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Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945: Ludwig von Ficker im Kontext
Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945: Ludwig von Ficker im Kontext
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eBook505 Seiten6 Stunden

Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945: Ludwig von Ficker im Kontext

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Über dieses E-Book

Nach der Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur nahm der Innsbrucker Publizist Ludwig von Ficker im August 1946 seine aktive Tätigkeit mit der Veröffentlichung der XVI. Nummer seiner Kunst- und Kulturzeitschrift "Der Brenner" wieder auf. Ficker stellt ein paradigmatisches Beispiel für eine Generation von Kulturvermittler*innen dar, die nach 1945 einen Neuanfang wagten, die beständig am Wiederaufbau von (brieflichen) Netzwerken arbeiteten und deren transnationale bzw. transkulturelle Verbindungen in der Nachkriegszeit von deutlicher Wirkkraft waren.

Die Beiträge dieses Bandes untersuchen, jeweils von einer Vermittlerpersönlichkeit ausgehend, die komplexen kulturpolitischen Prozesse, die die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestimmt haben, und kontextualisieren gleichzeitig die Verdienste des "Brenner"-Herausgebers auf dem kulturellen, politischen und sozialen Feld dieses Zeithorizonts. Es wird dabei evident, dass die vielfältigen Tätigkeiten der Literatur- und Kulturvermittler*innen ihren Niederschlag in permanenten Selektions-, Produktions- und Rezeptionsprozessen gefunden haben, wobei ein wesentliches Spannungsfeld im Nebeneinander von restaurativen und progressiven Kräften auszumachen ist. Ein Blick auf die Literaturvermittler*innen illustriert deshalb insbesondere auch die Machtverhältnisse und ideologischen Grabenkämpfe, die nach 1945 Literaturvermittlung und Kulturtransfer dominiert haben. In der Synopse werden die Vielfalt, die Dynamik und die Komplexität, aber auch die Kontingenz der diskursiven Praktiken dieses Zeithorizonts sichtbar.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum10. Dez. 2020
ISBN9783706561228
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    Buchvorschau

    Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945 - StudienVerlag

    Ludwig von Ficker im Kontext

    Am 20. März 2017 jährte sich der Todestag Ludwig von Fickers, des Herausgebers der Innsbrucker Kunst- und Kulturzeitschrift Der Brenner (1910–1954), zum fünfzigsten Mal. Dieser Jahrestag erfuhr allerdings – im Gegensatz zu so manch anderem Todestag verdienter Persönlichkeiten des kulturellen Lebens1 – nur sehr geringe mediale Aufmerksamkeit. Tatsächlich legte das mäßige Interesse den Schluss nahe, dass die Öffentlichkeit in den vergangenen fünf Jahrzehnten die vielfältigen Tätigkeiten des Innsbrucker Schriftstellers, Verlegers, Mäzens und Publizisten, der bis in die späten 1960er Jahre das kulturelle Leben Tirols und Österreichs beeinflusste, immer stärker aus den Augen verloren hatte. Der Versuch einer Rückführung des weitgehend Vergessenen in das kollektive Bewusstsein der Gegenwart erschien deshalb – zumindest auf wissenschaftlicher Ebene – als Gebot der Stunde. Am 20. März feierte auch Walter Methlagl, der langjährige Leiter des Brenner-Archivs, seinen 80. Geburtstag. Mit dem Beitrag von Gerald Stieg wurde der Festvortrag zu diesem Anlass aufgenommen.

    Die vom 20. – 22. März 2017 am Forschungsinstitut Brenner-Archiv durchgeführte internationale Tagung versuchte in ihrer Grundkonzeption, dem Geist Fickers als Genius Loci zu entsprechen und aus diesem Grund zwei zentrale Wirkungsprinzipien, die der Brenner-Herausgeber zeitlebens stets gepflogen hatte, zu berücksichtigen: Zum einen hatte Ficker, seiner persönlichen Neigung entsprechend, die teils aus seinem Naturell, teils aus Überlegung begründet war, seine Arbeit stets weitgehend in den Hintergrund gestellt und anderen Protagonist*innen die kulturelle Bühne überlassen. So sollte er auch anlässlich der Tagung nicht ausschließlich im Vordergrund stehen und mit hagiographischen Würdigungen bedacht werden. Die Intention der Veranstaltung bestand vielmehr darin, die Vermittlerpersönlichkeit Ficker und seine Arbeit in ein dichtes Geflecht von ähnlich gelagerten kulturellen Vermittlungsprozessen eingebunden wahrzunehmen und abzubilden. Zum anderen schätzte und praktizierte Ficker zeitlebens den Wert der Kommunikation, des Miteinander-ins-Gespräch-Tretens, sei es nun brieflich oder von Angesicht zu Angesicht. Diese Praxis wurde von ihm – eine entsprechende Gesprächsbasis vorausgesetzt – in bester sokratischer Tradition gepflegt. Auch diesem Prinzip wurde bei der Gestaltung des Tagungsprogramms Rechnung getragen: Die Vielzahl von Stimmen und Diskursen, die im Rahmen der Fachvorträge, der künstlerischen Darbietungen, auf der Fahrt zu Fickers ehemaliger Wohnstätte in Mühlau und zu seinem Grab auf dem Mühlauer Friedhof, auf dem er Seite an Seite mit Georg Trakl begraben liegt, aber auch abseits in den Rand- und Pausengesprächen zu hören waren, trugen zu einer positiv-produktiven Polyphonie bei.

