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Südtirolismen: Erinnerungskulturen - Gegenwartsreflexionen - Zukunftsvisionen
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eBook610 Seiten7 Stunden

Südtirolismen: Erinnerungskulturen - Gegenwartsreflexionen - Zukunftsvisionen

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Über dieses E-Book

Südtirol - Modellfall oder Konfliktherd? Einzigartig oder ein durchaus typischer europäischer Kleinraum?

Ein Buch, das die Motivationen und Befindlichkeiten der Südtiroler Gesellschaft hinterfragt und für ein plurikulturelles Verständnis der Südtiroler Geschichte plädiert.

Dieses Buch reiht sich ein in die Bemühungen um ein regionales, sprachübergreifendes und plurikulturelles Verständnis von Entwicklungen und Tendenzen in Südtirol und lässt ganz unterschiedliche Meinungen zu Wort kommen. 23 Autoren aus dem Wissenschafts- und Kulturbereich nähern sich multiperspektivisch ihrem Thema, präsentieren ihre Sicht auf Südtirol zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie widmen sich den Bereichen Minderheitenrecht, Mythen und Erinnerungskulturen, betrachten Literaturen und Sprachkulturen, loten Räume und Identitätsmodelle zwischen Tradition und Moderne aus. Positive Entwicklungen, Gemeinsamkeiten werden dabei ebenso angesprochen wie Trennendes, Zerwürfnisse und Verletzlichkeiten.

Aus dem Inhalt:

Kapitel I: Das Minderheitenrecht
CHRISTOPH PAN
Einführung in die Minderheitenproblematik
BEATE SIBYLLE PFEIL
Die Südtiroler Leitbildfunktion für die Minderheitenpolitik in Europa

Kapitel II: Mythen und Erinnerungskulturen
WALTER HAGG
Auf der Zielgerade zum Paketabschluss: Erinnerungen an die Autonomieentwicklungen 1988-1992
HANS HEISS
Annus semper mirabilis: Das 200. Anniversar der Tiroler Erhebung
HANS KARL PETERLINI
Mit Freud' durch Südtirol. Psychoanalyse der Tiroler Freiheitskampfkultur mit Fokus auf die Südtirol-Anschläge der 1960er Jahre
GEORG GROTE
"Besessen und Vergessen". Historische Forschung und Geschichtsvermittlung in Südtirol
THOMAS OHNEWEIN
Die Südtiroler Landesmuseen: Ausdruck einer neuen Landesidentität

Kapitel III: Literaturen
JOHANN HOLZNER
Literatur statt Lokalpolitik. Über das allmähliche Verschwinden regionaler Streitthemen aus der Südtiroler Lit
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Jan. 2014
ISBN9783703009013
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    Buchvorschau

    Südtirolismen - Georg Grote

    2000.

    Kapitel I

    Das Minderheitenrecht

    Einführung in die

    Minderheitenproblematik Europas

    CHRISTOPH PAN

    I. Einleitung

    Wenn, wie es in Europa häufig der Fall ist, mehrere Ethnien bzw. Kulturen sich gemeinsam ein Siedlungsgebiet oder Staatsgebilde teilen, entstehen aus der Konkurrenz um Siedlungsraum und/oder Führungsanspruch ethnische Konflikte, die im vordemokratischen Zeitalter der jeweils Stärkere mit physischer Gewalt für sich zu entscheiden pflegte. Im Völkerfrühling 1848 sind diese Konflikte unter der Bezeichnung „Nationalitätenfrage" manifest geworden und sie wurden vornehmlich im Sinne des Nationalitätenprinzips (jedem Volk seinen eigenen Staat) vielfach unter Anwendung gewaltsamer Maßnahmen wie Umsiedlung, Vertreibung oder Völkermord zu lösen versucht, die aus heutiger Sicht Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen und daher menschen- und völkerrechtswidrig sind. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert begann dann in Europa allmählich die Erkenntnis einzusetzen, dass ethnisches Konfliktpotenzial mit Hilfe des modernen Minderheitenschutzes im Rahmen von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit friedlich, systemkonform und sogar mit Synergieeffekten regulierbar ist.

    Diese Erkenntnis hat zwar eingesetzt, sich aber noch nicht allgemein durchgesetzt. So hat das Heidelberger Institut für internationale Konfliktforschung für 2009 weltweit 365 Konflikte registriert¹, wovon knapp ein Fünftel (66) auf Europa mit Einschluss von Kaukasien entfielen. Mehr als die Hälfte davon waren ethnische Konflikte (34), die in 15 Fällen Autonomie² und in 19 Fällen Sezession³ zum Gegenstand hatten. Während sämtliche Konflikte um Autonomie gewaltlos verliefen, wurden 13 der 19 Sezessionskonflikte gewaltsam ausgetragen, vor allem im Kaukasus, zum geringeren Teil aber auch in westlichen Demokratien wie Frankreich (Korsika), Spanien (Baskenland), Großbritannien (Nordirland).⁴

    Diese beiden Konfliktgegenstände sind im Hinblick auf das für die Erhaltung einer Ethnie kulturell erforderliche Ausmaß an Selbstverwaltung beinahe gleichwertig, denn die Globalisierung hat die faktische Unabhängigkeit der Staaten mehr denn je relativiert. Deshalb ist die „fiktive Unabhängigkeit insbesondere von Kleinstaaten in etwa der „Quasi-Unabhängigkeit von gut ausgestatteten Regionalautonomien wie in Südtirol (Italien), in Åland (Finnland), in Katalonien, Galicien und im Baskenland (Spanien) durchaus vergleichbar, nur stehen bei Autonomie die Chancen auf gewaltlose Realisierung ungleich besser.

    II. Begriffsklärung

    Wer immer über ethnische Fragen spricht, betritt terminologisch ein Minenfeld, in dem jederzeit eine hochgehen kann. Dies macht eine begriffliche Klärung unumgänglich.

    In der Regel haben alle modernen Flächenstaaten Europas gemeinsam, dass sie außer dem Staatsvolk auch Bevölkerungsgruppen beherbergen, deren Muttersprache nicht die Staatssprache ist und die zahlenmäßig stets kleiner als das Staatsvolk sind. Sie bilden zwei Kategorien von Minderheiten, nämlich

    a) autochthone Minderheiten, deren „Existenz älter ist als das Staatsgebilde, zu dem sie gehören"⁵, wie z. B. die Dänen in Deutschland, und

    b) allochthone Minderheiten, die sich aus Zuwanderergruppen jüngeren Datums zusammensetzen, wie z. B. die Türken in Deutschland.

    Daneben gibt es noch die lokalen Minderheiten, welche als Angehörige des Staatsvolkes die Staatssprache zur Muttersprache haben, sich aber dennoch in einer Minderheitensituation befinden, die sich jedoch in wesentlichen Teilen von jener der beiden anderen Minderheitenkategorien unterscheidet.

    II.1. Autochthone Minderheiten …

    werden je nach Zeitabschnitt, Land und Sprache unterschiedlich bezeichnet. Beim Europarat nennt man sie nationale oder ethnische Minderheiten. Dies ist ein Sammelbegriff, der pars pro toto steht und all die zeitlich, örtlich und sprachlich unterschiedlichen Bezeichnungen miteinschließt. Er wird im internationalen, vorwiegend im Englisch gehaltenen Sprachgebrauch verwendet, um semantischen Problemen⁶ aus dem Weg zu gehen.

