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Hermann Broch und Der Brenner
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eBook346 Seiten4 Stunden

Hermann Broch und Der Brenner

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Über dieses E-Book

Das Frühwerk des Wiener Autors Hermann Broch ist nicht denkbar ohne den Kontakt zu Ludwig von Ficker, dem Herausgeber der Innsbrucker Kunst- und Kulturzeitschrift Der Brenner (1910–1954). Ficker bot Broch in den Jahren 1912/13 eine Publikationsmöglichkeit für seine ersten Essays und für ein Gedicht.
Die Einzeluntersuchungen und Überblicksdarstellungen in diesem Sammelband gehen der Frage nach, wie sich die Mitarbeit Brochs am Brenner auf seine weitere literarische und philosophische Produktion ausgewirkt hat. Die Aufmerksamkeit gilt der ethisch motivierten Kulturkritik und der modern ausgerichteten Ästhetik. Die Einzelstudien weisen Spuren nach, die das Denken Soeren Kierkegaards (im Brenner durch Theodor Haecker vermittelt) bei Broch hinterlassen hat, beschäftigen sich mit Brochs früher Thomas-Mann-Lektüre (Der Tod in Venedig) und weisen den lang nachwirkenden Einfluss von Karl Kraus nach. Zu erwähnen ist auch das zwiespältige Verhältnis zu Carl Dallago, seinerzeit einer der wichtigsten Beiträger zum Brenner. Durch Fickers Zeitschrift lernte Broch auch das Werk von Theodor Haecker kennen, dessen Buch Vergil, Vater des Abendlandes später einen wichtigen Anstoß gab zu Brochs Beginn seines Vergil-Romans. 1937 stellte Broch den lange unterbrochenen Kontakt zu Ludwig von Ficker erneut her. Damals schrieb er die politische, gegen Menschenrechtsverstöße totalitärer Staaten gerichtete Völkerbund-Resolution, der ebenfalls ein Aufsatz gewidmet ist.
Dieser Sammelband trägt dazu bei, eine Forschungslücke sowohl der Broch- als auch der Brenner-Forschung zu schließen; einmal mehr zeigt sich die überregionale Bedeutung von Fickers Zeitschrift für die Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum10. Dez. 2020
ISBN9783706561211
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    Buchvorschau

    Hermann Broch und Der Brenner - StudienVerlag

    Vorwort

    von Paul Michael Lützeler (Washington University, St. Louis)

    Ein Höhepunkt der Aktivitäten des Internationalen Arbeitskreises Hermann Broch war Anfang Juni 2019 die internationale Tagung Broch und der ‚Brenner‘ an der Universität Innsbruck. Sie wurde von mir zusammen mit der Innsbrucker Kollegin Ulrike Tanzer, Direktorin des Brenner-Archivs, und ihrem Mitarbeiter Markus Ender vorbereitet. Dieses Symposium beschäftigte sich vor allem mit dem Frühwerk Brochs, das ohne den Kontakt von 1912/13 zu Ludwig von Ficker als Herausgeber der Kulturzeitschrift Der Brenner nicht denkbar ist. Die ersten Essays Brochs erschienen dort, und die Spurensuche der frühen Wirkungen auf das spätere Werk war ergiebig. Markus Ender und ich bereiteten anschließend die Dokumentation des Symposiums in der Reihe Edition Brenner-Forum vor, die vom Brenner-Archiv herausgegeben wird.

