Tage, die aus dem Kalender fallen: BSB_Roman_Ein deutsch-deutsches Schicksal
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Über dieses E-Book
Ein beeindruckendes Buch über ein deutsches Schicksal zu Zeiten des geteilten Landes und ein bewegender Appell an die Menschlichkeit.
'Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal. '
FAZ-Magazin
Der Roman erscheint im Rahmen der Hinrich Matthiesen- Werkausgabe seiner Romane in 31 Bänden.
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Buchvorschau
Tage, die aus dem Kalender fallen - Hinrich Matthiesen
Hinrich Matthiesen
Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexico. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.
1969 erschien sein erster Roman: MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.
Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.
»Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«
Deutsche Tagespost
»Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«
Deutsche Welle
»Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal.«
FAZ-Magazin
Werkausgabe Romane Band 3
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Der Roman
Thomas Weppler, Wachsoldat an der deutsch-deutschen Grenze, hat es unterlassen, auf einen Flüchtenden zu schießen. Er wird angeklagt und während des Verfahrens erinnert er sich an die schicksalhaften Apriltage 1945 an der Ostsee, als seine Geliebte zusammengeschossen wurde. Ein Ereignis, das ihn für immer prägte.
Ein beeindruckendes Buch über ein deutsches Schicksal zu Zeiten des geteilten Landes und ein bewegender Appell an die Menschlichkeit.
Titelverzeichnis der Werkausgabe in 31 Bänden am Ende des Buches.
Hinrich Matthiesen
Tage,
die aus dem
Kalender fallen
Roman
::::
BsB
BestSelectBook_Digital Publishers
Werkausgabe Romane
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Band 3
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 by BestSelectBook_Digital Publishers München
ISBN 978-3-86466-352-9
1.
Die beiden Männer standen seit Mitternacht auf dem Turm. Es war kurz nach eins, und Thomas Weppler, der ältere der beiden, war müde. Aber er hörte sich geduldig an, was der jüngere, der kaum zwanzig Jahre alt war, ihm zu erzählen hatte. Es war Neumond, und die beiden sahen von der Landschaft immer nur die kleinen Stücke vor sich, die die gleißenden Arme der Scheinwerfer aus dem Dunkel herausgriffen, und auch das nur für Sekundenbruchteile. Es reichte nicht einmal, dass Bäume und Büsche Konturen gewannen, aber die Männer kannten jeden Baum und jeden Busch, sie hatten sie hundertmal bei Tage gesehen.
»Ich gehe nachher zu ihr«, sagte Bernd Vossen. »Sie wartet auf mich. Es ist ein schönes Gefühl, wenn man weiß, dass eine wartet.«
»Gewiss«, antwortete Thomas Weppler. »Man denkt immer dran. Man malt sich aus, wie es sein wird, und dann ist es nicht so schwer, hier herumzustehen. Man denkt an nachher wie an einen Lohn, obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hat.«
»Du hast recht. Ein Lohn. Und eigentlich hat sie doch etwas mit meinem Dienst zu tun, denn wenn ich nicht hierher abkommandiert worden wäre, hätte ich sie nicht kennengelernt. Sie arbeitet in der Landwirtschaft, da hinten.«
Vossen wies mit dem Daumen über die Schulter, aber Weppler sah die Bewegung nicht, er fragte: »Wie weit?«
»Acht Kilometer.«
»Da hast du noch einen weiten Weg heute Nacht.«
»Das macht nichts. Sie hat auch immer etwas zu essen, wenn ich komme.«
»Wie sieht sie aus?«
»Sie ist blond und trägt ihr Haar meistens in einem Knoten, und obenherum ist sie gut ausgewuchtet. Das ist wichtig für mich, ich nehme immer gern ein volles Pfund in die Hand, am liebsten zwei Pfunde auf einmal. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst. Du bist doppelt so alt wie ich, und mit Vierzig denkt man darüber vielleicht anders.«
