und berufliche Aus. Er sieht keinen anderen Ausweg und tötet sich selbst. Der Film endet in einer Einstellung, die eine Hand zeigt, die den § 175 im Gesetzbuch durchstreicht.


    Deutschland 1919

    Stummfilm, Schwarz-Weiß

    Produktion: Richard Oswald Film-Produktion Berlin

    Produzent: Richard Oswald

    Regie: Richard Oswald

    Buch: Richard Oswald, Magnus Hirschfeld

    Kamera: Max Fassbender

    Darsteller: Conrad Veidt (Paul Körner), Fritz Schulz (Kurt Sivers), Reinhold Schünzel (Franz Bollek), Magnus Hirschfeld (Arzt und Sexualwissenschaftler), Anita Berber (Else Sivers)

    FSK: o.A.

    Länge (DVD): 40/51 Min.

    Anbieter (DVD): Edition Filmmuseum


    4–5 Conrad Veith mit Reinhold Schünzel (oben) und Fritz Schulz: «Prachtexemplar der jüdischen Rasse»

    «§ 175. Sozialhygienisches Filmwerk», so lauteten die Unterzeilen, mit denen für den ersten deutschen Film über Homosexualität geworben wurde. Der didaktische, politische Anspruch des Films stand klar im Vordergrund und prägte die auf Empathie und Mitleid abzielende, schwülstige Handlung. Gut und Böse waren eindeutig verteilt, woran die moralisch-markante Hell-Dunkel-Lichtsetzung und das hervorragende, expressive Spiel Conrad Veidts als Körner (Abb. 6)und Reinhold Schünzels als Fiesling Bollek keine Zweifel aufkommen ließen. Konsequenterweise bildete den Höhepunkt des Lehrfilms keine Spielszene, sondern ein zum größten Teil in langen Texteinblendungen wiedergegebener Vortrag eines Sexualwissenschaftlers, der die Vorurteile gegenüber Homosexuellen auszuräumen versucht und vehement die Abschaffung des § 175 fordert (Abb. 7–8).

    6 Conrad Veith als Paul Körner

    7–8 Magnus Hirschfeld über das «Zwischengeschlecht»

    Dargestellt wurde der Redner, der auch an anderer Stelle als Körners Psychiater auftaucht, von keinem Schauspieler, sondern von Magnus Hirschfeld; einem der berühmtesten Sexualforscher seiner Zeit (Abb. 7).

    Gepfiffen, geschrien, gejohlt – der Skandal

    Am 12. November 1918 verkündete der «Rat der Volksbeauftragten» in einem Aufruf an das deutsche Volk: «Eine Zensur findet nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben.» Durch diese Erklärung «mit Gesetzeskraft» hatten auch die Filmemacher, die noch während des Krieges einer strengen Zensur unterlagen, von staatlicher Seite freie Hand. Jedoch nicht lange. Genau anderthalb Jahre später, am 12. Mai 1920, wurde im 1. Reichslichtspielgesetz die Filmzensur wiedereingeführt. Zu den «Schmutz- und Schund-Aufklärungsfilmen», die dadurch von der Leinwand verbannt werden sollten, zählte auch der am 28. Mai 1919 uraufgeführte «sozial-hygienische» Sittenfilm ANDERS ALS DIE ANDERN von Richard Oswald (Abb. 4–8).

    In einem auf den 17. Februar 1958 datierten Brief an den deutschen Regisseur Veit Harlan, der im Jahr davor ANDERS ALS DU UND ICH gedreht hatte, erinnert sich Oswald an einen Vorfall, der sich kurz nach der Berliner Premiere in einer zweiten Vorführung vor geladenen Gästen (u.a. Gustav Stresemann) ereignet hatte: «Während der Film lief, stand mitten in der Vorstellung ein Herr auf und rief: ‹Wenn man diese Schweinerei sieht …›. Ich stoppte sofort die Vorführung, indem ich meine Hand erhob und schrie: ‹Wenn einer diesen Film als Schweinerei bezeichnet, so ist er selbst ein Schwein, Herr Professor Brunner!› Brunner war bekanntlich ein Vorbote der Nazizeit. […] Was geschah? Eine Ovation für mich. Zehn Minuten stürmischer Applaus. Herr Brunner verließ schreiend das Lokal. Die Vorführung ging erfolgreich weiter.»1 Die Aufregung um den Film hatte sich damit freilich noch lange nicht gelegt.

    Bereits unmittelbar nach der Uraufführung von ANDERS ALS DIE ANDERN waren Rufe nach Wiedereinführung der Zensur und Filmverbot laut geworden. In die Kritik am Film mischten sich antisemitische Töne, da sowohl Oswald als auch Hirschfeld Juden waren. Die Deutsche Zeitung berichtete von einem Zwischenfall in einem Berliner Kino. Bereits beim Auftritt des Filmhelden und seines Schülers, eines «wahren Prachtexemplars der jüdischen Rasse»2 hätte das Publikum gepfiffen, geschrieen, gejohlt und pfui gerufen. Eine Szene, die ein Homosexuellenlokal zeigt, in dem Männer miteinander tanzen und auch Transvestiten anwesend sind, habe dann einen derartigen Tumult ausgelöst, dass der Film vorübergehend habe unterbrochen werden müssen. «Sollen wir Deutschen uns denn von den Juden verseuchen lassen?» hätten wütende Zuschauer gebrüllt. Eine «Anzahl von Judenjungen» habe daraufhin das Gesehene verteidigt und tatsächlich einen Teil der Besucher auf ihre Seite bekommen. Ein Großteil des Publikum aber habe den Saal verlassen. «Die Zensur ist aufgehoben», resümierte die Deutsche Zeitung am Ende ihres Berichts, «und der Erfolg –? Wie wir von anderer Seite erfahren, sind Gesuche um ein Verbot dieser Schundfilme an das Polizeipräsidium und andere zuständige Stellen gerichtet worden, ohne Erfolg. Muss da nicht das Volk zur Selbsthilfe greifen?»