    Der einleitende Vortrag von mir spricht viele der Themen an, die in den Vorträgen im einzelnen untersucht werden. Beim Tod des Vergil sind direkte Bezüge zwischen dem späten Roman und den frühen Publikationen im Brenner – sieht man von Einflüssen Theodor Haeckers ab – nicht unvermittelt herzustellen, weshalb hier auf eine Spurensuche verzichtet wurde, obgleich die frühen kulturkritischen Anmerkungen sowie die Reflexionen über Ethik und Ästhetik in der Entwicklung hin auf den Roman nicht unterschätzt werden dürfen. An den Anfang wurde die Untersuchung von Markus Ender gestellt. Hier wird der Stellenwert der Korrespondenz zwischen Hermann Broch und Ludwig von Ficker in ihrer Verhältnismäßigkeit gesehen: Wie wichtig war sie für Broch, wie wichtig für den Herausgeber der Zeitschrift? Seine Entwicklung hin zum Essayisten und Romancier ist ohne die Friktionen mit und ohne die Parallelen zu Ludwig von Fickers Ambitionen schwer vorstellbar. Das zeigen im Hinblick auf die ethisch motivierte Kulturkritk und die modern ausgerichtete Ästhetik im einzelnen die Beiträge von Anton Unterkircher, Monika Ritzer, Stephen Dowden und Steen Tullberg. Jürgen Heizmann, Sarah McGaughey und Sigurd Paul Scheichl weisen nach, wie sich die frühe Auseinandersetzung mit den inzwischen kanonisierten Autoren Thomas Mann und Karl Kraus sowie mit dem schon bald wieder vergessenen Carl Dallago im Romanwerk Brochs nachweisen lässt. 1936/37 stellte Broch den lange unterbrochenen Kontakt zu Ludwig von Ficker erneut her. Damals schrieb er die politische, gegen Menschenrechtsverstöße totalitärer Staaten gerichtete Völkerbund-Resolution, über die Werner Wintersteiner einen Aufsatz beisteuert.

    Symposien sind mehr als aneinandergereihte Vorträge. Die Diskussionen, für die dankenswerterweise genügend Zeit angesetzt worden war, trugen zur Differenzierung des Bildes bei, das wir vom jungen Broch haben. Kollegial, ja freundschaftlich waren auch die Gespräche am Rand, die sich nicht zuletzt bei dem wunderbaren Ausflug nach Mösern in Tirol ergaben, zu jenem Dorf, in dem Broch 1935/36 im Klotz-Hof seinen Roman Die Verzauberung schrieb. Die Klotz-Familie bewirtschaftet in der Enkelgeneration den Hof immer noch, und man freute sich über unseren Besuch. Seit den 1960er Jahren erinnert eine Gedenktafel der Österreichischen Gesellschaft für Literatur am Klotz-Hof an die Zeit Brochs in Mösern. Bei den Spaziergängen auf den Spuren Brochs entdeckten wir auch einen als „Broch-Weg ausgewiesenen Pfad, der zum Möserer See führt. Der Blick in die schon Broch „verzaubernde Tiroler Bergwelt sowie die Besichtigung der Friedensglocke in Mösern sind in bester Erinnerung geblieben.

    Für die Gastfreundschaft des Brenner-Archivs und für den von Christine Riccabona organisierten Ausflug gilt unser Dank Ulrike Tanzer. Das Symposium war der Beitrag des Brenner-Archivs zu den Feiern im Umkreis des 350. Geburtstags der Universität Innsbruck.

    Paul Michael Lützeler, Januar 2020

    Einleitung

    Hermann Brochs Der Tod des Vergil im Kontext von Europa- und Ethik-Diskurs

    von Paul Michael Lützeler (Washington University in St. Louis)

    I. Kontext: Der literarische Europa-Diskurs – politische Krise und Kulturbruch

    In allen Krisen- und Umbruchszeiten des Kontinents waren die Schriftsteller mit Rückblicken in die Vergangenheit, Analysen der Gegenwart und Zukunfts-Visionen zur Stelle. Es wurden kollektive Identitäten stabilisiert oder zu verändern gesucht,1 das kulturelle Gedächtnis aktiviert,2 die Gegenwart analysiert und imaginativ Möglichkeiten einer besseren Zukunft als Alternativen beschworen.3 Das ist noch immer so, wie die Europa-Essays von Autorinnen und Autoren wie Barbara Frischmuth, Adolf Muschg, Hans Magnus Enzensberger und Robert Menasse zeigen.