    Denn zu den terminologischen Besonderheiten kommen noch solche semantischer Natur. Der Begriff Minderheit hat im Deutschen negative Konnotationen im Sinne von Minderwertigkeit, weshalb ihm der Begriff Volksgruppe vorgezogen wird. Dieser Begriff hat aber kein exaktes Äquivalent in westeuropäischen Sprachen. Die direkte Übertragung in „ethnic group" bedeutet im Englischen primär „visible minority" (sichtbare Minderheit), also an der Hautfarbe erkennbare Minderheit, und enthält damit eine biologisch-rassische Komponente, welche im deutschen Begriff Volksgruppe nicht enthalten ist. Ähnlich verhält es sich im Französischen, wo mittlerweile auch der Begriff der minorités visibles für die noch nicht integrierten Immigrantengruppen aufgekommen ist, was zur sarkastischen Frage veranlasst hat, ob angesichts dieser minorités visibles die traditionellen Minderheiten der Bretonen, Elsässer usw. zu minorités invisibles geworden seien.

    Die in der Regel auf Nationalstaaten bezogene terminologische Klassifizierung gilt natürlich nur eingeschränkt für Nationalitätenstaaten wie Belgien oder die Schweiz, wo es den klassischen Gegensatz von Staatsvolk (Titularnation) und Minderheiten praktisch nicht gibt, weil mehrere Sprachgemeinschaften gemeinsam staatstragend sind. Für den hier gebräuchlichen Begriff der Sprachgemeinschaften stand im alten Österreich der Begriff Nationalitäten⁸, der in Russland gegenwärtig noch verwendet und im Deutschen vorwiegend durch „Volksgruppen" ersetzt wird.

    Staatstragende Bevölkerungsgruppen mit einer anderen Muttersprache als der Staatssprache wie z. B. die Katalanen, Galizier oder Basken in Spanien, die Schotten, Waliser und Nordiren in Großbritannien, die Bretonen und Korsen in Frankreich, die Sorben in Deutschland bezeichnen sich selbst auch als Nationen ohne Staat (stateless nations), in Spanien und Großbritannien auch als historische Nationen.

    All diese nationalen oder ethnischen Minderheiten, Sprachgemeinschaften, Nationalitäten, Volksgruppen oder Nationen ohne Staat sind, wie die UNO-Sonderberichterstatter der Minderheiten-Unterkommission Francesco Capotorti¹⁰ (1977) und Jules Deschênes¹¹ (1985) definiert haben, Personengruppen, die

    1. Bürger des Staates sind, in dem sie leben,

    2. zahlenmäßig dem übrigen Staatsvolk ihres Wohnlandes unterlegen sind,

    3. sich von diesem durch ethnische, sprachliche, kulturelle oder religiöse Merkmale unterscheiden,

    4. keine dominante Position einnehmen und

    5. gewillt sind, ihre Eigenart als eigenständige Gruppe zu bewahren.¹²

    Ein Wesensmerkmal der autochthonen Minderheiten ist, dass sie im Unterschied zu politischen Minderheiten niemals zur Mehrheit werden können.

    Eine völkerrechtlich bindende Definition gibt es allerdings (noch) nicht, und zwar weniger aus technischen als vielmehr aus taktisch-strategischen Gründen. Denn an der Frage, ob die Staatsangehörigkeit konstitutives Element der Definition sein soll oder nicht, scheiden sich die Geister. Wer an echtem Minderheitenschutz interessiert ist, postuliert ihn als Bürgerrecht und nicht als Jedermannsrecht. Wer nämlich Letzteres tut, erweitert den Schutzanspruch auf die sogenannten neuen Minderheiten mit der Folge, dass die Bereitwilligkeit der Staaten, Schutzverpflichtungen einzugehen, aus verständlichen Gründen rapide sinkt.¹³ Denn echter Minderheitenschutz geht über den sogenannten negativen Minderheitenschutz, d. h. über das individualrechtliche Diskriminierungsverbot, deutlich hinaus und beruht auf positiven Maßnahmen gruppenrechtlicher Natur.

    II.2. Allochthone Minderheiten …

    bestehen aus Personengruppen mit Migrationshintergrund (Wanderarbeitnehmer, Asylanten, Flüchtlinge) und werden deshalb auch neue Minderheiten genannt. Sie unterscheiden sich von den autochthonen (traditionellen, historischen) Minderheiten im Wesentlichen durch die Kausalität des Minderheitenstatus.¹⁴

    Während die Existenz dieser älter ist als das Staatsgebilde, in dem sie leben, und sie auf den Verlauf der Staatsgrenzen, der sie zu Minderheiten machte, so gut wie keinen Einfluss hatten,¹⁵ ist bei den neuen Minderheiten zumindest ein Rest von Entscheidungsfreiheit gegeben. Zwar haben sie nicht alle die Heimat freiwillig verlassen, denn meist gab es mehr oder weniger triftige, oft sogar zwingende Gründe dafür, doch bestand zumeist ein Minimum an Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf das Zielland und in vielen Fällen lag und liegt auch eine Rückkehr ins Heimatland (wieder) im Bereich des Möglichen.

    II.3. Lokale Minderheiten …

    schließlich haben die Staatssprache zur Muttersprache, befinden sich aber dennoch in einer Minderheitensituation, weil sie als Teil der Titularnation bzw. des sich in zahlenmäßiger Mehrheit befindlichen Staatsvolkes im Siedlungsgebiet einer nationalen oder ethnischen Minderheit leben und dieser auf lokaler Ebene zahlenmäßig unterlegen sind. Eine solche lokale Minderheit bilden beispielsweise die muttersprachlichen Italiener in Südtirol mit einem lokalen Bevölkerungsanteil von 25% (Zensus 2001)¹⁶ oder die ethnischen Finnen mit einem Bevölkerungsanteil von 5% der größtenteils schwedischsprachigen Ålandinseln Finnlands.¹⁷

    III. Der Kern des Nationalitätenkonflikts

    Die Volksgruppenfrage ist so alt wie die moderne Demokratie, welche die Unterscheidung zwischen politischer Mehrheit und Minderheit begründet und die Machtausübung stets der politischen Mehrheit zuweist. Mit dem modernen Demokratieverständnis entsteht daher eine völlig neue Problematik, die es zuvor in dieser Form niemals gegeben hat. Sie bildet den Kern der Nationalitätenfrage, welche das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert geprägt hat. Soziologisch gesehen bildeten in der Regel diejenigen, deren Muttersprache die Staatssprache war, die zahlenmäßige Mehrheit,¹⁸ was sie zu Herrschenden machte, während diejenigen, deren Muttersprache nicht die Staatssprache war, zur Minderheit und dadurch zu Beherrschten wurden. Damit war die Möglichkeit des politischen Machtwechsels zwischen diesen Kräften blockiert und der Klassenunterschied festgeschrieben, denn die Zugehörigkeit zu einer dieser beiden Klassen verlief nicht entlang von politischen Positionen, sondern entlang von starren Merkmalen wie Sprach- und Kulturgrenzen. Festgeschriebene Klassengrenzen innerhalb eines Staates sind jedoch mit dem Demokratieverständnis nicht vereinbar und haben weitreichende Folgen.