    Walther Friedmann, der die Berichterstattung der Deutschen Zeitung im Film-Kurier kritisch kommentierte, beantwortete diese Frage mit einem entgegengesetzten Appell: «Da nun in den allernächsten Tagen in Weimar die Entscheidung über die Frage der Wiedereinführung der Filmzensur fällt, ist es vielleicht doch noch in letzter Stunde von Nutzen, den Herren Sozialdemokraten und Demokraten noch einmal aufzuzeigen, in welch widerliche, alberne und schmutzige Gesellschaft sie geraten, wenn sie mit Leuten an einem Strange ziehen, die in dem Kampf um die Filmzensur sich solch gemeiner Mittel zu bedienen nicht entblöden.»3

    Doch auch die Zustimmung, die ANDERS ALS DIE ANDERN in liberalen und linken Gesellschaftskreisen fand, konnte letztlich nicht verhindern, dass der Film im August 1920 nachträglich verboten wurde. Die Kopien wurden vernichtet. 1927 versuchte Hirschfeld den Film wenigstens teilweise einem Kinopublikum zugänglich zu machen. Er kürzte die circa 90 Minuten des Originals um 50 Minuten und verwandte diese Kurzfassung unter dem Titel SCHULDLOS GEÄCHTET als Schlussepisode seiner Dokumentation GESETZE DER LIEBE, die in den ersten drei Akten das Geschlechts- und Brutverhalten von Tieren untersuchte, ehe sie sich im 4. Akt dem «Zwischengeschlecht» bei Pflanze, Tier und Mensch widmete, woran sich dann die Spielfilmhandlung von SCHULDLOS GEÄCHTET anschloss.


    Richard Oswald

    (5.11.1880–11.9.1963)

    Der jüdische Dramaturg und Regisseur war bereits bei seinem Regiedebüt DAS EISERNE KREUZ (1914) mit der Zensur in Konflikt geraten. Der zweite und dritte Akt des dreiaktigen Antikriegsfilms waren verboten worden, was einem generellen Aufführverbot gleichkam. Oswalds Regiekarriere aber tat dies keinen Abbruch. Allein 1915, 1916 drehte er über ein Dutzend Filme. Meist leichte, unterhaltsame Kost mit beachtlichem Publikumserfolg. Anfang 1916 gründete er die «Richard-Oswald-Film-Gesellschaft». Ein Jahr später, 1917, entstand unter dem programmatischen Titel ES WERDE LICHT! der erste deutsche «Aufklärungsfilm». Das Werk klärte über die «Volkskrankheit» Syphilis auf. Zahlreiche weitere Aufklärungsfilme folgten. 1925 gründete Oswald mit Heinrich Nebenzahl die «Nero-Film-AG», die u.a. Filme von Fritz Lang oder Georg Wilhelm Pabst produzierte. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte Oswald zunächst ins europäische Ausland und später in die USA.


    Abermals schritt die Zensur ein. Zwar wurde der Film von der zuständigen Filmprüfstelle nur mit einem Jugendverbot belegt, dann aber von der Oberprüfstelle verboten; mit der Einschränkung, dass er Ärzten oder Instituten zu wissenschaftlichen Zwecken vorgeführt werden dürfe. In den folgenden Jahren ergingen noch verschiedene weitere Zensurentscheide, die darauf hinausliefen, dass der Film partiell freigegeben wurde, die aus ANDERS ALS DIE ANDERN entnommene Spielfilmhandlung aber verboten blieb. Hirschfeld unterlief das Verbot, indem er im Anschluss an öffentliche Vorführungen der freigegebenen Akte persönlich über die nicht zugelassenen Kapitel referierte und Auszüge daraus «im stehenden Lichtbild»4 zeigte.

