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Eigensinn und Bindung: Katholische Intellektuelle im 20. Jahrhundert
Eigensinn und Bindung: Katholische Intellektuelle im 20. Jahrhundert
Eigensinn und Bindung: Katholische Intellektuelle im 20. Jahrhundert
eBook1.351 Seiten15 Stunden

Eigensinn und Bindung: Katholische Intellektuelle im 20. Jahrhundert

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Über dieses E-Book

Ob in Philosophie, Literatur, Bildenden Künsten, Publizistik oder Politik - katholische deutsche Intellektuelle haben die geistige Landschaft des 20. Jahrhunderts wesentlich mitgeprägt. Sie stellten Fragen an die Zeit und ihre Mitmenschen, die anderen nicht einfielen oder die sie nicht zu stellen wagten. Hans-Rüdiger Schwab hat 39 Porträts ganz unterschiedlicher Männer und Frauen - Laien allesamt - zusammengestellt, die den großen Spannungsbogen katholischen Geisteslebens im 20. Jahrhundert widerspiegeln. Gemeinsam ist ihnen, dass sie jenseits der in sich geschlossenen katholischen Milieus den Aufbruch zu neuen Ufern wagten. Ein faszinierendes Stück Zeitgeschichte in Porträts.
SpracheDeutsch
HerausgeberButzon & Bercker
Erscheinungsdatum5. Jan. 2012
ISBN9783766641168
Eigensinn und Bindung: Katholische Intellektuelle im 20. Jahrhundert

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    Buchvorschau

    Eigensinn und Bindung - Hans-Rüdiger Schwab

    Dernbach

    Inhalt

    Kurzer Versuch über katholische Intellektuelle

    Hans-Rüdiger Schwab

    Karl Muth (1867 – 1944)

    Karl Muth und das „Hochland".

    Kulturelle und politische Impulse für einen Katholizismus „auf der Höhe der Zeit"

    Winfried Becker

    Annette Kolb (1870 – 1967)

    Auf der Freitreppe.

    Annette Kolbs Katholizität

    Hans-Rüdiger Schwab

    Max Scheler (1874 – 1928)

    Max Scheler: der katholische Nietzsche?

    Angelika Sander

    Adolf ten Hompel (1874 – 1943)

    Adolf ten Hompel.

    Vom „Modernisten" zum Nationalsozialisten

    Jan Dirk Busemann

    Gertrud von le Fort (1876 – 1971)

    Gertrud von le Fort.

    Zwischen christlicher Moderne und evangelischer Katholizität

    Aleksandra Chylewska-Tölle

    Theodor Haecker (1879 – 1945)

    Theodor Haecker.

    Christliche Existenz im totalitären Staat

    Hildegard K. Vieregg

    Konrad Weiß (1880 – 1940)

    „Man darf nicht reifer sein im Geiste als in der Sünde seiner Natur".

    Konrad Weiß und seine Verortung des Glaubens im Geheimnis der Schöpfung und der Menschwerdung

    Michael Schneider

    Joseph Bernhart (1881 – 1969)

    Joseph Bernhart.

    Die Krisis menschlichen Handelns und der Geschichte

    Rainer Bendel

    Peter Wust (1884 – 1940)

    „Insecuritas humana" und religiöser Glaube.

    Der christliche Existenzphilosoph Peter Wust

    Werner Schüßler

    Hugo Ball (1886 – 1927)

    Von Dada zu Dionysios Areopagita.

    Hugo Balls Gegenwelten

    Hans Dieter Zimmermann

    Carl Schmitt (1888 – 1985)

    Carl Schmitt: der Seher

    Jürgen Manemann

    Edith Stein (1891 – 1942)

    Bürgerin Jerusalems in Babylon: Edith Stein

    Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

    Alois Dempf (1891 – 1982)

    Alois Dempf.

    Selbstkritik der Philosophie und Annäherung an den Menschen

    Cornelius Zehetner

    Werner Bergengruen (1892 –1964)

    Zeitgenossenschaft: Werner Bergengruen

    Thomas Pittrof

    Elisabeth Langgässer (1899 – 1950)

    An den Grenzen des aufgeklärten Selbstbewusstseins.

    Elisabeth Langgässers Auseinandersetzung mit den Bedingungen menschlicher Existenz

    Daniel Hoffmann

    Ida Friederike Görres (1901 – 1971)

    Ida Friederike Görres.

    Über die Unhörbarkeit einer katholischen Intellektuellen

    Jean-Yves Paraïso

    Walter Dirks (1901 –1991)

    Walter Dirks.

    Sozialist aus christlicher Verantwortung

    Ulrich Bröckling

    Reinhold Schneider (1903 – 1958)

    Reinhold Schneider.

    Ein katholischer Intellektueller im Zeitalter der Weltkriege

    Walter Schmitz

    Eugen Kogon (1903 – 1987)

    „Unsere Kraft reicht weiter als unser Unglück"

    (Ingeborg Bachmann).

    Eugen Kogon in der restaurativen Republik

    Gottfried Erb

    Josef Pieper (1904 – 1997)

    Josef Pieper.

    Philosoph – katholisch und intellektuell

    Berthold Wald

    Stefan Andres (1906 – 1970)

    Antikes Gedankengut, gelebter Glaube und Institution Kirche.

    Zur geistigen und literarischen Welt von Stefan Andres

    John Klapper

    Max Müller (1906 – 1994)

    Person, Freiheit, Geschichte.

    Zur bleibenden Nähe Max Müllers

    Holger Zaborowski

    Georg Meistermann (1911 – 1990)

    Der „Prophet des Zürnens".

    Georg Meistermanns engagierte Kunst als Zeugnis seines kritischen Glaubens

    Justinus Maria Calleen

    Luise Rinser (1911 – 2002)

    Luise Rinser: eine katholische Schriftstellerin?

    Geschichte einer Wandlung

    José Sánchez de Murillo

    Vilma Sturm (1912 – 1995)

    Vilma Sturm.

    Das Dilemma der Nacktschnecke

    Hans-Rüdiger Schwab

    Friedrich Heer (1916 – 1983)

    Friedrich Heer.

    Ein österreichischer Katholik

    Wolfgang Ferdinand Müller

    Heinrich Böll (1917 – 1985)

    Heinrich Böll als Intellektueller

    Gerhard Sauder

    Otto B. Roegele (1920 – 2005)

    Otto B. Roegele: katholischer Publizist und Kommunikationswissenschaftler

    Maria Löblich

    Carl Amery (1922 – 2005)

    Carl Amery.

    Die Wiederherstellung der natürlichen Dinge: ante oder post festum

    Joseph Kiermeier-Debre

    Günter de Bruyn (*1926)

    Zweifelnd, katholisch und widerständig.

    Der Schriftsteller Günter de Bruyn als Zeitgenosse im Widerspruch

    Thomas Brose

    Robert Spaemann (*1927)

    Strenges Wohlwollen.

    Über die Lizenz, nach der Wahrheit zu fragen.

    Robert Spaemann im Gespräch

    Eckhard Nordhofen

    Ernst-Wolfgang Böckenförde (*1930)

    Ernst-Wolfgang Böckenförde und seine kirchenpolitischen Schriften

    Mark Edward Ruff

    Hans Maier (*1931)

    Verantwortung in Gesellschaft, Staat und Kirche: Hans Maier

    Heinrich Oberreuter

    Franz-Xaver Kaufmann (*1932)

    Franz-Xaver Kaufmann.

    Katholische Tradition und sozialwissenschaftliche Reflexivität

    Karl Gabriel

    Rupert Neudeck (*1939)

    „Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach".

    Rupert Neudeck – der Intellektuelle als Täter

    Michael Albus

    Hermann Kurzke (*1943)

    Hermann Kurzke.

    In der Kälte des Übergangs

    Joachim Hake

    Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (*1945)

    Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz.

    Philosophie im Spannungsverhältnis zwischen Glaube und Vernunft

    Elisabeth Münzebrock

    Martin Mosebach (*1951)

    Martin Mosebach in Skizzen

    Lorenz Jäger

    Arnold Stadler (*1954)

    „Ungläubig und fromm".

    Arnold Stadlers katholische Intellektualität

    Hermann Weber

    Anmerkungen

    Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

    Kurzer Versuch über katholische Intellektuelle

    Hans-Rüdiger Schwab

    Meinen Eltern,

    für die Grundlagen

    Der deutsche Katholizismus kann sich auf vielerlei Weise zur Geltung bringen. Er verfügt über Infrastrukturen, die in Europa ihresgleichen suchen. Allein über 20 Akademien gibt es, in denen kontinuierlich auf hohem Niveau der Dialog zwischen Religion und Wissenschaft, Glaube und Politik, Kirche und Kultur gepflegt wird. Respekt gebietend sind die Foren auf den Katholikentagen. Es gibt katholische Hochschulen, eine katholische Universität gar. Es gibt theologische Fakultäten, von denen eine stattliche Buchproduktion für die unterschiedlichsten Zielgruppen und Fassungsvermögen ausgeht. Es gibt die Görres-Gesellschaft katholischer Wissenschaftler und eine katholische „Verantwortungselite" (wenn man Führungskräfte in der Gesellschaft denn beim Wort nehmen möchte). Es gibt ein Zentralkomitee, das fleißig Papiere zu relevanten Fragestellungen produziert. Ein großes überregionales Blatt, in dem eine Debattenkultur ihren Brennpunkt finden könnte, gibt es zwar nicht, dafür aber Zeitschriften jeglicher Schattierung. Doch gibt es in einem Land, das mit alledem so umfassend ausgestattet ist, auch katholische Intellektuelle? Soll, ja kann es sie überhaupt geben?

    In der Schwebelage

    Was eigentlich ist ein Intellektueller? Im deskriptiven wie im normativen Sinne herrscht an Antworten auf diese Frage kein Mangel. Gleichwohl sind Schwierigkeiten bei der Präzisierung des möglichen Erscheinungsbildes unbestreitbar. Ein problemgeschichtlicher Abriss von Karl Mannheim bis in die jüngsten Traktate und Untersuchungen hinein würde leicht den Nachweis erbringen, dass Versuche der Begriffsbestimmung sich von der Vorliebe, oft sogar dem impliziten Plädoyer für einen gewissen Phänotyp nie ganz freizuhalten vermögen. So auch nachfolgende Bemerkungen.

    Im Intellektuellen kreuzen sich die Vollzüge von Neugierde, Beobachtung, Analyse und Kritik. Er bevorzugt die Reflexion, ist also zunächst Denker, kein (oder nur in selteneren Fällen) Täter. Seine Interventionen stützen sich allein auf die ihm zur Verfügung stehende Macht des Geistes und des Wortes. Im darin offensichtlichen Dilemma liegt zugleich jedoch auch eine Stärke begründet. Mannigfaltige geschichtliche Wandlungen hat der Intellektuelle als Erkenntnis fördernder und klärender Typus durchlaufen. Deswegen sind all die periodischen Versuche, ihm ein „Grabmal" zu errichten,¹ ihrerseits verblichen.