    Die benachteiligten Bevölkerungsgruppen, d. h. die nationalen bzw. ethnischen Minderheiten, bilden zwar einen wesentlichen Teil des kulturellen Reichtums Europas, doch wurde dies nicht immer so gesehen, und im Umgang mit ihnen spiegelt sich wider, ob sie als störendes oder als bereicherndes Element begriffen wurden. Wurden sie primär als Konfliktpotenzial wahrgenommen, dann versuchten ihre Wohnsitzstaaten sie zu assimilieren oder, falls dies nicht gelang, abzustoßen, wobei menschenrechts- und völkerrechtswidrige Praktiken bis hin zu Vertreibung und Völkermord zur Anwendung gelangten.¹⁹ Oder sie wurden als bereichernd empfunden, was selten genug vorkam, dann wurde nach Integration getrachtet und Schutz gewährt.

    IV. Empirischer Bestand an Volksgruppen/Minderheiten in Europa

    Von grundsätzlicher Bedeutung ist und bleibt die Frage der Erfassung des empirischen Bestandes von nationalen oder ethnischen Minderheiten in Europa. Da sie bis vor wenigen Jahrzehnten keine politische Kategorie darstellten, gab es auch keine besonderen Bestrebungen, sie empirisch zu erfassen. Im Gegenteil, die Regierungen vieler Nationalstaaten waren nicht interessiert mit harten Zahlen die Fiktion der ethnischen Homogenität ihres Staatsvolkes zu widerlegen. So unterließen sie es bei den Volkszählungen nach der sprachlich-ethnischen Zugehörigkeit zu fragen, unter dem Vorwand, dies sei mit den Erfordernissen des Datenschutzes nicht vereinbar.

    Erst Ende der 1990er Jahre, als sich die europäische Staatengemeinschaft im Europarat zur Befürwortung eines aktiven Minderheitenschutzes durchgerungen hatte, begann der Europarat zu dieser umstrittenen Frage eine eindeutige Haltung einzunehmen und die statistische Erfassung der nationalen Minderheiten zu befürworten, mit dem Argument, dass nicht geschützt werden könne, was nicht bekannt sei.

    Mittlerweile ist der empirische Bestand von Minderheiten in Europa weitgehend erfasst.²⁰ Nach Abschluss der letzten Volkszählungsrunde konnten 353 Minderheiten mit zusammen rund 96 Mio. Angehörigen festgestellt werden²¹, wobei in dieser Zahl auch staatstragende Volksgruppen/Sprachgemeinschaften miteingeschlossen sind²², sofern sie keine absolut dominante Position besitzen. So gesehen ist fast jeder siebte Europäer Angehöriger einer nicht zur Titularnation gehörenden autochthonen Sprachgemeinschaft bzw. Volksgruppe bzw. nationalen oder ethnischen Minderheit, deren Muttersprache nicht die Staatssprache ist und die nicht abwechselnd die politische Mehrheit oder Minderheit bilden.

    Es überrascht, dass die Zahl der Minderheiten sehr viel größer als vielfach angenommen ist, denn beim ersten Versuch einer Bestandserfassung, der vierzig Jahre zurückliegt, war mit rund 90 Volksgruppen nur ein Viertel des derzeit bekannten Bestandes erfasst worden.²³ Warum sind es plötzlich so viele mehr?

    Tabelle 1: Volksgruppen/Sprachgemeinschaften/Minderheiten in den Staaten Europas²⁴

    Tatsächlich ist der größte Teil des Zuwachses auf die jüngste Welle der staatlichen Neuorganisation Europas zurückzuführen. 16 von gegenwärtig 47 Staaten Europas, also ein Drittel, sind erst nach 1990 neu oder wieder entstanden, und zwar 14 durch die Auflösung der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens 1991/92. Dazu kommen Montenegro (2006) und Kosovo (2008) als Spätfolgen. 190 Minderheiten, das sind mehr als die Hälfte des aktuellen Bestandes, sind die Folge dieser staatlichen Neuordnung Europas, welche die politische Landkarte Europas auf einen Schlag stärker verändert hat als dies jemals zuvor der Fall war.

    Tabelle 2: Bestand und Vermehrung der Minderheiten/Volksgruppen in Europa 1970–2008

    Der Rest der Zunahme (72 Minderheiten), das entspricht knapp einem Fünftel des Bestandes, geht auf eine verbesserte Informationstransparenz und auch insofern auf eine markante Änderung in der Beziehung Staaten-Minderheiten zurück, als unter den Staaten durch die Einwirkung der KSZE und des Europarats die Bereitschaft gewachsen ist, zuvor noch ignorierte oder gar geleugnete Minderheiten rechtlich anzuerkennen (Tab. 2).

    V. Das quantitative Dilemma zwischen Ethnien und Staaten

    Staaten als die politische Organisationsform von Gesellschaften folgen bei ihrer Entstehung anderen Gesetzen als die Entwicklung und Verbreitung von Kulturen. Deshalb sind auch die Staatsgrenzen in den seltensten Fällen deckungsgleich mit den Siedlungsgrenzen der einzelnen Ethnien, von denen in Europa mindestens noch 91 nachweisbar sind, vorausgesetzt, dass ihre Existenz an den jeweiligen Sprachen festgemacht werden kann.

    Tatsächlich zeigen diese Eckdaten von 47 Staaten und 91 Ethnien (Sprachen/Kulturen), dass es in Europa fast doppelt so viele Ethnien wie Staaten gibt, oder halb so viele Staaten wie Ethnien. Daraus lassen sich bezüglich Staatsbildung zwei wesentliche Schlüsse ziehen:

    1. Für alle langt es ohnehin nicht, d. h. nicht jede Sprachgemeinschaft konnte oder kann sich ihren eigenen Staat schaffen. Falls doch, dann umfasst er in den seltensten Fällen das gesamte eigene Siedlungsgebiet²⁶ und niemals nur dieses, sondern wegen des sehr häufigen ethnischen Siedlungsgemenges immer auch ein sprachfremdes.

    2. Nicht jede Sprachgemeinschaft muss zum Zwecke der Identitätserhaltung ihren eigenen Staat bilden, es geht auch ohne.

    Die zweite Schlussfolgerung setzt jedoch den gegenwärtigen Stand des Wissens um die Gestaltungsmöglichkeiten der Konkordanzdemokratie voraus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber wurde dort, wo ausschließlich in den Kategorien der Mehrheitsdemokratie gedacht wurde (one man, one vote), wie etwa in Frankreich unter Napoleon III., das Nationalitätenprinzip (ein Volk, eine Nation, ein Staat) zur politischen Leitidee und damit zur Grundlage der Nationalstaatsideologie. Die beginnt erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts allmählich Anzeichen ihrer Überwindung zu zeigen, indem sich die Nationalstaaten Westeuropas im supranationalen Gebilde der EU zu integrieren versuchen. In Mittel- und Osteuropa hingegen kommt es gleichzeitig beim Zerfall der UdSSR, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens in 14 Nationalstaaten und zwei Nationalitätenstaaten (Russische Föderation und Bosnien-Herzegowina) nochmals zu einer Renaissance der Nationalstaatsidee.