    Aufklärungsfilme und weitere Skandale

    Die ersten Aufklärungsfilme in Deutschland entstanden bereits gegen Ende des 1. Weltkrieges noch bevor sich in den zensurfreien 18 Monaten nach Kriegsende eine ganze Welle von Aufklärungs- und Sittenfilmen5 über die deutsche Kinolandschaft ergoss. Die äußerst kontrovers aufgenommenen Produktionen wollten über gesellschaftlich tabuisierte Themen wie Geschlechtskrankheiten, Prostitution, Homosexualität, Abtreibung etc. aufklären; oder gaben es zumindest vor. Pionier des deutschen Aufklärungsfilms war Richard Oswald, der bereits 1916/17 den ersten Teil seiner ES WERDE LICHT!-Serie produzierte. ES WERDE LICHT! entstand mit Unterstützung der «Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten» und wurde im März 1917 uraufgeführt. Der Spielfilm erzählt die Geschichte eines an Syphilis erkrankten jungen Malers, der sich in die Hände eines Kurpfuschers begibt. ES WERDE LICHT! 2. TEIL sowie ES WERDE LICHT! 3. TEIL, die beide mit Unterstützung der «Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft» entstanden, thematisieren im Rahmen von Spielfilmhandlungen abermals das Thema Geschlechtskrankheiten. Beide Teile wurden kurz hintereinander im Januar und März 1918 in Berlin uraufgeführt. SÜNDIGE MÜTTER (STRAFGESETZ § 218). ES WERDE LICHT! 4. TEIL setzt sich schließlich mit den verheerender Folgen illegaler Abtreibungen auseinander. In den Filmen DIE PROSTITUTION (geänderter Titel: DAS GELBE HAUS, 1919), DIE SICH VERKAUFEN. DIE PROSTITUTION. 2. TEIL (1919) sowie DAS TAGEBUCH EINER VERLORENEN (1918), der Verfilmung eines Romans von Margarethe Böhme, in dem eine junge Frau von einem Angestellten ihres Vaters verführt und anschließend von ihrer Familie verstoßen wird, nahm sich Oswald sozialer Randgruppen an.


    Magnus Hirschfeld

    (14.5.1868–14.5.1935)

    Hirschfeld hatte 1897 das «Wissenschaftlich-Humanitäre-Komitee» gegründet, das sich für die gesellschaftliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensformen einsetzte. Unermüdlich verlangte der jüdische Sexualforscher die Abschaffung des § 175, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte. Hirschfeld, der am Drehbuch zu Oswalds Film mitschrieb, sah in der Homosexualität eine natürliche Variante, keine Krankheit. Forschung und Person Hirschfelds, der auch eugenische Ideen vertrat und Mitglied der «Gesellschaft für Rassenhygiene» war, sind heute umstritten. Seine Verdienste im Kampf gegen die Diskriminierung Homosexueller aber bleiben unbestreitbar. Regisseur Rosa von Praunheim setzte dem «Ahnherr der Schwulenbewegung» 1999 mit DER EINSTEIN DES SEX ein filmisches Denkmal. Hirschfeld emigrierte 1934 nach Nizza.


    Auch DIDA IBSENS GESCHICHTE. EIN FINALE ZUM «TAGEBUCH EINER VERLORENEN» VON MARGARETE BÖHME (1918) erzählt von solch einer unglücklichen, ausgestoßenen Heldin. Dida Ibsen soll von ihren Eltern zur Heirat gezwungen werden, flüchtet sich in die Arme eines anderen, verheirateten Mannes, wird von ihm schwanger und heiratet schließlich einen Tropenfahrer, mit dem sie eine sado-masochistische Beziehung eingeht. Gespielt wird Dida Ibsen von der heute legendären Tänzerin Anita Berber (1899–1928), die Richard Oswald bereits in DAS DREIMÄDERLHAUS (1918) für das Kino entdeckt hatte und die auch später noch in zahlreichen Oswald-Filmen mitwirkte – so auch in ANDERS ALS DIE ANDERN. Ihre spektakulären Nacktauftritte als Tänzerin hatte Anita Berber noch vor sich, als DIDA IBSENS GESCHICHTE am 12. Dezember 1918 in Berlin Premiere feierte. Noch im September war der Film von der Zensur «für die Dauer des Krieges verboten»6 worden. Nun ließ er wütende Rufe nach der Wiedereinführung der Zensur laut werden. Der Film war, wie Oswalds Aufklärungskino insgesamt, ein Skandal.

    Die Reaktionen

    «Die Aufführung vor ‹geladenem Publikum› war etwas wie eine Sensation. Aus zwei Gründen: erstens des Themas wegen und zweitens – des Publikums wegen. Es ist heikel, über das alles zu schreiben, hat man bisher gesagt. (Vielleicht findet nur ein ‹anderer› die richtigen Töne.) Wenn man das aber sah, sagte man sich: es ist nicht heikel. Es war eine Ovation. Es wurde zur großen Versammlung der ‹anderen›. Die merkwürdig vielen Frauen, die vermutlich Pikanterien witterten, wurden enttäuscht. In der Minderzahl, wurde man belehrt, dass man das alles nicht einmal amüsant finden dürfe, geschweige denn unnatürlich oder gar verdammenswert. So war die ganze Stimmung also eine höchst – ja, ich weiß nicht, wie ich sagen soll.»

    B.E. Lüthge: Anders als die andern. In: Film-Kurier, Nr. 1, 31.5.1919

    «Gegen die Unterstellung, dass ich jemals unter der Maske ‹Aufklärungsfilm› Obscönfilme hergestellt hätte, verwahre ich mich nicht nur, sondern werde gegen jeden, der diese oder eine ähnliche Behauptung zukünftig aufstellt, strafrechtlich vorgehen. Für mich ist jedenfalls diese Hetze, welche lediglich der Neid, die Borniertheit und Gewissenlosigkeit diktiert, erledigt.»