»Natürlich. Pfunde. Das gehört dazu. Aber für mich ist wichtig, was dahinter sitzt, und wenn das in Ordnung ist, können es von mir aus auch halbe Pfunde sein.« Weppler wandte sich zur Seite. Er starrte ins Dunkel, gähnte und rückte den Karabiner zurecht, den er rechts geschultert hatte. Er zog den Riemen straff und spürte den leichten Druck auf dem Rücken. Es geschah oft, dass er sich den harten Gewehrlauf gegen das Schulterblatt presste, indem er die Hand mit dem Riemen nach vorn schob. Er tat es gedankenlos, so wie andere mit der Zunge ihre kranken Zähne abtasten, ohne wirklich prüfen zu wollen, ob die Löcher noch da sind; eine Angewohnheit ohne Belang. So war Weppler das Loch unter seinem rechten Schulterblatt schon zur Gewohnheit geworden. Er nahm es kaum noch wahr, dass der Karabiner nicht durchgehend anlag am Rücken, sondern nur oben ein Stück und unten ein Stück. Dazwischen, etwa auf einer Handbreite, lag er nicht an, weil nichts da war. Da war seine Wunde. Sie war tief, geformt wie ein Trichter. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, und im Laufe dieser Zeit war eine Handvoll Mädchen erschrocken gewesen beim Anblick der bläulich glänzenden Narbe. Eine Handvoll, mehr nicht in fünfundzwanzig Jahren. Bei keiner von ihnen hatte die an seiner Seite verbrachte Zeit ausgereicht, sich an das abstoßende Bild zu gewöhnen, zu dem noch ein Pendant gehörte, das vorn saß, auf der Brust, und das kleiner war, obwohl es am Anfang furchtbarer ausgesehen hatte als die Rückenwunde, aber es war besser vernäht worden.
Bernd Vossen leuchtete mit der Taschenlampe auf seine Armbanduhr.
»Wirst schon ungeduldig?«, fragte Thomas Weppler. »Dreiviertel Stunde noch«, antwortete Bernd Vossen, »und dann noch eine halbe Stunde mit dem Fahrrad. Aber dann, mein Lieber, denke ich bestimmt nicht mehr an diesen Turm. Und auch nicht an dich.«
»Ich nehme es dir nicht übel.«
»Du musst dir auch eine Freundin anschaffen. Das ist doch kein Leben, immer so allein. Man muss etwas haben, worauf man sich freuen kann. Und ein Mädchen ist da nicht das Schlechteste. Wenn ich an Britta denke, kriecht es mir richtig die Beine hoch, und es geht mir durch den Bauch, und mir wird ganz warm dabei. Bestimmt, auch für dich wäre eine Freundin das Richtige. Du bist noch nicht zu alt, und du bist Unteroffizier, das zählt doch etwas. Dein zerschossener Rücken braucht dich nicht zu genieren, im Gegenteil. Ich hab mal gehört, dass das für manche Frauen was ganz Leckeres ist, weil es nach Krieg aussieht und nach Heldentum und sehr männlich wirkt, vielleicht nicht gerade bei den ganz jungen, aber in Brittas Betrieb arbeiten mindestens zehn Frauen, und einige sind schon über dreißig. Neulich sah ich eine, die war ganz beachtlich. Sie ist ziemlich neu da; ich glaube, eine Geschiedene. Das wäre doch was für dich. Willst du nachher nicht mitkommen?«
»Ach was!«
»Klar. Komm doch mit!«
»Wie stellst du dir das vor? Du wirst erwartet, aber du kannst doch nicht nachts um halb drei auch noch an eine andere Tür klopfen und einfach sagen: Da draußen steht einer, der ist so allein.«
»Das macht Britta schon. Sie holt ihre Kollegin dazu, und dann feiern wir erst mal zu viert, trinken ein bisschen, das lockert auf, und dann kennst du sie schon gut genug, um ihr einen Tapetenwechsel vorzuschlagen.«
»Ich hab kein Fahrrad.«
»Du leihst dir eins, unten stehen genug.«
»Lieber nicht. Ich bleibe hier.«
»Du hast keine Lust.«
»Stimmt. Vielleicht ein anderes Mal.«
Sie schwiegen, und Thomas Weppler begann, auf der kleinen Fläche des Turms auf und ab zu gehen. Er dachte an die hässlichen, harten Feldbetten, die unten in der Wachstube standen, und an die grauen Wolldecken. Trotz seines dicken Mantels fror ihn. Es war April, und die Nächte waren noch kühl. Einmal glaubte er, von unten herauf ein Geräusch zu hören. Es klang, als ob jemand etwas fallen ließe. Er nahm das Nachtglas von der Brüstung und sagte:
»Leuchte mal dahin! Ein bisschen nach rechts.«
Bernd Vossen drehte den Scheinwerfer, und Weppler verfolgte mit dem Glas die langsam herumschwenkende Lichtbahn, aber er sah nichts Auffälliges.