    Der jahrhundertealte Europa-Diskurs, in dem es um die Überwindung dynastischer oder nationaler Konflikte auf dem Kontinent ging, kennt zwei Hauptaspekte, einen institutionellen und einen kulturellen.4 Dem institutionellen ist es um Entwürfe politischer Funktionseinheiten zu tun, die inter- und transnationale Kooperationen ermöglichen. Im Kulturdiskurs geht es um Definitionsversuche europäischer Identität. Seit der Frühmoderne dominierten die institutionellen Projekte, d.h. man dachte über konföderale Strukturen nach, die mit ihren Schiedsgerichten oder Abgeordnetenversammlungen militärische Konflikte verhindern würden oder zu Bündnissen führen sollten, falls fremde Großmächte – etwa das Osmanische Reich – europäische Länder erobern wollten. Hier sind Namen zu nennen wie die des Herzogs von Sully (im Dreißigjährigen Krieg), des Abbé de Saint-Pierre (am Ende des Spanischen Erbfolgekriegs), Jean Jacques Rousseaus (während des Siebenjährigen Krieges) und Immanuel Kants (im Kontext der frühen Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich). Stets waren es die katastrophalen Folgen militärischer Aktionen, die Gelehrte und Schriftsteller herausforderten, Kooperationsprojekte zu entwerfen, um weitere Schwächungen des Kontinents zu verhindern. Mit der Zeit der Romantik nahm die Zahl der kulturell argumentierenden Autoren zu, die sich auf einheitsbildende christliche Traditionen besannen. Man denke an Novalis in Deutschland und François René de Chateaubriand in Frankreich. Angesichts der gewaltbereiten, konfrontativen Zerrissenheit Europas nach Reformation und Revolution, warteten sie mit Konstrukten von alter erinnerter wie künftig möglicher Unifikation auf.

    Aus dem romantischen Fahrwasser scherte Nietzsche mit seinen Vorstellungen vom „guten Europäer" am Ende des 19. Jahrhunderts aus. Hier wurde nicht auf christliche Religion und Moral, sondern auf Imperialismus und Macht gesetzt. Nietzsche durchdenkt aber auch die Religionskrise des Christentums in seiner Zeit.5 Der Lieblingsgegner in seinen Schriften ist Paulus, dem er vorwirft, er habe die Botschaft Jesu korrumpiert.6 Wo Paulus von der Auferstehung als der Erfüllung des Heilsplans spricht, ist bei Nietzsche vom Tod Gottes und der ewigen Wiederkehr die Rede, wo Paulus „agape und „caritas vertritt, bringt Nietzsche Apollinisches und Dionysisches ins Spiel, wo Paulus den Menschensohn Jesus zum Gott erhöht, beschränkt sich Nietzsche aufs Innerweltliche, wo Paulus eine Religion für die Verlassenen und Versklavten etabliert, verkündet Nietzsche die Idee des machtorientierten Übermenschen, wo Paulus Askese und Geißelung des Fleisches preist, wird bei Nietzsche das Diesseits gefeiert, wo Paulus das Opfer verherrlicht, plädiert Nietzsche für den Siegeswillen. Die Vorstellung vom „unbekannten Gott", die Paulus7 wie Nietzsche8 umtreibt, wird völlig gegensätzlich gefüllt. Es zeigt sich, dass sich Hermann Broch bei seiner Auseinandersetzung mit der antiken Religionskrise zur Zeit des Augustus (also im Tod des Vergil) auf die Seite des Paulus schlägt. Wie Zarathustra eine literarisierte Stimme in einem philosophischen Text ist, ist auch Brochs Vergil eine fiktionalisierte Stimme des historischen Vorbilds. Brochs Vergil akzeptiert die Opferidee (KW 4, 175f.), er spricht sich gegen den Siegwillen aus und ist der Prophet einer neuen religiösen Auffassung, in deren Mittelpunkt Nächstenliebe und „Mitleid (KW 4, 22) stehen. Broch hatte schon die Schlafwandler-Trilogie mit dem Paulinischen Trostwort beendet: „Tu dir kein Leid! denn wir sind alle noch hier! (KW 1, 716)9 In einem späten Essay betonte Broch, dass Paulus am Beginn unserer Zeitrechnung „die neue Plausibilität in der Religionsauffassung repräsentiert habe, dass seine Leistung die „irdische Entdeckung des Gottessohnes (KW 11, 395) gewesen sei.10 Vergils Ethik kann als Projektion Hermann Brochs gesehen werden. Der gelangte nach der Erfahrung der Weltkriege und des Holocaust zu ganz anderen Schlüssen als Nietzsche. Brochs politische Ethik, die keinen Rekurs auf religiöse Dogmen kennt, ist zwar ohne Nietzsches Religionskritik schwer vorstellbar, doch ist alles Inhaltliche durch das Christentum des Paulus und die Mosaische Gesetzesreligion geprägt.

