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Neue Psychiatrie: Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft
Neue Psychiatrie: Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft
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eBook436 Seiten3 Stunden

Neue Psychiatrie: Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft

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Über dieses E-Book

»Leidet die Psyche, ist das Gehirn erkrankt«. Dieses Dogma der Biologischen Psychiatrie hat das Fach über lange Zeit als zentrales Paradigma der Forschung beherrscht. Die neurowissenschaftliche Wende hat den psychiatrischen Blick auf Gene und Moleküle gelenkt - und dabei den Menschen aus den Augen verloren. Kluge Wissenschaftler*innen, jahrzehntelange Forschung und Multimilliarden-Investitionen konnten der Biologischen Psychiatrie zu keiner Relevanz für die klinische Praxis verhelfen. Doch leise und allmählich zeichnen sich Veränderungen ab. Die Zukunft der Psychiatrie wird multiprofessionell, flexibel, digital und praxisorientiert sein. Felix Haslers pointierte Analyse ist ein vorgezogener Nachruf auf eine erfolglose, aber nebenwirkungsreiche Idee und ein Plädoyer für eine neue Psychiatrie des pragmatischen Handelns.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Juli 2023
ISBN9783732845712
Neue Psychiatrie: Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft
Autor

Felix Hasler

Felix Hasler (Dr. pharm.) ist Research Fellow an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität zu Berlin, Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und Wissenschaftsjournalist. Zuvor forschte er an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

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    Buchvorschau

    Neue Psychiatrie - Felix Hasler

    Vorbemerkung

    Irgendwann so um 2004 saß ich in meinem Büro, schaute zum Fenster hinaus und dachte: Seltsam. Kann das wirklich sein? Ich arbeitete damals an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in der Fachgruppe Neuropsychopharmacology und Brain Imaging und suchte nach einer Literatur‐Referenz, die ich für eine wissenschaftliche Publikation benötigte. Es ging dabei nicht um eine technische Spitzfindigkeit, sondern um etwas ganz Grundlegendes. Ich suchte nach einer Übersichtsarbeit, die belegt, dass das Serotoninsystem bei psychischen Störungen eine wichtige Rolle spielt, insbesondere bei Depressionen. Schnell erledigt, dachte ich mir, das ist schließlich eine Tatsache. Aber je länger ich in Datenbanken und Lehrbücher abgestiegen war, umso klarer wurde, dass die vermeintliche Tatsache gar keine Tatsache ist, sondern eine pure Hypothese, für die nie ein wissenschaftlicher Nachweis erbracht wurde. Wohl gab es unzählige Untersuchungen zu Serotonin und Depression, aber die Ergebnisse waren unklar, widersprüchlich und letztlich unbrauchbar. Weit und breit kein Beweis für die Serotoninhypothese zu finden. An diesem Nachmittag an der Burghölzli Klinik hatte mein Selbstverständnis als biologisch forschender Wissenschaftler in der Psychiatrie einen ersten schweren Auffahrunfall mit der Realität zu verkraften. Wenn noch nicht einmal das stimmt, was kann ich überhaupt glauben?

    Seitdem ist viel passiert. Zwanzig Jahre später glaubt in der Wissenschaft (fast) niemand mehr an die simple These, psychische Störungen seien Ausdruck einer gestörten Botenstoff‐Chemie im Gehirn. Eine vermeintliche wissenschaftliche Gewissheit ist eingeschrumpft zur »nützlichen Metapher«, um Patienten klar zu machen, warum sie Antidepressiva nehmen sollen. Die Erklärungsmodelle haben sich vielfach gewandelt bis hin zur gegenwärtigen Vorstellung, psychische Störungen beruhten auf fehlerhaften Schaltkreisen und gestörter Netzwerk‐Kommunikation. Das Vokabular des Computerzeitalters hat längst auch die Biopsychiatrie erreicht. Aber kein Modernisierungsschub und kein Hypothesen‐Update konnte das Grundproblem lösen: Die Biologie der erkrankten Psyche auf ein solides Fundament zu stellen, in der sie mehr ist als eine Behauptung. Mit naturwissenschaftlichen Verfahren sollten ursächliche Krankheitsmechanismen entdeckt und daraus wirksame Behandlungsmethoden entwickelt werden. Das klingt vernünftig, im Rest der Medizin ist dieses Vorgehen schließlich auch erfolgreich. Doch Psychiatrie ist nicht wie der Rest der Medizin und der Plan ging nicht auf. Die »dritte Welle der biologischen Psychiatrie« ist Mitte der 1980er Jahre mit großem Optimismus gestartet, im Lauf der Zeit ins Stocken geraten und mittlerweile im Zustand einer tiefen Krise angekommen. Davon handelt der erste Teil dieses Buchs, vom Aufstieg und Fall eines gigantischen Projekts, von großer Hoffnung und großer Enttäuschung.