»Hast du es auch gehört?«, fragte er.
»Ja, aber ich glaube, es kam von unseren Leuten.«
Vossen ging noch ein paarmal hin und her mit dem Licht, dann fuhr er fort: »Ich mach das hier jetzt schon über ein Jahr, und noch nie gab es etwas zu tun.«
»Ärgert dich das?«
»Nein, denn das bedeutet ja, dass sie bleiben, wohin sie gehören.«
»Findest du es verwerflich, wenn einer nach drüben geht?«
»Ja. Republikflucht, das ist wie Fahnenflucht. Es geht uns doch gut. Der Staat tut viel für uns, und man kann nicht einfach davonlaufen, nachdem man jahrelang die Rechte in diesem Staat genossen hat; man ist ihm Treue schuldig.«
»Du sprichst von Rechten. Welche meinst du?«
»Das Recht auf Arbeit zum Beispiel, auf Lohn, auf Krankenhausbehandlung, auf Bildung.«
»Sind das nicht Selbstverständlichkeiten, die es überall auf der Welt gibt? Wie steht es denn mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung oder dem Recht zu reisen, wohin man will? Warum haben Millionen Bürger dieses Land verlassen? Wir sind der einzige Staat der Erde mit rückläufigen Einwohnerzahlen, oder zumindest sind wir es lange gewesen. Warum setzen Hunderte ihr Leben aufs Spiel, nur um hier herauszukommen?«
»Was ist denn mit dir los? Ach so! Du willst mich wohl aushorchen oder sollst es. Da ist bei mir nicht viel zu holen. Auch wenn du zwanzig wärest und kein Unteroffizier, würde ich dir dasselbe sagen, nämlich die Wahrheit.«
Weppler verzichtete auf die Frage, was er unter dieser Wahrheit verstehe. Er kannte die landesüblichen Auslegungen. Er wusste, dass für das simple Verlangen nach Freiheit andere Vokabeln geschaffen worden waren, solche, durch die der Drang, frei zu sein, umgemünzt wurde zum Verbrechen.