    Auch geht es, wenn wir die Intellektuellen betrachten, keineswegs nur um inhaltliche Kompetenzen, über die sie selbstredend verfügen, nicht nur um „einen Habitus des Wahrnehmens und Urteilens,² sondern mindestens ebenso sehr um charakterliche Eigenschaften, um „Tugenden, die zu ihrer Rolle entscheidend beitragen.³ Mit ihnen gehören sie zu einer Kultur der Anregung und des Widerspruchs, welche die öffentlichen Institutionen ergänzt.⁴ In Frankreich zumal auf diese Weise beispielhaft anerkannt und trotz mancher Fälle von Kollaboration bei autoritären Regimes weltweit gefürchtet, war die Bezeichnung hierzulande oft durch einen anrüchigen Beiklang getrübt.⁵

    Nicht nur in historisch-genetischer Perspektive, sondern auch bei synchron-struktureller Betrachtung treten, den Intellektuellen betreffend, einander widerstreitende Konzeptionen und Zielvorstellungen zutage. Vom Kritiker und Propheten bis zum Verteidiger des Bestehenden sind verschiedene Alternativen auszumachen. „Häretiker gibt es ebenso wie „Vertreter der Orthodoxie. Die reale Erscheinungsvielfalt zugunsten einer umfassenden begrifflichen Objektivierung aller Typen entwirren zu wollen, wäre illusorisch. Einen aktuellen Gegensatz auf den groben Nenner gebracht, ließe sich die aufklärerische, universalistisch-vernünftige, von einer postmodernen Geisteshaltung unterscheiden, die vernunftkritisch ist sowie auf die Unhintergehbarkeit pluraler, partieller und provisorischer Wahrheitsformen verweist, welche nebeneinander bestehen können.

    Intellektuelle sind artikulationsmächtige kulturelle Deuter, deren Wortmeldungen Aufmerksamkeit finden und manchmal sogar dem Zeitgeist ihren Stempel aufzudrücken vermögen. Es sind – mag sein: über Umwege – meinungsführende Eliten, stilprägende Kommunikatoren, auch Schrittmacher bisweilen: kurz, Menschen, die Interpretationen vornehmen und Trends setzen oder diesen den Konsens aufkündigen. Zuweilen gelingt ihnen Seismographisches: hinter einzelnen Ereignissen die verborgene Anatomie ihrer Gegenwart freizulegen.

    Nicht bloß verschiedenartige Temperamente gibt es unter den Intellektuellen. Ihrer Ausstattung nach muten sie wie Zwitterwesen an: Kälte und Leidenschaft vereinen sie, sind konfliktfreudig und verletzlich, zu Besonnenheit ebenso imstande wie zu Entrüstung. Wenn es sein muss, werden sie zu Störenfrieden, die sich auch durch altbekannte Vorwürfe, wie die der bloßen Aufgeregtheit, der Besserwisserei oder der Praxisferne, nicht einschüchtern lassen. Gegen unbefragte Arrangements, schlichtes Desinteresse oder eingeschliffene Zynismen beziehen sie Stellung. Wo Diskursfeindlichkeit salonfähig zu werden beginnt, bestehen sie auf dem Frevel des kritischen, Übereinkünfte, Verordnungen oder Denkfaulheiten in Frage stellenden Blicks. Bei alledem zeichnet sie nicht nur die Bereitschaft aus, sich zu exponieren, sondern dabei auch gängige Fronten zu unterlaufen und gegen festgefahrene oder „korrekte Argumentationsmuster zu verstoßen. Jedenfalls äußern sie sich nicht immer so, wie man es von ihnen erwartet. Gern bevorzugen sie die Orientierung am sokratischen Modell des geistigen „Geburtshelfers.⁶

    Auch wenn es in Zeiten der Wertediffusion schwerer geworden sein mag, argumentieren Intellektuelle auf der Grundlage bestimmter Normen und Maßstäbe, wonach die Zustände zu beurteilen wären, stellen sie aktuelle Ereignisse und Entwicklungen in den Horizont übergreifender Prinzipien. Doch obschon sie Überzeugungen haben, sind sie – selbst wenn wir wissen, dass dies keineswegs immer so war – die geborenen Gegenspieler von Ideologen. Unabhängigkeit in Aufrichtigkeit, ganz im Sinne von Friedrich Nietzsches Postulat des „intellectualen Gewissens":⁷ Auf dieses Bemühen liefe ihre Existenz hinaus, in ihm besteht deren Würde.

    Der Begriff der „Geschlossenheit ist im intellektuellen Vokabular eher ein Fremdwort. Mit Recht pflegt man demgegenüber das „Risiko des eigenen Denkens und Urteilens hervorzuheben.⁸ Die Arbeit der Intellektuellen besteht jedenfalls nicht in einer bloßen Verdoppelung des Gängigen oder Gefälligen, sondern zumindest in seiner Anreicherung. Denkverbote, gleich von welcher Seite diese aufgerichtet werden, fordern sie grundsätzlich heraus. Gegen Verdrängungen leisten sie Erinnerungshilfen. Ebenso sind sie Liebhaber von Experimenten. Als Spezialisten für Irritation verstehen sie im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit ihren Ärger über den Gang der Dinge auch einmal pointiert oder schrill zu äußern, wenn die Sache es erfordert – wobei sie gewärtig sein sollten, dass Provokationen sich leicht abnützen. Auf manches, was schon bekannt sein mag, fällt durch ihre Zuspitzung ein neues Licht.

    Ohne darüber in Selbstgenuss zu verfallen, haben Intellektuelle keine Angst, notfalls gegen den Strom zu schwimmen. Sie sind mögliche Außenseiter, auch Dissidenten, manchmal Querköpfe, dabei in jedem Falle nie ohne das Bewusstsein auch für ihre persönlichen Fragwürdigkeiten. Pier Paolo Pasolini hat eine der sinnigsten Metaphern dafür gefunden. Ihm zufolge turnen die Intellektuellen als geistige „Freibeuter"⁹ in der Takelage von Politik, Gesellschaft und Kultur herum: ungebunden, ungesichert, ungezähmt.

    Auch wenn sie bisweilen gemeinsam für etwas eintreten, handelt es sich bei ihnen letztlich doch um Einzelne – weniger im Sinne der Individualisierungstheorie der Sozialwissenschaften, als in dem älterer Traditionen. Ihr Eigensinn reagiert auf eine Entwicklung, die John Stuart Mill im embryonalen Zustand der Moderne bereits für starke, selbstbewusste, innerlich freie Persönlichkeiten plädieren ließ, die dem Druck der geistigen Vereinheitlichung standhalten. „In diesem Zeitalter, schreibt er in „Über Freiheit (1859), „tut schon das bloße Beispiel von Nonkonformität, die bloße Weigerung, das Knie vor der Gewohnheit zu beugen, einen Dienst. Gerade weil die Tyrannei der öffentlichen Meinung derart groß ist, dass sie die Exzentrizität zu einem Makel macht, ist es wünschenswert, dass Menschen, um diese Tyrannei zu brechen, exzentrisch sind."¹⁰ Die Koordinaten dessen, wogegen man quer denkt, vermögen natürlich je nach situativem Erfordernis immer neu ausgerichtet zu werden.

    Oft haben Intellektuelle eine öffentliche Präsenz. Um sie herum entstehen Diskussionen. Nicht zu verwechseln ist dies mit bloßer Aufmerksamkeit in den Medien. Intellektuelle sind keine allzeit bereiten Bewerter, die in eines der heute immer irgendwo offenen Mikrophone reden und sich zu Instant-Kommentaren hergeben. Angesichts der Beschleunigung öffentlicher Wahrnehmung in jenem großen Medienverbund, zu dem die Gesellschaft mutiert ist, und insofern der Sphäre gerade der elektronischen Kommunikationsmittel ein Hang zur kurzen Haltbarkeit, zum Indifferentismus und zur Banalisierung inne wohnt, haben sich die Bedingungen für den Typus unverkennbar erschwert.

    Ein Weiteres kommt hinzu. Allgemein durchgesetzt hat sich ja längst, was man als „Verwissenschaftlichung des Sozialen bezeichnet,¹¹ dass nämlich reflexiv erzeugtes Wissen und akademisch geschulte Expertenkulturen maßgeblichen Einfluss auf die Steuerung komplexer sozialer Organisationen gewinnen. Zwischen Intellektuellen und dieser mehr oder weniger unabhängigen Elite eines funktional eingebundenen Sachverstands – den „techniciens du savoir, wie Jean-Paul Sartre sie nannte¹² –, kann durchaus ein Gegensatz auftreten. Intellektuelle beziehen ihre Autorität zwar aus ihrem angestammten Bereich, meist der Literatur – vielleicht das klassische Terrain des freien Geistes überhaupt¹³ –, der Wissenschaft oder der Philosophie, sind ihrem Selbstverständnis nach aber eher Vermittler und Grenzgänger als Fachgelehrte. Sie beanspruchen keinen besonderen Zugang zur Wahrheit, lassen sich das Recht zur Teilnahme an einem unter Staatsbürgern zu führenden Diskurs jedoch nicht nehmen. Worauf sie bestehen, ist der nicht bloß spezialisierte Gebrauch von Vernunft und Wissen. Warum sollte man auch in allen wichtigen Fragen dem Expertentum das Feld überlassen? Ist der Rückzug in das Reservat der Auskenner, wo man sich gegen die Anfechtungen einer kritisch nachfragenden Perspektive immunisiert, wirklich eine Lösung für alle kulturellen und gesellschaftlichen Probleme? Gibt es dort keine Betriebsblindheiten? Ist man gegen den Einfluss von Interessen gefeit? Warum also dürfte man keine Meinung haben, ohne deswegen gleich bloß gesinnungstüchtig zu sein?

    Gewiss darf die institutionell gestützte oder dienstbare Kompetenz nicht von vornherein und pauschal verdächtigt werden. Während aber der sich im Bündnis mit technokratisch ausgerichteter Politik befindliche Experte – an Schaltstellen wie Gremien, Kommissionen und Beiräten, wo er wie auch immer gesicherte „wissenschaftliche Zuarbeit leistet –, dafür empfänglich sein mag, irgendwelche „Weiterentwicklungen ohne Konsultation und Debatte herbeizuführen, setzt der Intellektuelle auf das Prinzip Mündigkeit. Experten neigen öfter einmal dazu, vermeintlich alternativlose Transformationsprozesse in eigener Regie zu steuern, indem sie andere für unzuständig erklären. Der Intellektuelle hingegen will kritisiert werden. Man soll über seine Einlassungen grundsätzlich geteilter Meinung sein können. Diskussionsfreie Zonen hasst er und liebt dafür den Austausch, nicht das Schlusswort. Wichtiger als das Rechthaben ist für ihn, dass es immer ein Gewinn bleiben soll, mit ihm und über ihn zu streiten. Gerade dadurch wird er nicht nur zum Katalysator aktueller Befindlichkeiten. Indem er so auch auf eine mögliche Verständigung der Bürger über die Grundlagen ihres Zusammenlebens sowie Ziele und Zwecke politischen Handelns dringt, erfüllt er eine unverzichtbare öffentliche Aufgabe. „Für diese, schrieb der katholische Philosoph Jacques Maritain, „braucht man die Intellektuellen.¹⁴

    Einer Technokratie, ließe sich im Anschluss daran zugespitzt formulieren, reichen Wissenschaftler und Experten – der Demokratie hingegen sind darüber hinaus immer noch Intellektuelle nötig, die kritische Distanz zu den Apparaten der Macht halten. Gerade deshalb ist die Autonomie der intellektuellen Felder und ihrer Repräsentanten so wichtig. In dieser ihrer Grundbedingung schlechthin handelt es sich bei Intellektualität um die Option für eine Kultur der geistigen Wachheit und des Arguments, der Anregung und der Kontroverse, der Mühe des Sich-Auseinandersetzen-Lernens und des Verstehen-Wollens.