    Eine klare Trennung von institutionellem und kulturellem Europa-Diskurs hat es nie gegeben. Angedeutet oder unausgesprochen standen Ideen einer europäischen Wertegemeinschaft im Hintergrund der institutionalistischen Projekte, und die Visionen kultureller Erneuerung kamen selten ohne Hinweise auf politisch-föderale Konstrukte aus. Der institutionelle Diskurs als Friedensdiskurs fand im 19. und 20. Jahrhundert seine Fortsetzung vor allem in Frankreich. Erinnert sei an die Kontinental-Publizistik von Claude-Henri de Saint-Simon und Victor Hugo. Sie wurde im frühen 20. Jahrhundert in Österreich von Bertha von Suttner und Richard Coudenhove-Kalergi aufgegriffen. Coudenhove-Kalergis Idee von Pan-Europa, die international Beachtung fand, wurde von den erstarkenden chauvinistischen Parteien in den 1920er und 1930er Jahren bekämpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg meldeten sich wieder kulturell-religiös argumentierende Schriftsteller wie T.S. Eliot, Reinhold Schneider und (überraschenderweise) Ernst Jünger zu Wort. Das war der Zeitpunkt, zu dem Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil erschien.11

    Brochs Buch ist auch im Kontext von Zeit- und Geschichtsroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sehen. Da sind die Zeitromane Jean-Christophe von Romain Rolland und Der Zauberberg von Thomas Mann zu nennen. Innerhalb des Europa-Diskurses dominierte die Essayistik. Solche Erzählwerke sind aber ebenfalls als Beiträge zum kulturellen Europa-Diskurs zu verstehen und können als Europa-Romane bezeichnet werden. Sicher gibt es gattungsbedingte Unterschiede zwischen dem essayistischen und dem romanhaften Europa-Diskurs, was Intention und Rezeption betrifft. Vor allem in der Weite des Interpretationshorizonts unterscheiden sich die fiktionalen Werke von den Essays. Romain Rolland wie Thomas Mann wurden dann in der Folge aktive Teilnehmer auch am essayistischen Europa-Diskurs. Das Ziel Rollands in Jean-Christophe war es, eine europäische Identität bewusst zu machen. Anteile kollektiver Herkunftsidentitäten (Familie, Heimatort, Region und Nation) werden in ihrem Recht belassen, doch entdecken die Roman-Protagonisten aus Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz auch Verbindendes, das man als europäisch wahrnimmt. Rolland blieb sich der Unzuverlässigkeit der europäischen Identität als Schutz vor nationalistischen Exzessen bewusst. Am Ende des 1912 erschienenen letztes Bandes von Jean-Christophe heißt es, dass der Krieg der europäischen Länder gegeneinander nicht mehr aufzuhalten sei. Das ist ein Zusammenstoß, den seine Romanfiguren haben verhindern wollen, weil sie verstehen, dass er potentiell auf den Selbstmord der europäischen Kultur hinausläuft. 1912 ist auch das Jahr, in dem Thomas Mann mit der Skizzierung seines Zeitromans Der Zauberberg beginnt. Wie bei Rolland ist bei Mann die Auseinandersetzung mit der kollektiven europäischen Identität zu konstatieren. Das Bewusstsein, in der Spät- und Endphase einer Kultur zu leben, das Empfinden, Zeuge eines Zeitbruchs zu sein, war überall in Europa in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg verbreitet. Niedergang, Krankheit und Tod sind jene Symptome kontinentaler Befindlichkeit, für die Thomas Mann mit dem Bild des Sanatoriums die zentrale Metapher in seinem Roman gefunden hat. Die Handlung seines Buches, das 1924 erschien, endet mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs.