    Nach der Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur nahm Ludwig von Ficker seine Vermittlertätigkeit, die er zwölf Jahre nach außen hin unterbrochen hatte, außenwirksam mit der Veröffentlichung der XVI. Brenner-Nummer im August 1946 wieder auf. Er stellt ein paradigmatisches Beispiel für jene Generation von Kulturvermittlern bzw. im Kulturbetrieb Tätigen dar, deren Aktivitäten und Bestrebungen, deren beständige Arbeit an (brieflichen) Netzwerken und transnationalen bzw. transkulturellen Verbindungen in der Nachkriegszeit von deutlicher Wirkkraft waren. In diesem Sinne erschien es für eine Tagung, deren Ziel darin bestand, die Verdienste des Brenner-Herausgebers im größeren Kontext der kulturellen, politischen und sozialen Entwicklungen der Nachkriegszeit abzubilden, nur recht und billig, die Vielfalt der Aktivitäten weiterer kultureller Persönlichkeiten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die kulturelle Bühne (wieder) betraten, genauer unter die Lupe zu nehmen und Netzwerke aufzuspüren, die erst in einer verdichteten Synopse sichtbar werden.

    Die Tagung firmierte unter einem – durchaus provokant formulierten – Haupttitel, der die Absicht hegte, anhand der Frage „Pastorale Mummelgreise oder Führer in der Welt des Geistes?" jene zentrale Dialektik aufzugreifen und auszudifferenzieren, die sich in der Eigen- und Fremdwahrnehmung der Kulturvermittlerpersönlichkeiten spiegelte. Auch an dieser Stelle wirkte der Brenner-Herausgeber indirekt und aus dem Verborgenen heraus auf die Organisator*innen der Tagung ein: Der erste Begriff stammt aus der Feder Ludwig von Fickers selbst, der sich gegenüber dem Nürnberger Verleger Joseph E. Drexel 1955 eingedenk seines fortschreitenden Alters nicht ohne Selbstironie eingestehen musste: „Der Schwerenöter steht wohl Ihnen noch vortrefflich zu Gesicht, aber kaum mehr mir; ich erschrak geradezu, wie ich schon einem verlegen lächelnden pastoralen Mummelgreis ähnlich zu sehen beginne."2 Das Jubiläum zum Anlass nehmend, eine mehr als sechs Dezennien währende Würdigung (wenn nicht gar in eine Art Hagiographie ausufernde Huldigung) in neuem, kritischem Licht besehen zu wollen, war auch die zweite Wendung dem Briefwechsel entnommen. Der Terminus „Führer in der Welt des Geistes" geht auf Alfred Eichholz zurück, der Ficker in einem Weihnachtsgruß vom 21.12.1958 auf solch lobende Weise titulierte.3

    Der Fokus der Tagung bestand darin, zum einen die häufig nur undeutlich zutage tretende Bandbreite verschiedener durch Vermittlerpersönlichkeiten angestoßener Transferprozesse, die Vielfalt ihrer Aktivitäten sowie die Komplexität ihrer kommunikativen Netzwerke abzubilden. Dabei wurde versucht, Abstand von rein biographischen Deutungsmustern zu nehmen und die Vermittlerfiguren und -persönlichkeiten weniger als autonome Subjekte wahrzunehmen, als vielmehr ihre Tätigkeiten als Manifestationen von im Verborgenen wirkenden gesellschaftlichen Machteffekten im Sinne der diskursanalytischen Positionen Michel Foucaults zu verstehen.

    Literarische Vermittlungen und damit verbundene kulturelle Transferprozesse geschahen und geschehen entlang sozialer, politischer und auch wirtschaftlicher Bruchlinien und Verwerfungen; dies gilt in besonderem Maße für die Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Menschheitsverbrechen des Holocaust und des Vernichtungskrieges waren zwar spätestens im Herbst 1945 mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher gesellschaftlich präsent, sie wurden jedoch in der Literatur kaum thematisiert. Dennoch bildeten sie, je nach politischem Gepräge in mehr oder minder großer Intensität, ein aufgeladenes diskursives Substrat, das in Österreich andere Folgen nach sich zog als in der Bundesrepublik Deutschland. Dort erreichte die Debatte über die künstlerische Darstellbarkeit des Undarstellbaren eine andere Qualität, als sie in Verbindung mit der kapitalistischen Vereinnahmung jeglicher Kunst im berühmt gewordenen Diktum Theodor W. Adornos gipfelte.

    Der kulturelle Austausch zwischen Vermittlerpersönlichkeiten (der in der Regel bi-direktional und trotz der alliierten Besatzung in den meisten Fällen auch transnational funktionierte) und die daraus resultierenden Wirklichkeitskonstruktionen konnten dabei vielfältige Züge annehmen. Zum einen fanden in den meisten Fällen nationale Transfers statt, die im Nachkriegsdeutschland wie auch in Österreich innerhalb der besetzten Gebiete abliefen. Dabei ist zu beobachten, dass die Grenzen der Besatzungszonen physisch wie ideologisch nicht immer leicht zu überwinden waren. Zu den Schwierigkeiten trugen unter anderem ein sich erst langsam wieder konsolidierendes Postwesen, eine mit unterschiedlicher Intensität durchgeführte Postzensur, sowie Papier- und Rohstoffmangel bei. Vielfach waren Weggefährten der Vermittler*innen verstorben, ins Exil vertrieben oder in den Konzentrationslagern ermordet worden. Auf der anderen Seite finden sich aber auch sehr früh schon Bemühungen der kulturvermittelnden Akteur*innen, Austauschprozesse zu initiieren, zu fördern und auszubauen, die auch vor Nationengrenzen nicht Halt machten.