    „Prüft alles ..."

    Ist all das nun auch in Kontexten der katholischen Gestalt des Christentums denkbar? Wie wäre also in diesem hier gleichsam nur hingetupften Szenario der katholische Intellektuelle zu positionieren – so es ihn eben überhaupt gibt? Jedenfalls würde es sich bei ihm um eine besondere Spielart der allgemeinen Bi-Dimensionalität des Typus handeln. Exemplarisch für alle Formen intellektuellen Engagements verschärfte sich hier die Spannung zwischen Standort und Kritik. Die katholischen wären Intellektuelle ja nicht etwa im Sinne von Siegfried Kracauers Diagnose jener „Wartenden", die zwar vor der „Leere" der säkularen Moderne erschrecken, deren Verhältnis zum (verlorenen) Glauben aber nicht über ein „zögerndes Geöffnetsein" hinaus gelangt – von jenen wie „Desperados" durch religiöse Gefilde Schweifenden ganz zu schweigen, die sich hier und dort einmal kurzschlüssig nahe fühlen.¹⁵ Katholische Intellektuelle wären vielmehr an ein überindividuelles Credo Gebundene, nicht nur Interessierte, sondern Entschiedene, mit all den sich daraus ergebenden Verpflichtungen für das Alltagshandeln.

    „Katholisch" bezeichnet Herkunft und Selbstverortung dieser Intellektuellen, denen sich ihre Inspiration verdankt. Aus diesem Glutkern heraus leben und denken sie. Ganz ungeschützt könnte man auch sagen: Sie sind gläubig – oder versuchen es, aller geistigen Anfechtungen ungeachtet, denen man als aufmerksamer Zeitgenosse gar nicht entgehen kann, wenigstens zu sein. Sie fühlen sich zugehörig, und sei es noch im Zustand der Vertreibung oder des selbst gewählten Exils. In diesem Falle ähnelt er eher einem paradoxen Zugleich von Drinnen und Draußen.

    Zum Hintergrund des katholischen Intellektuellen gehört indes nicht nur das Bekenntnis zu religiösen Maßstäben, die er nicht selbst erfindet, denen er sich vielmehr anschließt, sie aber individuell verantwortet, sondern auch eine institutionelle Beheimatung. sentire cum ecclesia als Wurzelgrund des katholischen Intellektuellen? Ja, ausdrücklich sogar, aber mit der Einschränkung von Albert Camus, wonach es „am unerträglichsten ist (...), das entstellt zu sehen, was man liebt.¹⁶ Ganz im Sinne der Doppelbedeutung des lateinischen Verbs: mit der Kirche empfinden, kirchlich gesinnt sein; wenn Anlass dazu besteht, allerdings auch „schmerzlich empfinden. Als deren mündiges Mitglied neigt der Intellektuelle nicht ungern dazu, seine Kirche an dem Anspruch des Geistes zu messen, in dem sie begründet ist. Gerade die tiefe Einwohnung im Katholischen kann zuweilen einen Dissens mit dessen amtlichen Verlautbarungen und Praktiken auslösen, die lauterste Frömmigkeit sich an der jeweils autoritativ verkündigten Linie der Kirche reiben. Beispiele hierfür gibt es genug.

    Heinrich Böll bemerkte einmal sarkastisch: „Wenn es für einen Deutschen schon nicht leicht ist, Intellektueller zu sein, so ist es, wenn er außerdem noch Katholik ist, doppelt unangenehm."¹⁷ Das seufzende Bonmot verweist darauf, dass das kirchliche Milieu lange Zeit hindurch keinen günstigen Resonanzraum gerade für die der eigenen Glaubensgemeinschaft angehörenden Anwälte des freien Diskurses und bewusster Zeitgenossenschaft geboten hat. Im Gegenteil: Vorherrschend waren oft Gesten der Abwehr, Verdächtigung und Abwertung. Noch heute (es mag wohl sein: sogar wieder verstärkt) wird Kritik – verstanden als Prüfung, Sichtung, Unterscheidung, Widerspruch –, wird das Erkunden noch unbetretener Wege häufig nur als unstatthafte Abweichung von einer feststehenden Doktrin angesehen, als Angriff, als etwas übel Beleumdetes jedenfalls. Statt derlei versuchsweise als bedenkenswerten Anstoß aufzunehmen (oder sich wenigstens inhaltlich damit zu befassen), ist man oft viel zu rasch mit moralischen Diskreditierungen bei der Hand, denen zufolge Abweichungen von amtlich Vorgegebenem als bloß reflexhaft oder irgendwelchem Anti-Affekt geschuldet, als Lieblosigkeit oder Zeichen falsch verstandener Freiheit und dergleichen mehr erscheinen. Wenn aber Wortmeldungen nur im apologetischen Sinne erwünscht wären, hätten Intellektuelle, wie ein unverkürzter Begriff sie verlangt, in der katholischen Kirche keinen Platz.

    Wie viel Freiheit des Geistes also erträgt sie in ihrem Bereich, ertragen diejenigen, die bevollmächtigt für sie sprechen? Das ist eine von mehreren Kernfragen. Kann man sich Intellektuelle dort wirklich nur als Bestätiger vorstellen? Zehrt die Kirche (ebenso wie die Gesellschaft) letztlich nicht gerade von Unangepasstheit und Einzelgängertum, von denen, die sich in offenes Gelände hinaus begeben? Unterliegt man kirchlicherseits nicht vielfach dem Irrtum, Loyalität mit blindem Gehorsam zu verwechseln und den Glauben mit einem geschlossenen System, das Unterwerfung unter seine jeweils amtliche Kursbestimmung fordert? Dann nähme in der Tat jede Äußerung eines „intellectualen Gewissens" bereits Züge des Maßlosen an. Nichts aber wäre beängstigender als (ihrerseits von Angst geprägte) Menschen, die Freiheit und Verschiedenheit, die Ambivalenzen, Anregungen und Einsprüche, die das Risiko neuer Versuche, auch kühner Vermittlungen, nicht aushalten, sondern darin gleich eine Bedrohung erblicken. So viel jedenfalls steht fest: Je feinmaschiger die Grenzen in der Kirche gesetzt werden, dazu gar noch mit autoritativen Rügen oder Sanktionen verbunden, desto schwieriger wird die Situation für intellektuelle Produktivität.

    Der aktuellen Lage des Katholizismus insgesamt wird solche Abschottung nicht gerecht. Sie ist vielmehr durch eine Wandlungsdynamik gekennzeichnet, die mit Stichworten wie konfliktreiche Binnendifferenzierung, Pluralisierung, Individualisierung und Privatisierung nach dem Zerfall kollektiver Verbindlichkeiten umrissen zu werden vermag, wodurch Vielstimmigkeit fast schon strukturell geworden ist. Nicht nur als Niedergangs- und Auflösungsgeschichte fester Identitäten kann derlei beschrieben werden, sondern ebenso begründet als ein Prozess, in dessen Verlauf neue Formen katholischer Lebenswelt entstehen.

    Sinn für Pluralismus bedeutet übrigens nicht, sich vom Widerstreit der Ansichten treiben zu lassen und keine Stellung zu beziehen. Er bestreitet nur, dass es in allen Wirklichkeitsbereichen lediglich eine, dazu noch für alle Zeiten „objektive katholische Denkmöglichkeit gibt. Tradition ist ein Schatz, kann aber auch zum Bann werden, wenn sie vor dem Horizont neuer Erfahrungen nicht sinnvoll geöffnet, auch behutsam korrigiert wird. Carlo Maria Martini, einer der klügsten ihrer hohen geistlichen Repräsentanten, empfiehlt im Anschluss an 1 Thess 5, 21 f. seiner Kirche, wie mit der zeitgenössischen Kultur umzugehen sei, und entwirft nebenbei ein Programm katholischer Intellektualität: „Seid nicht überrascht durch Vielfalt. Seid nicht geängstigt durch das, was anders oder neu ist, sondern betrachtet es als etwas, in dem ein Geschenk Gottes zu finden wäre. Stellt unter Beweis, dass ihr Dingen zuhören könnt, die ziemlich verschieden von dem sind, was wir gewöhnlich denken.¹⁸

    Selbstverständlich gibt es im katholischen Bewusstsein legitime Meinungsverschiedenheiten und Richtungsunterschiede, bilden sich differente Strömungen und Herangehensweisen, Bezugspunkte und Identifikationsmöglichkeiten ab. Schlimm wäre allein das Gegenteil. Fragen müssen gestellt und in unterschiedlichem Sinne beantwortet werden können, auch wenn die Ergebnisse, zu denen man gelangt, keineswegs alle oder in allem der jeweiligen amtlichen Agenda entsprechen. Nicht eine Gefahr für die Einheit der Kirche liegt hierin begründet, eher sogar die Bedingung für deren anspruchsvolle Möglichkeit.

    Wie eingeigelt nämlich die konkrete Gestalt des Katholischen in unterschiedlichen Zeitläuften auch (gewesen) sein mag, und ohne religionsphänomenologisch allzu tief zu graben: Von jeher bietet seine zentrale Denkfigur Spielräume, die dem Intellektuellen entgegenkommen – ganz abgesehen davon, dass der Geist des Evangeliums wesentlich einer der Wertschätzung von verantworteter Freiheit ist. Katholisch im Wortsinne bedeutet immer, auch anverwandlungsoffen zu sein, wenn man (wie dies weithin Konsens ist) als sein Grundcharakteristikum ein Wirklichkeitsverhältnis des et – et versteht,¹⁹ eines auf Vermittlung ausgerichteten „sowohl – als auch. Karl Lehmann spricht daher von einer „sehr hohen (...) Integrationskraft des Katholischen. In einer „differenzierten Dialektik verbinde es „die Freiheit des Gewissens und die Verbindlichkeit von Normen und Weisungen.²⁰ Eine Polyphonie der einzelnen Positionen macht Hans Urs von Balthasar zufolge den Charme des Begriffs aus.²¹ In diesem Rahmen ließen sich auch Eigensinn und Kirchlichkeit mit Gewinn aufeinander beziehen. Ein derartiges Verständnis kann sich auf eine Jahrhunderte alte Tradition berufen, die seit der „Gegenreformation und besonders während des 19. Jahrhunderts in Abwehr des modernen Freiheitsbewusstseins leider der zunehmenden lehrgesetzlichen Verengung gewichen ist. Unabhängigkeit bedeutet ja nicht Unverbundenheit, und Treue ist weder mit geistiger Trägheit zu verwechseln noch mit allfälligem Schulterschluss. Verankerung in der katholischen Kirche muss prinzipiell keine Einschränkung der Autonomie des Intellektuellen bedeuten. Überdies handelt es sich bei der Parrhesie, dem Freimut, welcher notfalls auch der höchsten Autorität „ins Angesicht widersteht (vgl. Gal 2, 11), um eine ur-kirchliche Tugend.