    In der Fachwelt herrscht bereits erstaunliche Einigkeit darüber, dass die biologisch ausgerichtete Psychiatrieforschung seine ambitionierten Ziele verfehlt und bis heute zu keiner relevanten Verbesserung der klinischen Praxis geführt hat. Kein besseres Krankheitsverständnis, keine besseren Medikamente, keine besseren Prognosen. Überaus erfolgreich hingegen war die Psychiatrie der Gene und Moleküle als ideologisches Programm. Dass psychische Störungen Erkrankungen des Gehirns seien, ist zum alles dominierenden Paradigma geworden. Nicht nur innerhalb der Psychiatrie, sondern auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Und das ist nicht ohne Folgen geblieben. Versteht man psychische Störungen als biologische Funktionsstörung, so macht es natürlich Sinn, diese medikamentös zu behandeln. Dieses Narrativ hat einen bis heute anhaltenden Psychopharmaka‐Boom ausgelöst. Mit großer Selbstverständlichkeit werden nicht nur ernsthafte psychische Erkrankungen wie schwere Depressionen oder Schizophrenien mit Medikamenten behandelt, sondern auch die ganz normalen Befindlichkeitsstörungen der vielen worrying well. Mit der Folge, dass heute Abermillionen von Menschen Psychopharmaka nehmen, die sie gar nicht nehmen sollten und die ihnen längerfristig mehr schaden als nutzen. Von den weitreichenden Folgen unserer neuro‐ und pharmakozentrischen Psychiatrie handelt das Kapitel 4.

    Also einfach wieder eine neue Grundsatzkritik an der biologischen Psychiatrie? An der einen oder anderen Stelle wird man diesen Verdacht bestätigt finden. Inhaltlich will ich mich dafür auch gar nicht entschuldigen und hoffe stattdessen auf die überzeugende Kraft des guten Arguments in pointierter Sprache. Entschuldigen möchte ich mich hingegen bei den vielen engagierten Forscherinnen¹, den klugen Doktoranden und den Postdocs mit ihren 60‐Stunden Arbeitswochen, die sich aufrichtig bemühen, mit guter Wissenschaft herauszufinden, was Gene und Moleküle mit Depression, Sucht oder Psychose zu tun haben könnten. Sollte ich bei ihnen zur Frustration beitragen, bitte ich dies als unerwünschte Nebenwirkung meiner Kritik zu entschuldigen. Denn selbstverständlich ist Grundlagenforschung wichtig und notwendig, nicht zuletzt im Bereich der neurologischen Erkrankungen, von Demenzen bis Multiple Sklerose, die von der biologischen Forschung ja auch in großem Ausmaß profitieren. Meine Kritik zielt vielmehr auf die Einseitigkeit der Ausrichtung und die erhebliche Unwucht in der Verteilung personeller und finanzieller Ressourcen. In den letzten Jahrzehnten sind fast alle Energien der akademischen Psychiatrie in die Erforschung von Genen und Molekülen geflossen und vakante universitäre Lehrstühle wurden konsequent mit Biopsychiatern besetzt. Im Zuge dieses zunehmenden Ungleichgewichts, machtvoll durchgesetzt von universitären Institutionen, Expertenorganisationen und der Pharmaindustrie, verarmte in der Psychiatrie auch das Bild vom Menschen. Wir werden gerade Zeugen einer immer radikaleren Entkopplung zwischen den Psychiatern, die Patienten studieren und denen, die sie behandeln. Was kann und soll das Ziel psychiatrischer Forschung sein? Wollen wir weiterhin hoch abstrakte Krankheitstheorien aus Vulnerabilitätsgen‐Konstellationen, molekularen Regulations‐Kaskaden und neuronalen Schaltkreis‐Anomalien konstruieren? Oder ganz praktisch dem real existierenden Patienten mit seinen real existierenden Problemen helfen? Zwischen diesen Optionen muss sich die akademische Psychiatrie in Zukunft entscheiden. Denn das eine, so versuche ich aufzuzeigen, hat mit dem anderen so gut wie nichts zu tun und Ressourcen sind bekanntermaßen beschränkt.