    Auch Hermann Broch hat sich mit der europäischen Kulturkrise in dem historischen Roman Der Tod des Vergil auseinandergesetzt. Schon in der Zwischenkriegszeit hatte er Essays zum „Zerfall der Werte",12 den er konstatierte, und zum „Kulturtod",13 den er befürchtete, geschrieben. Hier muss auf ein Parallelprojekt zu Brochs Roman hingewiesen werden. Wie Broch thematisierte Lion Feuchtwanger in seiner Josephus-Trilogie die kulturellen Konflikte im Übergang von der Antike zum Christentum. Auch diese Exilwerke können als Europa-Romane bezeichnet werden. Wie andere assimilierte jüdische Intellektuelle waren Broch und Feuchtwanger davon überzeugt, dass die europäische Kultur mit ihren Komponenten des Griechischen, Römischen, Jüdischen und Christlichen gegen den nationalsozialistischen Angriff verteidigt werden müsse. Feuchtwangers Romanheld ist der jüdische Historiograph Josephus. Die Josephus-Trilogie zeigt, wie schwierig sich die spätere europäische Kulturkombination im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung anließ: Griechen, Römer, Juden und Christen sind in heillose Konflikte verwickelt. Josephus steht in der Mitte dieser Auseinandersetzungen und versucht, gegen den verbreiteten Konfrontationskurs Brücken der Verständigung zu bauen. Sein Ziel ist es, eine kosmopolitische Identität zu entwickeln und vorzuleben, wobei er scheitert. Die Verschmelzung der Kulturen, von der Josephus träumt, bleibt in seiner Gegenwart aus, doch hofft er, dass sie die Zukunft Europas bestimmen werde.

    Um kulturelle Konflikte des frühen cäsaristischen Roms geht es auch in Brochs Roman Der Tod des Vergil. Hier steht der bekannteste römische Dichter im Mittelpunkt des Geschehens. Die Religionskrise des Imperiums,14 die bereits vor der Christianisierung offenbar wurde, ist das Thema des Buches. Broch hatte Theodor Haeckers kulturphilosophische Schrift Vergil – Vater des Abendlandes von 193115 bald nach Erscheinen gelesen. Er war fasziniert von der dort entfalteten Idee, dass – wie schon Tertullian es gesehen hatte16 – Vergil als „anima naturaliter Chistiana zu verstehen sei. Der römische Autor habe Wertvorstellungen vertreten, mit denen er sich sukzessive von der durch Augustus restaurierten altrömischen Religion und ihren Kulten wie auch von der Selbstvergöttlichung des Kaisers entfernt habe. Das Bild der Mutter mit dem Kind in der vierten Ekloge Vergils wurde im frühen Christentum als Hinweis auf den Erlöser interpretiert.17 Vergil stehe bereits ein für ethische Positionen, die substantieller Bestandteil des Christentums geworden seien. Man denke an sein wiederholt gestaltetes Thema „amor vincit omnia. Kulturgeschichtlich gesehen ist das eine gewagte These,18 aber Haecker konnte sich auf die Vergil-Hinwendung von Kirchenlehrern wie Augustinus und Dichtern wie Dante berufen.

    Aktuelle Theorien zur europäischen Identität von Edgar Morin und Rémi Brague lesen sich, als hätten sie sie in der Auseinandersetzung mit den Romanen von Feuchtwanger und Broch entwickelt. Morin spricht in Penser l’Europe19 von der dialogischen Beziehung, die zwischen den griechischen, römischen, jüdischen und christlichen Basiselementen der europäischen Kultur bestehen. Dabei orientiert er sich am Verständnis des Dialogischen, wie es von Michail Bachtin20 in Abgrenzung von der Dialektik Hegels entwickelt wurde. Morin sieht die europäische Kulturmischung nicht als Synthese, d.h. nicht als Ergebnis eines dialektischen Prozesses, sondern als eine Kombination von Bestandteilen, deren jeweilige ‚Logiken‘ konkurrierend, antagonistisch oder komplementär aufeinander bezogen bleiben. Das Griechische, das Römische, das Jüdische und das Christliche haben sich nach seiner Auffassung mit ihren Besonderheiten in der komplexen Kulturmischung durchaus erhalten, und gerade das mache ihre fruchtbare Spannung aus, die neue Renaissancen griechischer, römischer, jüdischer und christlicher Weltanschauungen und Lebensstile durch die Jahrhunderte hin ermögliche.