    Solcher inneren Bezüge des Katholischen zu dem, wovon Intellektualität lebt, ungeachtet, und trotz der Tatsache, dass es sich bei einigen seiner hohen Amtsträger wiederholt selbst um Intellektuelle handelt – auch wenn es von dieser Rolle her natürlich Besonderheiten in der Gestaltung des Habitus und des Diskurses gibt –, besteht zwischen kirchlicher Gemeinschaft und den Ansprüchen des Intellektuellen letztlich ein Spannungsverhältnis, das man nicht einebnen sollte. Vielmehr wäre es fruchtbar zu machen. Der katholische Intellektuelle ist daher stets ein Katholik im Spagat zwischen Freiräumen und Gebundenheiten: keine einfache, aber eine reizvolle und wichtige Daseinsform.

    Stets wäre jedenfalls an einen umfassenden Begriff von Katholizität zu erinnern, der keine Konfessionsbezeichnung meint, nichts partikular sich Abschließendes, sondern, wo immer möglich, auf Berührung und Teilhabe gerichtet ist. Er kann, ja soll auf eine reflexiv begründete Weite zielen, die manchmal sogar scheinbare Gegensätze zu umfassen vermag. Katholische Intellektualität leistet daher per se einen Beitrag zum Stand der gesamtchristlichen Diskussion. Intellektuelle beider Kirchen waren es ja, der protestantischen und der katholischen, die in Deutschland während der NS-Zeit Anfänge eines freundschaftlichen Miteinanders praktizierten. Hier wäre ein verpflichtendes Erbe zu wahren, das inhaltlich in hohem Maße legitimierbar ist. Auf beiden Seiten wächst zuletzt freilich wieder das Bedürfnis nach „Profil" – wie man sich in ökonomisch dominierten Zeiten unter Wettbewerbern auf einem gemeinsamen Markt, hier: der spirituellen und Sinn-Ressourcen, eben gern auf die Suche nach dem Alleinstellungsmerkmal macht.

    Auch wenn es unterschiedliche Denkformen und Lehrtraditionen geben mag, unterschiedliche Stile und Ausformungen des kulturellen Gedächtnisses, teilweise auch der fortwirkenden Sozialisation, sollte man „eine vielleicht vorhandene Differenz sicher nicht „unangemessen fixieren und auf diese Weise zu einem Unterscheidungsmerkmal hochsteigern, das es in Wirklichkeit gar nicht ist.²² So steht bei inhaltlichen Eigentümlichkeiten katholischer Intellektualität, die teilweise angeführt werden,²³ am Ende, geht man den Spuren nur genau genug nach, oft ein interkonfessioneller Transfer. Dass es bis in die Gegenwart hinein fortbestehende Ressentiments gegenüber Protestanten auch bei katholischen Intellektuellen gibt, ist leider eine andere Sache.

    Statt mehr oder weniger ergebnisarme Kultivierung historisch gewachsener Unterschiede zu betreiben, muss der katholische Intellektuelle seine Identität jedenfalls nicht konstruieren, indem er sich von anderen christlichen Bekenntnissen schroff abgrenzt. Es reicht, wenn er sich auf seine Traditionen – im Plural ausdrücklich! – beruft, und oft genug wird er die Entdeckung machen, dass das, was kontroverstheologisch überbetont wurde und wird, in schönster Nachbarschaft beieinander liegt. Ohnehin scheinen – wenigstens bei der jüngeren Generation – wirklich lebensprägende Differenzen längst nicht mehr zwischen Protestanten und Katholiken zu bestehen, sondern zwischen den christlich Ansprechbaren und den Gleichgültigen.

    Katholisch-Sein als Heimat ohne vorschnelle Abgrenzung also. Religionen sind heute mit Recht vielen gerade deswegen suspekt, weil sie Mauern errichten, die Menschen voneinander trennen. Das katholische Prinzip ist demgegenüber das einer bisweilen paradoxen Koexistenz. Daher ist ihm implizit eine große Ökumene eingeschrieben, auf die gegen alle Erstarrungen und Verengungen in seinem Namen zu bestehen wäre.

    Für eine besonnene Moderne

    Dies alles ist natürlich nach innen gesprochen, mit Blick auf die Kirche, jenen der beiden Pole katholischer Intellektualität, der sich bei der Verteidigung des Eigensinns in der Bindung immer wieder als der konfliktträchtigere herausstellt. Der andere, eigentlich gewichtigere, befindet sich jenseits der Binnenperspektive (die im Übrigen oft Gefahr läuft, zur Nabelschau zu geraten) und wird durch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten der Gegenwart bezeichnet. Dort herrscht das Paradigma der vorangeschrittenen Moderne. Wenn es gilt, ihr Verhältnis zu diesem zu bestimmen, werden von katholischen Intellektuellen durchaus unterschiedliche Signale ausgesendet. Die extremsten Ausschläge bewegen sich zwischen der Fortschreibung entschiedener Gegnerschaft zur Moderne und einer Selbstsäkularisierung zugunsten von Fortschrittsdenken oder der Ethik einer Zivilreligion. Dazwischen gibt es zahllose Anschlussfähigkeiten und Problematisierungen im Detail, mag manches sich auch als transitär erweisen.

    Bestehende Schwierigkeiten vieler Intellektueller mit dem kircheninternen Klima wiederholen sich auf dem anderen Feld in gewisser Weise. Die säkulare Gesellschaft ist keineswegs frei von Abwehrgesten einem Denken gegenüber, das religiös bezogen ist. Katholische Intellektuelle mögen somit zuweilen Fremdlinge im doppelten Sinne bleiben. Sie argumentieren quer zu den Linien. Daraus sich ergebende Gemengelagen sind niemals auf einen Nenner zu bringen.

    Habituelle Schwermut bei manchen Vertretern katholischer Intellektualität verweist auf eine Versehrtheit, die eines der wertvollsten Zeugnisse dieses Typus darstellt. Es sind Tragiker, welche die Versöhnung mit der Realität verweigern und damit an ihre naturwüchsige Erlösungsbedürftigkeit erinnern: ein Befinden, welches die heutige Gesellschaft einigermaßen erfolgreich verdrängt hat. Auseinandersetzung mit ihnen bedeutet die Konfrontation mit möglichen Abgründen. Vielleicht sehen sie ja klarer als alle die Rhetoriker des Aufbruchs, von denen wir umzingelt sind, den Fitmachern für die Zukunft – was für einer eigentlich? – und der verordneten organisatorischen Optimierungen. In dieser Hinsicht sind sie nicht „konstruktiv oder „zielführend. Gegen das, woran sie sich wundscheuern, hilft keine Reform.

    Im geschichtlichen Prozess sieht der katholische Intellektuelle jedenfalls nicht selten Aporien, aus denen kein Entkommen ist. Er trägt sie aus, hält Zweifel offen, den Sinn für Verluste. Was seinesgleichen im Speziellen auszeichnen mag, ist eine Gebrochenheit, die mit dem Spätzeitlichen einhergeht, welcher der Versuch, am Glauben festzuhalten, eingebrannt bleibt, und die sich weder in das Konstrukt einer intakten Vergangenheit zurückschwindelt, noch forsch auf zeitgemäß trimmt.

    Ein Gespür für Abwägung macht sich hier geltend, in dem die Vorzüge der Moderne zwar anerkannt, aber nicht zum Fetisch erhoben, sowie ihre Kehrseiten und Ver(w)irrungen, ihr Macht- und Kontrollanspruch nicht hingenommen werden. Als Ansatz katholischer Intellektueller bietet sich das Paradox der Modernisierung an, die eben nicht nur Pluralität und individuellen Freiheitszuwachs befördert, sondern auch Mechanismen der anonymen Steuerung, Domestizierung und Uniformierung.²⁴ Mit dem gleichen Recht, mit dem etwa auf fortschreitende Wahlmöglichkeiten des Einzelnen hingewiesen wird, könnte man auch vom Zerfall des Individuums sprechen, von wachsenden Erfahrungen der Ohnmacht und Desorientierung.

    Nun eignet der Moderne eine unangenehme Neigung, sich absolut zu setzen. Aufmerksam zu machen wäre demgegenüber auf die ihr inne wohnenden destruktiven Tendenzen. Der als alternativlos ausgegebene Kult der Geschwindigkeit und rastlosen Innovation etwa hat sich längst selbstzweckhaft verselbstständigt. Er führt zur permanenten Entwertung des Überlieferten oder Vorhandenen zugunsten der Attraktivität zukünftiger Optionen.

    Eine der vornehmsten Aufgaben katholischer Intellektualität bestünde somit darin, Mangelerfahrungen im säkularen Kontext anzusprechen, den Stachel für dessen Inszenierungen, Torheiten und Gefahren wach zu halten, mögen diese sich auch als Systemzwänge tarnen. Hier eröffnet sich ein weites Feld. In einer Zeit vorgegebener Sprachregelungen erinnert der katholische Intellektuelle gern auch an vom Aussterben bedrohte Wörter, an Denkformen, die keinen Platz mehr haben in dem, was man „Diskurs" nennt und oft nichts anderes meint als das, wonach man sich gefälligst zu richten hat, wenn man mitreden möchte. Gerade weil er gläubig zu sein versucht, bleibt er den innerweltlichen Verheißungen gegenüber skeptisch. Er widerspricht der Hegemonie eines naiven Bio-, Psycho- oder Soziozentrismus, einer Reduktion des Menschen, die parallel läuft zu dem Anspruch auf Verfügbarkeit über dessen Natur. Hingegen hält er fest an einer Vorstellung der menschlichen Person, die offen ist für die Transzendenz. Aufzuklären wäre das Selbstmissverständnis der Moderne, sie sei die Religion losgeworden. Noch in der Verweigerung hält sie, in Form von Surrogaten, vielmehr an ihr fest.

    Eher kritisch verhält sich katholische Intellektualität angesichts einer alles zulassenden und nichts (oder wenig) mehr ernst nehmenden Gesellschaft. Andererseits speist sich aus dem Widerwillen dagegen manchmal auch eine über den Distinktionsgewinn verweigerter Zeitgenossenschaft weit hinausgehende Verlockung durch scheinbar geordnete Verhältnisse mit klaren Regeln, in denen die verantwortete menschliche Freiheit wenig gilt. Hier wird dann als Markenzeichen des Katholizismus vor allem das betont, was ihn von der säkularen Welt unterscheiden soll – Autorität und Gehorsam nicht zuletzt –, aufgrund dessen man ihn in klarer Gegnerschaft zu dieser aufstellen möchte, die angeblich durch Relativismus, Indifferentismus und liberalistische Dekadenz restlos verdorben sei. Ohnehin übt die Geschlossenheit von Dogmengebäuden als Garant einer intransingent kämpferischen Bollwerk-Kirche auf manche katholische Intellektuelle seit dem frühen 19. Jahrhundert eine größere Faszination aus als Person und Botschaft Jesu. Doch natürlich kann man keine ungebrochene Kontinuität behaupten (wollen) zwischen Zeiten, in denen allein der „Wahrheit" Daseinsberechtigung zugestanden wurde, und solchen des Einverständnisses mit einem demokratischen Rechtsstaat, der unterschiedliche Überzeugungen schützt. Allein der Eindruck von Grauzonen in dieser Hinsicht wäre verheerend. Die große Mehrheit katholischer Intellektueller indes weiß, dass die Moderne nicht einfach eine Verfallsgeschichte beschreibt, sondern gerade den Religionen vielfache Möglichkeiten bietet, auch zum Bedenken in eigener Sache.