    Während die akademische Psychiatrie sich zunehmend nur noch um sich selbst dreht, zeichnen sich in der Versorgungspsychiatrie wichtige Neuerungen ab. Die Vielfalt dieser Neuerungen und ihr innovatives Potenzial aufzuzeigen ist das Hauptanliegen des Buchs. Die gegenwärtigen Veränderungen sind, auf einen kurzen Nenner gebracht, technologischer, sozialer und pragmatischer Natur und orientieren sich an der grundvernünftigen Frage, was in der Praxis wirklich helfen könnte. Dass wir alle zwischenzeitlich mit Smartphones herumlaufen, ist auch den Psychiatern und Psychotherapeutinnen nicht verborgen geblieben. Durch die Covid‑19 Pandemie beflügelt, ist die »digitale Psychiatrie« zu einem neuen Experimentierfeld geworden, in dem mental health Apps, online‐Psychotherapien, Chatroboter und sogar messbasierte Frühwarnsysteme zur Erkennung psychischer Krisen ausgetestet werden. Auch die Psychiatrie ist im digitalen Zeitalter angekommen und Psychiaterinnen diskutieren mit IT‑Spezialisten eifrig über die Vor‐ und Nachteile von hybriden Therapiebeziehungen in realen und virtuellen Welten. In den vergangenen Jahren hat auch die Sozialpsychiatrie eine ganz neue Wertschätzung erfahren. Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung werden viele zur Kenntnis nehmen, dass man in der Psychiatrie endlich wieder ernst nimmt, dass der Mensch mehr ist als ein medikamentös zu behandelnder Symptomträger. Psychiatrische Störungen sind im Kern soziale Störungen, verursacht durch Traumatisierung, Diskriminierung, Armut und andere Lebensdramen. An den real gegebenen Lebensverhältnissen der Patienten orientieren sich auch die neuen sozialpsychiatrischen Versorgungsangebote. In der »aufsuchenden psychiatrischen Arbeit« betreuen flexibel operierende, multiprofessionelle Teams die Erkrankten dort, wo sie sind: Zu Hause, in provisorischen Einrichtungen oder auch in der Obdachlosigkeit. Dazu kommen die »stationsäquivalente Behandlung«, dialogbasierte Therapieverfahren, dem Stand der Zeit angepasste Soteria Projekte und verschiedene Minimal Medication Services. Am Rand der Mainstream Psychiatrie tut sich gerade eine ganze Palette neuer sozialpsychiatrischer Behandlungsverfahren auf. Viele psychiatrisch Tätige, die Veränderung wollen, sind mit Engagement dabei, aus der Verbindung von altbewährten Verfahren und neuen Ideen eine innovative Sozialpsychiatrie 2.0 zu schmieden. Immer mehr Bedeutung wird auch den »Experten durch Erfahrung« zugestanden – Menschen, die selbst von psychischen Krisen betroffen waren und diese überwinden konnten. Dabei kommt ihnen nicht nur die Rolle zu, als Genesungsbegleiter akut Erkrankten und ihren Angehörigen Hoffnung zu vermitteln. Ihre Innenperspektive auf psychische Störungen kann auch mithelfen, zu definieren, worauf es in einer gelingenden Therapie wirklich ankommt. Noch ist das Gemeinschaftsprojekt »partizipative Forschung« zwischen Wissenschaftlerinnen, Betroffenen und Angehörigen eher Bekenntnis als Praxis. Aber auch das könnte sich schon bald ändern, Pilotprojekte in dieser Richtung sind bereits angelaufen. Auch wer irgendwann nach Jahren seine Psychopharmaka nicht mehr nehmen wollte, war bis vor kurzem ganz auf das Erfahrungswissen anderer Betroffener angewiesen. Internet‐Selbsthilfegruppen wie SurvivingAntidepressants.org waren über lange Zeit die einzige brauchbare Informationsquelle, wenn es um das Absetzen von Psychopharmaka und den Umgang mit Entzugssymptomen ging. Immerhin, mittlerweile hat auch die institutionelle Psychiatrie erkannt, dass sie sich nicht nur um das Verschreiben, sondern auch um das Entschreiben von Psychiatriemedikamenten kümmern sollte und hält dies in ihren neuen Behandlungsrichtlinien fest. Die Umschau, was sich am Horizont der Psychiatrie so alles an Innovation und Veränderung abzeichnet, bildet den zweiten Teil dieses Buchs.