    Richard Oswald: Zensur oder Selbstzucht. In: Film-Kurier, Nr. 24, 3.7.1919

    «Uns scheint, der Widerspruch gegen diesen rein wissenschaftlich gehaltenen Film […] entspringt törichter Voreingenommenheit gegen ein solches Thema überhaupt, einerlei, ob es dezent dargestellt wird oder nicht. Und die Furcht, es könnten Jugendliche durch diese Darbietung in abnorme Gefühlswelten geraten, ist aus zwei Gründen lächerlich: erstens kann ein Film, selbst wenn er die Richtung auf das eigene Geschlecht priese (was doch gar nicht geschieht), in keinem Menschen eine Veranlagung erzeugen, die er nicht hat; zweitens wird hier das Leiden dieser abnorm Fühlenden so erschütternd erwiesen, dass eine krasse Abschreckung erreicht wird, also nur ein moralischer Zweck, der von der Bühne aus nicht möglich wäre.»

    Neue Hamburger Zeitung, 18. August 1919

    «Dieses sozialhygienische Filmwerk […] ist elender, öder, phantasieloser Kitsch, aufgeputzt mit ernsthaftesten wissenschaftlichen Forschungen und anschaulich gemacht von einer technisch außerordentlich fortgeschrittenen Filmkunst. […]

    Und doch! Muss der Film dieser Mülleimer für alle Tagesabfälle bleiben: Pikanterie und Stumpfsinn, Schaulust und photographierter Gleichgültigkeit, Propaganda und Schauspielerehrgeiz? Dann, o Dame, Herr, gehe dieser Kelch das nächste Mal an mir vorüber!»

    Ludwig Marcuse, Kothurn, Monatsschrift für Literatur, Theater und Kunst, 1. September 1919

    «Mit dem Film ANDERS ALS DIE ANDERN wird das Gebiet des Perversen betreten. […] Schon in dem Titel ANDERS ALS DIE ANDERN liegt der dreiste Anspruch der Homosexuellen, nur als «Andere», d.h. als Gleichberechtigte unter normalen und gesunden Menschen angesehen zu werden. Wer die Bewegung kennt, weiß, dass das ihr wirkliches Ziel ist. Das führt zu einer völligen Verwirrung der Begriffe, gegen die wir uns mit allen Mitteln wehren müssen. […] diejenigen, welche solche Vorführungen betreiben, sollen sich nicht wundern, wenn sie Wind säen, dass sie Sturm ernten. In Berlin und mehreren andern Städten ist das Publikum schon zur Selbsthilfe geschritten. Unter solchen Umständen ist es natürlich, dass immer lauter der Ruf nach einer gesetzlichen Regelung dieser Dinge, letzen Endes nach einer Sozialisierung und Kommunalisierung des Kinos erschallt. Auch ich sehe kein anderes Mittel, unser Volk vor dem Sumpf zu bewahren, in den uns das Kino hineinzuziehen droht.»

    Pastor Martin Cornils (Vorsitzender des ehrenamtlichen Ausschusses zum Jugendschutz in Lichtspieltheatern), Kieler Nachrichten, 7. September 1919

    «Das par nobile fratrum Oswald und Hirschfeld zeichnet den Film ANDERS ALS DIE ANDERN. […] Ich habe ihn nicht gesehen, schließe nur aus verschiedenen Schilderungen, daß er sehr unanständig ist. Bei einer Vorführung in Berlin verließ eine Anzahl Soldaten – die doch sonst nicht gerade die prüdesten sind – mit Protest den Saal. Ihr Exodus war begleitet von dem höhnischen Grinsen rassefremder Besucher, die ostensibel sitzen blieben, um diese Köstlichkeit bis zu Ende genießen zu können.»

    Dr. Konrad Lange (Kinogegner und Ordinarius der Universität Tübingen), 1920.

    Beurteilt Curt Moreck7 in seiner 1926 veröffentlichten Sittengeschichte des Kinos den ersten Teil von ES WERDE LICHT! noch überwiegend positiv und attestiert dem Film ein «gutes Niveau», weshalb ihm selbst «von scharfen Gegnern des Aufklärungsfilms ein tiefer Ernst und wahre Verdienstlichkeit zugestanden» werde,8 wertet Kinogegner Dr. Konrad Lange bereits hier den aufklärerischen Anspruch als einen reinen Vorwand für eine schlüpfrige Geschichte.9 Eine Auffassug, der sich Moreck bei der Mehrzahl der sonstigen Sittenfilme – auch Oswalds – anschließt. So weist er etwa darauf hin, dass «laut Erklärung der Münchener Polizei nach der Münchener Aufführung des Films PROSTITUTION, der später verboten wurde,10 eine Anzahl junger Mädchen zur Polizei» gekommen sei, «um sich Karten für die Ausübung ihrer Preisgabe ausstellen zu lassen. Zur Erklärung dafür äußerten sie, sie hätten PROSTITUTION gesehen, das sei so schön, das möchten sie auch mitmachen.»11 Für Moreck verwischen Filme wie PROSTITUTION «jedes Gefühl für die feinen Gradunterschiede in der Erotik und stempeln jeden Lusttrieb vergröbernd zu Brunst und Geilheit, die nur wahllos nach Befriedigung gieren und den Mann in die Arme feiler Dirnen treiben.»12 Die «wissenschaftliche Aufmachung der Aufklärungsfilme» lieferte nach Morecks Einschätzung in den meisten Fällen lediglich den «Deckmantel für die Vorführung von Szenen, die im gewöhnlichen Unterhaltungsfilm weder von der Zensur noch von der öffentlichen Kritik unbeanstandet bleiben würden.» Statt auf Aufklärung seien diese Filme vielmehr «auf Genitalkitzel hin» arrangiert.13