    Rémi Brague stellte in seinem Buch Europe. La voie romaine21 die Theorie von der exzentrischen Struktur der Basiselemente europäischer Zivilisation auf. Für ihn wie für Morin, dessen Theorie er unbeachtet lässt, bilden Griechisches, Römisches, Jüdisches und Christliches die Grundlagen europäischer Kultur. Brague geht es dabei nicht um die dialogische Bezogenheit dieser Bestandteile, sondern um ihre exzentrische Konstellation. Rom ist zum einen das Zentrum einer antik-mediterranen, d.h. multikontinentalen Kultur, zum anderen auch Mittelpunkt des späteren lateinisch-christlichen Europas. Aber weder das antike noch das christliche Rom sind nach Brague ursprünglich und selbstbezogen, sondern haben ihre Zielvorgaben zum einen von Athen, zum anderen von Jerusalem erhalten. Exzentrisch sei das Rom der Antike und das Rom der Päpste, weil es jeweils angewiesen sei auf eine ursprüngliche Kultur: auf die griechische Athens bzw. die jüdische Jerusalems. Athen und Jerusalem seien Ursprung und Bezugspunkt des antiken wie des christlichen Roms, die jeweils als sekundär und nachgeordnet einzustufen seien. In wiederholten kulturellen Renaissancen und religiösen Reformationen habe sich die Stärke der beiden Vorbilder erwiesen. Der Mangel an Authentischem werde in Rom aber wettgemacht durch eine Dynamik, die gerade aus der Unabgeschlossenheit resultiere.

    Es drängen sich Fragen auf, die bereits in Brochs Roman Der Tod des Vergil – also ein halbes Jahrhundert vor Brague – gestellt worden sind: Verstand Rom sich wirklich so stark auf Athen bezogen, dass es dort den Ursprung seiner Kultur gesehen hätte? Rom hatte seine eigenen Ursprungsmythen, in denen Athen nicht vorkommt. Brochs Buch erinnert daran, wie Vergil die durch Hellenen zerstörte Dynastie des Trojanischen Herrscherhauses rehabilitiert, indem er die Karriere des Aeneas zum Gründer Roms nachzeichnet. Die Überlegenheit Roms wird deutlich in den Vorstellungen über die Pax Romana,22 wie sie von Plinius dem Älteren in der Naturalis Historia, von Vergil in der Aeneis und von Ovid in den Fasti zum Ausdruck kommt: Rom vermittelt nach Plinius der ganzen Menschheit Humanitas (NH III, 39); Jupiter teilt dem Aeneas mit, dass er ihm „ein Reich ohne Grenzen geben werde (Aeneis I, 279), was in Brochs Roman von Augustus triumphierend zitiert wird (KW 4, 294), und Ovid hält fest, dass das Gebiet der Stadt Rom und des Erdkreises identisch sei (Fasti, 2. Buch, 684).23 Und verstand sich das Paulinische Christentum, das sich im Imperium Romanum ausbreitete, wirklich als so angewiesen auf das Judentum? Religionsgeschichtlich ist die Beziehung zwischen Tora und Neuem Testament wohl nicht auf die Formel von „ursprünglich und „sekundär" zu bringen. Der Nachweis der Erfüllung der alten Prophezeiungen findet sich bei Paulus, den Evangelisten und den Patristikern. Erfüllung aber bedeutet Abschluss und Neubeginn.24 Die Autoren der Josephus-Trilogie und des Vergil-Romans veranschaulichen eher die dialogischen als die exzentrischen Beziehungen von Komponenten, die in die europäische Kulturmischung eingegangen sind.

    II. Kontext: „Anima naturaliter Christiana" – Erweiterung des Ethik-Konzepts

    Auch Dante verstand Vergils Dichtungen – und besonders die Aeneis – als Ausdruck einer „anima naturaliter Christiana. In einem Selbstkommentar von 1942 zu seinem Roman hat Hermann Broch (im Sinne Haeckers) Dante als einen Dichter bezeichnet, der Vergil als den „ahnenden Künder des Christentums (KW 4, 467) verstanden habe. Die partielle Identifikation von Broch mit Dante hatte nicht zuletzt mit dem gemeinsamen Schicksal von Vertreibung und Exil zu tun. Das Motto aus dem „Inferno", das Broch seinem Roman voranstellte, ist ein Hinweis auf den Subtext von Dantes Commedia.25