    Das Kapitel »Neo‐Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips« ist dann wohl das, was man ein Heimspiel nennt. Wenn ich am Burghölzli nicht gerade aus dem Fenster schaute und über fehlende Belege für wichtige Hypothesen nachdachte, habe ich nämlich Halluzinogenforschung gemacht. Und das über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren. 2005 und 2006 stand ich dabei sogar unter wissenschaftlicher Beobachtung. Der Anthropologe Nicolas Langlitz war für seine Feldforschung bei uns zu Gast und hat für das Treiben der Schweizer Halluzinogenforscher eine griffige Formel gefunden: »Neuro‐Psychedelik«.² Nicks Wortschöpfung beschreibt das Revival der Halluzinogenforschung seit der Mitte der 1990er Jahre sehr treffend. Die Psychedelikforschung 2.0 war ganz ein Kind der Dekade des Gehirns, die gerade ihren Höhepunkt erreichte. In Franz Vollenweiders Labor in Zürich ging es um Rezeptorpharmakologie, neuronale Korrelate von Bewusstseinszuständen und die Frage, ob das Pilzhalluzinogen Psilocybin und seine Artverwandten vorübergehend Gehirnveränderungen hervorrufen, die zum Verständnis von Psychosen oder Manie beitragen könnten. In der Neuauflage wissenschaftlicher Forschung mit Halluzinogenen wurden Psychedelika entpolitisiert und möglichst wertneutral als Instrumente zur Untersuchung von Gehirn und Bewusstsein dargestellt. Man wollte, und dies aus gutem Grund, auf Maximaldistanz zu Halluzinogenforscher‐Vorgängern wie Timothy Leary gehen. Serotonin‑2A‐Rezeptor‐Agonismus statt Weltrevolution – diese ideologische Neugewichtung erleichterte sicher auch den Umgang mit den Behörden, die diese Forschung bewilligen mussten. Ganz so nüchtern, wie sich das gerade liest, war es natürlich nicht. Im Verlauf meiner Halluzinogenforscherjahre habe ich auch selbst von verschiedenen kosmischen Gewürzen genascht und staunend in andere Welten geblickt. Gut möglich, dass diese pharmakologischen Studienreisen zu meiner Überzeugung beigetragen haben, dass es ein völlig unmögliches Unterfangen ist, den phantastischen Kosmos unserer inneren Erfahrung mit neurowissenschaftlichen Methoden auch nur halbwegs adäquat einzufangen, geschweige denn zu erklären. Nicht ohne Stolz darf ich also davon ausgehen, auch selbst ein wenig Vorarbeit für den aktuellen Boom der medizinischen Psychedelik geleistet zu haben. Zwischenzeitlich schon tief in der klinischen Forschung angekommen, geht es mit dem Halluzinogen‐Revival in rasantem Tempo voran. Ohne Zweifel hat die moderne Kombination aus psychedelischer Psychopharmakologie und speziellen Psychotherapieverfahren ein beträchtliches Potenzial. Verschiedene Psychedelika‐unterstützte Behandlungsverfahren haben wegen starker Pilotdaten von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA den Status von breakthrough therapies zugesprochen bekommen, Biotech Start‐ups hoffen auf eine baldige Kommerzialisierbarkeit und die Wissenschaftskonferenz Psychedelic Science 2023 wurde bereits als »größte psychedelische Zusammenkunft der Geschichte« angekündigt. Kann das wirklich gut gehen? Oder wiederholt sich die Geschichte und auf Neo‐Psychedelik folgt schon bald Neo‐Prohibition?