    Bereits am 19. Mai 1918 hatte Carl Joseph Kuckhoff, Reichstagsabgeordneter der Zentrumspartei, in der Kölnischen Volkszeitung gefordert, «alldem Jugend vergiftenden Schund, vor allem dem Unfug des Aufklärungsfilms ein Ende zu machen»14. Welcher Sittenverfall von konservativer Seite ansonsten befürchtet wurde, verdeutlichte Moreck rückblickend am Beispiel eines in Die Weltbühne am 11. September 1919 veröffentlichten Artikels über ein junges Mädchen «von kaum sechzehn Jahren», das durch einen Aufklärungsfilm angeblich derart «sinnlich erregt» worden sei, dass es sich von einem Kinobesucher verführen ließ, der sie mit den Worten ansprach, «wenn sie Aufklärung suche, dann würde dies in natura doch viel besser geschehen als im Bilde: sie solle nur mit ihm kommen.»15. Der von Moreck zitierte «Pädagoge Franz X. Schönhuber» verteufelte Aufklärungsfilme als «minderwertige Machwerke von ausgesucht schamloser Spekulation auf die Sinnengier junger und alter Hysteriker mit sexualpathologischem Einschlag»16. Und auch eine weitere von Moreck bemühte Koryphäe riet vom Besuch der Aufklärungsfilme dringend ab:

    «Vom Standpunkt der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aus befürchtet Dr. Schweisheimer in seiner Kritik der ‹Animierfilme›, dass der anfängliche Segen des gezeigten verständnisvollen Aufklärungsfilms in seiner abwegigen Ausreifung zum Unsegen und Verderben wird. Der Einfluss der Aufklärungsfilme auf die Massen erscheint ihm infolge der inneren Unwahrheit im Schwinden begriffen. Eine gebildete, erzogene Patientin trägt nichtsahnend seit vielen Monaten eine Geschlechtskrankheit, bis ein Arzt, den sie aus anderem Grunde aufsucht, durch irgendeinen Nebenumstand darauf aufmerksam wird. Frägt dann der Arzt: ‹Sie kommen doch so oft in die Lichtspieltheater, haben Sie denn keinen Aufklärungsfilm gesehen, der über die Geschlechtskrankheiten orientiert?›, so antwortet die Patientin: ‹Ach, die Aufklärungsfilme, das sind ja doch lauter Liebesszenen!› Die Antwort besteht zu Fug und Recht, denn keine Aufklärung wird in den Animierfilmen geboten, sondern gewissenlose Reizung sexueller Lüsternheit.»17

    Als Reaktion auf die Flut mehr oder weniger seriöser Aufklärungs-, Sittenfilme oder «Animierfilme», die in der zensurfreien Zeit zwischen November 1918 und Mai 1920 über den deutschen Kinomarkt hereinbrach, kam es in mehreren deutschen Städten zu Demonstrationen von Frauenverbänden, die gegen die «Herabwürdigung der Frau» in diesen Filmen protestierten. Auch der Deutsche Film empörte sich über die «zahllosen ‹Sitten›-Filme, die sich seit der Abschaffung der Zensur auf dem deutschen Filmmarkt breit machen und, auf die Lüsternheit des Publikums spekulierend, unter dem bequemen Vorwand der ‹Aufklärung› ein ganz ausgezeichnetes Geschäft bedeuten» und «die Filmproduktion auf ein ethisch sehr tiefes Niveau herabgedrückt» hätten. «Wie tief und wie unkünstlerisch meistens dieses Niveau ist, beweist der Umstand, dass die in den ‹Sitten›-Filmen mitwirkenden Schauspielerinnen vom Autor oder von der Regie geradezu gezwungen werden, sich dreiviertelnackt auszukleiden und dem Publikum Busen, Arme, Beine, Oberschenkel usw. zu präsentieren, also durch mehr oder minder gezeigte Nacktheiten, Sinnlichkeiten, Geilheiten auf die große Masse einer Nation zu wirken, die ihren höchsten Genuss im Fox-Trott und ähnlichen geistvollen Kulturergebnissen eines viereinhalbjährigen Krieges zu finden scheint.»18

    Neben Filmen mit einem eher sozialkritischen oder emanzipatorischen Anspruch kursierten zahlreiche «Aufklärungs-« oder «Sittenfilme», die vor allem auf eine erotische Wirkung abzielten. Ein ganzes Genre widmete sich dem weißen Sklavinnenhandel und der Entführung von Mädchen, die, legt man die Anzahl der Filme darüber zugrunde, in der Weimarer Republik an der Tagesordnung hätten gewesen sein müssen. Bereits im Juni 1919 zeigte sich der Film-Kurier der Schwemme von Aufklärungs- und Sittenfilmen überdrüssig und reihte in einem Artikel einschlägige Filmtitel in satirischer Weise aneinander:

    «Gar nützlich sehr und angenehm / Ist stets das Sexualproblem. / Dem einen dient’s für Seel’ und Leib / Zu allbeliebtem Zeitvertreib, / Der andere macht, wenn es sich trefft, / Damit ein glänzendes Geschäft. / So leuchten denn von allen Teilen / Der buntbeklebten Litfasssäulen / In ganz gigantischem Formate / Die allerneusten Filmplakate. / Hier lockt die PROSTITUTION / Uns alle mit Sirenenton, / Dort gibt’s für Männer und für Frauen / DIE SÜNDE EINER NACHT zu schauen, / Hier ist gar SÜND’GES BLUT zu sehn, / Doch SÜNDENLUST ist auch ganz schön; / DIE KUPPLERIN winkt in der Nähe, / Dort lädt man uns zu LILLIS EHE, / Ich wette, ebenso gefällt’s, / Besieht man sich VENUS IM PELZ. Man sieht DAS MYSTERIÖSE BETT, / DAS GIFT IM WEIB ist grad’ so nett / Und NACH DEM MANN DER SCHREI nicht minder; / Das FRÄULEIN MUTTER schreit um Kinder. / Wie lieblich wirkt in diesem Tanz / Der gute, alte MYRTHENKRANZ. / Natürlich erst, wenn er zerrissen, / Wie wir durch DIE VERFÜHRTEN wissen. / Daneben fällt uns auf beim Wandern / Ein Drama ANDERS ALS DIE ANDERN. / Auch dies betätigt mit Genuss / Sich ganz in Sexualibus. / Und wenn ich sehe, wie ringsum / So einstürmt auf das Publikum / In wilder Flut Erotik nur / Unter dem Mantel der Kultur, / Denk’ ich: ‹Wenn ich ’ nen Film nur wüsst‘, Der ANDERS ALS DIE ANDERN ist!›»19

    Die lustvollen Verheißungen ihrer reißerischen Titel konnten viele Sittenfilme jedoch nicht erfüllen. Sie handelten nicht von Aufbrüchen zu neuen Ufern, sondern thematisierten die Gefahr des sozialen Absturzes, Irrwege und tragische Schicksale. Damit spiegelten sie weniger die revolutionären Strömungen im Nachkriegsdeutschland wider als vielmehr die allerorten vorherrschende Verunsicherung, eine weit verbreitete moralische Orientierungslosigkeit sowie das vom Krieg erschütterte Selbstbild des deutschen Mannes. Obwohl sie oftmals konservativ belehrende, mahnende Positionen einnahmen, erhielten sie bereits durch ihre Themenauswahl eine sozialmoralische Sprengkraft.20

    «Die Aufklärerei ist vorbei» postulierte Der Kinematograph am 29. Oktober 1919. Statt über sexuelle «Spezialitäten, seien es Mädchenhandel oder Perversität, Eheirrung oder Geschlechtskrankheit», sollten die Filme lieber über «die Auswandererfrage, über die Notwendigkeit produktiver Arbeit, die Gefahren der Kohlenstreiks, über soziale und juristische, hygienische, technische Fragen»21 aufklären. Doch trotz aller Kritik und der 1920 – unter anderem als Reaktion auf die Aufklärungs- und Sittenfilme – wiedereingeführten Filmzensur entstanden auch in den späteren Jahren der Weimarer Republik weitere Filme dieser Art.


    Paragraph 175

    Der § 175, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, trat 1872 mit dem Reichsstrafgesetzbuch in Kraft. Er überdauerte die Weimarer Republik und lieferte den Nazis eine gesetzliche Grundlage zur Verfolgung, Deportation und Ermordung Tausender Homosexueller.

    Nach Kriegsende blieb der Paragraph zunächst sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Erst 1969 und 1973 wurde er in der Bundesrepublik grundlegend reformiert. Das Verbot der Homosexualität wurde weitgehend auf «sexuelle Handlungen» mit Minderjährigen reduziert. Das Schutzalter, das 1973 von 21 auf 18 Jahre gesenkt wurde, lag jedoch über dem bei Heterosexuellen (14–16 Jahre). Eine juristische Ungleichheit bestand also fort, bis der Paragraph 1994 aufgehoben und 1998 ganz abgeschafft wurde. In der DDR wurde seit Ende der 50er Jahre Homosexualität zwischen Erwachsenen nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen standen aber weiter unter Strafe, was ab 1968 der neugeschaffene § 151 regelte, der erst 1988 ersatzlos gestrichen wurde.


    Zu einer zweiten Welle von Aufklärungsfilmen kam es dann in den 1960er Jahren. Besonders Oswalt Kolle führte die Tradition von Oswald und Hirschfeld fort, wofür er im Jahr 2000 von der «Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung» mit der «Magnus-Hirschfeld-Medaille» für Sexualreform ausgezeichnet wurde. Neben diesen echten Aufklärungsfilmen entstanden – ähnlich wie in der Weimarer Republik – auch in den 60er Jahren zahlreiche pseudo-aufklärerische Sitten- oder besser Softsexfilme wie der SCHULMÄDCHEN-REPORT, diesmal jedoch weitgehend ohne moralisierenden Unterton, stattdessen im Gestus einer verborgene Praktiken enthüllenden wissenschaftlichen Studie.