    Die Verteidigung der Prinzipien vernünftiger Selbstbestimmung des Individuums und einer unter dem Anspruch der Gerechtigkeit stehenden offenen Gesellschaft aber ist nicht blind den Widersprüchen und „Entgleisungen²⁵ der westlichen Moderne gegenüber. In allgemeinen Manifestationen des Ungenügens erschöpft sich diese Haltung nicht. Vielmehr mobilisiert sie – um nur diese Aspekte aus einer üppig bestückten Agenda herauszugreifen – Widerstandspotenziale und entfaltet eine dissidente wie auf pragmatisches Handeln abzielende Kraft im Einspruch gegen die Totalkapitalisierung des Lebens mit ihren Verwerfungen. Für Religion grundsätzlich gilt, dass sie von einem „Jenseits des Funktionierens nicht zu trennen ist.²⁶

    Somit erwiese sich katholische Intellektualität als ein komplexes Differenzierungsprogramm. Ihre Vertreter wären wesentlich Anwälte einer besonnenen Moderne. Sie trügen zur Entmythologisierung wahnhafter Anteile bei, in denen die Idee der Moderne jene zur Eigenkorrektur begabte Grundierung aufgibt, aus der Leszek Kolakowski listig ihren Vorrang abgeleitet hat: Niemals außer Acht lassen dürfe die Moderne folglich „ihre Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen, aus ihrer Ausschließlichkeit herauszutreten"²⁷.

    Zum Schluss sei kurz noch ein höchst privater Traum vom Intellektuellen gestattet. Zumal im Falle seiner katholischen Herkunft sollte das eingangs erwähnte Zwitterwesen über Ironie verfügen – weil es demütig ist, und nicht überlegenheitsstolz (was zu religiösen Menschen ohnehin nie passt). Gerade bei dem katholischen Intellektuellen handelt es sich doch weit eher um einen Narren als um einen clerc (nach der klassischen Bezeichnung Julien Bendas).²⁸ Mit der pathetischen Geste hält er sich zurück, und wenn er sie hin und wieder doch gebraucht, trübt dies nicht seinen Sinn für Selbstrelativierungen – keineswegs nur aus dem Bewusstsein eines Lebens im Paradox. Demütig aber ist dieser Intellektuelle, weil er immer mit der eigenen Fehlbarkeit rechnet, damit, dass die eigene Einlassung unvollständig oder irrtumsanfällig sein könnte.

    (Selbst-)Ironie als Mittel gegen die Versuchung zur Rechthaberei wie gegen den Leidensdruck. Dafür hätte man freilich den ehrwürdigsten aller Ahnherren auf seiner Seite. Erasmus von Rotterdam, die überragende Leitfigur der neuzeitlichen Intellektuellen, als die Ralf Dahrendorf ihn unlängst gefeiert hat, ist ja zugleich der Prototyp ihrer katholischen Ausprägung – und dies, obwohl er der kirchlichen Tradition nie ganz geheuer war. Warum sollte man ihn nur dem Rekonstruktionsbedürfnis „des modernen liberalen Geistes überlassen?²⁹ Ausgerechnet ihn, der für ein an der Vernunft, der Würde und Freiheit des Menschen orientiertes Humanitätsideal ebenso plädierte wie für dessen Unterfütterung durch christozentrische Frömmigkeit? Ihn, der „mehr Kritiker als Prophet sein wollte, doch daneben schreiben konnte, „was nur zum Lachen reizt, und sich nicht allein in den knollennasigen Selbstkarikaturen am Rand seiner Briefe verspottete? Aus diesem augenzwinkernden Ernst müssen wir auch begreifen, was er 1526 in seinem „Hyperaspistes schrieb: „Von der katholischen Kirche bin ich nie abgefallen. (...) Man trägt die Übel leichter, die man gewohnt ist. Darum ertrage ich diese Kirche, bis ich eine bessere sehen werde, und sie ist wohl genötigt, auch mich zu ertragen, bis ich selbst besser geworden bin."³⁰ So sollten der Intellektuelle und die Gemeinschaft seines Glaubens wechselseitig Geduld miteinander haben, auch wenn man sich nicht immer versteht.

    „Anstößiges", nichts Abschließendes

    Tiefenschärfe wächst der Begriffsbildung von Intellektualität letztlich nicht durch Abstraktion zu, sondern nur vermöge ihrer jeweils individuellen Konkretisierungen. Darin besteht die Vermutung, die diesem Buch zugrunde liegt. In Porträts von Einzelnen versammelt es gleichsam Mosaiksteinchen, die zwar kein Ganzes ergeben mögen, aber in der Zusammenschau vielleicht doch manches deutlicher machen.

    Der vorliegende Band handelt also von Menschen des Geistes und des Wortes, die ihrem (in wenigen Fällen auch nur temporären) religiösen Selbstverständnis entsprechend auf außergewöhnliche Weise in die Öffentlichkeit und in das katholische Bewusstsein hinein gewirkt haben. Es sind manchmal Vor-, manchmal Gegen-Denker, Leitfiguren und Außenseiter. Einige hätten wohl – oder haben tatsächlich – den Begriff des Intellektuellen für sich abgelehnt, weil sie ihn mit einer Normativität verbanden, die sie mit ihren eigenen Vorstellungen nicht in Einklang bringen konnten. Wie nun verstehen sich jene knapp vierzig Künstler, Wissenschaftler oder Publizisten, welche Themen greifen sie auf, welche Positionen beziehen sie? Eine Bestandsaufnahme wie die hier vorliegende gab es bisher noch nicht. Mit einem großen Panorama des Denkens und Streitens ermöglicht sie zugleich einen faszinierenden Gang durch die Geschichte des deutschen Katholizismus im „Jahrhundert der Intellektuellen".³¹

    Von der Infragestellung und Durchbrechung milieumäßiger Enge bis hin zur Leuchtkraft neuer Formen einer kompakten Definition des Katholischen angesichts des wahrgenommenen Zustands der Moderne erstreckt sich der Bogen, der, in sich wiederum gebrochen, Wandlungen des Ausdrucks katholischer Intellektualität kenntlich macht.

    Die Darstellung setzt ein auf dem Höhepunkt der das ganze 19. Jahrhundert hindurch mit wachsender Schärfe betriebenen Defensive gegenüber dem Geist einer von Aufklärung und Liberalität geprägten Zeit. Das selbst eingerichtete kulturelle Ghetto beginnt jedoch porös zu werden. Nach dem Zusammenbruch bisher gültiger Werte im Ersten Weltkrieg wächst dem Katholizismus im geistigen Spektrum der Weimarer Republik neue Attraktivität zu. Philosophische und literarische Strömungen zeugen davon, Neudeutungen christlicher Gehalte mit Hilfe von Denkformen der Phänomenologie, des Personalismus, der Wahrheit der Existenz. Was jedoch weithin bestehen bleibt, ist ein Misstrauen gegen die kantische „Revolution der Denkart³² und den modernen Historismus. Auch wenn vereinzelt zeitweilige Konvergenzen bestehen (oder man nicht zu den Verteidigern der Demokratie zählen mochte), sind es gerade katholische Intellektuelle, die aus ihrer Distanz zum Nationalsozialismus keinen Hehl machen. Teilweise mündet sie in die Inspiration und Unterstützung des Widerstands. Hoffnungen auf einen geistigen Wandel in der Nachkriegszeit werden vielfach enttäuscht. Mit der Unterstützung oder Gegnerschaft zu den Reformbestrebungen in den Jahrzehnten danach spätestens kommt es zur Ausdifferenzierung in zwei große – gewohnheitsmäßig verallgemeinernd als „progressiv und „konservativ" bezeichnete – Strömungen, die seither fortbestehen, in sich jedoch alles andere als homogen sind. Aus dem Ende eines einheitlichen Milieus vermag katholisches Denken schließlich sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen für das eigene Selbstbild zu ziehen.

    So sähe vielleicht das Stenogramm der geistigen Topographie aus, die sich anhand der Beiträge entfaltet. Über die Zeiten hinweg Wiedererkennbares wird man in ihnen ebenso finden wie eher dem jeweiligen Anlass verhaftete Strömungen. Nicht selten erweist sich katholische Intellektualität als antizipatorisch. Beispielhaft sei nur auf die Rolle einer Annette Kolb bei der geistigen Überwindung des europäischen Bürgerkriegs verwiesen, oder auf das, was Joseph Bernhart über das Tier, was Carl Amery (dessen düster dringliches Spätwerk noch gar nicht bei uns angekommen ist) über unsere Verantwortlichkeit der Mitwelt gegenüber schrieben, als derlei noch nicht auf der Tagesordnung stand. Grundsätzlich ist vor allem ein Reichtum unverkennbar, der sich aus den diversen Variationen des Spannungsverhältnisses von Eigensinn und Bindung speist.

    Angestrebt war kein Lexikon oder Handbuch, das einen systematischen Überblick verspricht oder gar Deutungshoheit beansprucht. Die ungerade Zahl der Beiträge soll es zum Ausdruck bringen. (Dass dabei gerade diejenige der alttestamentlichen Bücher herausgekommen ist, mag man als unbeabsichtigt zeichenhafte Pointe nehmen.) Nicht auf Vollständigkeit kommt es an, auch nicht auf moralische „Größe" der Dargestellten. Zuweilen ist die Umstrittenheit bedeutsamer.

    Natürlich fehlen wichtige Figuren. Um nur die Verstorbenen ins Auge zu fassen: etwa Alfred Döblin (aus Gründen seiner lebensgeschichtlich späten Konversion sollte er nicht „vereinnahmt" werden), Leo Weismantel, Gertrud Luckner, Ernst Michel, Dietrich von Hildebrand oder Friedrich Dessauer. Österreich und die Schweiz sind zusammen nur mit zwei symbolischen Gästen vertreten, die in Deutschland besondere Aufmerksamkeit erfahren (haben). Wichtiger als abwesende Einzelnamen jedoch ist die strukturell offene Flanke katholischer Intellektualität, die durch den Mangel an repräsentativer Naturwissenschaftlichkeit markiert wird. Ein bloßer Zufall dürfte diesbezüglich nicht am Werke sein.