    Das Schlusskapitel schließlich macht, was sich für ein Schlusskapitel ge­hört: Es fasst zusammen und wagt einen Ausblick. Sucht man den ökonomischen Vergleich, könnte man den heutigen Zustand des Großprojekts »biologische Psychiatrie« am ehesten mit dem Endstadium einer spekulativen Blase vergleichen. Systemimmanente Sachzwänge, eine Vielzahl persönlicher und institutioneller Interessen und auch die auf Langfristigkeit ausgelegten Forschungskooperationen sorgen dafür, dass die Spekulationsblase nicht schon längst geplatzt ist. Aus ihr wird nur ganz allmählich die Luft abgelassen. Das System Psychiatrie befindet sich im Zustand der zunehmenden Entkopplung und Selbstentfremdung. Das hat sicher auch mit einer veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung zu tun. Der Neurohype der 2000er Jahre ist zwischenzeitlich abgeklungen und der materialistische »Homo cerebralis«³, der sein Ich‐Sein voll und ganz auf sein Gehirn bezieht, ist längst auf dem Rückzug. Dementsprechend geringer fällt heute auch das Medieninteresse aus, wenn Forscher wieder einmal glauben, ein neues Depressionsgen oder einen Schaltkreis für Sucht gefunden zu haben. Wie es scheint, erwartet auch die praktisch arbeitende Versorgungspsychiatrie schon lange nichts mehr vom akademisch forschenden Teil ihrer Zunft. Während sich die einen immer tiefer in Moleküle und Genmuster zurückziehen, arbeiten die anderen bereits an einer weitreichenden Umgestaltung. Zeiten der Krise sind Zeiten der Veränderung.

    Ich wünsche mir, dass dieses Buch mehr ist als ein vorauseilender Nachruf auf eine erfolglose, aber nebenwirkungsreiche Idee. Es soll auch Hoffnung geben, dass sich die Dinge wirklich grundlegend verändern können.

    Anmerkungen

    Im Sinne einer gendergerechteren Sprache werden in diesem Buch männliche und weibliche Form abwechslungsweise verwendet.

    Langlitz N (2013) »Neuro‐Psychedelia«.

    Eine Wortschöpfung des Wissenschaftshistorikers Michael Hagner (2008).

    Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung

    Die Klinische Neurowissenschaft kann sich nun [im Jahr 2005] auf ein »Zeitalter der Umsetzung« freuen, mit zutreffenderen Diagnosen, besseren Behandlungen und sehr früher Erkennung und Prävention.¹

    Zu Beginn unseres Jahrhunderts herrscht gute Laune in der Psychiatrie. Von den Grundlagenforschern an den Universitätskliniken bis zur Pharmazeutischen Industrie – überall glaubt man den Anbruch eines neuen, goldenen Zeitalters zu erkennen. Nicht weniger als die Rettung des eigenen Fachs erhofft man sich von den allerorts boomenden Neurowissenschaften mit ihren scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Medizinisch‐naturwissenschaftliche Fakten sollen als objektive Kriterien ein für alle Mal die streitbare Subjektivität im Umgang mit psychischen Störungen ersetzen. Beeindruckt von den rasanten technologischen Entwicklungen in der neurobiologischen Grundlagenforschung, insbesondere bei den bildgebenden Verfahren, ist man zuversichtlich, schon in absehbarer Zeit ganz entscheidende Verbesserungen im Verständnis und in der Therapie psychischer Störungen zu erzielen.

    2004 veröffentlicht das Wissenschaftsmagazin Gehirn und Geist sein viel beachtetes »Manifest der Hirnforscher«. Elf »führende Neurowissenschaftler« räsonieren in diesem Aufsatz über die Perspektiven der Hirnforschung im 21. Jahrhundert. Und so optimistisch sieht man damals die Zukunft: »Vor allem was die konkreten Anwendungen [der Neurowissenschaften, Anm. d. A.] angeht, stehen uns in den nächsten zehn Jahren enorme Fortschritte ins Haus. Wahrscheinlich werden wir die wichtigsten molekularbiologischen und genetischen Grundlagen neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson verstehen und diese Leiden schneller erkennen, vielleicht von vornherein verhindern oder zumindest wesentlich besser behandeln können. Ähnliches gilt für einige psychische Krankheiten wie Schizophrenie und Depression. In absehbarer Zeit wird eine neue Generation von Psychopharmaka entwickelt werden, die selektiv und damit hocheffektiv sowie nebenwirkungsarm in bestimmten Hirnregionen an definierten Nervenzellrezeptoren angreift. Dies könnte die Therapie psychischer Störungen revolutionieren – auch wenn von der Entwicklung zum anwendungsfähigen Medikament noch etliche weitere Jahre vergehen werden.«²