    Filmedition

    Die Originalfassung von ANDERS ALS DIE ANDERN ist nicht mehr erhalten. Die Filmkopien wurden nach dem Verbot zerstört. Weite Teile des Filmes gingen dadurch unwiderruflich verloren. Eine Kopie von SCHULDLOS GEÄCHTET, der um 50 Minuten gekürzten Fassung von ANDERS ALS DIE ANDERN, die Hirschfeld 1927 als Schlussepisode seiner Dokumentation GESETZE DER LIEBE angehängt hatte, gelangte jedoch über Umwege in die Ukraine, wo sie mit Untertiteln in der Landessprache versehen wurde und so der Nachwelt erhalten blieb. Die vom Filmmuseum München rekonstruierte 51-minütige Fassung, die in der Reihe «Edition Filmmuseum» auf DVD erschienen ist, verwendet neben diesem Filmfragment Standfotos, eine deutsche Zensurkarte sowie Texte aus zeitgenössischen Protokollen und Filmbesprechungen.


    Filmtipp

    Robert Epstein, Jeffrey Friedman (Regie): PARAGRAPH 175. 2000



    Lesetipp

    James Steakley: Anders als die Andern. Ein Film und seine Geschichte. Hamburg: Männerschwarm Verlag 2007


    1 Zitiert nach: Helga Belach, Wolfgang Jacobsen: Anders als die Andern (1919). Dokumente zu einer Kontroverse. In: Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Red.): Richard Oswald: Regisseur und Produzent. München 1990, S. 25f.

    2 Hier und im Folgenden zitiert nach: Belach, S. 32f.

    3 Walther Friedmann: Homosexualität und Judentum. In: Film-Kurier, Nr. 33, 13.7.1919.

    4 Zitiert nach: James Steakley: Anders als die Andern. Hamburg 2007, S. 121.

    5 Der Begriff «Sittenfilme» bezeichnet Filme, die analog zum Sittenroman sittliche Zustände einer Zeit bzw. die sozialen Konventionen innerhalb eines bestimmten Milieus beispielhaft – häufig moralisierend oder kritisch – darstellen.

    6 Zitiert nach: Belach, S. 149.

    7 Hinter dem Pseudonym verbirg sich der deutsche Schriftsteller Konrad Haemmerling (1888-1957).

    8 Moreck, S.196.

    9 Vgl.: Moreck, S. 198f.

    10 Gemeint ist hier offensichtlich DIE SICH VERKAUFEN. DIE PROSTITUTION. 2. TEIL (1919), der, nachdem er im Juli 1919 uraufgeführt worden war, am 7. August 1920 vorübergehen verboten wurde, ehe er am 22. September 1920 mit Jugendverbot erneut zugelassen wurde.

    11 Moreck, S. 171f.

    12 Moreck, S. 187.

    13 Moreck, S. 188.

    14 Zitiert nach: Dietrich Kuhlbrodt: Dida Ibsens Geschichte (1918). In: Belach: Richard Oswald. S. 22.

    15 Zitiert nach: Moreck, S. 201.

    16 Zitiert nach: Moreck, S. 188.

    17 Moreck, S. 200.

    18 Moreck, S. 20.

    19 Job: Anders als die Andern. In: Film-Kurier, Nr. 13, 20.6.1919.

    20 Vgl.: Malte Hagener, Jan Hans: Von Wilhelm zu Weimar. Der Aufklärungs- und Sittenfilm zwischen Zensur und Markt. In: Malte Hagener, Jan Hans (Red.): Geschlecht in Fesseln. Sexualität zwischen Aufklärung und Ausbeutung im Weimarer Kino, 1918-1933. München 2000, S. 7ff. Vgl. auch: Klaus Kreimeier: Aufklärung, Kommerzialismus und Demokratie oder: Der Bankrott des deutschen Mannes. In: Belach, S. 9-18.

    21 Zitiert nach: Belach, S. 23.

    FRIDERICUS REX

    Vor dem Gebäude war geflaggt worden, Marschmusik erklang, die Uniformen glänzten. Gefeiert wurde mit diesem vaterländischen Brimborium am 31. Januar 1922 aber nicht etwa ein militärischer Sieg. Es handelte sich um keinen Staatsakt, keinen Nationalfeiertag. Lediglich eine Kinopremiere fand statt.STURM UND DRANG sowie VATER UND SOHN, die ersten beiden Teile der als Trilogie angelegten FRIDERICUS REX-Serie über das Leben Friedrich des II., wurden an diesem Dienstag im Berliner Ufa-Palast am Zoo uraufgeführt. Dass FRIDERICUS REX (Abb. 9–11) auf diese Weise als nationales Vorzeigewerk vereinnahmt wurde, lag ursprünglich jedoch nicht in der Absicht der Filmemacher. Noch am 22. Oktober 1921 hatte Produktionsleiter Hans Neumann in der Lichtbild-Bühne berichtet, dass die Idee zu einer Trilogie über Friedrich den Großen bei einem Aufenthalt in Amerika entstanden sei, wo Friedrich «durch seine tatkräftige Unterstützung Amerikas in den Freiheitskriegen […] eine überaus populäre Persönlichkeit» sei. In Deutschland dagegen befürchteten Neumann und der ungarische Regisseur Arzen von Cserépy nicht nur mögliche Proteste der Sozialdemokraten, sondern auch der «Rechtsparteien», da sie den Film, der sich an ein breites Publikum «ganz gleich welcher Nation» richten sollte, nicht glorifizierend, sondern «naturalistisch» anlegen wollten; eine «Majestätsbeleidigung», für die man «bis zur Revolution» noch im Gefängnis gelandet wäre.1