    Das Nationalitätenprinzip hatte ohne Zweifel eine Matrioschka-Wirkung. Würde es für die politische Gestaltung Europas heute noch angewandt, dann müssten zu den bereits bestehenden 47 Staaten mindestens nochmals so viele hinzukommen, was allerdings für die Sicherheit und Stabilität Europas eine Horrorvision wäre.

    VI. Minderheitenschutz als Systemkorrektur

    Für das Nationalitätenproblem war nach dem Ersten Weltkrieg die Vermehrung der Staaten die bevorzugte Lösungsstrategie, und so kamen zu den bestehenden zwei Dutzend Staaten zusätzlich acht neue²⁷ mit über 80 Minderheiten hinzu. Zuletzt erhielt diese Strategie 1991/92 neuen Auftrieb mit 16 neuen oder wiedererstandenen Staaten und 190 zusätzlichen Minderheiten. Diese solcherart entstandenen insgesamt 270 Minderheiten bilden drei Viertel des derzeit bekannten Minderheitenbestandes in Europa. Die Anzahl der Minderheiten ist also durch die Staatenbildung nicht kleiner geworden, sondern im Gegenteil exponentiell gewachsen und die Matrioschka-Wirkung unübersehbar. Damit hat sich dieser Lösungsansatz nachweislich zum zweiten Mal als nicht zielführend erwiesen. Wo aber liegt die Lösung?

    Gemäß KSZE-Charta von Paris für ein neues Europa von 1990 haben Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit als oberste Maximen staatspolitischen Handelns zu gelten und die EU hat sie zusammen mit der Freiheit zu ihren Grundprinzipien erhoben (Art. 6 EU-Vertrag). Realpolitisch gesehen hat daher die Problemlösung der Minderheitenfrage innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens zu erfolgen, und zwar mit Hilfe eines Systemkorrektivs.

    Moderner Minderheitenschutz ist ein solches Systemkorrektiv. Er hat davon auszugehen, dass eine formelle Gleichbehandlung der Angehörigen von nationalen Minderheiten nicht ausreicht, um das Diskriminierungsdilemma von Demokratie und Menschenrechten zu lösen, denn die Angehörigen nationaler Mehrheiten und Minderheiten unterliegen im Genuss der Menschenrechte und politischen Grundfreiheiten nicht denselben Bedingungen. Deshalb sind die einen gegenüber den anderen privilegiert bzw. diskriminiert. Daraus folgt, dass sie faktisch nicht gleichbehandelt werden können, denn die gleiche Behandlung unterschiedlicher Gegebenheiten verursacht tatsächliche oder potentielle Diskriminierung.²⁸

    Der negative Minderheitenschutz, d. h. der durch das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 14 EMRK auf individualrechtlicher Ebene gebotene Schutz ist durch positiven Schutz zu ergänzen, indem die durch den Minderheitenstatus bedingte strukturelle Benachteiligung durch positive Schutzmaßnahmen auf gruppenrechtlicher Basis auszugleichen ist.

    Tatsächlich hat der Europarat mit dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten den Übergang zum gruppenrechtlichen Schutz mittels positiver Maßnahmen eingeleitet. Dieses Rahmenübereinkommen, das am 1. Februar 1998 in Kraft getreten ist und gegenwärtig 36 europäische Vertragsstaaten (Stand: 31. August 2010) zählt²⁹, ist in der Tat nicht nur das erste europaweite Instrument des Minderheitenschutzes, sondern es ist – folgerichtig – auch das erste völkerrechtliche Instrument, welches sogar die Förderung der Volksgruppen zum Ziel hat. Ergänzend kommt die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen hinzu, die in erster Linie auf den Schutz der Minderheitensprachen zielt und damit indirekt auch dem Minderheitenschutz dient. Sie ist am 1. März 1998 in Kraft getreten und zählt 23 europäische Vertragsstaaten (Stand: 31. August 2010).³⁰

    Die Umsetzung beider Instrumente erfolgt unter der Kontrolle des Europarats, was gegenüber der Völkerbundära in der Zwischenkriegszeit, wo die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen zum Minderheitenschutz nicht überprüft werden konnte, ebenfalls einen bemerkenswerten Fortschritt bedeutet.

    VII. „Regionale Demokratie" als zusätzliche Komponente der Systemkorrektur

    Es mehrt sich erfreulicherweise die Einsicht, dass das System der Westminster-Demokratie auch die regionale Selbstverwaltung als Korrektiv benötigt, um regionalen Bevölkerungsteilen, darunter auch Minderheiten, die Chancengleichheit und die gleichberechtigte Teilnahme am demokratischen Entscheidungsprozess zu ermöglichen. Das Partizipationsdefizit, eine Schlüsselfrage nationaler Minderheiten, wurde bislang durch Instrumente wie Autonomie (z. B. in Südtirol, im Aostatal, in Katalonien, Galicien und im Baskenland, auf den Ålandinseln) oder Föderalismus (Schweiz, Belgien, Bosnien-Herzegowina) nur punktuell behoben. Als generelles Erfordernis ist es jedoch noch nicht anerkannt und folglich wurde ihm normativ nur teilweise entsprochen. Deshalb wurde im Rahmenübereinkommen für die Minderheiten – sozusagen pro memoria – das Recht postuliert auf „wirksame Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere denjenigen, die sie betreffen" (Art. 15 Rahmenübereinkommen).

    Das Anliegen der regionalen Selbstverwaltung, das auch dem regionalen Partizipationsbedürfnis von Minderheiten entgegenkommt, wird im Europarat entscheidend vom Kongress der Gemeinden und Regionen unterstützt. Dieser hat seit 1997 eine europäische Charta der regionalen Selbstverwaltung postuliert und eine solche nach Überwindung vieler Widerstände im Mai 2008 auch vorgelegt,³¹ wobei allerdings der Begriff „regionale Selbstverwaltung durch „regionale Demokratie ersetzt worden ist, was mehr einem terminologischen als inhaltlichen Erfordernis entsprechen sollte.³²

    Dennoch, einer Billigung durch das Ministerkomitee stand die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten in der fundamentalen Frage der völkerrechtlich bindenden Standards entgegen. Trotz offenkundiger Vorteile der regionalen Selbstverwaltung³³ „gerade für Gebiete mit Minderheitenpopulationen gibt es in Europa nach wie vor einige (Zentral-)Staaten, die speziell dem Regionalismus und der regionalen Selbstverwaltung – oder auch einem umfassenden Minderheitenschutz – skeptisch gegenüberstehen, weil sie damit primär eine Abgabe von Macht oder eine Beschneidung ihrer Souveränität und Bedrohung ihrer territorialen Integrität verbinden".³⁴ So kam es in der Fachministerkonferenz in Utrecht vom 16./17. November 2009 zu einem Kompromiss in Form des „Bezugsrahmens [reference framework] für regionale Demokratie"³⁵, von dem zu hoffen bleibt, dass er „der künftigen Verabschiedung einer echten, völkerrechtlich verbindlichen Konvention eher den Weg bereiten als ihr im Weg stehen wird".³⁶

    VIII. Dynamik des Minderheitenschutzes in Europa

    Im Jahr 2001 hatte die Hälfte der minderheitsrelevanten Staaten Europas die vom Europarat vorgegebenen Ziele des Minderheitenschutzes mindestens zu 50% erfüllt. Fünf Jahre später, 2006, waren es bereits zwei Drittel, während gleichzeitig die Zahl der Staaten, welche die Vorgaben nur zu einem Drittel bis zur Hälfte erfüllt haben, von 14 auf 8 zurückgegangen ist. Es bleibt zu hoffen, dass diese um die Jahrhundertwende neu entstandene Dynamik von anhaltender Tendenz sein wird.³⁷ Allerdings lagen vier Staaten, nämlich Frankreich, Griechenland, die Türkei und Weißrussland 2001 noch deutlich hinter der kritischen Marke von einem Drittel der Zielvorgabe zurück und zeigten fünf Jahre später, 2006, noch anhaltende Innovationsresistenz.