    Und gut gelaunt ist man auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)³. In ihrem Positionspapier »Psychiatrie 2020« erörtern die DGPPN‐Präsidenten Frank Schneider, Peter Falkai und Wolfang Maier⁴ ihre Perspektive auf die Psychiatrie in zehn Jahren. Schon im Vorwort verweisen die Autoren auf den großen Erkenntniszuwachs in der jüngsten Vergangenheit: »Kaum ein anderes medizinisches Fach hat eine derartig sprunghafte Entwicklung in dem letzten Jahrzehnt durchlaufen wie die Psychiatrie und Psychotherapie. Mit exzellenten Bildgebungsmöglichkeiten, molekulargenetischen sowie statistischen Methoden stehen uns seit kurzem vielfältige Möglichkeiten zur Erforschung der Ätiologie, der Pathogenese und teilweise auch schon der Diagnostik zur Verfügung, dies alles verbunden mit dem traditionellen ganzheitlichen Ansatz der psychiatrischen Arbeit.«⁵ Und Florian Holsboer, in jener Zeit Direktor des Max‐Planck‐Instituts für Psychiatrie in München und einer der einflussreichsten Psychiatrieforscher, benennt klar, wohin der Weg nun führt: »Unser Ziel muss es sein, eine Art Weltformel der Seele zu finden. Dort gehen hinein: aktuelle Symptomatik, biografische Situation, bildgebende Verfahren, Hormontests, neuropsychologische Tests, Protein‐ und Genanalysen … .«⁶

    Die Psychiater der Zukunft sind Neurowissenschaftler

    Die Maximalvariante der zukünftigen Bedeutung der Hirnforschung für die Psychiatrie formuliert allerdings Thomas Insel, damals Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH)⁷: »Die Sichtweise, dass psychische Störungen Erkrankungen des Gehirns sind, legt nahe, dass die Psychiater der Zukunft als Neurowissenschaftler ausgebildet werden müssen.«⁸ Dass sich Thomas Insel damals fest auf die Neurowissenschaften abstützte, kann man durchaus wörtlich nehmen: In seinem Portrait auf der NIMH‐Webseite ruht sein Arm auf den »Principles of Neural Science« – einem der wichtigsten neurowissenschaftlichen Lehrbücher, mitherausgegeben von Nobelpreisträger Eric Kandel. Nähme man die Aussage wirklich ernst, dass die Psychiaterinnen der Zukunft Neurowissenschaftlerinnen sein werden, müsste es eigentlich zu einer Abschaffung der Psychiatrie kommen. Oder vielmehr zu einer Erweiterung der Neurologie um die Subdisziplin »Neurologische Störungen mit vorwiegend oder ausschließlich psychischer Symptomatik«. Und tatsächlich sprach man in den 2000er‐Jahren bereits von einer De‑Psychiatrisierung der Psychiatrie. Einfach deshalb, weil die »Psyche« (das »Seelische« oder auch der »mentale Raum«) als ursprünglich zentraler Begriff in der Psychiatrie immer unwichtiger geworden war. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis die vollständige Somatisierung des Fachs hin zu einer Psychiatrie ohne Psyche vollzogen sein würde. »Psychiater und Neurologen sollten am besten als klinische Neurowissenschaftler aufgefasst werden, die die revolutionären Erkenntnisse der Neurowissenschaft bei der Behandlung derer anwenden, die eine Gehirnerkrankung haben« ist konsequenterweise das Fazit der Autoren Thomas Insel und Remi Quirion in ihrem berühmten Kommentar zur Psychiatrie der Zukunft.⁹ Schon in geraumer Zeit sollte es möglich sein, die grundlegenden pathophysiologischen Prozesse der wichtigsten psychischen Störungen auf biologischer Ebene zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus völlig neue Medikamente zu entwickeln. Ganz im Sinne eines pharmazeutischen rational drug designs, wie dies typischerweise bei der Medikamentenentwicklung in der somatischen Medizin praktiziert wird. Gesucht sind neuartige Psychiatriemedikamente, die nicht wie bisher unspezifisch, unvollständig und nebenwirkungsreich auf einige Krankheitssymptome einwirken, sondern unmittelbar die zugrundeliegenden pathologischen Prozesse beeinflussen. Präzise und kurativ sollten sie sein, die Psychopharmaka der Zukunft. Und natürlich muss man für den treffsicheren Zugriff auf das Gehirn erst einmal die molekularen und funktionellen Mechanismen der Erkrankung selbst verstehen. Dass dies auf jeden Fall gelingen wird, war sich auch die Psychiaterin Nancy Andreasen sicher: »Übereinstimmende Daten aus verschiedenen neurowissenschaftlichen Verfahren deuten darauf hin, dass die neuronalen Mechanismen psychischer Erkrankungen als Funktionsstörungen in spezifischen neuronalen Schaltkreisen verstanden werden können und dass deren Funktionen und Funktionsstörungen durch eine Vielzahl kognitiver und pharmakologischer Faktoren beeinflusst oder verändert werden können. […] Diese Fortschritte haben ein Zeitalter geschaffen, in der eine wissenschaftliche Psychopathologie, die Geist und Gehirn miteinander verknüpft, Realität geworden ist.«¹⁰