    Haeckers Erinnerung an Vergil als „anima naturaliter Christiana" hat Broch nicht einfach übernommen, sondern angereichert. Dabei ist es ihm besonders um die Individualisierung von Freiheit und Menschenwürde zu tun, woraus die Forderung nach Abschaffung der Sklaverei folgt. Parallel zum Vergil-Roman hat Broch in den frühen 1940er Jahren an seiner Massenwahntheorie (KW 12) gearbeitet. In ihr erkannte der Autor, dass in Hitlers Staat eine „neue Sklavenschicht im Entstehen begriffen war (KW 12, 40). Im nationalsozialistischen Deutschland sei der Zustand der „Vollversklavung für Juden und politische Gegner bereits eingetreten. Ihr konkreter Ausdruck wie ihr „Symbol sei das „Konzentrationslager (KW 12, 468). Wenn Broch das Konzentrationslager beschreibt, nimmt er Formulierungen vorweg, die sich ein halbes Jahrhundert später in Giorgio Agambens Studien26 finden. Broch schreibt:

    Das Konzentrationslager ist die letzte Steigerung [...] jeder Versklavung. Der Mensch wird seines letzten Ich-Bewußtseins entkleidet; statt seines Namens erhält er eine Nummer und soll sich auch nur mehr als Nummer fühlen. Er ist zur Leiche geworden, bevor er noch gestorben ist [...]; der magische Gott der Versklavung ist [...] ein Aasfresser, der zehntausende, hunderttausende von Leichen braucht und auch nach Millionen noch unbefriedigt bleibt, der Nimmersatt, dem Hitler diente und mit dem er sich identifizierte [...]. Dies ist die Magie-Religion der Versklavung, und Hitlers Schatten geht in jedem Totalitärstaat um. (KW 12, 485).

    Nach Broch ist man nur mit Hilfe des „Menschenrechts in der Lage, „Versklavung als „Rechtswidrigkeit (KW 12, 508) zu definieren. Die Menschenrechte, meinte er, müssten international anerkannt werden und global einklagbar sein. In der „Massenwahntheorie fasst Broch zusammen: „Der Satz von der unbedingten Verwerflichkeit der menschlichen Versklavung habe „als ‚irdisch absolut‘ zu gelten und sei „an die Spitze des empirischen Menschenrechtes" zu stellen (KW 12, 472). Er forderte die Etablierung eines internationalen Gerichtshofes für Menschenrechte, der den Vereinten Nationen, der UNO, zugeordnet werden solle (KW 11, 390).

    Auch im Tod des Vergil steht das Thema der Versklavung im Vordergrund. Gleich zu Beginn seines Romans schildert Broch den Arbeitsalltag der Sklaven in der Hafenstadt Brundisium:

    [...] die [..] Sklaven [waren] in langer Schlangenreihe [...] wie Hunde paarweise mit Halsringen und Verbindungsketten aneinandergekoppelt [...]. [D]ie beaufsichtigenden Schiffsmeister [schwangen] [...] auf gut Glück die kurze Geißel über die vorbeiziehenden Leiber, ohne Wahl und einfach drauflos, hinschlagend mit der sinnlosen [...] Grausamkeit uneingeschränkter Macht, bar jedes eigentlichen Zweckes, da die Leute ohnehin hasteten, was ihre Lungen hergaben, kaum mehr wissend, wie ihnen geschah [...]. (KW 4, 26)

    In der Mitte von Brochs Roman kommt der Erzähler erneut auf das Elend der Sklaven zu sprechen, wenn Vergil eine „Menge beobachtet, die „jubelnd vor Lust, ein Kreuz umdrängte, an das schmerzbrüllend, schmerzwimmernd, ein unbotmäßiger Sklave angenagelt war, ein Anblick, der die apokalyptische Vision vom Ende des antiken Roms evoziert:

    [...] und er sah, wie der Kreuze mehr und mehr wurden, wie sie sich vervielfältigten, fackelumzüngelt, flammenumzüngelt, ansteigend die Flammen aus dem Geprassel des Holzes, aus dem Geheul der Menge, ein Flammenmeer, das über die Stadt Rom zusammenschlug, um abebbend nichts zurückzulassen als geschwärzte Ruinen, zerborstene Säulenstümpfe, gestürzte Statuen und überwuchertes Land. (KW 4, 234)