    Tabelle 3: Dynamik des Minderheitenschutzes in Europa 2001–2006³⁸

    IX. Schlussbemerkung

    Österreich kann für sich in Anspruch nehmen, den ersten wesentlichen Beitrag zur Lösung der Nationalitätenfrage in Europa geleistet zu haben, indem es bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein beachtliches Nationalitätenrecht entwickelt und schon 1867 erstmals die Gleichberechtigung der „Volksstämme, wie man damals die Nationalitäten bezeichnete, als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen hat. Dieser Beitrag Österreichs zum Entwicklungsfortschritt Europas ist mindestens so hoch einzuschätzen wie der Beitrag Frankreichs, welches mit der Französischen Revolution 1789 Europa die Gleichheit vor dem Gesetz bescherte, die jedoch nur individualrechtlich zu verstehen war. Demgegenüber war Österreichs „Gleichberechtigung der Volksstämme in Art. 19 Grundgesetz eindeutig gruppenrechtlich konzipiert. Damit aber war Österreich seiner Zeit um mehr als 100 Jahre voraus, denn es dauerte noch 131 Jahre bzw. noch vier Generationen, nämlich genau bis 1998, bis das Postulat der materiellen Gleichberechtigung nationaler Minderheiten Eingang ins Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten gefunden hat.

    Damit ist um die Wende zum 21. Jahrhundert ein Prozess in Gang gekommen, der mit Hilfe von Volksgruppenrechten in Form des modernen Minderheitenschutzes die 2004 erfolgte Osterweiterung der europäischen Integration ermöglicht hat und auf die Bewahrung des kulturellen Reichtums zusteuert, der mit über 350 Minderheiten in 47 Staaten Europas zum Ausdruck kommt. Als Ergebnis dieses Prozesses kristallisiert sich eine Form der nationalen Partnerschaft zwischen Staaten und Volksgruppen heraus, bei welcher die Staatsraison auf territoriale Integrität, Sicherheit und Stabilität setzt und dafür Volksgruppenrechte bietet, während die Volksgruppen-Raison auf Schutz und Entfaltung ihrer sprachlich-kulturellen Identität zielt und dafür kulturellen Mehrwert bietet. Schließlich bewegt sich der Nationalstaat (des 19. und 20. Jahrhunderts) auf den Nationalpartner-Staat des 21. Jahrhunderts zu im Sinne der Faustregel, dass nur zufriedene Volksgruppen auch „gute Volksgruppen sind und nur Staaten mit „guten Volksgruppen auch sichere und stabile Staaten sind.

    ¹ HEIDELBERG INSTITUTE FOR INTERNATIONAL CONFLICT RESEARCH, Conflict Barometer 2009. 18th Annual Conflict Analyses, 2009, 9 ff.

    ² Konfliktgegenstand Autonomie: Belgien (Flandern), Bosnien-Herzegowina (Bosnische Kroaten), Estland (Russophone als Minderheit), Georgien (Minderheiten der Armenier, Aserbaidschaner), Italien (Lega Nord), Kroatien (Krajina-Serben), Lettland (Russophone als Minderheit), Mazedonien (albanische Minderheit), Rumänien (ungarische Minderheit), Serbien (albanische, bosnische und ungarische Minderheit), Slowakei (ungarische Minderheit). HEIDELBERG INSTITUTE (wie Anm. 1) 9 ff.

    ³ Konfliktgegenstand Sezession: Aserbaidschan (Nagorni-Karabach), Bosnien-Herzegowina (Republika Srpska, Bosniakisch-Kroatische Föderation), Frankreich (FLNC/Korsika), Georgien (Abchasien, Südossetien), Großbritannien (Nordirland, Schottland), Moldawien (Transnistrien), Russland (Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Nordossetien-Alanien), Serbien (Kosovo, Sandschak), Spanien (Baskenland, Katalonien), Zypern (Nordzypern). HEIDELBERG INSTITUTE (wie Anm. 1) 9 ff.

    ⁴ HEIDELBERG INSTITUTE (wie Anm. 1) 9 ff.

    ⁵ Paul PHILIPPI, Zur Erhaltung autochthoner Minderheiten unter Diasporabedingungen am Beispiel der deutschen Minderheit in Rumänien, in: Europäisches Journal für Minderheitenfragen (im Folgenden EJM) 1 (2009) 32–38, vgl. bes. 33.

    ⁶ Auf die semantische Problematik im Deutschen haben u. a. Theodor VEITER, Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht im 20. Jahrhundert, 1. Auflage, München 1977, 162 ff., und Otto KIMMINICH, Rechtsprobleme in der polyethnischen Staatsorganisation, Mainz 1985, 109 ff. aufmerksam gemacht. Mehr dazu bei Christoph PAN und Beate Sibylle PFEIL, National Minorities in Europe. Handbook (Ethnos 63), Wien 2003, XVII ff.

    ⁷ Was denn geschehen müsse, so wurde in einer bretonischen Zeitschrift gefragt, damit eine Minderheit das Recht verliere, als solche anerkannt zu werden? Denn offenbar gelte Gleiches nicht für die schon seit langem in Frankreich lebenden Minderheiten der Bretonen, Elsässer usw., denn Frankreich erkenne weder die Tatsache an, dass es sie gibt, noch dass es ihrer mehrere sind, und weigere sich ihnen auch nur das geringste Recht auf Unterscheidung zuzugestehen. Für Frankreich seien sie ganz einfach zu unsichtbaren Minderheiten (minorités invisibles) geworden. Was immer sie täten, ob sie zu Zehntausenden für ihre Sprache demonstrieren, Frankreich, seine Politiker, Parteien und überregionalen Medien nähmen sie nicht wahr. Die Bretonen könnten Bücher schreiben, Zeitungen herausgeben, Frankreich nehme keine Notiz davon. Selbst wenn bretonische Sportler, Wissenschaftler, Unternehmer ins internationale Niveau vorstießen, könnten sie nur als Franzosen gelten (Paul CHEREL, Éditorial. Minorités invisibles, in: L’heure du réveil – Dihunomp. La lettre d’information des Bretons, No 16 Février 2009, 1–2, vgl. bes. 1).

    ⁸ Weil der Begriff nationale Minderheit eine nationale Mehrheit voraussetzt, die es in Altösterreich nicht gab.