    Der heilige Gral der Biopsychiatrie

    Biomarker! Diese Verheißung leuchtet in den 2000er Jahren besonders hell am Erkenntnishorizont. Sollte es gelingen, bei Erkrankten ein spezifisches Protein im Blut, ein eindeutig abweichendes Muster von Gehirnaktivität oder ein genetisches Profil zu identifizieren, das zweifelsfrei mit den Symptomen einer psychischen Störung einherging, käme dies einer Revolution der psychiatrischen Diagnostik gleich. Die Psychiatrie könnte endlich zu einem ganz normalen medizinischen Fach werden, in dem Krankheitsdiagnosen mit Laborwerten, Genetikdaten oder Bildgebungs‐Befunden untermauert und objektiviert werden. Und selbstverständlich sollten die besseren Diagnosen auch zu besseren Behandlungen führen: »Nachdem ein Arzt die Gehirnerkrankung eines Patienten genau bestimmt hat, wird er in der Lage sein, die Behandlung zu verschreiben, die am besten geeignet ist«, erklärte Neurowissenschaftler Steven Hyman, Harvard‐Professor und Vorgänger von Thomas Insel als Direktor am NIMH dem Magazin Scientific American.¹¹ Vor allem aber sollten Biomarker die Früherkennung psychischer Störungen ermöglichen und das rechtzeitige Eingreifen erlauben, noch bevor das Vollbild der Krankheit aufgetreten ist: »Gentests bei Patienten könnten zeigen, wer ein hohes Risiko für das Auftreten einer Erkrankung wie Schizophrenie oder Depression trägt. Ärzte könnten dann bei diesen Hochrisikopatienten bildgebende Verfahren benutzen, um festzustellen, ob die Erkrankung tatsächlich schon begonnen hat«.¹² Biomarker sollen das Feld der Vor‐Erkrankung auch für die Psychiatrie eröffnen. Man könnte dann gewissermaßen prä‐symptomatisch krank sein und bereits vorsorglich therapiert werden – oder wenigstens unter medizinische Beobachtung gestellt werden.

    Kein Zweifel, das neue Jahrtausend begann verheißungsvoll für das »Zukunftsfach Psychiatrie«.¹³ Zwar befinde man sich jetzt noch in einer frühen Phase der Wissensproduktion, aber letztendlich würde der Durchbruch im neurobiologischen Verständnis psychischer Störungen ganz sicher gelingen. Das Erfolgsrezept sollten multidisziplinäre Studien sein: Die Verknüpfung von humaner Neuroanatomie und Neurophysiologie mit Tieruntersuchungen, die Weiterentwicklung der damals noch jungen SCAN‐Disziplinen,¹⁴ bessere theoretische und computergestützte Konzepte zur Funktionsweise des Gehirns und vor allem das Neuroimaging sollten die so lange erfolglos gesuchten Erkenntnisse liefern.¹⁵ Und überhaupt: Der Begriff »psychische Störung« sei doch ein anachronistischer Begriff, weil ja nun klar geworden sei, dass es sich dabei um Erkrankungen des Gehirns handle.