Er begann erneut, auf und ab zu gehen, sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zur Ablösung. Wenn man hier oben steht, dachte er, hier oben in der Kälte und in der Nacht, dann kann man sogar von einem Feldbett und von einer Wolldecke träumen. Aber dann sagte er sich: Wenn man vierzig ist; mit zwanzig muss es gern etwas mehr sein. Er dachte nicht oft an Frauen. Er hatte keine, und er hatte auch keine Kinder. Er hatte überhaupt niemanden. Er war allein und glaubte, auch in Zukunft allein zu bleiben. Darum hatte er sich für diesen Dienst entschieden, obwohl er schon zweiundvierzig Jahre alt war und niemand ihn zwang, dabeizubleiben. Er dachte, wie so oft während der Stunden der Nachtwache, an das Leben auf der anderen Seite des Zaunes. Es geschah meistens kurz vor der Ablösung, dass ihm die Leute von drüben in den Sinn kamen oder die, die versuchten, nach drüben zu gehen. Vielleicht lag es daran, dass sich, wenn der Wachwechsel nah war, der Gedanke einstellte: Es ist noch einmal gutgegangen! Nicht, dass er Angst hatte vor dem Schießen. Er würde es tun. Er würde rufen, zielen und abdrücken, wie man es von ihm erwartete, wie es der Befehl verlangte. Er hatte es schon einmal gemacht, nicht von diesem Turm aus, sondern von einem, der weiter im Norden stand. Er traf den Fuß des Mannes, und danach hatten die Wolfshunde ein leichtes Spiel. Der Flüchtige wurde zurückgeholt, und Thomas Weppler hörte nie wieder etwas von ihm. Aber er musste oft an ihn denken, und sein Gewissen erfand eine Reihe Geschichten, die diesen Mann betrafen, immer wieder neue: Vielleicht hatte der Mann drüben eine Frau und Kinder, eine Mutter vielleicht oder Freunde, die ihn hier besucht und ihm erzählt hatten, dass das Leben drüben viel heiterer sei. So unterschiedlich Wepplers Geschichten auch waren, fast immer tauchte, wenn es um die andere Seite ging, der Gedanke an etwas Heiteres auf. Manchmal wandelten sich die Begriffe, aber der Sinn blieb derselbe: Die Freunde sprachen von unbeschwerten Tagen oder davon, dass es drüben mehr zu erhoffen gäbe. Unwillkürlich glaubte er, drüben sei das Leben keine so traurige Sache. Einmal war er aufgebrochen, nach dem Mann mit dem zerschossenen Fuß zu forschen. Aber er hatte es schnell wieder aufgegeben, denn nach seinen ersten dilettantischen Recherchen hatte man damit begonnen, ihn nach Beweggründen seiner Suche auszufragen. Er hatte keine plausible Antwort auf die immer wiederkehrende Frage gewusst, was er von dem Manne gewollt habe, bis er schließlich auf den Gedanken gekommen war, zu erklären, er hätte gern einmal den Mann aus der Nähe gesehen, der sein Land verraten wollte und den er, Thomas Weppler, daran gehindert habe. Daraufhin hatte man ihn in Ruhe gelassen.
»Noch zehn Minuten.«
Bernd Vossens Worte schreckten Thomas Weppler aus seinen Gedanken auf.
»Ja, zehn. Wir haben es bald geschafft.«
»Dann geht es los, dann…«
»Ja, ich weiß. Dann strampelst du dreißig Minuten auf deinem Fahrrad und dann noch dreißig Minuten im Zimmer, und irgendwann morgen früh strampelst du durch den Wald wieder zurück.«
»Du sagst das so abfällig. Du bist nur neidisch. Du solltest lieber mitkommen.«
Weppler wollte darauf erwidern, er sei zum Strampeln zu müde, aber ehe das erste Wort heraus war, hörten sie von rechts Schritte. Sie tönten laut durch die Nacht, und instinktiv erfasste Weppler, dass es sich nicht um flüchtige Menschen handelte. Vossen schwenkte den Scheinwerfer herum, richtete ihn auf die Stelle, an der der wilde, dröhnende Schritt ertönt war. Aus dem rückwärtigen Gelände kam das Licht eines zweiten Scheinwerfers dazu, und für eine Sekunde schnitten sich die Strahlen zu einer gespenstischen Geometrie auf der schwarzen Tafel der Nacht, doch ruckartig senkte sich der Schnittpunkt, bis er nicht mehr Schnittpunkt war, sondern Endpunkt und mit verdoppelter Helle das Objekt überflutete, um das es ging: ein Stück Vieh, das, gebannt von dem plötzlichen Ansturm des Lichts, stehenblieb. Es war ein Stück Jungvieh, einjährig etwa, schwarzbunt oder rotbunt, das konnte man nicht genau erkennen.
Weppler hatte seinen Karabiner abgenommen, hielt ihn im Anschlag. Bernd Vossen ließ den Scheinwerfer los und nahm das Nachtglas zur Hand.
»Rindvieh!«, sagte er. Es hätte eine Feststellung sein können, aber es klang wie ein Fluch.
»Wie naiv«, sagte Thomas Weppler.