    Am 13. April 1965 konnte man anlässlich des 85. Geburtstags Ludwig von Fickers in einer im Forum veröffentlichten Würdigung Friedrich Hansen-Löves unter dem bedeutungsschweren Titel Auctor Austriae folgende Zeilen abgedruckt finden:

    Ludwig von Ficker hat mit [dem Brenner] und anderen von ihm verlegten Schriften europäische Geistesgeschichte gemacht. Denn das fast gleichzeitige Auftreten der protestantisch-dialektischen Theologie (am besten vertreten durch Karl Barth) und der existentiellen Seinsphilosophie eines Jaspers oder Heidegger wäre das Wirken Theodor Haeckers, wären ohne die vorsorgliche Herausgebertätigkeit Ludwig von Fickers nicht möglich gewesen. [...] Das alles und noch mehr verdankt die geistige Welt Europas der stets aus dem Hintergrunde sanft leitenden Hand des Herausgebers Ludwig von Ficker. Wenn demnächst, wahrscheinlich angeregt von dem eminenten Dichter und Essayisten W. H. Auden, die angelsächsische Welt Ferdinand Ebner als Zeitgenossen Wittgensteins kennenlernen wird, dann gebührt der eigentliche Dank da[fü]r dem Patriarchen von Mühlau bei Innsbruck.4

    Wenn die Rede auf den Herausgeber des Brenner als Lenker, als Fädenzieher im geistesgeschichtlichen Geschehen, als zugleich geschichtsmächtige wie auch Geschichte machende Figur fällt, hat dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumeist Irritationen zur Folge. In Kenntnis der Lebensgeschichte Fickers – wobei diese fünf Jahrzehnte nach seinem Tod nicht mehr als bekannt vorausgesetzt werden darf – und in einen größeren zeitlichen Zusammenhang gestellt, offenbart sich angesichts dieses Gedankens eine Paradoxie: Ficker hatte als ‚Auctor Austriae‘ zwar im expressionistischen Jahrzehnt mit der „einzigen ehrlichen Revue Österreichs", wie der Fackel-Herausgeber Karl Kraus 1913 den Brenner bezeichnet hatte, auf dem kulturellen Feld reüssiert. Nach dem Ersten Weltkrieg, als er mit der Zeitschrift einen inhaltlichthematischen Neubeginn unter nun explizit christlich-philosophischen Vorzeichen wagte, war er aber nur mehr einem eingeschränkten Kreis von Rezipient*innen bekannt, vor allem deshalb, weil er sich bewusst mit dem stärker auf Ferdinand Ebners Individualphilosophie ausgerichteten Konzept des Brenner bis zu einem gewissen Grad mit voller Absicht aus dem literarischen Geschehen der Zwischenkriegszeit ausklammerte.

    Zudem konterkariert der Blick in gängige Literaturgeschichten die Annahme, dass Fickers kulturpolitisches Wirken von epochemachender Bedeutung gewesen wäre. Ficker wurde und wird darin bis heute – sofern er überhaupt namentlich Erwähnung findet – als institutionelle Persönlichkeit zumeist im Zusammenhang mit der Person Georg Trakls und dessen künstlerischem Schaffen genannt. Die Verdienste, die sich Ficker als Mäzen und väterlicher Freund Trakls erworben hat, sind zwar unbestritten, und auch sein Bestreben, die Lyrik Trakls nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in den Kanon einzuführen, hat Wirkung gezeitigt. Eine rein auf diesen Aspekt verengte Rezeption wird aber der Vielfalt seiner Tätigkeiten und der Wirkmächtigkeit seiner Vermittlungsleistungen bei weitem nicht gerecht.

    Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine Diskrepanz zwischen einer – zum Teil schon an Hagiographie grenzenden – ehrfurchtsvollen Huldigung in den Nachkriegsjahren bis nach seinem Tod und der weitgehenden Marginalisierung in der öffentlichen Wahrnehmung vor dem Zweiten Weltkrieg festzustellen ist, die heute erneut in die Verengung zu einem wissenschaftlichen Spezialforschungsbereich mündet. Die Gründe für solche Fluktuationen in der Rezeption sind vielfältig und sowohl aufseiten der Vermittlertätigkeit Fickers als auch in der spezifischen historischen Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auszumachen.

    Während der Weltkrieg auf den asiatischen Schauplätzen noch einige Monate weiter tobte, begann sich nach der militärischen Kapitulation des Dritten Reiches am 8. Mai 1945 allmählich das gewaltige Ausmaß der Zerstörungen abzuzeichnen, die der Weltkrieg verursacht hatte. Weite Teile Europas lagen in Trümmern, und die Deutschen, die den Krieg in die Welt getragen hatten, mussten in den Ruinen der Städte hausen, die seit 1940 mit stetig steigender Intensität im Zuge des alliierten Bombenkrieges angegriffen und zerstört worden waren.

    Der Weltkrieg hatte mehr als 60 Millionen Menschen das Leben gekostet; mehr als 6 Millionen Juden, Kommunisten, Homosexuelle, Sinti und Roma und andere in den Augen des NS-Regimes unerwünschte Personengruppen waren im Zuge des Holocaust systematisch ermordet worden. Die wirtschaftlichen, politischen, vor allem aber die sozialen Folgen von Diktatur und Krieg und die damit verbundenen Fragen nach Schuld und Verantwortung lasteten entsprechend schwer auf den Nachkriegsgesellschaften. Während das besetzte Deutschland bzw. die Bundesrepublik Deutschland aber spätestens ab 1946 gezwungen war, sich aufgrund der Nürnberger Prozesse mit der unrühmlichen Vergangenheit unmittelbar auseinanderzusetzen, konnte man in der Zweiten Republik, schon allein unter Berufung auf die in der Moskauer Deklaration von 1943 festgeschriebenen Rolle als „erstes Opfer der Hitlerschen Aggression, einen völlig anderen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit pflegen. Dies führte zu einem österreichischen „Sonderweg, zu kollektiven Denkschemata, die die Vorstellung von einer „Stunde Null beförderten, im Grunde aber „eine geschickt lancierte Fiktion [darstellten], mit deren Hilfe sich viele aus der Verantwortung, und noch mehr um das schlechte Gewissen geschlichen haben.5 Vielmehr noch: Kunst und Kultur (und hier in besonderem Maße die Literatur) stellten sowohl in der Bundesrepublik als auch im Nachkriegsösterreich hinsichtlich einer positiven Identitäts(neu)bildung starkes identifikatorisches Potenzial bereit; nicht selten handelte es sich in Österreich dabei um Kunstformen, deren Proponenten noch in der Zeit des Ständestaates bzw. sogar in der Monarchie verhaftet waren.