    Vom Aberglauben zur Wissenschaft

    Nicht nur Psychiaterinnen, auch viele Psychotherapeuten arbeiteten damals mit Hochdruck an einem modernen, nunmehr neurowissenschaftlich informierten Selbstverständnis. 2004 veröffentlichte der Psychotherapieforscher Klaus Grawe sein programmatisches Buch »Neuropsychotherapie«.¹⁶ Der Klinische Psychologe lässt darin keine Zweifel, worauf es wirklich ankommt: »Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darüber, dass sie das Gehirn verändert«.¹⁷ Für die Therapeuten sei nun an der Zeit, sich von ihrem teilweise abergläubischen Verhalten zu lösen und sich stattdessen »von der Konfession zur Profession« weiterzuentwickeln.¹⁸ Ganz besonders der Zunft der Pharmakologen traute Grawe einiges zu: »Man hat gerade erst mit der Erforschung neuronaler Korrelate psychischer Störungen begonnen. Aber es ist sicher, dass sich dieses Wissen bereits im nächsten Jahrzehnt sprunghaft vermehren wird, weil allerorten daran gearbeitet wird. Die Psychopharmakologen stehen auf dem Sprung, jeden diesbezüglichen Wissenszuwachs unmittelbar umzusetzen in verbesserte medikamentöse Behandlungen.«¹⁹ Klaus Grawes 2004 so optimistisch verkündetes nächste Jahrzehnt mit seiner »sprunghaften Wissensvermehrung« in den Neurowissenschaften und der in Aussicht gestellten Entwicklung neuer und hochwirksamer Psychopharmaka ging nun gerade zu Ende. Ein guter Moment also für einen Realitätsabgleich mit der tatsächlichen Faktenlage.

    Ein Starpsychiater schmeißt hin

    Im November 2015 standen bei Thomas Insel berufliche Veränderungen an. Der mächtigste Psychiater der Welt räumte überraschend seinen Direktorposten am National Institute of Mental Health, um sich Google Life Sciences²⁰ anzuschließen.²¹ Zwei Jahre später wird auch der Öffentlichkeit klar, warum. Im Online‐Magazin Wired zieht Thomas Insel Bilanz zu seiner früheren Tätigkeit: »Ich habe dreizehn Jahre am NIMH damit zugebracht, mit Nachdruck die Neurowissenschaft und Genetikforschung zu psychischen Störungen voranzubringen. In der Rückschau denke ich, dass es mir zwar gelang, eine Menge wirklich cooler Publikationen von tollen Wissenschaftlern zu ziemlich hohen Kosten zu veröffentlichen – ich denke zwanzig Milliarden Dollar. Ich glaube aber nicht, dass wir für die Abermillionen von Menschen mit psychischen Erkrankungen etwas bewirkt haben, was die Verringerung von Suiziden angeht, den Rückgang der Krankenhausaufenthalte oder eine bessere Genesung. Ich übernehme dafür die Verantwortung.«²²

    Ein erstaunliches Fazit des Starwissenschaftlers, der doch wenige Jahre zuvor noch fest davon überzeugt war, dass die Zukunft der Psychiatrie ganz der Genetik und der Neurobiologie gehört und die Psychiater künftiger Generationen klinisch arbeitende Neurowissenschaftler sein werden. Knapp und nüchtern bringt Thomas Insel in seiner Rückschau das Dilemma auf den Punkt: Man hat Milliardensummen in die biologische Erforschung psychischer Erkrankungen gesteckt und dabei zweifellos interessante Grundlagenerkenntnisse zu Organisation und Funktionsweise des Gehirns gewonnen. Aber das eigentliche Ziel, die psychiatrische Diagnostik durch objektive Kriterien zu reformieren und die Therapie psychischer Störungen zu verbessern, wurde komplett verfehlt. Die praktische Relevanz der biologischen Psychiatrie für den depressiven, psychotischen oder zwangsgestörten Menschen ist bis heute gleich Null. Oder in den Worten des amerikanischen Psychiaters Allen Frances: »Die Ergebnisse

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