    Mit Bedacht wurde auf ein einheitliches Schema verzichtet, nach dem die einzelnen Beiträge zu gestalten wären. Wie diese Persönlichkeiten auf ganz unterschiedlichen Ebenen wirksam waren, sollten arbiträre Annäherungsweisen nebeneinander stehen – nicht zuletzt in der Absicht einer erwünschten Potenzierung beim Spiegeln katholischer Intellektualität (der ja auch die Mitarbeiter zuzuordnen sind). Ihnen wurde deswegen anheim gestellt, ob sie sich, und wenn ja: worauf exemplarisch konzentrieren wollten. So schreibt denn einer den von ihm Porträtierten in die Gegenwart hinein fort, während ein anderer im historischen Kontext bleibt; einer bevorzugt die Form des Essays, während ein anderer tief in die Archive hinab steigt; einer widmet sich ganz einem bestimmten Werk oder Motiv, der andere hingegen versucht möglichst breite Grundlagen einzubeziehen. Auch ist sine ira et studio bekanntlich nicht immer die am besten Erkenntnis stiftende Grundhaltung. Viele Mitarbeiter sympathisieren mit denjenigen, über die sie schreiben, andere üben Kritik. Ob ihnen jeweils recht zu geben wäre, auch das kann anhand der Literaturangaben im Anhang nachvollzogen werden. Dass durchgehend ausgezeichnete, teils sogar die bestmöglichen Kenner gewonnen werden konnten – was auch erklärt, dass in einem Falle eine Autorin selbst zu den vorgestellten Persönlichkeiten zählt –, dass sie sich zudem vielfach mit der Zielsetzung des Buches identifizierten, ist für den Herausgeber Anlass zu Dankbarkeit und Stolz.

    Nichts soll in dem Band versiegelt werden – auch nicht in reinen Fachdiskursen. Nach allgemeiner Zustimmung wird nicht geschielt. Wenn die Darstellung vereinzelt jedoch ein wenig anregend wirken könnte, wenn sie hier und da zu Entdeckungen verhülfe, wenn sie gar weitere Debatten über die mögliche Gestalt einer katholischen Kultur des Nachdenkens und Argumentierens anstoßen könnte, hätte sie ihren Zweck vollauf erfüllt.

    Die Konzentration auf Laien mit ihren größeren Spielräumen des Denkens erfolgte bewusst. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung, der Intellektualität unter den besonderen Bedingungen des theologischen oder kirchlichen Amts betrachtet. Gemeinsam sollen beide Bücher eine Ahnung der Beschaffenheit katholischen Geistes im 20. Jahrhundert vermitteln.

    Karl Muth (1867 – 1944)

    Karl Muth und das „Hochland"

    Kulturelle und politische Impulse für einen Katholizismus „auf der Höhe der Zeit"

    Winfried Becker

    Karl Muth wurde am 31. Januar 1867 in Worms als Sohn des Kirchen- und Kunstmalers und späteren Gewerbeschuldirektors Ludwig Muth geboren. Der Rheinhesse gewann seinen Lebensmittelpunkt in München, gab dort von 1903 bis 1941 im Verlag Kösel „Hochland heraus, die jahrzehntelang führende katholische „Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst. Auch die Lebensläufe des in Darmstadt geborenen Philosophen und Politikers Georg von Hertling und des aus Koblenz stammenden Gelehrten und Publizisten Joseph Görres verzeichneten die Wanderung vom Geburtsort im ehemals stiftischen Deutschland, dessen städtische Zentren sich nach der großen Säkularisation nicht weiter entfaltet hatten, in die Kulturhauptstadt Süddeutschlands. Bereits im Elternhaus las Muth die großen Historiker seiner Zeit, neben Görres Johannes Janssen, Karl Adolph Menzel und Georg Gottfried Gervinus. Weit ausgreifende, doch wenig konzentrierte Studien der Geschichte, der Literatur und der Staatswissenschaften führten ihn nach Berlin, Paris und Rom (1892/93). Vorher schon war dem Zögling der Missionsschulen in Steyl und Algier (1884/85) die entscheidende Begegnung mit der Welt des französischen Geistes vermittelt worden: durch keinen Geringeren als den Erzbischof von Algier, Kardinal Charles de Lavigerie, den geistlichen Förderer des Ralliement, des Anschlusses der französischen Katholiken an die Dritte Republik.¹

    Muths publizistisches Schaffen begann bescheiden gemäß den Gegebenheiten der Zeit. Er lieferte Gelegenheitsarbeiten für das „Mainzer Journal, das Berliner Zentrumsblatt „Germania und die Straßburger Tageszeitung „Der Elsässer. 1895 wurde Muth Chefredakteur des monatlich in Einsiedeln/Schweiz erscheinenden illustrierten Familienblattes „Alte und Neue Welt. Mit früh erwachtem Qualitätsbewusstsein verbannte er die Kitschromane aus deren Spalten und nahm dafür die Werke eines André Theuriet oder Henryk Sienkiewicz auf. Beide, der auf den Spuren Honoré de Balzacs wandelnde französische Romancier und der patriotische polnische Journalist und Schriftsteller, waren moderne Erzähler von Format, die allerdings einige Gemeinsamkeiten hatten. Sie versuchten sich an einer neuen Art von Roman, dem Heimat- oder Regionalroman und dem patriotisch ausgerichteten Geschichtsroman; sie entdeckten die Religion, das Milieu, das historische Timbre als konstitutive Faktoren für ihre Helden und die Gesellschaft. Sie richteten Muths Blick auf die „Heimatkunst". Mit einem bedeutenden Vertreter dieser Gattung, Friedrich Lienhard, ging Muth ein Freundschaftsverhältnis ein. Muth und Lienhard begriffen das beim Publikum rasch Beliebtheit gewinnende Genre aber nicht wie Adolf Bartels in einem Blut und Boden verherrlichenden Sinne, sondern sahen, wie es von Schriftstellern verschiedener Völker und Sprachnationen aufgegriffen wurde, um einer je eigenen Gefühls- und Glaubenswelt, Tradition, Herkunft und Prägung künstlerisch Gestalt zu verleihen. Die herkömmlichen Tendenzen des Konservativismus und Realismus, die sich hier zeigten, gewannen gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Funktion; sie wurden nun als Gegenkräfte zur damals vordringenden impressionistischen Auflösung oder naturalistischen Verzeichnung menschlicher Charaktere verstanden.

    Der „katholische Literaturstreit"

    Mit seinen unter dem Pseudonym „Veremundus veröffentlichten literaturtheoretischen Schriften von 1893 und 1898 trat Muth recht wirkungsvoll und nachhaltig an eine breitere Öffentlichkeit. Er entfachte vor dem Hintergrund der Debatte über die angebliche Inferiorität der deutschen Katholiken im Kaiserreich den „katholischen Literaturstreit. Besonders seine zweite Schrift erregte die Gemüter. Sie trug den Titel: „Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Eine litterarische Gewissensfrage.² Muth entwarf ein ernüchterndes Bild der katholischen Präsenz im hoch entwickelten Geistesleben der Nation. Er erblickte keinen einzigen katholischen Dramatiker von Rang und sah den katholischen Literaturbetrieb weithin von der Vorherrschaft des Klerus abhängig. In den katholischen Familienblättern tummelte sich eine höchst mittelmäßige Romanliteratur, die ängstlich jeden Anschein sogenannter „Unsittlichkeit mied und dazu von einer engherzigen, säuerlich-moralisch gehandhabten, höheren Gesichtspunkten konsequent sich verschließenden Literaturkritik – die nach Muths Beobachtung den Namen kaum verdiente – überwacht wurde.

    Muths Analyse war sachlich und schonungslos, zuweilen polemisch, verließ aber nicht den damals üblichen Rahmen konfessioneller Solidarität. Was seine Auffassung von den Inferioritätsvorwürfen unterschied, die von nicht-katholischer Seite erhoben wurden, war sein Glaube, dass die Lage durch die entschlossene Selbsthilfe katholischer Intellektueller und Schriftsteller gebessert werden könne. Am Anfang stand, wie der Titel verhieß, die „litterarische Gewissensfrage". Die stellte Muth aber den Künstlern aller Konfessionen und Weltanschauungen gleichermaßen. Denn er sah die entscheidende Vorgabe für jeden Künstler in der entschlossenen Besinnung auf den allein maßgeblichen ästhetischen Rang eines Kunstwerkes. Muth hat diesen Standpunkt später vertieft, zur intensiven und breiten Lektüre der von der Allgemeinheit als hochrangig anerkannten Werke aufgerufen, um die Kritikfähigkeit und Selbstständigkeit des mitdenkenden Lesers zu schulen. Dann erst werde jeder für sich prüfen und erkennen können, was sich aus der breiten Lektüre für die eigene Lebensgestaltung annehmen und herausfiltern lasse. Der Leser, so gegen Manipulation gefeit, werde sich in der Regel nur auf eine sehr begrenzte Rezeption einlassen. Damit begegnete Muth den Befürchtungen von konservativer Seite, die unbeschränkte Lektüre selbst der anerkannten Klassiker könne die gläubigen Leser moralisch verderben. Er hielt allerdings an der Kategorie individueller moralischer Verantwortlichkeit in Literatur und Kunst fest, die gewonnene Urteilsfähigkeit schien ihm dafür sogar eine gute Gewähr zu bieten.³

    Muth exemplifizierte seine Kunstauffassung an dem nicht ganz neuen, aber verbreitetsten Medium seiner Zeit, dem Roman. Diese Form „epischer Prosadichtung konnte auf den meisten Anklang beim Publikum rechnen. Zudem waren auf diesem Gebiet noch einige katholische Literaturschaffende anzutreffen, unter ihnen meist Autorinnen. Auch hier war bemerkenswert, wie er seine Kritik ins Allgemeingültige erweiterte. So verwarf er nicht nur den typisch katholischen Belehrungs- oder „Tendenzroman, sondern sprach die künstlerische Berechtigung auch jenen höchst didaktisch verfahrenden Pseudoromanen ab, die primär zur „Erörterung wissenschaftlicher Theorien oder „zur Schilderung gesellschaftlicher Zustände die dichterische Form zwar wählen, aber mit dieser kunstfernen Zielsetzung und Praxis regelmäßig verfehlen würden.⁴ Ein echter Roman müsse zur wirklichen Beobachtung menschlichen Lebens vordringen, „innere Wahrheit und „jene plastische Kraft in der Menschenbildung spiegeln, die vom wahren Schriftsteller gefordert sei. Das wahre Kunstwerk solle „den Genießenden seelisch befriedigen, als Zeitbild oder dichterische Lebensschilderung durch Vorführung des Schönen, Menschlich-Bedeutungsvollen, Zweckmäßigen, Großen und Guten Lebenskunst oder praktische Lebensweisheit lehren ... Ein Roman, der belehren, erörtern, beweisen oder bessern will, hat auf rein künstlerische, ästhetische Würdigung keinen Anspruch".⁵

    Mit diesen abstrakten Feststellungen und Forderungen war aber noch nicht viel gewonnen. Wie waren sie in der gegebenen historischen Situation umzusetzen? Die Lage der Literatur in Deutschland war gekennzeichnet durch eine säkulare Entwicklung: die von der großen Säkularisation und ihren bildungssoziologischen Begleiterscheinungen zuerst hervorgerufene, durch die Weimarer Klassik und die politischen Entwicklungen der zweiten Jahrhunderthälfte beschleunigte Entstehung einer inzwischen beherrschend gewordenen protestantisch oder säkularistisch geprägten Nationalliteratur und Nationalkultur. Hier und nicht anderswo vollzog sich in Deutschland die „allgemeine Kunstbewegung der Zeit, von der Muth sprach. Darum richtete er an seine Glaubensgenossen den ernsten Appell, Fühlung zu nehmen und Berührung zu suchen mit „den allgemeinen künstlerischen Bestrebungen der Nation.⁶ Sein perspektivischer Ansatz unterschied sich insofern deutlich von dem der „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland" (1838 – 1923). Aus einem eigen-generierten katholischen Kulturverständnis des bayerisch-österreichischen Raums entwickelte diese Gründung des Görres-Kreises einen bemerkenswert breiten internationalen Horizont und lieferte in fast jeder Ausgabe mit großer Beständigkeit anspruchsvolle literarische und künstlerische Beiträge.