    Nach der Befreiung im Mai 1945 stand die nicht mehr länger zu leugnende Tatsache im Raum, dass auch – oder gerade! – die Vereinnahmung der Kultur maßgeblich zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen hatte. In den Jahren nach dem Ende des Weltkrieges musste deshalb auch die Kulturvermittlung zwangsläufig im langen Schatten, den der Nationalsozialismus geworfen hatte, ihren Raum finden. In diesem Schatten fanden verschiedenste Funktionalisierungen statt, bei denen kulturelle Inhalte und Praktiken, je nach ihrer Anschlussfähigkeit, mit unterschiedlichen Bedeutungen neu besetzt oder re-interpretiert wurden. Die inhaltliche Bandbreite reichte dabei in ihrer extremen Polarität von restaurativen Bewegungen, die den Nationalsozialismus gewissermaßen als historischen „Unfall" auszublenden und an die Zeit vor 1933 bzw. 1938 anzuknüpfen versuchten, bis hin zu avantgardistisch motivierten Kunstprogrammatiken, die diese Restaurationsbewegungen bewusst kritisierten und verurteilten (ein Verweis auf die Sprachkritik, die Ernst Jandl in seinem Werk pflegte, mag hier als repräsentatives Beispiel genügen).

    Dieses Spannungsfeld, das sich zwischen konservativen und progressiven Kräften, zwischen avantgardistischer Zukunftsschau und reaktionärem Anknüpfen an Vergangenheitskonstruktionen manifestierte, macht eine Beurteilung der kulturpolitischen Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland so komplex – vor allem, wenn man bedenkt, dass der „geistige Wiederaufbau" in Österreich, in ähnlicher Form wie der real stattfindende, um den Preis des systematischen Verdrängens der jüngsten Vergangenheit6 passiert war. Dass dabei keineswegs von zwei streng dichotomisch getrennten ideologischen Lagern ausgegangen werden konnte, ist nicht auf den ersten Blick evident; zu eindeutig erschien die Trennung zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten, sichtbar gemacht durch die manifeste Metapher des Eisernen Vorhangs, der als Barriere durch Europa gezogen worden war.

    Die einzelnen Beiträge dieses Bandes skizzieren, dass Tätigkeiten, die von Kulturvermittlerpersönlichkeiten in einem bestimmten historischen Rahmen durchgeführt werden, in permanenten Selektions-, Produktions- und Rezeptionsprozessen ihren Niederschlag finden. Ein Fokus, der diese Aktivitäten näher beleuchtet, lässt die Vielfalt, die Dynamik und die Komplexität, aber auch die Kontingenz diskursiver Praktiken dieses Zeithorizonts sichtbar werden. Letztlich gilt es herauszufiltern, „aus welchen Motiven heraus Wissen erworben, nach welchen Kriterien das Wissenswerte selektiert und zu welchen Zwecken die erworbene Information benutzt wurde."7 Als Ergebnis wird deutlich, dass die Grenzen des Diskurses, d.h. die Grenzen dessen, was gesagt, geschrieben (und damit auch getan) werden kann, variabel sind, sowohl was auf synchroner Ebene die Anbindung an die Ausgangskultur und die von dort ausgehende intra-, inter- und transterritoriale Vermittlung betrifft, als auch in einem diachronen Schnitt. In letzter Konsequenz werden durch den Blick auf die Literaturvermittler*innen insbesondere jene Machtverhältnisse und ideologischen Grabenkämpfe deutlich gemacht, die im Kulturbetrieb der Nachkriegszeit – auch – über Kulturvermittlung und Kulturtransfer verhandelt werden und, wie im eingangs zitierten Beispiel, im Ausdruck des Auctors einen Kulminationspunkt finden können.

    Kulturvermittlerfiguren müssen somit grundsätzlich – abseits von hinreichend ausgetretenen biographischen Deutungsmustern oder Subjektkonstruktionen – auf einer abstrakten Ebene als den gesellschaftlichen Machtfaktoren unterworfene wie auch Macht erzeugende Autor-Funktionen innerhalb des Kulturbetriebs einer Gesellschaft aufgefasst werden. Diese diskursiven Funktionsbündel erscheinen in einen sozialen Raum eingebettet, in dem das kulturelle Wirken weniger als intentionaler Akt eines autonomen Subjekts wahrgenommen und interpretiert werden muss, sondern vielmehr als Resultat verschiedenläufiger Prozesse verstanden wird, die durch die Regeln des Diskurses präformiert, kontrolliert und permutiert werden. Friedrich Hansen-Löves normativer Ansatz vom Kulturvermittler, der „Geistesgeschichte macht", muss gewissermaßen auf die Füße gestellt werden und erfährt dadurch eine Erweiterung: Nicht der Auctor ist es, der als Aktant neue kulturelle Inhalte generiert, er nimmt vielmehr eine bestimmte Position innerhalb jenes Machtgefüges ein, das die Diskurse wie auch die involvierten Körper (d.h. Subjekte) durchdringt.