    ⁹ Gemäß dem Konzept der „vier historischen Nationen, die gemeinsam das Staatsvolk von Großbritannien als Unionsstaat bilden. Vgl. Anna GAMPER, Vom Unionsstaat zum Regionsstaat? Eine kritische Bilanz nach zehn Jahren „devolution, in: Volksgruppen und regionale Selbstverwaltung in Europa (Schriften zum Internationalen und Vergleichenden Öffentlichen Recht 8), hg. von Anna GAMPER / Christoph PAN, Baden-Baden–Wien, 2008, 107–123, bes. 120.

    ¹⁰ Francesco CAPOTORTI, Study on the Rights of Persons belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, in: UN.Doc.E/CN.4/Sub.2/384/Rev.1 § 568 vom 20.6.1977 (heute: UN sales publications E.78.XIV.1).

    ¹¹ Jules DESCHÊNES, Proposal concerning a Definition of the Term „Minority", UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/31 § 181.

    ¹² Ausführlich zum Minderheitenbegriff u. a. Georg BRUNNER, Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa. Strategien für Europa, Gütersloh 1996, 20 ff.

    ¹³ In Italien wurden 2008 3,4 Millionen Ausländer aus über 100 Herkunftsländern registriert. Würde der Minderheitenschutz auch auf nichtitalienische Staatsbürger ausgedehnt, dann müsste Italien außer den 12 traditionellen Minderheiten mit rund 3 Millionen Angehörigen zusätzlich noch mindestens über 50 Immigrantengruppen sprachlich-kulturell schützen, was abgesehen von der Frage der objektiven Notwendigkeit und Berechtigung finanziell und technisch nicht machbar wäre.

    ¹⁴ Zur Kausalität des Minderheitenstatus vgl. Maximilian OPITZ, Die Minderheitenpolitik der Europäischen Union. Probleme, Potentiale, Perspektiven, Berlin, 2007, 34 f.

    ¹⁵ Eines von vielen Beispielen dafür sind die Einwohner der Karpato-Ukraine (Ruthenen, Magyaren, Deutsche usw.) die im 20. Jahrhundert ohne ihr Zutun und ohne Ortsveränderung fünf Mal die Staatsangehörigkeit wechseln mussten, denn ursprünglich gehörte die Karpato-Ukraine zum Königreich Ungarn, 1920 kam sie zur Tschechoslowakei, 1939 wieder zu Ungarn, 1944 zurück zur Tschechoslowakei, 1945 zur Sowjetunion und 1991 zur Ukraine.

    ¹⁶ AUTONOME PROVINZ BOZEN, Landesamt für Statistik, Statistisches Jahrbuch für Südtirol, Bozen 2003, 108.

    ¹⁷ Christoph PAN und Beate Sibylle PFEIL, Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Band 2, 2. Auflage Wien–New York 2006, 162.

    ¹⁸ Ausnahmen waren, weil sie zahlenmäßig nicht über die absolute Mehrheit verfügten, z. B. die Wallonen in Belgien, die Deutschen in Altösterreich, die Magyaren im Königreich Ungarn, die Schweden im Großfürstentum Finnland.

    ¹⁹ Mehr dazu bei Hanns HAAS, Ethnische Homogenisierung unter Zwang. Experimente im 20. Jahrhundert, in: Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa, 16.–20. Jahrhundert, hg. von Sylvia HAHN, Andrea KOMLOSY, Ilse REITER, Innsbruck–Wien–Bozen, 2006, 140–171; Herbert PROKLE, Der Weg der deutschen Minderheiten Jugoslawiens nach Auflösung der Lager 1948 (Beiträge zur donauschwäbischen Volks- und Heimatforschung, Reihe III), München, 2008.

    ²⁰ Ausführlich dazu Christoph PAN und Beate Sibylle PFEIL, Die Volksgruppen in Europa. Ein Handbuch (Ethnos 56), Wien 2000, 39–183; aktualisiert in PAN/PFEIL, National Minorities in Europe (wie Anm. 6) 41–183.

    ²¹ Christoph PAN, Die Minderheitenfrage in der Europäischen Union, in: EJM 2 (2009) 20–31, vgl. bes. 29 f.

    ²² Wie etwa die Flamen und Wallonen in Belgien, die „Dütschschwyzer, die frankophonen „Welschschwyzer und die italienischsprachigen Tessiner in der Schweiz, die Katalanen, Galizier und Basken in Spanien.

    ²³ Manfred STRAKA (Hg.), Handbuch der europäischen Volksgruppen (Ethnos 8), Wien 1970.

    ²⁴ PAN, Die Minderheitenfrage in der EU (wie Anm. 21) 29 f.

    ²⁵ Als nicht der Titularnation angehörende, nicht-dominante Bevölkerungsteile, deren Muttersprache nicht die Landessprache ist.

    ²⁶ Einzig England bzw. Großbritannien und Norwegen decken territorial das Siedlungsgebiet ihrer Titularnationen so weit ab, dass es in den Nachbarländern keine englischen oder norwegischen Minderheiten gibt.

    ²⁷ Estland mit 12 Minderheiten, Lettland mit 11, Litauen mit 10, Finnland mit 6, Polen mit 13, Tschechoslowakei mit 11, Jugoslawien mit 20 und Irland mit 1 Minderheit.

    ²⁸ Fortlaufende Judikatur des EuGH seit 1982. Vgl. Felix ERMACORA / Christoph PAN, Volksgruppenschutz in Europa / Protection of Ethnic Groups in Europe / Protection des Groupes Ethniques en Europe / Tutela dei Gruppi Etnici in Europa (Ethnos 46), Wien 1995, 23, Fußnote 19.

    ²⁹ Unterzeichnet und ratifiziert haben 36 europäische Staaten; unterzeichnet, noch nicht ratifiziert haben Belgien, Griechenland, Island, Luxemburg; weder unterzeichnet noch ratifiziert haben Andorra, Frankreich, Monaco, Türkei.

    ³⁰ Unterzeichnet und ratifiziert haben 23 europäische Staaten; unterzeichnet, noch nicht ratifiziert haben acht Staaten, nämlich Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Frankreich, Island, Italien, Malta, Moldawien, Russland; weder unterzeichnet, noch ratifiziert haben 13 Staaten, nämlich Albanien, Andorra, Belgien, Bulgarien, Estland, Griechenland, Irland, Lettland, Litauen, Monaco, Portugal, San Marino, Türkei.

    ³¹ EUROPARAT, Kongress der Gemeinden und Regionen; Empfehlung 240 (2008) an das Ministerkomitee des Europarats betreffend eine Charta der regionalen Demokratie.

    ³² Am 21. Januar 2009 hat die Kammer der Regionen zur Druckausübung auf die jeweiligen Regierungen der Europarat-Mitgliedstaaten aufgefordert, um sicherzustellen, dass die Europäische Charta für regionale Demokratie vom Ministerkomitee des Europarates verabschiedet wird (EUROPARAT, Kongress der Gemeinden und Regionen, Kammer der Regionen, Good Governance: Schlüsselfaktor für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung von Regionen. Entschließung. 16. Plenarsitzung CPR(16)3RES 21. Januar 2009, Pkt. 15 lit. a).