    Muth listete „die wahren Ursachen unserer literarischen Rückständigkeit anhand eines Neun-Punkte-Katalogs auf. Die wichtigsten Mängel waren das fehlende Interesse am „Fortschritt der modernen Dichtung, die Gleichgültigkeit gegenüber ihrer hoch entwickelten Sprachtechnik und „Charakterisierungskunst, sodann das Abseitsstehen aus konfessionellem Vorbehalt, aus „Prüderie und „Engherzigkeit. Damit gehe eine durchaus unterentwickelte und teils verfehlte Literaturkritik einher, wie sie in den wenigen katholischen Literaturzeitschriften und -besprechungen zu Tage trete („Stimmen aus Maria Laach). Man beschränke sich hier auf das Hochhalten moralischer Maßstäbe und trete den Rückzug auf das Proprium an, statt den künstlerischen Wert der besprochenen Werke zum Maßstab zu machen. Schließlich forderte Muth die Gründung einer neuen katholischen Literaturzeitschrift, die sich auf der Höhe der Zeit mit den Problemen und Tendenzen der neuesten Literatur auseinandersetzen und selbst produktiv zum Literaturschaffen beitragen würde.

    Muth geriet mit seiner Kritik in eine lang anhaltende Kontroverse mit dem aus Böhmen stammenden österreichischen Literaturkenner und Schriftsteller Richard Kralik, Ritter von Meyrswalden, Herausgeber einer eigenen Zeitschrift (seit 1906). Sie trug den Titel „Gral und erinnerte damit an den sakralen, geheimnisvoll-sagenhaften, Himmel und Erde verbindenden Glücksspender des Mittelalters. Kralik, im katholischen Südosten des großdeutschen Kulturraumes beheimatet, bestritt die Inferioritätsthese, was Muth seinerseits zurückwies, und sah als Heilmittel an, auf literarischem Gebiet so „einseitig katholisch zu sein, wie unsere Gegner einseitig antikatholisch sind.⁷ Darüber hinaus spiegelte der Streit die Unterschiedlichkeit der Situation in Wien und München, die sich aus den Kriegen und politischen Auseinandersetzungen um die Einigung Deutschlands 1866 bis 1871 ergeben hatte. Kralik glaubte noch auf einen Fundus tradierter katholisch beeinflusster Literalität zurückgreifen zu können, dagegen gewahrte Muth im kleindeutschen Reich kein nennenswertes katholisches Kulturschaffen mehr. Während Kralik die Wiederanknüpfung an einer universellen katholischen Kultur, wie sie für ihn allerdings eher in der Romantik als im Barock verkörpert gewesen war, eine „restitutio, anstrebte, setzte sich Muth das bescheidenere Ziel einer „institutio, einer Einfügung der eigenen Ansätze und Positionen in den flutenden Strom der wohl entwickelten Nationalkultur kleindeutscher Prägung.⁸

    In Rückkoppelung mit der fehlenden katholischen Präsenz an den Universitäten forderte er, dort überhaupt erst die Vorbedingungen dafür zu schaffen, dass im fortschreitenden „Gährungsprozeß des Geisteslebens eine Urteilsbildung und Stellungnahme aus katholischer Sicht außerhalb der eigenen eng gesteckten Kreise stattfinden könnten. Wo und wie sollten die Studierenden Orientierung finden, wenn sie, wie es an den Bildungsstätten der Nation geschah, mit der Diesseitsphilosophie eines Friedrich Nietzsche oder den naturalistischen Anklagen Henrik Ibsens konfrontiert wurden?⁹ Muth verwies auf das Vorbild der im politischen und sozialen Bereich für den Katholizismus bereits errungenen Autonomie und Anerkennung: In Parlament und Öffentlichkeit hatten nach dem Kulturkampf die mit „thatkräftigem Gegenwartssinn ausgestatteten Anführer der Deutschen Zentrumspartei große Erfolge verzeichnen können und sich einen festen Platz erobert.¹⁰ Sollte sich im Literatur- und Kulturleben nicht durch „positive Mitarbeit" ein Gleiches erreichen lassen? Eine psychologische Voraussetzung, sich an der Inferioritätsdebatte so spektakulär zu beteiligen und eigene Schuldzuweisungen vorzunehmen, lag auf katholischer Seite sicherlich auch in einem gestärkten Selbstbewusstsein, das ohne die Festigung des politischen und sozialen Katholizismus wohl kaum zustande gekommen wäre.

    Muth ging im Grunde von einer pluralistischen Einstellung aus, die einen Wettbewerb auf der Basis ähnlicher oder gleicher Zielvorgaben voraussetzte. Er argumentierte letztlich nicht inhaltlich oder ideologisch, zeigte sich weder fasziniert von einer den rückhaltlosen Anschluss verlangenden, jederzeit überlegenen Nationalkultur noch veranlasst, direkt oder polemisch Respekt für herkömmliche katholisch-kirchliche Positionen einzufordern. Er bejahte und begründete vielmehr die gemeinsame Ausrichtung am Maßstab der ästhetischen Perfektion, an der künstlerischen Freiheit von vordergründigen Zwecken, Interessen oder didaktischen Lehrstunden und an der allgemeinen Verbindlichkeit einer idealen ästhetischen Gesinnung. Er bekannte sich zur Aufgeschlossenheit für den kulturellen und künstlerischen Fortschritt – wo dieser auch anzutreffen sei. Einen bloßen Standpunkt des l’art pour l’art hat er dennoch nicht vertreten. Seine Stellungnahme zielte letzten Endes – nach der politischen – auf die kulturelle Integration der Katholiken zuerst in das Kaiserreich, dann in die Weimarer Republik. Dahinter stand das optimistische Vertrauen, dass in Deutschland ein kultureller Gleichklang, ein gemeinsames kulturelles Wirken, die Erreichung der Kultureinheit über konfessionelle und weltanschauliche Schranken hinweg möglich sei.

    Das Programm der Zeitschrift „Hochland"

    Der theoretischen Klärung ließ Muth bald Taten folgen. Nach längerer Vorbereitung schritt er im Jahr 1903 zusammen mit dem Erben des Verlages Josef Kösel, Dr. Paul Huber, zur Gründung der anspruchsvollen Kultur- und Literaturzeitschrift „Hochland. Der Name sollte Programm sein, gab knapp den auf der Titelseite präsentierten Leitgedanken der erstrebten neuen Kulturgemeinde wieder: „Hochland, hohen Geistes Land – Sinn dem Höchsten zugewandt. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich die Monatsschrift zum zweiten führenden Periodikum der katholischen Bildungswelt. Es trat neben die 1838 gegründeten „Historisch-politischen Blätter, die ebenfalls in München erschienen, indes mit ihrem führenden Redakteur, dem Landshuter Archivar, Parlamentarier und Historiker Joseph Edmund Jörg, tiefer im Bayerischen verankert waren. „Hochland wirkte mit seinen essayistischen Artikeln, seinen kurzen und bündigen Literaturbesprechungen, mit den Teildrucken ebenso niveauvoller wie kurzweiliger Novellen, Romanen oder Erzählungen, den eingestreuten Bildern und Illustrationen schwungvoller, lebendiger, offener, gegenwartsbezogener, auch laizistischer und mehr interdisziplinär als das andere, sehr historisch ausgerichtete, politisch ambitionierte, noch stark von geistlichen Federn zehrende Münchener Organ.¹¹ Doch die „Historisch-politischen Blätter" offerierten grundsolide gearbeitete, hochinformative und gedankenreiche Artikel. Auch sie blickten regelmäßig über die deutschen Grenzen, destillierten allerdings stets unerschrocken, kämpferisch und trennscharf die Gegenpositionen zum Säkularismus oder Antiklerikalismus heraus. Sie fielen mit ihrer anerkannten Existenz und ihrem hohen Standard gewiss nicht unter die Beschreibungen und Verdikte, mit denen Muth sonst seine These von der Inferiorität katholischen Literaturlebens untermauerte.

    In den dreißig Jahren freien Wirkens, die ihm beschieden waren, deckte das „Hochland ein integrales Spektrum verschiedener Kunst- und Wissensgebiete ab. Der Herausgeber beschaffte sich Informationen und gewann Bekanntschaften gerne aus erster Hand, reiste darum häufig. Seine organisatorische Begabung und vorausschauende Planung ermöglichten es ihm, seine Zeitschrift stets auf der Höhe der Zeit und der aktuellen Diskussion zu halten, allerdings ohne sie zum Diener des Zeitgeistes zu machen. Das Privatunternehmen mit all seinen Chancen und Risiken durch meist unruhige Zeiten zu erhalten und zu lenken war eine große Leistung, die im 21. Jahrhundert ihresgleichen suchen würde. Muth gewann bald Mitarbeiter und Abonnenten in ganz Deutschland und im Ausland. Im Vergleich zu den „Historisch-politischen Blättern waren die Artikel kürzer, mehr in Essayform gehalten und häufiger dem literarischen Leben gewidmet.

    „Hochland" öffnete seine Spalten Schriftstellern verschiedener Couleur und Prädisposition wie den Expressionisten Reinhard Johannes Sorge und Hermann Bahr, dem im Schwäbischen verwurzelten Priester-Dichter Peter Dörfler, dem Kulturpädagogen und Romancier Leo Weismantel, der Konfessionskonflikte behandelnden österreichischen Erzählerin Enrica Handel-Mazzetti, dem Dichter Werner Bergengruen, dessen Werke um den symbolischen Widerhall der ewigen Ordnung kreisten, und vielen anderen. Philosophische und sogar aktuell-politische, geistes- und kulturgeschichtliche Themen behandelten der Münchener Philosoph Georg von Hertling und seine Schüler Clemens Baeumker und Max Ettlinger, sodann Theodor Haecker, Waldemar Gurian, Alois Dempf und Romano Guardini, nicht zu vergessen der Theologe und Zentrumsprälat Joseph Mausbach, mit dem Muth eine private Korrespondenz führte. Mausbach war maßgeblich an der Erarbeitung der Schul- und Kirchenartikel der Weimarer Verfassung beteiligt.

    „Hochland zeigte sich besonders aufgeschlossen für die christliche Kultur und Literatur der Alten und der Neuen Welt. Die Erzählungen und Gedichte, die literarische Kritik und künstlerische Umschau tasteten weite Horizonte ab. Bekannte russische Autoren fanden ebenso Berücksichtigung wie die Vertreter einer historischen und zeitgenössischen Frankreichkunde, die Bonner Universitätslehrer Ernst Robert Curtius und Hermann Platz. Die (vernachlässigte) Geschichte der katholischen Kirche in Nordamerika und die Mentalität an der „Frontier der Prärie schilderte farbig das biografisch unterfütterte, missionsgeschichtliche Gegenwartsepos der bedeutenden amerikanischen Erzählerin Willa Cather: „Der Tod kommt zum Erzbischof. „Hochland legte dem deutschen Publikum Auszüge in Übersetzungen vor. Die englische Ausgabe des ebenso spannenden wie tiefschürfenden Werkes, das einen Glaubensweg von Mexiko nach Kalifornien nachzeichnete, erschien 1927, eine deutsche Gesamtübersetzung erst 1940.