    Dass mit den Beiträgen dieses Bandes die Breite der Literatur- und Kulturvermittler*innen nach 1945 nicht einmal annähernd angerissen, sondern nur eine schlaglichtartige Auswahl getroffen werden kann, versteht sich von selbst. Wichtige Figuren wie z.B. Rudolf Henz, Rudolf Felmayer, Viktor Matejka, Ernst Schönwiese u.a. werden zwar nicht explizit behandelt, das umfangreiche Namensregister illustriert aber, wie weit das Feld der Kulturvermittlung reicht. Dass Hans Weigel am häufigsten auftauchen würde, war absehbar. Dass aber Ernst Schönwiese ebenso präsent war, ist schon eher überraschend, wie auch, dass die Namen von Karl Kraus und Georg Trakl so oft genannt werden.

    Literaturvermittlung und Kulturtransfer hängt vielfach auch an Institutionen wie Kirchen- und Religionsgemeinschaften, Schulen, Kulturvereinigungen, Verlagen oder Zeitschriften, bei denen nicht unbedingt Einzelpersönlichkeiten im Vordergrund stehen. Solch breite Kontexte zu berücksichtigen, hätte den Rahmen der Tagung bei weitem gesprengt.

    Die Herausgeber*innen, Innsbruck, Februar 2020

    Anmerkungen

    1Beispielsweise war das mediale Echo auf den 100. Todestag Georg Trakls im November 2014 ungleich größer als dasjenige auf seinen Mentor, Förderer und Freund Ludwig von Ficker.

    2Ludwig von Ficker an Joseph E. Drexel, 10.02.1955. FIBA Nachlass Drexel, ohne Sign.

    3Vgl. Alfred Eichholz an Ludwig von Ficker, 21.12.1958: „Auch, wenn wir Ihnen so selten schreiben, so sprechen wir doch häufig von Ihnen, und noch häufiger denken wir an Sie, der uns ein verehrter Freund und ein unvergleichlicher Führer in der Welt des Geistes war." FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 41-9-30-1.

    4Friedrich Hansen-Löve: Auctor Austriae. Zum 85. Geburtstag Ludwig von Fickers am 13. April 1965. In: Forum, 12, Nr. 136, April 1965, 192–193.

    5Martin Adel: Hase und Igel. Die fünfziger Jahre – Tod und Verklärung. Zur Historisierung der Gegenwart. In: Falter/Kultur 10/1985, 17–18, hier 17.

    6Vgl. Johann Dvorak: Thesen zur soziokulturellen Entwicklung in Österreich 1933–1955. In: Friedrich Stadler (Hg.): Kontinuität und Bruch. 1938 – 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kulturund Wissenschaftsgeschichte. Münster: Lit Verlag 2004, 27–34.

    7Rudolf Muhs, Johannes Paulmann, Willibald Steinmetz (Hg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert. Bodenheim: Philo-Verlagsgesellschaft 1998, 31.

    Gabriel Marcel als Leser Rilkes

    von Gerald Stieg (Paris)

    Als 1969 Richard Wisser bei Gabriel Marcel um die Mitwirkung bei der Feier zu Heideggers 80. Geburtstag in Meßkirch anfragte, antwortete der französische Philosoph ausweichend:

    Ich muss sagen, dass mich Ihr Brief einigermaßen in Verlegenheit bringt. Im Prinzip wäre ich natürlich bereit gewesen, an dieser Huldigung teilzunehmen. Doch gibt es folgende Schwierigkeit. Sie wissen wohl, dass ich über Heidegger ein satirisches Stück, Die Wacht am Sein, verfasst habe, das in Innsbruck aufgeführt wurde und dessen Übersetzung in einer Anthologie des zeitgenössischen Theaters erschienen ist. [In dieser Anthologie aus dem Jahr 1960 befindet sich Marcel in illustrer Gesellschaft: Cocteau, Anouilh, Julien Green, Romain Rolland und Montherlant.1] Würde ich keinerlei Anspielung darauf machen, würde ich den Anschein erwecken, das Stück zu verleugnen. Das will ich aber um keinen Preis; andererseits ist es natürlich schwierig, darüber zu sprechen, selbst um zu sagen – und das ist die Wahrheit –, dass sich mein Urteil über die von mir wirklich bewunderte Philosophie nicht in der im Stück geübten Kritik erschöpft. Es liegt bei Ihnen, zu entscheiden, ob unter diesen Bedingungen meine Teilnahme wünschenswert ist.2

    Sie war es sichtlich nicht, Marcel kam eben so wenig wie Sartre oder Hannah Arendt. Entscheidend war wohl sein Postskriptum: „Ich muss hinzufügen, dass Heidegger das Stück kennt und dass es ihm – ich habe einige Zeugnisse dafür – einen recht unerquicklichen Eindruck gemacht hat" (8. September 1969). 1967 habe ich diese vom französischen Kulturinstitut veranstaltete Aufführung, die in Gegenwart Gabriel Marcels stattfand, gesehen, und mich dabei köstlich unterhalten. (Ludwig von Ficker war kurz zuvor gestorben. Es ist anzunehmen, dass er bei dieser Gelegenheit Marcel wiederbegegnet wäre, den er bei einer Ebner-Feier 1965 kennengelernt hatte). Es wäre natürlich hochinteressant gewesen, wie Ficker, der in Sachen Trakldeutung Heidegger bedingungslos bewunderte, auf die Satire reagiert hätte. Doch die Begegnung Fickers mit dem Repräsentanten des französischen katholischen Existentialismus hat nicht stattgefunden.