    Deutschland 1922/23

    Stummfilm, Schwarz-Weiß

    Produktion: Cserépy-Film

    Produzent: Arzen von Cserépy;

    Regie: Arzen von Cserépy

    Buch: Hans Behrendt, Arzen von Cserépy, Bobby E. Lüthge

    Kamera: Ernst Lüttgens, Guido Seeber

    Darsteller: Otto Gebühr (Friedrich, Kronprinz von Preußen), Albert Steinrück (Friedrich Wilhelm I.), Gertrud de Lalsky (Sophie Dorothee, Königin von Preußen), Erna Morena (Prinzessin Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern)


    9 «Majestätsbeleidigung»

    10 Otto Gebühr als Friedrich II. und Lilli Flohr als Frau von Morien

    11 Im Park von Theresienberg

    Zumindest im ersten Teil, der von den Jugendjahren des musikalisch interessierten und gegen seinen Vater rebellischen Friedrich handelt, erkannte die SPD-Parteizeitung Vorwärts denn auch tatsächlich einen «republikanischen Aufklärungsfilm». Der zweite Teil, in dem der junge Friedrich unter dem Druck seines Vaters zum Staatsmann reift, sei freilich «ein Lehrfilm: ‹Wie werde ich monarchisch?›»2 Begeistert berichtete dagegen ein Kritiker mit dem Kürzel «J-s.» im Film-Kurier von der Premiere: «Das Publikum raste bei abrollender Szene Beifall.» Er selbst feierte den Film als «Wurf allergrößten Stiles!»3

    Cserépy hatte FRIDERICUS REX mit seiner eigenen Produktionsfirma hergestellt, ihn aus finanziellen Gründen aber in den Verleih der Ufa gegeben.4 Nach der Premiere in deren Zoo-Palast strömten die Menschen scharenweise in die Kinos. Der Film lief allein in Berlin im ersten halben Jahr in 750 Vorstellungen,5 konservative und rechte Zeitungen überhäuften ihn mit Lobeshymnen. Dagegen riefen linke und liberale Blätter schon bald nach einem Verbot. Die einen frönten ihrem Fridericus-Kult mit Postkarten, Filmbuch und Filmmusik, buchten für Schulklassen oder Parteifreunde ganze Vorstellungen6 und verwandelten sie in «nationale Gedenkstunden»7. Die anderen gingen auf die Straße, um gegen den «Fridericus-Drecks»-Film zu demonstrieren. Schnell verselbstständigte sich der Streit, und drehte sich weniger darum, wovon die FRIDERICUS REX-Filme tatsächlich handelten, als darum, was die jeweils andere Seite in ihnen sah.

    Vorwärts forderte seine Leserschaft auf, den mit dem Prädikat «volksbildend»8 versehenen und dadurch teilweise von der Vergnügungssteuer befreiten Film zu boykottieren, da «aus dem Plunder der Kostüme, den verstaubten Perücken und den aus den Museen geholten Polstermöbeln zu stark die Monarchie stinkt.»9 Ein Appell, dem sich das liberale Berliner Tageblatt anschloss, für das die FRIDERICUS REX-Filme eine «antirepublikanische Provokation» darstellten, bei der «die Deutschnationale Partei hinter der Leinwand sitzt und die Beifallsstürme registriert, zu denen ihre Claqueure ein knechtseliges Publikum animieren.»10 Auch die Gewerkschaften riefen zum Boykott auf. Und Willy Haas kritisierte im Film-Kurier die einseitige Zensurpraxis:

    «Die republikanische Filmprüfstelle Berlin hat den FRIDERICUS anstandslos durchgelassen. Das ist recht, das ist gut, das ist ganz in Ordnung! Das deutsche Volk ist hoffentlich reif genug, sich selbst ein Urteil über die politische Zufälligkeit oder Unzulässigkeit eines Films zu bilden!

    Schön. Dieselbe republikanische Filmprüfstelle würde also doch wohl auch einen Film durchlassen, der etwa, auf Grund gerichtlicher Aktenstücke, ebenso einwandfrei sachlich, den Tod Karl Liebknechts unter dem Titel ‹Carlus Martyr› behandelte?

    Selbstverständlich würde sie das tun! Natürlich würde sie es! Welche Frage! […]

    Oder etwa nicht? Wäre man am Ende imstande, einen solchen Film zu verbieten? Mit der Begründung, er sei geeignet, Anstoß zu erregen und die öffentliche Ordnung zu stören? Das deutsche Volk ist doch reif genug, sich sein politisches Urteil selbst …?! Oder nicht??

    Na mich geht’s schließlich nichts an. Ich bin kein Kommunist, und es ist mir egal und wurst, ob die Berliner Filmprüfstelle einen solchen Film durchließe oder

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