    Um die Mitte der 1920er-Jahre präsentierte das „Hochland" seinen weit gefächerten Stoff unter neun, allerdings nicht immer zusammenhängend anmutenden Rubriken. Es behandelte: Romane, Novellen und Gedichte; Religion, Geschichte, Philosophie, Bildungs- und Erziehungswesen; Literatur, Theater, Kunst und Musik; Biographisches; Naturwissenschaft, Medizin, Länder- und Völkerkunde; Volkswirtschaft, Rechtspflege; Kunstbeilagen; Besprechungen von Büchern und Theateraufführungen. Der geniale Anreger demonstrierte, dass das Beziehen eines katholischen – man könnte auch sagen weltanschaulichen – Standpunkts den Zugang zu relevanten Wissensgebieten und Literaturgattungen eher öffnete als sperrte.

    Kontinuität und Wandlung: In der Zeit der Weimarer Republik

    Den Einschnitt der Niederlage und der Revolution von 1918 verkraftete das „Hochland besser als etwa die „Historisch-politischen Blätter, die – als Reaktion auf die Demokratisierung – einen national-konservativen Einschlag bekamen und 1923 eingestellt werden mussten. Das „Hochland" wahrte seine Identität, begleitete die sich überstürzenden Ereignisse mit tief ansetzenden Reflexionen. Es erklärte, dass ein dauerhafter europäischer Friede nur auf der Grundlage umfassender Völkerverständigung wiederzugewinnen sei. Im Ganzen hat die freiheitliche Entwicklung der Weimarer Republik dieses Sprachrohr der katholischen Publizistik eher begünstigt als gehemmt. Inmitten der Säkularisierungstrends war die Zeitschrift bemüht, die Zeichen religiöser Neubesinnung wahrzunehmen, wo sie sich auch zeigten. Sie praktizierte außerdem wie gewohnt Verständigungsbereitschaft über die Grenzen der Nationen, Weltanschauungen und Konfessionen hinweg. Sie registrierte erwartungsvoll, dass, während bisher irreligiöse Kreise sich plötzlich zu religionsphilosophischen und metaphysischen Betrachtungen hingezogen fühlten, Vertreter der christlichen Philosophie verstärkt über eine natürliche Theologie und deren psychologische Grundlagen nachdachten.

    Grenzüberschreitendes Lob aus ehemals verfeindeten Lagern wurde der Zeitschrift anlässlich des 60. Geburtstages ihres inzwischen in der geistigen und literarischen Welt etablierten Gründers und Herausgebers zuteil, wenngleich natürlich die katholischen Pressestimmen überwogen. Neben vielen anderen gratulierten der „Osservatore Romano (Rom), die „Germania (Berlin), die „Kölnische Volkszeitung, die „Augsburger Postzeitung, die „Rhein-Mainische Volkszeitung (Frankfurt am Main), die „Bayerische Staatszeitung (München), die „Deutsche Rundschau (Berlin), die Salzburger „Katholische Kirchenzeitung, der „Gral, aber auch liberale und nationale Blätter wie die „Frankfurter Zeitung und die „Münchner Neuesten Nachrichten. Muth hatte mit seiner freiheitlichen Konzeption viel Anklang, Zustimmung, Beifall und Bewunderung in der öffentlichen Meinung gefunden. Die „Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), immerhin die Nachfolgerin von Bismarcks Hauspostille, der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, schrieb: „Karl Muth hat eigentlich die neue katholische Literatur geschaffen. Das Blatt gab sogar die Anregung (mit der es nicht allein stand), „der Protestantismus sollte diesen 60. Geburtstag benutzen, um sämtliche Bände des Hochlands genau zu studieren und etwas Gleichwertiges zu schaffen".¹² Muths Konzeption, die innere Sammlung voranzutreiben und zugleich durch die objektive Würdigung hochstehender Werke Anerkennung nach außen zu gewinnen, war von Erfolg gekrönt. Das Klima hatte sich gewandelt. Die Inferioritätsdebatte konnte als beendet gelten.

    Dabei hatte Muth sich keineswegs der angeblichen Überlegenheit einer zum Säkularismus tendierenden nationalen Kultur gebeugt. Den säkularen Trends des mächtig ins Kulturleben hineinwirkenden Liberalismus und Säkularismus widersprach es durchaus, wenn er das Paradigma der inneren und eigentlichen Verwandtschaft von Dichtung und Religion aufstellte und sich dabei auf anerkannte Poeten wie Johann Wolfgang Goethe und Joseph von Eichendorff berief. Namentlich Eichendorff hatte die irdische Natur und Sinnlichkeit, wie sie allein von der Poesie erfasst werden konnten, als Abbilder und Chiffren einer höheren, transzendenten Welt der Religion angesehen.¹³ Die innere Beziehung von Poesie und Religion erschloss sich Muth zudem aus Überlegungen, die um zwei Schlüsselbegriffe kreisten: um die Freiheit und das Ideal. Er rezipierte die Idee des Philosophen und Münchener Universitätspredigers Martin Deutinger († 1864), dass die Ungezwungenheit und Freiheit künstlerischen Schaffens ihr Urbild im freien Walten der alles bewegenden Liebe Gottes fänden.¹⁴ Gemäß dieser Freiheitsvorstellung gelangte Muth auch zur Würdigung des weiblichen Elements in der Dichtkunst, träten in diesem doch spezifische Qualitäten hervor, eine dem einseitig ausgerichteten männlichen Intellekt überlegene Einfühlsamkeit, Ausgeglichenheit und Vielseitigkeit.¹⁵

    Sodann lagen der Religion wie der Poesie „ideale Prinzipien zu Grunde; beide Welten teilten die Ausrichtung auf ein objektiv Vorgegebenes, in der Religion fassbar als die „objektive Welt des Glaubens, in der Poesie als die objekthaft antreffbare Schönheit und Mannigfaltigkeit der Natur, der Welt und des Lebens. Die Orientierung am „Objektiven, das letztlich auf die Gottnatur zurückverwies, war damals Allgemeinbesitz des katholischen Denkens. Entsprechend zog Muth die in seinen Augen mehr an objektiven Kategorien ausgerichtete Klassik dem Subjektivismus der Romantik vor. Diese idealistische Sichtweise wurde nur von der Erwägung unterstrichen, dass auch die „subjektivistische Lebensstimmung der Romantik der Idee der Einheit nicht habe entraten können, denn einige ihrer Vertreter hätten sie in der Epoche des Mittelalters kristallisiert gesehen.¹⁶

    Muths eindringlich-behutsame, von großer Belesenheit zeugende und stilistisch hervorragende Interpretationsversuche, Goethe als einen vom Christentum beeinflussten Dichter und Denker zu verstehen, sind von der Fachgermanistik nie gebührend gewürdigt worden. Der Pfad dieser Interpretation war erst zu beschreiten, wenn das vordergründig-prüde Sittenrichtertum aufhörte, das bisher allzu oft die katholische Annäherung an den Weimarer Dichterfürsten bestimmt oder besser: verhindert hatte. Die hohe Auffassung von der Natur, die Goethe hegte, wird von Muth gemäß seiner die Religion und Poesie verbindenden, die Poesie auf die gottgewollte Natur gründenden Auffassung interpretiert, also nicht auf Neuheidentum oder Pantheismus zurückgeführt. Mehr noch: Goethes hohes Lebensgefühl steht für Muth keineswegs im Gegensatz zu dem diese Welt angeblich nur in ihrer Vorläufigkeit und Sündhaftigkeit zulassenden christlichen Glauben. Goethe habe vielmehr das übertriebene, ihn wegen seiner Begegnung mit dem Pietismus in jungen Jahren belastende „Memento mori" hinter sich gelassen und sich dem entgegengesetzten Pol christlichen Lebens genähert, dem aus der kraftvollen Überwindung des Leidens, der Entsagung und der Todesfurcht resultierenden Aufschwung zum „Memento vivere", zum schließlichen Sieg des Lebens über den Tod. Goethe „wollte in der Religion als dem höchsten Leben schon hienieden keinen Glauben des Verzichts, sondern der Aneignung, der Bereicherung, der höchsten Bejahung sehen. Damit erfasste er die „christliche Religion ihrer „großen Idee nach: Ist sie doch – „richtig verstanden – die Religion höchster Kraft, intensivsten Lebens, freudigster Zuversicht, rastlosen Wirkens, beglückender Lichtfülle.¹⁷

    Politische Diskussionen

    In die Zeit der Weimarer Republik fiel das wohl bedeutsamste politische Engagement von Karl Muth. Es kam beispielhaft in einem programmatischen „Hochland-Aufsatz zum Ausdruck, der den aufrüttelnden Titel „Res publica trug.¹⁸ Muth entwickelte hier nichts weniger als den Ehrgeiz, die deutschen Katholiken endgültig auf die Bahn der Aussöhnung mit der Republik und die Deutsche Zentrumspartei in die zukunftweisende Richtung der christlichen Demokratie zu lenken. Er bewegte sich damit im Rahmen konzeptioneller Erörterungen über miteinander konkurrierende Staatsdoktrinen, zu denen das „Hochland" mehrmals Gelegenheit bot. So ließ es die Unterschiede zwischen einer liberal(istisch)en, sozialistischen und einer organisch oder thomistisch genannten Staatsidee in seinen Spalten diskutieren. Diese an das Verfahren von trial and error erinnernde Methode ist wohl aussagekräftiger für die politischen Vorstellungen der katholischen Zeitschrift als ein den Katholiken der Vor- und Zwischenkriegszeit unermüdlich von den Historikern unterstellter konservativer Korporativismus,¹⁹ der angeblich mitgeholfen habe, die Entwicklung zur Demokratie in Deutschland zu verbauen.

    Erneut ging Muth nicht von einem separierenden, sondern von einem integrierenden Denkansatz aus. Er fasste – ohne Bewährtes zu verwerfen – ein allgemeines (Reform-)Ziel ins Auge. Ihm schwebte, zugleich mit der Erneuerung der Gesellschaft gemäß den Erfordernissen der gewandelten Nachkriegszeit, die Überwindung der seit 1918/19 latent drohenden Verfassungskrise der Republik vor. Dabei richtete er sein Wort zunächst an die weiter an der Kaiserzeit hängenden Konservativen, „die nichts gelernt und nur zu viel vergessen haben, besonders aber an die unentschiedenen „Opportunisten, die ebenfalls Distanz zum Weimarer Staat hielten. Die nach Versailles stark erregten nationalen Gefühle berücksichtigend, verwarf er das Vorbild der Dritten Republik Frankreichs, hatte sich hier doch ein unüberwindlicher Gegensatz zwischen der Partei der atheistischen Republikaner und den vereinigten Monarchisten und Klerikalen aufgetan; nicht zuletzt auf Grund dieser Polarisierung war der Staat dann zur Beute der Radikalrepublikaner geworden. Muth

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