    Erst durch meine Arbeit an der Gesamtausgabe von Rilkes Lyrik in der Bibliothèque der Pléiade (Paris: Gallimard 1997) bin ich flüchtig mit dem französischen Original in Berührung gekommen, das den Titel La dimension Florestan trägt und 1958 in einem Pariser Verlag erschienen ist.3 Doch erst vor einem Jahr habe ich begonnen, mich ausführlicher mit Gabriel Marcels Schriften zu Rilke zu beschäftigen, als einem nicht unbedeutenden, aber heute nahezu vergessenen Moment der Rilke-Rezeption in Frankreich, bei der Heidegger eine entscheidende Rolle gespielt hat. Diese Rezeption hat zwei völlig verschiedene Gesichter: ein satirisches in der Wacht am Sein, noch verschärft durch den begleitenden Essay Le crépuscule du sens commun (wörtlich Der Untergang des gesunden Menschenverstandes, in der deutschen Übersetzung ergab das den Titel Der Untergang der Weisheit),4 und ein philosophisch-theologisches in dem Buch Homo Viator aus dem Jahr 1944, das ein ausführliches Kapitel über Rilke, témoin du spirituel (Rilke als Zeuge der Spiritualität/Geistigkeit) enthält.5 Entgegen der Gepflogenheit, das Drama mit dem Satyrspiel enden zu lassen, wende ich mich zunächst der komischen Seite der Rezeption zu. Der Anstoß zur Wacht am Sein war der Rilke-Kultus in Paris, dessen Höhepunkt eine Ausstellung zum 30. Todestag 1956 darstellte. Rilke-Zelebrationen in Krypten bei Kerzenlicht waren auch danach noch lange Mode und wurden von bedeutenden Schauspielern getragen. Parallel zum Rilke-Kultus installierte sich eine Heidegger-Idolatrie, die nach wie vor andauert und merkwürdigerweise die üblichen politischen und ideologischen Grenzen überschreitet. Es gab zwar schon früh die kluge Dekonstruktion von Heideggers Sprache durch Robert Minder in dem Essay Die Sprache von Meßkirch, später Pierre Bourdieus Anti-Heidegger (Die politische Ontologie Heideggers), dann das bedeutende, aber sichtlich wirkungslose sprachkritische Buch Le langage Heidegger von Henri Meschonnic und vor kurzem die Reflexionen über Heidegger et la langue allemande von Georges-Arthur Goldschmidt, dem Kafka- und Handke-Übersetzer. Goldschmidt musste es sich gefallen lassen, von einem der Übersetzer von Sein und Zeit des „Hasses auf das Denken bezichtigt, ja als „hysterisch heideggerfeindlicher Faschist diffamiert zu werden. Ein anderer Heideggerianer warf ihm vor, die nazistische Judenriecherei durch eine gegen Heidegger gerichtete Naziriecherei ersetzt zu haben. Ein Zeugnis unter vielen für die oft raue Tonart, wenn es um Heidegger geht. Auf der anderen Seite findet man als Argument gegen den Philosophen einen Heidegger mit Hitlerschnurrbart und den Gruß „Heil Heidegger!"

    Auch Karl Kraus spielte in der Diskussion um Heidegger eine Rolle: der Philosoph Jacques Bouveresse, Professor am Collège de France und Vertreter der österreichischen philosophischen Tradition (Bolzano, Wittgenstein, Musil), hat sich dazu so geäußert: „Niemand wagt Heidegger gegenüber den notwendigen Schritt der Übersetzung ins Banale. Was Karl Kraus 1934 in ‚Dritte Walpurgisnacht‘ getan hat, nämlich die Übersetzung der Rektoratsrede in die Sprache der nationalsozialistischen Gewalttätigkeit, ließe sich auf den Großteil der Texte Heideggers anwenden."6 Kraus hatte den Denker Heidegger unter die „Worthelfer der Gewalt" eingereiht. Im Gegensatz zu Bouveresse sah Derrida in Heidegger den Denker, der es uns ermöglicht, das Wesen des Nationalsozialismus zu denken.

    Gabriel Marcels Komödie, die bewusst in der Tradition Molières (Les précieuses ridicules und Les femmes savantes) steht, hat zwei Hauptgestalten, eine auf der Bühne anwesende, den Professor Dolch, eine Karikatur Heideggers, der an der Spitze eines exklusiven Vereins zu Ehren des verstorbenen Dichters „Florestan steht, der in Wirklichkeit Gustav Affenreiter hieß und Rilke repräsentiert. Es geht im Wesentlichen um die Frage der Deutungshoheit in Sachen Rilke. Heidegger-Dolch beansprucht diese unter Mithilfe eines Kreises von Enthusiastinnen für sich allein, trifft aber auch auf Gegnerschaft. Florestans illegitime Tochter Verena, die sich selbst als „Florestan Redivivus bezeichnet, hat eben Dolch zum Beischlaf verführt und tut das der Florestan-Forschungs-Gesellschaft in Anwesenheit Dolchs so kund:

    Ich bin Florestan Redivivus. Er ist es, der sich Ihnen hingegeben hat. Als Retourkutsche für die Kommentare, unter denen Sie ihn vergraben haben; denn Ihr Verdienst war es, das was für die Meisten sonnenklar war, für alle unverständlich zu machen. (Heiterkeit). Aber alles in allem muss Ihnen Florestan dankbar sein, denn verstehen heißt schänden, heißt beleidigen. […] Gewiss, ich bringe Ihnen den Skandal, ich bin der Skandal. Ich habe Sie aus der luftleeren Sakristei herausgeholt, in der Sie sich wie eine Ratte in ihrem Käse eingeschlossen hatten. (Unerhört! Welche Frechheit, arme Mutter!) Heute sind Sie noch einigermaßen salonfähig. Doch in ein, zwei Jahren werden Sie nichts mehr sein als ein Herr Professor (auf Deutsch). Werden Sie was! Setzen Sie die Kühnheit Ihres Vokabulars in die Tat um! DIE ENTSCHEIDUNG! (153) [Bei Marcel ist noch keine Spur der späteren Versuche, Heideggers Vokabular mit der LTI oder Carl Schmitts Dezisionismus zu assoziieren.]