    Der erinnerten Realität der „Tragsklaven (KW 4, 34) und dem imaginierten Untergang Roms stehen hoffnungsvolle Traumgesichte des sterbenden Vergil gegenüber. In ihnen bildet sich die „Stimme eines Sklaven heraus. Der Sklave in den Fieberphantasien des Brochschen Vergil ist keine im Kontext des Romans als real vorzustellende Person wie etwa Augustus oder der Dichterfreund Plotius Tucca. Der Sklave artikuliert neue ethische Vorstellungen, die sich im Bewusstsein des sterbenden Autors formen. Es artikuliert sich eine innere Stimme der Hoffnung auf eine Zeitenwende, in der sich die Wertmaßstäbe Roms verkehren. In seinen politischen Schriften hält Broch fest, dass „das Christentum anfänglich eine „Sklavenreligion war, „vielfach verbunden mit einer ausgesprochenen [...] Non-Resistance-Bewegung (KW 12, 479). Dem Sklaven in Brochs Roman ist die „Gnade zu teil geworden, „den Bruder im Bruder zu wissen. „Held sei nicht, wer „mit klirrender Waffengewalt auftrumpfe, sondern derjenige, „der die Entwaffnung erträgt (KW 4, 252). Die Stimme des Sklaven weist Vergil die Position zwischen den Epochen zu: „Du sahest den Anfang, Vergil, bist selber noch nicht der Anfang, du hörtest die Stimme, Vergil, bist selber noch nicht die Stimme: [...] noch nicht und doch schon, dein Los an jeder Wende der Zeit (KW 4, 253). Vergils besondere kulturhistorische Stellung als „anima naturaliter Christiana zwischen den Epochen wird durch die Formel „noch nicht und doch schon" unterstrichen.

    In seinen Fieberträumen hört Vergil das Gebet des Sklaven, das christliche Erwartungen ausspricht und Bildsymbole der Evangelisten benutzt: „Unbekanntester, Unerschaubarster, Unaussprechlichster [...]. Löwe und Stier sind zu Deinen Füßen gelagert, und der Adler schwebt auf zu Dir. [...] Du schickst den aus zum Heile, der sich nicht auflehnt. (KW 4, 253) Der Engel wird nicht eigens erwähnt, wenn die Bildsymbole der Evangelisten genannt werden, aber die Stimme des Sklaven selbst steht für den Engel, der als „Mittler zu dem bezeichnet wird, „der den Ruf empfangen (KW 4, 399) soll. In den religiösen Kontext gehört auch das Bekenntnis des Sklaven: „wir werden auferstehen im Geiste (KW 4, 346). Die Sklavenstimme deutet nicht nur auf den neuen Glauben hin, der die kommende Kulturepoche Roms bestimmen wird, sondern markiert auch einen revolutionären politischen Kurswechsel: Abgewertet wird die soziale Ordnung des cäsaristischen Roms, wenn „der Staat als „lächerlich und irdisch (KW 4, 342) bezeichnet wird gegenüber dem „Ewigen des Glaubensreiches, das „ohne Tod sei (KW 4, 344). In den Fiebervisionen erteilt der Sklave dem Cäsar Augustus „die Erlaubnis zum Sprechen (KW 4, 389), und die Verkehrung der Rolle von Herr und Knecht ist evident, wenn der Cäsar als verelendeter Sklave geschildert wird. Da heißt es: „Nun erhob sich der Augustus von seinem Lumpenlager; er wankte unsicheren Schrittes daher, an seinem Halsring baumelte [...] ein Kettenende. Vergil sieht den „zwergig gewordenen „Cäsar ins „Nichts" schrumpfen (KW 4, 397).

    Das sind Fieberphantasien, und man könnte sie in einem Zusammenhang mit den Saturnalien im antiken Rom sehen, bei denen – mit Bachtin27 zu sprechen – „karnevalistisch die Standesunterschiede aufgehoben und die Rollen von Herren und Knechten vertauscht werden. Augustus verweist in Brochs Roman während seines Gesprächs mit Vergil die „Freiheit des Staatsbürgers auf den befristeten Zeitraum der „Saturnalien (KW 4, 342). Das sieht Vergil anders. Er formuliert sein Testament um, dessen Neuerung in der Freilassung seiner Sklaven besteht. Der Cäsar weiß die Geste seines Autors nicht zu würdigen, wenn er feststellt, dass zur „Wirklichkeit Roms der Sklavenstand gehöre. Er habe zwar „das Los der Sklaven gebessert, aber „der Wohlstand des Reiches benötige „Sklaven, die „sich in diese Wirklichkeit einzuordnen hätten. Gegen jene, die „die Ordnung trotzig zu stören wagen", müsse

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