»Naiv? Das ist eine Kuh, Mensch!«
»Natürlich. Und wenn wir rechts eine Kuh herumlaufen sehen, müssen wir links aufpassen. Los!«
Vossen legte das Glas zurück, griff wieder zum Scheinwerfer, drehte. Der Strahl glitt durch das linkerhand gelegene Gelände, wo es still zu sein schien, aber das Lauschen in die neue Richtung gelang den beiden nicht recht, weil nun von rechts her die Stimmen der Männer heraufdrangen, die sich daranmachten, das Vieh einzufangen. Kurz darauf brauchten sie auch nicht mehr zu lauschen, denn plötzlich erfasste der grelle Lichtstrahl das, worum es in Wirklichkeit ging. Auf den Zaun zu liefen zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau. Der Mann lief vorn und zog die Frau hinter sich her. Als das Licht sie erreichte, liefen sie weiter. Nur noch wenige Schritte trennten sie von der letzten Barriere. Insgeheim zollte Weppler ihnen Anerkennung. Sie waren weit gekommen. Sie hatten unbehelligt die Sperrzone passiert; die Warnanlagen, die Hunde, die Spähwagen hatten sie nicht aufhalten können.
Bernd Vossen legte seine Hände vor den Mund und schrie:
»Stehenbleiben, oder wir schießen!«
Die Flüchtigen hatten den Zaun erreicht, und trotz des Anrufs versuchten sie, in den Maschen Fuß zu fassen und hinaufzuklettern.
Weppler hatte angelegt. Er hatte den Mann im Fadenkreuz und den Finger am Abzugsbügel. Er wollte schießen, wie er schon einmal auf jemanden geschossen hatte und wie der Befehl es von ihm erforderte. Er wollte schießen, obwohl er voller Vorbehalte war. Doch in diesem Augenblick geschah etwas, das die Lage änderte. Es war nicht der löbliche Durchbruch zu später Einsicht, nicht Läuterung am Kreuzweg widerstreitender Gefühle, es war überhaupt nichts Moralisches, sondern etwas durch und durch Persönliches, eine Ohnmacht aus Erinnerung.
Er sah, wie der Mann sich hinter die Frau stellte und versuchte, sie hochzuheben. Ihre Füße fanden den Halt nicht, wohl aus Angst, und als Weppler erneut zielte, trafen sich wieder Kimme und Korn auf dem Rücken des Mannes, und der Mann deckte die Frau vollends. »Schieß doch!«
Bernd Vossens Stimme überschlug sich, sie war schrill und fast ebenso laut wie der Ruf an die beiden Flüchtenden. Aber Thomas Weppler schoss nicht. Er hatte den vom Scheinwerfer angestrahlten Rücken mit nicht mehr zu steigernder Deutlichkeit im Visier, und er wusste, wenn er jetzt nicht schoss, würden sie hinüberkommen. Aber er schoss nicht. Auch als nun die Frau aus den Konturen des Mannes herauswuchs, sich über seinen Kopf hinweg erhob und mit den Händen den oberen Rand des Zaunes erreichte und gleich darauf auch der Mann mit großer Behändigkeit emporkletterte, machte die ruhige, erprobte Hand am Bügel die eine kleine, tödliche Bewegung nicht.
»Mein Gott, so schieß doch!«
Vossen schrie es, riss Weppler das Gewehr aus der Hand, legte an. Was bis dahin dem entsetzten jungen Soldaten als eine momentane Verwirrung seines älteren Kollegen, als ein Schwächeanfall oder ein aus welcher Ursache auch immer erfolgter Schock erschienen sein mochte, erwies sich innerhalb der nächsten Sekunden als ein echtes Delikt Thomas Wepplers. Vossen hatte gerade das Ziel aufgefasst, sein Zeigefinger krümmte sich schon zum Durchziehen der Waffe, da fuhr von unten her Wepplers Linke gegen den Lauf. Der Karabiner verkantete sich steil nach oben, der Schuss löste sich und ging in den Himmel.
Einen Atemzug lang stand Bernd Vossen erstarrt