    Auf diesen Angriff antwortet Dolch: „Ich entscheide…, dass nichts geschehen ist. Ich sehe Sie zum ersten Mal, Sie sind nicht Florestans Tochter. Der positivistische Philologe Schattengraber wagt den Einwurf: „Und die Tatsachen? Dolch antwortet: „Nahrung für Koprophagen. Ihr seid alle Mistkäfer. Der katholische Priester (Père Plantille) wagt einen neuen Einwurf: „Ich bin bestürzt über Ihre Worte. Was wird da aus der Wahrheit?, worauf Dolch dekretiert: „Ich bin es, der die Wahrheit stiftet." (153–154) (Fast gleichzeitig mit Marcel hat Robert Minder in einer Rezension von Karl Kraus’ Beim Wort genommen geschrieben: „Kraus hat nichts von der archaischen Magie Heideggers, dem Böhmeschen Taumel vor dem WORT, das sich in seiner ursprünglichen Reinheit enthüllt und in feurigen Lettern auf den Gesetzestafeln von Todtnauberg, dem neuen Berg Sinai einschreibt."7) Bei Marcel ruft der Priester aus: „Großer Gott! Welche Häresie! Dolch: „Habe ich mich denn je als Katholik ausgegeben? Trotzdem, Frau Elise, empfehle ich Ihnen, diese schamlose Kreatur in einem unserer ausgezeichneten bayrischen Klöster einzuschließen. Was die Disziplin angeht, hat die Kirche ihre guten Seiten. Die Szene schließt mit den Worten des Paters: „Diese Huldigung ist eine Beleidigung." (155)

    Diese Passage ist aufschlussreicher für Marcels Haltung als die Parodie der Sprache Heideggers vom Typ „Die Birne birnt…, obwohl Marcel ausgehend von der Tautologie „Das Ding dinget den „gesunden Hausverstand sprachlicher Natur gegen die Hybris des Philosophen und seiner Nachahmer verteidigt. Besonders amüsant ist dabei, dass der Enthusiasmus für die sprachlichen Neuerungen auf Widerstand trifft. Florestans Frau versucht ein „La pêche pèche…: „Der Pfirsich pfirsicht, was aber auch bedeuten kann „Der Pfirsich sündigt. Dolch reagiert auf diese „Impertinenz" so:

    Ich gebe darüber hinaus zu bedenken, dass der Pfirsich wie vielleicht auch die Marille eine exotische, unserem Boden und unserer Sprache fremde Frucht ist und darum in einem viel geringeren Grad als die Birne, der Apfel, vielleicht auch die Pflaume … diese Wesenhaftigkeit, diese Dingheit besitzt, an der mir als Ontologisten besonders gelegen ist. Das sind Import- oder Lehnfrüchte. Die Sprache ruft es in Erinnerung oder kündigt es an. Denken wir daran, dass wir immer von der Sprache zur Sache gehen müssen. Denn die Sprache ist wie ein Tabernakel, in dem die Wesenheiten aufbewahrt sind. (80)

    Man begreift, dass Heidegger die Komödie „unerquicklich gefunden hat, während die „Mistkäfer, zu denen ich mich zählen muss, gelacht haben. Es bleibt noch zu bedenken, dass Gabriel Marcel 1958 das seit 1987 zentrale Thema des Kampfs um Heidegger in Frankreich gänzlich ausklammert, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Heideggers Denken zum Nationalsozialismus. Ihm geht es nur um die Verteidigung der Vernunft und eines katholischen Realismus. Die Schlussszene ist dafür exemplarisch: Die kultische Dimension Florestans, die von der Florestan Forschungsgesellschaft gepflegt wurde, wird durch ein Paar Patschen entmystifiziert, die Frau Melitta, seine Witwe, für Florestan gestickt hat und mit denen sie jetzt ihre kalten Füße wärmen will. Die Patschen und die Dimension Florestan sind für den Philologen inkompatibel. Der Pater erklärt jedoch: „Sogar in dieser Gesellschaft hat sich wahre Zärtlichkeit inkarniert, nämlich in den Patschen. Dagegen finde ich in der anderen Dimension nichts als Eitelkeit und Wahn. […] Der gesunde Menschenverstand und die Liebe lassen sich nicht ungestraft trennen. Frau Melitta behauptet: „Florestan hat nie etwas anderes gesagt. Der Pater hat das skeptische letzte Wort: „Vielleicht, vielleicht, gnädige Frau, aber ich werde heute Abend für die unsterbliche Seele Gustav Affenreiters beten." (158)