    ³³ EUROPARAT, Kongress der Gemeinden und Regionen, Empfehlung 286 (2010) an das Ministerkomitee des Europarats betreffend Minderheitensprachen – ein wertvolles Gut für die regionale Entwicklung. Ausführlich dazu vgl. Beate Sibylle PFEIL, Neue Perspektiven beim Europarat: Minderheitensprachen als Instrument der Regionalentwicklung, in: EJM 2 (2010) 100–113, vgl. bes. 100 f.

    ³⁴ Beate Sibylle PFEIL, Vorwort der Redaktion, in: EJM 2 (2010) 71–74, vgl. bes. 73.

    ³⁵ Ausführlich dazu Beate Sibylle PFEIL, Regionale Selbstverwaltung beim Europarat: Der neue „Bezugsrahmen für regionale Demokratie". EJM 2 (2010) 114–127, vgl. bes. 114 ff.

    ³⁶ PFEIL, Vorwort (wie Anm. 34) 74.

    ³⁷ Ein erster Versuch, die Lage des Minderheitenschutzes in den Staaten Europas in standardisierter Form darzustellen und auch im Zeitablauf zu evaluieren, findet sich bei PAN/PFEIL, Minderheitenrechte in Europa (wie Anm. 17) 16–23, 644 ff.

    ³⁸ PAN/PFEIL, Minderheitenrechte in Europa (wie Anm. 17) 644.

    Die Südtiroler Leitbildfunktion für die Minderheitenpolitik in Europa

    BEATE SIBYLLE PFEIL

    Südtirol gilt gemeinhin als gelungener Musterfall für die Lösung eines Minderheitenkonflikts durch Autonomie. Kann es aber tatsächlich auch als Leitbild für die Minderheitenpolitik in Europa fungieren? Zur Beantwortung dieser Frage soll in einem ersten Schritt der „Fall Südtirol" historisch und rechtlich skizziert werden. Hieraus lassen sich in einem zweiten Schritt Anhaltspunkte für einen möglichen Leitbildcharakter des Südtirol-Reglements ableiten.

    1. Die Südtirolfrage: Vom Konfliktherd zum Musterfall

    ¹

    Südtirol, mit offizieller Bezeichnung „Autonome Provinz Bozen Südtirol, war historisch ein Teil Österreich-Ungarns, der 1919 von Österreich zu Italien kam als Preis für dessen Frontwechsel im Ersten Weltkrieg. Das historische Südtirol umfasste das Territorium der gegenwärtigen Autonomen Region Trentino-Südtirol. Heute ist Südtirol eine der insgesamt 109 Provinzen der zentral verwalteten Republik Italien. Von den rund 463.000 Einwohnern sind rund 64% deutscher, 24,5% italienischer und 4% ladinischer (rätoromanischer) Muttersprache, hinzu kommen 7,4% „andere, hauptsächlich ansässige Ausländer.²

    1910, als Südtirol noch zu Österreich gehörte, waren von den rund 251.000 Einwohnern 89% Deutschsprachige, knapp 4% Ladiner, 3% Italiener und 4% „andere". Infolge der Italianisierungspolitik des faschistischen Regimes stieg die Zahl der Italiener bis Kriegsende um mehr als das Fünfzehnfache, während der Anteil der Deutschen infolge Option und Umsiedlung auf unter zwei Drittel sank. 1948 erhielt Südtirol seine erste Autonomie, die auf ein zwischen Italien und Österreich am 5.9.1946 in Paris getroffenes Abkommen³ zurückging. Diese erwies sich als Fehlkonstruktion, denn gleichzeitig hatte zum einen auch die südliche Nachbarprovinz Trient mit fast ausschließlich italienischer Bevölkerung eine Autonomie erhalten, zum anderen die räumlich beide Provinzen umfassende Region Trentino-Südtirol. Die Region fungierte als Hauptträgerin der Autonomie, in ihr stellten aber die Italiener mit rund zwei Dritteln die Bevölkerungsmehrheit. Dies wurde von der – eigentlich zu schützenden – Minderheit als Umgehung der Vertragspflichten angesehen. Tatsächlich nahm die italienische Zuwanderung auch während der fünfziger und sechziger Jahre weiterhin zu (34% Italiener im Jahr 1961), während bei den anderen Sprachgruppen eine empfindliche Abwanderungswelle ins deutschsprachige Ausland einsetzte.

    Österreich brachte daher die Südtirolfrage 1960 vor die Vereinten Nationen. Noch 1960 verabschiedete die UNO einstimmig eine Resolution, durch welche Italien in Bezug auf Südtirol zur friedlichen Streitbeilegung mit Österreich verpflichtet wurde, zunächst jedoch ohne spürbaren Erfolg. Im Juni 1961 verlieh eine Reihe von Südtirolaktivisten der UNO-Aufforderung mit einer Anschlagwelle auf Sachobjekte Nachdruck, im September setzte Italien dann die sog. Neunzehnerkommission ein und im November bekräftigte schließlich die UNO nochmals ihre Resolution. Die Neunzehnerkommission, in der alle am Streit beteiligten Parteien vertreten waren, erarbeitete von 1961–64 Lösungsvorschläge, welche im Rahmen bilateraler Verhandlungen auf Außenminister- und Expertenebene zu einem Bündel von konkreten Maßnahmen, dem sog. Paket, verarbeitet wurden. Diese galt es dann Zug um Zug umzusetzen – nach dem sog. Operationskalender als Garantie für die Einhaltung der italienischen Zusagen. Der wichtigste Teil des „Pakets" war die Änderung und Ergänzung des alten Autonomiestatuts durch ein Verfassungsgesetz vom 10.11.1971. Das darauf beruhende zweite Autonomiestatut konnte am 5.1.1972 in Kraft treten, der Paket-Umsetzungsprozess dauerte bis 1992, dann wurde der Streitfall Südtirol offiziell bei der UNO für beigelegt erklärt.

    2. Der Südtiroler Rechtsschutz im internationalen Kontext

    Die rechtliche Basis der Minderheitenschutz-Vorkehrungen für Südtirol ist komplex. Angesichts der Frage nach der Leitbildfunktion des Südtirol-Reglements für Europa bietet es sich an, den Südtiroler Minderheitenschutz zunächst in den Kontext der internationalen Diskussion um ein europäisches Minderheiten-Schutzsystem einzuordnen. Hier hat die Minderheiten-Seite durch die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen FUEV, den einzigen Dachverband europäischer Volksgruppenorganisationen, zuletzt 1995 den sog. Bozner Konventionsentwurf vorgelegt.⁴ Dieser Entwurf ist insofern besonders interessant, als er einen Katalog von Maximalforderungen hinsichtlich eines aus Betroffenensicht effektiven Minderheitenschutzes enthält. Ein Teil der FUEV-Forderungen wurde durch die beiden 1998 in Kraft getretenen einschlägigen Europarat-Konventionen, das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten⁵ und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen⁶, erfüllt, ein anderer, immer wieder eingeforderter Teil ist bislang nicht völkerrechtlich kodifiziert. Zu fragen ist, welche FUEV-Maximalforderungen in Südtirol wie umgesetzt worden sind. Im Einzelnen handelt es sich um die Rechte

    1. auf Identität (Art. 4 Abs. 1, 3, 4, Art. 3 Abs. 1 FUEV-Entwurf)

    Dieses Recht ergibt sich aus der freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfassung Italiens (im Folgenden: Verf.) und speziell für Minderheiten aus Art. 6 Verf., wonach die Republik die sprachlichen Minderheiten mit besonderen Bestimmungen schützt. Art. 2 des Minderheitengesetzes von 1999 (im Folgenden: MindG) wiederum anerkennt u. a. die Deutschen und Ladiner als zu schützende Minderheiten im Sinne von Art. 6 Verf. Hinzu kommt die völkerrechtliche Absicherung der Identität der Deutsch-Südiroler durch den Pariser Vertrag.