    Gabriel Marcel hat sein Stück mit einem erklärenden Nachwort und dem Abdruck seines Vortrags über den Untergang des gesunden Menschenverstandes aus dem Jahre 1954 versehen. Er insistiert auf dem theatralischen Charakter seiner Personen, zögert aber nicht zuzugeben, bewusst Heideggers Sprache im Namen Molières zum Ziel seiner „grausamen Kritik gemacht zu haben. In Sachen Rilke geht es ihm nicht um Rilkes Werk, sondern um die absurde „Idolatrie, die mit dem Dichter als Religionsersatz getrieben werde. Heideggers Sprache und erst recht ihre Imitation bei seinen (französischen) Schülern ist für ihn ebenso wie der Dichterkult ein Symptom des Verlusts des „gesunden Menschenverstandes, der in der französischen Tradition in der Literatur (Molière als absolutes Vorbild) wie in der Philosophie (von Descartes bis Bergson) immer als Korrektiv gegen das „Unverständliche (abscons) (162–163) am Werk gewesen sei. Marcel bekennt auch, dass er seine Komödie ursprünglich auf Deutsch gedacht habe und dass ihr wahrer Titel das Wortspiel mit der Wacht am Rhein gewesen sei. (159) Damit hat er den wunden Punkt Heideggers getroffen, der zugleich seinen Ruhm begründete: Dieses Denken ist essentiell an die deutsche Sprache gebunden und im Prinzip unübersetzbar (wie die Lyrik). Man bedenke, dass Sein und Zeit von 1927 erst 1985 vollständig ins Französische übersetzt wurde, zunächst in einer vom Verlag Gallimard nicht autorisierten Raubübersetzung, dann in einer offiziellen, allgemein als unleserlich und unbrauchbar kritisierten. Bemerkenswert daran ist, dass das größte philosophische Buch des 20. Jahrhunderts 60 Jahre lang nur auf Deutsch vollständig zugänglich war, sprich dass die Heidegger-Schüler in Frankreich die deutsche Sprache beherrschen mussten. Heidegger hat das selbst mit Befriedigung festgestellt: „Wenn die Franzosen denken, denken sie deutsch"8 (sprich Heidegger). Denn denken kann man ohnehin nur in zwei Sprachen: griechisch und deutsch. Gabriel Marcel hat diese Herausforderung sehr wohl gespürt, aber gleichzeitig die Philosophie und die hegemoniale Position Heideggers im Feld des Denkens nicht wirklich in Frage gestellt. Diese Infragestellung ist erst erfolgt, als man entdeckte, dass es eine gewisse Synchronie zwischen der Sprache Heideggers und der LTI gab. (Die auf dieser Tatsache fußenden Komödien sind eher in der österreichischen Literatur bei Bernhard und Jelinek zu finden). Man kann sich schwer die Fehden vorstellen, die in Frankreich für oder gegen Heidegger ausgetragen werden.

    Hier eine kleine Seitenbemerkung zum genius loci des Brenner-Archivs: Im Gegensatz zu Marcel ist Ludwig von Ficker in die Heidegger-Falle gegangen (vor allem auf Grund der Trakl-Deutung und des Feldwegs), obwohl klarsichtige Korrespondenten, allen voran Ruth Horwitz, die Ehrlichkeit des Philosophen mit guten, nämlich Kraus’schen Argumenten in Zweifel gezogen hatten.9 Mir bleibt rätselhaft, wie Ficker das Unternehmen des Brenner in eine essentielle Beziehung zu Heidegger bringen konnte, wo doch alles sie trennt, außer der Sakralisierung Trakls. Das ist umso erstaunlicher, als Theodor Haecker im Brenner 1932 die absolute Gegenposition zu Heidegger im Namen Vergils eingenommen hatte. (Ruth Horwitz beruft sich u.a. auf ein Gespräch ihres Vaters mit Haecker, um den gängigen Einwurf zu entkräften, dass man 1933 „nicht wissen konnte".)10

    In der Wacht am Sein hat der katholische Priester das letzte Wort. Gabriel Marcel war 1929 zum Katholizismus konvertiert und wurde zu einem herausragenden Vertreter des „katholischen Existenzialismus", der sich in seinen Essays unentwegt mit führenden Vertretern der französischen Philosophie auseinandersetzte, allen voran Sartre und Camus. In der Wacht am Sein versucht am Beginn der junge Franzose Denis bis zum Professor vorzudringen, wird aber abgewimmelt. (Heidegger ist auf einem Waldspaziergang). Er provoziert die Sekretärin und den katholischen Priester, der hinter dem „Seyn ein Pseudonym Gottes sieht, folgendermaßen: „Sie werden mich nicht daran hindern, dass sich die Avantgarde der jungen französischen Philosophie um den Professor Dolch als den bekanntesten Vorkämpfer des zeitgenössischen Atheismus schart. (11) Eine kaum verdeckte Anspielung auf Sartres Das Sein und das Nichts.

    Nun waren Rilke und Heidegger schon in den dreißiger Jahren zu Herausforderungen für die Theologen geworden. Dafür zeugt ganz besonders die monumentale Apokalypse der deutschen Seele des Jesuiten Hans Urs von Balthasar. Nach dem Krieg hat sich Romano Guardini intensiv mit Rilke auseinandergesetzt, ohne Heidegger direkt zu nennen. Karl Rahner, Heideggerschüler, hat sich mit Priester und Dichter unter ausdrücklichem Bezug auf die Duineser Elegien im Umkreis des Brenner an diesem Gespräch beteiligt. Ein seltsamer Nachzügler ist das Buch des Ex-Jesuiten Günther Schiwy Rilke und die Religion (2006). Die „Gleichung" Heidegger-Rilke geht eindeutig auf eine nicht verbürgte Aussage des Philosophen zurück, die der französische Germanist Joseph-François Angelloz 1936 in seinem Rilkebuch in die Welt gesetzt hatte: Heidegger habe behauptet, die Duineser Elegien seien die poetische Variante seiner Philosophie, überhaupt glichen Rilke und Heidegger einander in der Frage des Todes.11 Heidegger war darüber sehr verärgert und hat Rilke in seinen Vorlesungen 1942–1943 aufs härteste kritisiert und einen Abgrund zwischen sich und dem Dichter konstatiert. Aber die apokryphe Behauptung tat ihre Wirkung: von Balthasar beruft sich auf sie und hat ihr ein ausführliches Kapitel unter dem Titel Rilke und Heidegger12 gewidmet, aber auch Gabriel Marcel und der abgefallene Priester Pierre Hadot, später Professor der Philosophie am Collège de France, denken daran, eine Dissertation über Rilke und Heidegger zu schreiben. Das Paar Heidegger-Rilke war sprichwörtlich geworden – Heidegger selbst sagte dazu verächtlich, dass „das gedankenlose Zusammenwerfen meines Denkens mit Rilkes Dichtung bereits zur Phrase geworden ist."13 Zu dieser

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