    2. auf freien Gebrauch der Muttersprache, privat und öffentlich (Art. 6 Abs. 1)

    Dieses Recht ergibt sich aus der freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfassung Italiens.

    3. auf eigene Organisationen einschließlich politischer Parteien (Art. 8)

    Die Vereinigungs-, die Versammlungs- und die Parteigründungsfreiheit sind durch Art. 18, 17 und 49 Verf. gewährleistet. In Südtirol gibt es ein äußerst aktives Netz an kulturellen Vereinen der Deutschsprachigen und Ladiner. Die deutsche Minderheit hat sich (zusammen mit einem Teil der Ladiner) in einer Sammelpartei und einigen weiteren kleineren Parteien, ein Teil der Ladiner hat sich in der Liste Ladins Dolomites organisiert.

    4. auf ungehinderte, auch grenzüberschreitende Kontakte (Art. 9 Abs. 1 und 3)

    Minderheitsangehörige dürfen auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 und 2 Verf. (Staatsbürgerrecht auf Freizügigkeit und darauf, das Staatsgebiet zu verlassen und dorthin zurückzukehren) Kontakte auch grenzüberschreitender Art pflegen, dies auch im Rahmen von NGO-Aktivitäten.⁷ Italien hat außerdem internationale Abkommen zur Förderung der institutionellen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit unterzeichnet, welche z. B. die Grundlage für die wirtschaftliche und kulturelle Kooperation der historischen Landesteile Tirol, Südtirol und Trentino im Rahmen der Europaregion Tirol bilden.⁸

    5. auf Gleichheit vor dem Gesetz und Nichtdiskriminierung (Art. 5 Abs. 1)

    Art. 3 Abs. 1 Verf. gewährleistet die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz ohne Unterschied u. a. aufgrund der Rasse oder der Sprache.

    6. auf Chancengleichheit, insbesondere im kulturellen Bereich (Art. 5 Abs. 2–6)

    Nach Art. 6 Verf. soll der Staat die sprachlichen Minderheiten „mit besonderen Bestimmungen" schützen, was dem Grundgedanken der sog. positiven Diskriminierung entspricht (vgl. auch Art. 3 Abs. 2 Verf.), die Umsetzung dieser Vorgabe erfolgte durch das Minderheitengesetz. In Südtirol ist die Chancengleichheit v. a. durch die Autonomie gesichert.

    7. auf Gebrauch der Muttersprache im Verkehr mit Behörden und Gerichten (Art. 6 Abs. 2–5)

    Nach Art. 99 Autonomiestatut (im Folgenden: Statut) ist die deutsche Sprache in der Region der amtlichen Staatssprache Italienisch gleichgestellt. Nach Art. 100 Abs. 1 Statut haben die deutschsprachigen Bürger der Provinz Bozen das Recht, im Verkehr mit den Gerichtsämtern und mit den Organen und Ämtern der öffentlichen Verwaltung sowie mit entsprechenden Konzessionsunternehmen ihre Sprache zu gebrauchen. Die Ladiner können ihre Sprache im Verkehr mit jenen öffentlichen Ämtern (außer Armee, Polizei) und Konzessionsunternehmen verwenden, die in den ladinischen Ortschaften ihren Sitz haben, und überdies gegenüber den Landesämtern (auch in Bozen), die sich ausschließlich oder hauptsächlich mit den Interessen der Ladiner befassen. Die Konzessionsunternehmen antworten mündlich auf Ladinisch und schriftlich dreisprachig. Nach Art. 32 Abs. 4 DPR 574/88 haben die Ladiner in der Provinz das Recht, vor Gericht ihre Aussagen auf Ladinisch zu machen.¹⁰

    8. auf Führung und amtliche Anerkennung von Personennamen in der Muttersprache (Art. 6 Abs. 6)

    Dieses Recht ist gesetzlich verankert¹¹, gemäß Art. 11 MindG ist auch die gebührenfreie Rückführung von Personennamen in die ursprüngliche Form möglich.

    9. auf Ortsnamen und ähnlich öffentlich zugängliche Informationen in der Muttersprache (Art. 6 Abs. 7)

    Pkt. 1 b) des Pariser Vertrags sieht die Gleichberechtigung der deutschen Sprache auch in der zweisprachigen Ortsnamengebung vor. Nach Art. 101 Statut müssen in der Provinz Bozen die öffentlichen Verwaltungen gegenüber den deutschsprachigen Bürgern auch die deutschen Ortsnamen verwenden, wenn ein Landesgesetz ihr Vorhandensein festgestellt und die Bezeichnung genehmigt hat. Nach Art. 8 Nr. 2 Statut hat die Provinz im Bereich Ortsnamengebung eine primäre Gesetzgebungskompetenz „mit der Verpflichtung zur Zweisprachigkeit", ein entsprechendes Gesetz fehlt bisher allerdings.¹² In der Praxis sind die Ortsnamen zweisprachig, in den acht Gemeinden des ladinischen Siedlungsgebiets dreisprachig.

    10. auf Unterricht in der Muttersprache (Art. 7 Abs. 1–4, 7–9)

    Nach Art. 9 Nr. 2 Statut hat Südtirol die sekundäre Gesetzgebungszuständigkeit für den Unterricht an Grund- und Sekundarschulen. Darauf basierend wurde ein dreigliedrig deutsch-italienisch-ladinisches Schulsystem errichtet mit für jede Sprache bzw. den Sprachunterricht jeweils muttersprachlichem Lehrpersonal. An den deutschen und italienischen Schulen ist das Deutsche bzw. Italienische Unterrichtssprache, die jeweils andere Landessprache Zweitsprache¹³, hinzu kommen muttersprachliche Kindergärten für alle drei Sprachgruppen. Kraft eines Studientitelabkommens zwischen Österreich und Italien von 1955 können Deutschsprachige ihre Universitätsausbildung muttersprachlich in Österreich absolvieren, die Universität Innsbruck (Nordtirol/A) bietet als „Landesuniversität" entsprechende Sonderrechte und -studiengänge für Südtiroler. Seit 1997 gibt es auch in Südtirol eine – offiziell dreisprachige (Deutsch, Italienisch, Englisch) – Universität. An den ladinischen Schulen sind neben Ladinisch zu gleichen Teilen („paritätisch") Italienisch und Deutsch Unterrichtssprachen.

    11. auf muttersprachliche Information und eigene Kommunikationsmittel (Art. 10 Abs. 1, 3, 2)

    Art 21 Verf. gewährleistet ein Jedermann-Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit. In Südtirol können deutschsprachige Rundfunkprogramme aus dem Ausland empfangen werden.¹⁴ Der öffentlich-rechtliche Rundfunk RAI sieht über seine deutsche bzw. ladinische Sektion im Land Sendungen in deutscher und – in deutlich geringerem Umfang

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